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7.  Die Beglückungsstrategien der Französischen Revolution und ihre Fortwirkungen bis heute  

Rieseberg-1992

 

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Einer der Ausgangspunkte der heutigen Arbeitsgesellschaft in ihrer Sozialstaatlichkeit ist die Verfassung der Französischen Revolution vom 24. Juni 1793. Die Französische Revolution und ihre Verfassung hat ab 1789 wegweisende Formulierungen für ein Überleben des Menschen in der von ihm geschaffenen Zivilisation geprägt. Daher ist auch die Kritik an den Grundlagen dieser Verfassung nur schwer möglich, weil es inzwischen bei fast allen demokratisch gesinnten Menschen in Ost und West als ein Sakrileg gilt, Teile dieser Verfassung in Frage zu stellen. Dies gilt nicht nur für die Menschenrechte, sondern auch für andere Formulierungen in dieser Verfassung.

Ich will es [Kritik] trotzdem versuchen.

Im Artikel 1 der Verfassung heißt es: Der Zweck der Gesellschaft ist die allgemeine Wohlfahrt. Dieser Artikel drückt nichts anderes aus, als daß der Staat als schützendes, ausführendes, regulierendes und ordnendes System der Gesellschaft diese Zweckverwendung aller Bürger durchzusetzen hat. Der Staat ist das Instrumentarium, das allen Bürgerinnen und Bürgern das Glück bringen soll.

Der Artikel 1 der französischen Verfassung ist das Beglückungsgebot des Staates. Eine neutralere Formulierung wäre zweifelsohne gewesen, der Zweck der Gesellschaft bestehe darin, das Leben zu sichern, denn auch in der besten Wohlfahrts­gesellschaft muß das Leben nicht unbedingt zu allen Zeiten glücklich sein.

Bis zur Herausbildung unserer Zivilisation, also vor 10.000 Jahren, lebte der Mensch in einem ständigen Wechsel zwischen Gefahr, Glück und Gleichmut. Der Ausbau der Zivilisation forderte von ihm von Anfang an einen hohen Aufwand an körperlicher Arbeit, Leiden, Kampf, Machtausübung, Aufbau und Zerstörung.

Die Zivilisation veränderte also sehr wohl die einzelnen Lebenselemente, und in den Vordergrund traten Kampf, Macht und Leiden. Dabei wurden die meisten Leiden auch im Hinblick auf eine eventuelle Besserung für sich oder die nachfolgenden Generationen erduldet und erlitten. Der Mensch wurde scheinbar von äußeren Mächten gezwungen, seinen Lebens­unterhalt durch harte Arbeit, Erdulden von Demütigungen durch Mächtige, Sklavenarbeit, Untertanen­tätigkeit und Industriearbeit zu verdienen.

Aus diesem Erfahrungsschatz der Geschichte, der geprägt ist von den Erlebnissen der Unterjochung und der Beraubung, formuliert die Französische Revolution zum erstenmal wieder eine ursprüngliche Wunschvorstellung der Menschen. Die Rousseausche Vorstellung von den natürlichen Lebensgrund­lagen des Menschen dürfte hierbei entscheidend gewirkt haben. Aber in der Verfassung heißt es eben nicht, der Staat habe dem Menschen eine natürliche Lebensgrundlage zu garantieren, sondern hier steht, der Staat solle ihn beglücken.

Dieses Beglückungsgebot des Staates wird nun umgesetzt in tätige Bürokratie. Es entsteht der Wohlfahrts­ausschuß, es entsteht eine immer größere Zahl von Gesetzen, die der Beglückung des Bürgers dienen sollen. Künftig werden alle Staaten westlicher Prägung - die USA, die nachhinkenden europäischen Staaten - dieses Beglückungsangebot in ihre Verfassung und ihre Gesetz­gebungen aufnehmen.

Die Verfassung von 1793 schreibt den Staat nicht als neutrales Wesen fest, das seinen Bürger gegen Übergriffe schützt, das Zustände im Staat schafft, die eine Schädigung des Bürgers verhindern, sondern definiert ihn als ein aktives Instrumentarium, das nach einer vollzogenen Schädigung Wiedergutmachung leistet. Der Staat reduziert sich damit zu einem gesamt­gesellschaftlichen Caritasverband. Die Welt ist schlecht, die Arbeitsverhältnisse unmenschlich, daran kann der Staat nichts ändern, aber er sucht durch eine soziale Gesetzgebung, durch alle möglichen Beihilfen trotz großer Schwierigkeiten dem Bürger die Wohlfahrt zu garantieren.

