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11. Die Krisenbranchen der Industriegesellschaft

 

 

   Die chemische Industrie  

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Die chemische Industrie stellt derzeit einen Anteil von 8% der Industriearbeitsplätze und hat, bezogen auf ihre Arbeits­platz­raten, die höchsten Umsatz­raten. Durch die Art ihrer Produkte wirkt sie in immer weitere Produktions­bereiche hinein, so daß mittelbar noch viel mehr Arbeitsplätze von ihr abhängig sind. 

Die chemische Industrie ist aufgrund ihres hohen Gefährdungs­potentials im Umweltbereich im hoch­gefährlichen Bereich anzusiedeln, denn sowohl ihre Produkte als auch ihre Produktions­methoden und ihre Rückstände sind in den Bereichen angesiedelt, die spätestens Anfang des nächsten Jahrhunderts, wenn nicht schon wesentlich früher, zu den kritischsten des gesamten Ökosystems gehören werden.

Die meisten Erzeugnisse der chemischen Industrie beruhen auf petrochemischen Produkten und bringen Stoffe in den Produktions­prozessen hervor, über deren langfristige Auswirkungen auf die Atmosphäre, auf das Wasser und auf den Boden bisher keinerlei Erfahrungen vorliegen. Die immer größer werdende Zahl von chemischen Verbindungen, die bei den Produktions­prozessen entstehen und z.B. als Abgase die Fabriken verlassen, kann in ihren Auswirkungen auf die Luft bisher auch nicht annähernd abgeschätzt werden. Klar ist jedoch, daß schädliche Langfristwirkungen vorhanden sind.

Daneben führen die flüssigen Abfälle, die in Form von Säuren usw. in die Flüsse und Ozeane abgelassen werden, zu giftigen Verbindungen, die schon mittelfristig die Randmeere endgültig zerstört haben werden. Ist dieser Zeitpunkt aber erreicht, so werden Produktions­verbote Schlag auf Schlag folgen müssen. Die Schließung der Firma Boehringer in Hamburg ist nicht das Ende einer Bewegung, sondern erst der Anfang.

Daneben existiert das Problem, daß die chemische Produktion feste und halbflüssige Rückstände produziert, die deponiert werden müssen. Es gibt aber schon heute für den normalen Hausmüll in der Bundesrepublik kaum noch genügend Platz, um so weniger für den mittel- und hochgefährlichen Sondermüll der chemischen Industrie. Schon heute dürften die Lager aller chemischen Groß­fertigungs­stellen mit Schadstoffen gefüllt sein. Die kriminellen Methoden der Schadstoff­beseitigung beweisen dies hinreichend. Unter welchem Druck die chemische Industrie steht, zeigt auch der Vorgang, daß das Verklappungsschiff Kronos trotz des Robbensterbens im Mai 1988 erneut auslaufen mußte, um Dünnsäure in der Nordsee zu verklappen. Zu diesen Schwierigkeiten des Produktions­prozesses kommt noch die völlig ungeklärte Frage der Abgase, die als Nebenprodukte bei der Produktion entstehen und weitgehend heute noch nicht gemessen werden können.

Der Produktionsprozeß der chemischen Industrie ist hochenergetisch, hat also einen hohen Energieverbrauch. Die Güter sind kurzlebige Produkte, sie werden kaum älter als zehn Jahre und belasten in Form von Abfallmengen und Abfallqualitäten die Umwelt. Die Produktions­methoden sind in der Regel hochgefährlich und fordern gesicherte Flächen, Aggregate und Arbeits­plätze zur Begrenzung von Gesundheits­schäden. 

Darüber hinaus hat sich wahrscheinlich die gesamte chemische Industrie in einen atemberaubenden Wettlauf mit der Zeit begeben. Sie erhofft sich durch die Forschungs­bereiche Biochemie und Gentechnik den Sprung in eine neue, qualitativ andere Chemie, um damit alle Probleme des Umweltschutzes und der Rückstände ein für allemal los zu sein. Zusätzlich hofft sie sogar, durch gentechnische Methoden die Umweltschäden, die schon heute an Tieren, Menschen und Pflanzen entstehen, reparieren zu können. Ein Wechsel auf die Zukunft, der nicht aufgehen wird, weil über den riesigen Investitionen in diese Bereiche die Arbeit an der Veränderung der Primärproduktion, nämlich einer rückstandsfreien, kreislaufhaften chemischen Produktion, vernachlässigt wird.

Man kann diesen Vorgang im Bereich der chemischen Industrie als das größte Vabanquespiel mit der Umwelt und den Arbeits­plätzen ansehen. Mißlingt dieser riesige Umweltpoker, dann wird unter dem Druck von immer katastrophaleren Umwelt­zerstörungen das gesamte Aus für einen riesigen Industriebereich erzwungen werden, gegen den die künftige Schließung der Kernenergieanlagen und der Kernenergie­produktions­bereiche ein Kinderspiel sein wird. In diesem Bereich stehen immerhin allein in Deutschland mittelfristig einige hundert­tausend Arbeitsplätze zur Disposition.