Der Staat wird zur Reparaturbehörde des sich entwickelnden Industriesystems der westlichen Zivilisation. Diese Staatsidee durchdringt künftig alle Lebensbereiche des Menschen. Zahllose Beglückungsgesetze werden erlassen und Beglückungs­behörden in immer größerem Ausmaß eingerichtet, bis der Bürger schließlich in eine allgemeine Beglückungs­maschinerie integriert ist. Seine Pflicht besteht lediglich darin, zu arbeiten und sich den Beglückungs­maschinerien zu unterwerfen.

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Der Staat behandelt seine Bürger nicht mehr als Untertanen, sondern in immer stärkerem Ausmaß als Wickelkinder. Der Bürger ist in der Regel gar nicht in der Lage, so meint der Staat, sein eigenes Glück zu erkennen. Darüber hinaus ist er auch nicht in der Lage, die meisten Gefahren, die ihm drohen — von den Kapitalisten, von den Kommunisten, von den Unternehmern oder wem auch immer —, abzuwehren. Er muß deshalb mit einer großen Zahl von Beamten, Polizisten, Richtern, Staatsanwälten, Verwaltungen, Kindergärtnern, Lehrern und Sozialarbeitern geschützt und auf seinem gesamten Lebensweg begleitet werden.

Der Bürger wird zum Pflegefall des eigenen Systems. Er ist nicht mündig, sondern beglückter Konsument eines Wohlfahrtstaates, der auch dann noch rastlos tätig ist, wenn eigentlich schon alle glücklich sein müßten. Dieses Beglückungsgebot geht in der Französischen Revolution zunächst aus von der schlichten Garantie des Lebensunterhalts. Dem Bürger wird Nahrung, Kleidung und Wohnung auf dem jeweiligen Standard eines zeitgemäßen Lebens von Seiten des Staates zugesichert. Im Rahmen des Fortschritts der industriellen Systeme werden diese Standards laufend ausgeweitet.

Dabei gibt es viele Streitigkeiten, wie ein Wohlfahrtsstaat auszubilden ist. Es gibt den Wohlfahrtsstaat in seiner hochentwickelten europäischen Form, es gibt aber auch einen amerikanischen Wohlfahrtsstaat, der sich scheinbar vom europäischen gravierend unterscheidet, und es gibt einen sozialistischen Wohlfahrtsstaat. Allen Staatssystemen gemeinsam ist die Vorstellung, daß nur bei einem wachsenden Staatsanteil an der Arbeit der Bürger das Beglückungs- und Wohlfahrtsgebot sichergestellt werden kann.

Darüber hinaus führen Wohlfahrtsstaaten zu zentralisierenden Tendenzen. In allen Wohlfahrtsstaaten wachsen die Bürokratien, steigt der Anteil der Staatsforderungen an das Einkommen der Bürger und entsteht eine immer größere Gleichgültigkeit des Bürgers gegenüber seinem Staat. Dabei schlagen die geschriebenen Verfassungen, von der Französischen Revolution bis heute, immer kuriosere Kapriolen bei der Definition dessen, was der Zweck des Staates sei. 

Es bleibt nicht nur dabei, daß der Zweck der Gesellschaft die allgemeine Wohlfahrt ist, vielmehr kommt es zu solchen fast witzigen Formulierungen, wie sie in der Verfassung der DDR zu finden waren, wo es hieß: "Das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben, um dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen." Hier ist also nicht mehr nur die aktive staatliche Beglückung als sein Zweck anzusehen, sondern gleichzeitig schon wieder die Überhöhung des Gedankens in einem allgemein zu dienenden Ziel zu sehen. Der Fortschritt wird zum Geßlerhut* eines ganzen Staates.

* (d-2010:) Geßler: der Sage nach ein rücksichtsloser habsburgischer Landvogt in Schwyz uun Uri, von Wilhelm Tell bei Küßnacht erschossen.

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Doch zurück zum Wohlfahrtsgebot. Der Zweck der allgemeinen Wohlfahrt ist einer der Ausgangspunkte des Fortschritts­gedankens im 19. und 20. Jahrhundert und des Wachstumsgedankens ab dem Beginn der industriellen Revolution. Maßstäbe für die Formulierungen der Wohlfahrt haben sich vor und noch mehr nach der Französischen Revolution aus dem Luxusbedürfnis der Oberschichten entwickelt.

So hart diese Formulierung auch jeden sozial denkenden Menschen treffen mag: Der Maßstab, den die Französische Revolution an die Wohlfahrt des Bürgers gelegt und in ihren Gesetzen fortgeschrieben hat, ist, verglichen mit dem Maßstab, den der heutige Wohlfahrtsstaat bundesrepublikanischer Ausprägung an die Grundversorgung seiner Bürger legt, ein völlig anderer. Es ist unsinnig zu glauben, es gäbe eine ewig gleiche Bemessungsgrundlage für das, was man allgemeine Wohlfahrt nennen könnte.

Diese Bemessungsgrundlage richtet sich immer nach dem Fortschritt der industriellen Güterproduktion und dem wirtschaftlichen Wachstum. Gleichzeitig aber mit dem Wohlfahrtsgebot des Staates konstruiert dieser ein Recht des Bürgers gegenüber seinen Institutionen, ihm gefälligst seine Lebensgrundlage zu sichern. Der Staat entläßt also den Bürger an entscheidender Stelle aus seiner Verantwortung, und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern allgemein, denn das Wohlfahrtsgebot richtet sich nicht nur auf Essen und Trinken, sondern auf viele andere Bereiche des täglichen Lebens, die einen immer größeren Umfang annehmen.

Darüber hinaus verleitet der Wohlfahrtsstaat den Bürger immer mehr dazu, das Staatsgebilde selbst als etwas Äußeres, als etwas nicht zu ihm Gehöriges, als eine Art "Lieben Gott", guten Onkel, Arzt, Kindergärtnerin oder Lehrer zu betrachten. Der Bürger wird im Wohlfahrtsstaat immer mehr auf ein regredierendes Wesen reduziert. Er wird in die Rolle des Kindes gedrängt, das sich bei seinen Eltern über die kalten Finger beschwert, weil sie ihm keine Handschuhe angezogen haben. 

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Und so ist dann der Bürger auch furchtbar erschreckt, wenn ihn bei jeder neuen Umweltkatastrophe der gute Onkel Staat aufklärt und ihm sagt, das Robbensterben habe auch etwas mit uns zu tun, und nun müßten die Bürger die neuen Kläranlagen bezahlen, weil sie doch so viel Wasser verseucht haben. Aber der Staat klärt seine Bürger natürlich nicht über die Global­zusammen­hänge auf, sondern er beruhigt ihn am Ende der Katastrophe wieder und sagt ihm, wie es in Zukunft bei diesem konkreten Problem besser zu machen sei. So schliddern der Bürger und sein Staat in immer neue Katastrophen hinein, aber der Bürger tröstet sich immer wieder darüber hinweg, indem er sich in seinem angeblichen Wohlfahrtsstaat wohlfühlt.

 

Zurück zur Französischen Revolution: Die Idee des Wohlfahrtsstaates entsprang der furchtbaren Erfahrung in der absoluten Monarchie, in der Armut, Unterdrückung und Gewalttätigkeit des Staates herrschten. Doch zunächst hat der französische revolutionäre Staat seinen Bürgern lediglich billiges Getreide gegeben und etwas Land an die Bauern verteilt, damit diese ihren kümmerlichen Lebensunterhalt besorgen konnten. Dann jedoch entwickelte sich der Wohlfahrtsstaat wie ein Moloch.

Heute gehören zum Wohlfahrtsstaat wie selbstverständlich die Stromversorgung, die Gasversorgung, die Fernheizung, der Rundfunk, das Fernsehen, das Straßennetz, das Eisenbahnnetz, die Flughäfen, die Kernkraftwerke, die Kohlekraftwerke, die Wiederauf­bereitungsanlagen, die Nervenheilanstalten, die Krankenhäuser, die Kurheime, die Vogelaufzucht­stationen, der Tierschutz und die Sorge für die Dritte Welt. Um dies alles zu finanzieren, muß der Bürger arbeiten und Steuern bezahlen. Und er zahlt heute viel Steuern, im Vergleich zu dem Zehnten, mit dem einmal alles begann.

Heute zahlt der Bürger durchschnittlich 54 % direkte oder indirekte Steuern von seinem Einkommen. Und wenn ein großer Steuer­zahler wie die Firma Daimler Benz in Sindelfingen eine Flußaue zerstört, um ein neues Werk zu bauen, oder an einer anderen Stelle ein landschaftliches Schutzgebiet zerstören will, um eine Autoteststrecke zu bauen, dann wird dem Bürger klargemacht, daß diese Firma mehr als 200.000 Arbeits­plätze sichert und darüber hinaus pro Jahr 3 Milliarden DM an Steuern an den Wohlfahrtsstaat überweist und daß die ganzen Ausgleichsmaßnahmen, die man verspricht, nur bezahlt werden können, weil Daimler Benz so viele Steuern bezahlt.