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   Automobilindustrie 

 

Die Automobilindustrie stellt ein Produkt her, das nicht allein durch seine Produktionsmethode, sondern vor allem durch seine Benutzung seine zerstörende Funktion erreicht. Erst am Ende des automobilen Zeitalters dämmert einigen Menschen langsam, welche Dimension mit dieser Produktion erreicht wurde. Viele Produkte des täglichen Lebens und des täglichen Verbrauchs werden zwar heute mit einem ungeheuren Aufwand an Umwelt­zerstörung produziert, sie verlieren aber, wenn sie erst einmal hergestellt sind, etwas von ihrem Schrecken, weil sie dann relativ klag- und lautlos in die Benutzung integriert werden. Ein Telefon z.B. verursacht bei der Produktion relativ viel Umweltzerstörung, ist in seinem täglichen Anspruch an den Benutzer aber relativ unauffällig, da es keinen sehr großen energetischen Unterhaltungs­aufwand benötigt, ein langlebiges Produkt ist und, wenn man es einigermaßen sparsam verwendet, noch einen gewissen kommunikativen Charakter hat.

Es ist kaum glaubhaft oder vorstellbar, daß die Erfinder des Automobils sich die riesige Größenordnung an infrastrukturellen Maßnahmen für den Betrieb, den Unterhalt und die Entsorgung vorstellen konnten. Das Teuflische am Automobil ist nicht allein seine Produktion, sondern auch seine Nutzung. Kommt man in diesem Zusammenhang noch einmal auf John Locke zurück, so besteht der natürliche Nutzen eines Dinges eben in seiner Eignung, Bedürfnisse zu befriedigen und den Annehmlichkeiten des Menschen zu dienen. Die ursprünglichen Vorstellungen von Daimler und Benz bei der Erfindung des Automobils bestanden darin, einige notwendige Versorgungsfahrten in besonders schwierigen Bereichen leicht und unkompliziert sicherzustellen. Hätte man es bei diesen Spezialaufträgen für das Automobil belassen, so wäre es einerseits nicht zur Plage geworden, und andererseits wäre auch die Problematik der Arbeitsplätze, die inzwischen am Automobil hängen, nicht entstanden.

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Die aktuelle Diskussion wird nicht mehr allein von der Forderung des Bundesbürgers bestimmt, überall, an jeder Stelle und zu jedem Zeitpunkt mobil zu sein, sondern wird mehr und mehr überlagert von der Verknüpfung der Produktion des Automobils mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen. Heute hängen mehr als 10% der Arbeitsplätze im Industrie­arbeitsbereich mittelbar oder unmittelbar vom Automobil ab. Deshalb wenden sich Gewerkschafter gegen die Erhöhung der Mineralölsteuer, kämpfen sie vehement für die Erhaltung von Steuerprivilegien für das Automobil und setzen sich ein für eine Verbesserung der Infrastruktur in der Stadt und auf dem Land.

Arbeitsmarktpolitisch scheiden sich am Automobil die Geister. In wenigen Jahren wird der genervte, automobil­geschädigte Mensch zwar bereit sein, die Abschaffung des Automobils zu fordern, weil er trotz Katalysator aufgrund der gestiegenen Dichte des Verkehrs das Ganze nervlich nicht mehr durchhält, er wird dann aber auf die geballte Wucht der Interessen­vertreter stoßen, die ihn fragen werden, was man denn mit diesen Arbeitnehmern machen solle, wo man doch schon die Werft- und Stahlarbeiter, die Bergbau- und die Chemiearbeiter nicht auf anderen Arbeitsplätzen unterbringen könne.

Theoretisch könnte das Problem dadurch gelöst werden, daß das Automobil mehr und mehr seine mobile Funktion verliert und zu einer Art Kultgegenstand wird. Man kauft es sich zwar und stellt es hin, bewegt es aber nicht mehr, weil man aufgrund der Dichte des Verkehrs und der Endlichkeit der Infrastruktur einsieht, daß eine Bewegung sinnlos ist. Dieser theoretisch denkbare Punkt der Entwicklung wurde aber bereits 1960 überschritten, als Staulängen auf Fernverkehrsstraßen erreicht wurden, deren Verweildauer die Gesamtzeit der jeweiligen Reise überschritt. Damit zeigt sich, daß die Vorstellung, empirisch nachweisbare oder nachvollziehbare Entwicklungen im automobilen Sektor könnten zur Einsicht führen, offensichtlich naiv ist.

Die nächste Frage, die sich in einem solchen Gesamtzusammenhang stellt, ist die nach den Produzenten; ob also die Automobil­industrie schon wenigstens einmal insgeheim mit dem Gedanken schwanger gegangen ist, daß das Automobil und das automobile System in der derzeitigen Form seinem Ende zugeht? 