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Und kaum ein Bürger kommt auf die Idee, daß es vielleicht sinnvoll wäre, erst gar nicht etwas kaputt zu machen, um es später mit noch mehr Geld wieder zu reparieren.

Der Wohlfahrtsstaat lebt aber nicht nur von der Notwendigkeit wirtschaftlicher Zuwachsraten und vom Wirtschaftswachstum selbst, sondern auch von seinem Heer an Beamten und öffentlichen Angestellten, die in der Regel dazu da sind, den Bürger zu beglücken. Diese Angestellten und Beamten befinden sich bei ihrer Tätigkeit in einer absoluten Diskrepanz zwischen dem, was sie als Menschen tun wollen, und dem, was sie als Beamte und Beglückungs­instrumentarium tun können. In der Regel wollen sie nicht, daß die Umwelt zerstört wird, sie können es aber aufgrund der jeweiligen Konstellationen nach ihrer eigenen Einschätzung nicht verhindern. Also versuchen sie, die Zerstörung durch die Beglückung der Bürger zu kompensieren, und zwar auf zweierlei Weise: 1. indem sie sich darüber hinwegtrösten, daß der Bau der Autobahn zwar Landschaft zerstört, aber doch dem Bürger auch etwas mehr Lebensqualität bringt, und 2. indem sie versuchen, alles, was sie dem Bürger geben, als ein Geschenk darzustellen.

Sie sind die permanenten Weihnachtsmänner des Systems. Sie erfinden ein riesiges System von Zuwendungen, als Wohnungsgeld, als Familienbeihilfe, als Kindergeld, als Erziehungsbeihilfe, als Zuschüsse in öffentlichen und privaten Bereichen usw. Und sie verstehen es immer, die Gewährung der Beihilfe so darzustellen, als ob es eine besondere Beglückung des einzelnen oder einer kleinen Gruppe wäre, wenn diese in den Genuß einer Zuwendung kommen würden.

Darüber hinaus geben sie ihren Handlungen noch einen hoheitlichen Anstrich. Sie betonen immer wieder ihre Verantwortung für die Verwaltung der Staatsgelder, die doch vom Bürger schwer erarbeitet werden. Man hört sie förmlich unter ihrer Verant­wortung stöhnen und man sieht ihre erhobenen Zeigefinger, wenn sie trotz aller Bedenken dem Bürger letztendlich die ihm zustehende soziale Zuwendung fast königlich gewähren.

Der Bürger hat dann dieses kleinbürgerliche Glücksgefühl, von seinem Staat, dem er doch eigentlich zu viel zumutet, auch wirklich etwas bekommen zu haben. Und schon ist er wieder bereit, noch mehr zu arbeiten, weiter Steuern zu bezahlen, weil es einem sozialen Zweck dient, und sich in das Unvermeidliche der Sachzwänge zu fügen, wenn in seiner Umgebung eine Müll­verbrennungs­anlage gebaut, eine Giftmülldeponie angelegt, eine Wiederaufbereitungsanlage errichtet oder der Bahnhof für das neue M-Bahnsystem erbaut wird.

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Neben dieser europäischen Ausprägung des Wohlfahrtsstaatssystems, das mehr oder weniger direkte Staats- und Zwangs­abgaben kennt, gibt es auch das amerikanische, das mehr auf scheinbar freiwilliger Basis beruht. Auch hier sind die verschiedenen Traditionen der Arbeitsgesellschaften Ursache für die unterschiedlichen Systeme. Das europäische System als sogenannte Solidargemeinschaft baut auf der handwerklich-zünftigen Struktur auf, während das amerikanische System auf der scheinbaren Freiheit der amerikanischen Konsumgesellschaft aufbaut.

In Amerika verschafft der Wohlfahrtsstaat nicht nur dem verwaltenden Beamten, sondern auch dem einzelnen Bürger, so er denn Wohlfahrtsgeber ist, ein Glücksgefühl. Durch ein System von Stiftungen, Wohlfahrtsorganisationen und Benefiz-Einrichtungen werden dem amerikanischen Bürger weitere Glücksmomente geboten, die dem europäischen Bürger weitgehend fehlen.

Ich will in diesem Zusammenhang nicht untersuchen, welches System gerechter ist — ich neige zum europäischen System —, sondern wie beide und wovon sie finanziert werden. Die Idee des Wohlfahrts­staates geht davon aus, daß sich eine Gesellschaft von vielen Millionen Menschen zusammenschließt, um gemeinsam glücklich zu sein. Diese Glücksidee bezieht sich dabei nicht nur auf die materielle, sondern auch auf die kulturell-geistige Wohlfahrt. Der Staat als Vollstrecker der Wohlfahrtsidee verordnet dem Bürger seine Kultur. Um dies alles zu tun, braucht der Staat zwei Dinge vom Bürger: Überlassung von Geld und Überlassung von Macht.