Alle Gespräche, die ich mit führenden Funktionären im produzierenden Bereich geführt habe, lassen hier keinen Erkenntnisprozeß sehen. Sowohl die öffentlich zugänglichen Stellung­nahmen aller Automobil­hersteller als auch einige Gespräche unter vier Augen ergeben für einen Umdenkungsprozeß keine Hoffnung.

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Auch an dieser Stelle will ich noch einmal versuchen, die Sekundärwirkungen des Produktes Automobil darzustellen. Dabei gehe ich von folgenden Voraussetzungen für ein künftiges Automobil aus: 

  1. Es gelingt mit Hilfe speicherbarer Sonnenenergie, einen umweltneutralen Treibstoff in Form von Strom für das Automobil herzustellen; 

  2. die notwendigen Batterien für den Betrieb enthalten keinerlei chemisch nicht abbaubare Gifte; 

  3. der Ölverbrauch für die Schmierung am Automobil wird durch eine hochentwickelte Metallagertechnik auf Null gesenkt; 

  4. es werden verschleißfreie Reifen entwickelt, die keinen Abrieb mehr produzieren; 

  5. da der Lärm durch die Motoren auf Null gebracht ist (Elektromotoren), werden die Reifen so konstruiert, daß auch sie keinen Lärm mehr verursachen; 

  6. das Automobil wird in einer Standardbauweise gebaut, die einen beliebigen Austausch und eine Wiederverwendung der Teile garantiert; 

  7. das Automobil wird so voll Elektronik gepackt, daß die Unfall­häufigkeit, resultierend aus der Unfähigkeit der Benutzer, mit dem Auto umzugehen, gegen Null reduziert wird.

 

Als Probleme auch bei einem so konstruierten utopischen Automobil bleiben dann immer noch die tägliche Belästigung, die Dichte des Verkehrs, die riesige Menge an Park- und Abstellplätzen und die Zerschneidung der Landschaft durch die permanente Zurver­fügung­stellung von Flächen, auf denen das Automobil rollen kann, gemeinhin Straßen genannt.

Die Zukunftsstudien der Automobilindustrie weisen ohnehin in eine völlig andere Richtung. Sowohl das "intelligente" Automobil, das dem Fahrer weitestgehend die Fahrentscheidungen abnimmt, als auch das zu einer Endloskette verkoppelte Massen­verkehrsmittel, wie sie das Konzept des VW-Konzerns vorsieht, erfüllen die ursprüngliche Funktion, die dem Auto zugedacht war, nicht mehr. Das Auto ist gedacht als integraler Bestandteil des menschlichen Lebensgefühls. Es sollte den Menschen schneller machen, es sollte den Menschen mobiler machen, es sollte den Menschen vor der Witterung schützen, es sollte ihm Bequemlichkeit beschaffen, und es sollte das Gegenteil von dem bewirken, was der Mensch eigentlich mit dem Ackerbau wollte, nämlich seßhaft zu werden.

Das Ergebnis von 100 Jahren Automobil ist jedoch, daß der Mensch seßhaft wird, weil er froh ist, einen Parkplatz für sein Automobil zu ergattern, daß er abhängig wird, weil sehr viele Arbeitsplätze am Automobil hängen, daß er immobil wird, weil er entweder einen Parkplatz suchen muß oder im Stau steckt, daß er seinen aufrechten Gang verliert, weil das Automobil sparsam und windschlüpfrig sein muß, er also fast in seinem Automobil liegen muß, daß es ihm keinen Spaß macht, weil er als Nicht­automobilist von ihm nur noch belästigt wird, und daß es die Landschaft zerstört, in die er eigentlich will, um sie zu bewundern.

Das automobile System wird mithin immer mehr zum Schicksal der industriellen Gesellschaft. Alle Zukunftsstudien der Automobil­industrie versuchen wachstumsorientiert dem Automobil eine Überlebenschance zu garantieren und werden ihm wahrscheinlich damit den Todesstoß versetzen, denn das "intelligente" Automobil, wie es der VW-Konzern so schön beschreibt, wird nicht allein den Abstand zum nächsten regeln, die Geschwindigkeit regulieren und damit zu einer Verringerung der Unfall­gefahr führen, sondern wird, wenn es erkennt, daß es sinnlos ist, loszufahren, auch gar nicht erst starten und so mit seiner maschinellen Intelligenz die Unvernunft des Fahrers regulieren.

Auch das ist selbstverständlich keine Utopie. Die Realität könnte theoretisch auch noch anders sein, sie wird mehr in einer Anzeige für den neuen Opel Omega beschrieben, in der es so schön heißt: "Die große Freiheit des Opel, des Omega Caravan, beginnt schon im Fahrgastraum und geht weiter hinter der umklappbaren Rücksitzlehne."

Das ist dann also die große Freiheit: Wenn der Mensch im Stau steht, und zwar im endgültigen Stau im Jahre 2000, wenn es in Berlin eine Million Automobile gibt und in der Bundesrepublik 35 Millionen, dann kann man sich in diesem letzten Stau in den umklappbaren Fahrgastraum zurücklehnen und das Ende des Staus abwarten.

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