Das erstere ist immer noch weniger gefährlich als das zweite. Das zweite bedeutet nämlich, daß der Bürger gerade durch die Idee des Wohlfahrtsstaates sich einem immer mächtiger werdenden Staat immer weiter zur Zwangsbeglückung ausliefern muß oder ausliefert. Nichts belegt dies besser als die Einführung aller großtechnischen Systeme in den zivilisierten Wohlfahrtsstaaten, denn all diese Systeme konnten dem Bürger nur durch die Berufung auf das allgemeine Glück und auf die allgemeine Wohlfahrt zuungunsten der natürlichen Umwelt mehr oder weniger auf gezwungen werden. Hierzu zähle ich die Elektrizitäts­versorgung, das überdimensionierte Straßensystem, die Klär- und Müllsysteme und die fortschreitende Industrialisierung der gesamten Landschaft.

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Alles geschieht immer nur für die Wohlfahrt und das Glück der künftigen Generationen oder im allgemeinen übergeordneten Interesse zum Funktionieren eines geordneten Sozialstaates. Und da alles dem Wohl des Bürgers dient, haben sich selbstverständlich die lokalen Bürger den übergeordneten Interessen aller Bürger, nämlich der Idee des Wohlfahrtsstaates, unterzuordnen.

Wenn heute eine große Firma irgendwo einen neuen Industriestandort erschließt, dann tut auch sie das, obwohl sie eine private Einrichtung ist, natürlich für das Wohl des Bürgers. Und wenn die Erkenntnis reift, daß die Zuwachs­raten im Konsumbereich für die Umwelt schädlich sind, warnt die Regierung vor einem Sinken des Bruttosozialprodukts, da damit der Wohlfahrtsstaat in Gefahr geriete.

Niemand wagt sich aber in der öffentlichen Diskussion an die Wurzel des Problems, daß nämlich die Idee des Wohlfahrtsstaates selbst eine der Ursachen für die Zerstörung der Umwelt und damit der Lebensgrundlage des Menschen ist. Denn der gesamte Sozialstaat basiert auf der Idee der Reparatur. Das ist die Grundphilosophie dieses Staates: Er gewährt scheinbar einen großen Freiheitsrahmen, in dem jeder in einem möglichst freiheitlichen Raum tun und lassen kann, was er will. Diese Freiheitsrechte werden aber nicht nur mächtigen und ohnmächtigen Einzelnen, sondern auch mächtigen und ohnmächtigen Gruppen, Verbänden, Organisationen, Vereinen usw. geboten.

Der Staat versteht sich dann als Reparaturtrupp für die von seinen freiheitlichen Bürgern angerichteten Schäden. Er schafft eben nicht einen neutralen Raum, in dem sich der Bürger sein Glück selbst schafft, sondern er repariert in glückbringender Weise. Damit entmündigt er den Bürger, zerstört die Umwelt, frustriert ständig seine Beamten und Angestellten und schafft ununter­brochen immer neue Ersatzwelten.

Der Wohlfahrtsstaat ist die perfekte Organisationsstruktur der mosaischen Glücks­verheißung. Er ist das gelobte Land der christlich-abendländischen Kultur. Je länger er existiert, um so weniger glauben die Bürger, daß es das ist, was sie eigentlich wollten und wofür sie arbeiten, und dennoch wird ihnen Vision auf Vision getürmt. System auf System wird hinzugefügt, wobei dem Bürger immer weniger Glücksgefühle vermittelt werden können, weil es sich immer nur um Beglückungs­instrumentarien einer Beglückungs­bürokratie handelt, die den einzelnen Bürger nicht als Individuum ansieht, sondern als Mittel zum Zweck der Durchführung einer allumfassenden Glücks­verwaltung.

Wie jede entwickelte Verwaltung in einem Endstadium sich selbst genug ist und den eigentlichen Zweck ihrer Funktion vergißt, so ist auch der Wohlfahrts­staat in seiner industriellen Ausprägung am Ende des 20. Jahrhunderts an das Ende seiner eigenen Prophezeiung gelangt. Das Glück besteht nicht mehr im tätigen Erleben des Lebens, sondern im Konsum zugewiesener, staatlich verordneter Glücksanteile, die als Pillen genommen werden müssen, weil von den staatlichen Abgaben einer allumfassenden pharma­zeutischen Glücksindustrie das System selbst finanziert wird.

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  Hans Joachim Rieseberg 1992