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16. Aggression und Flucht

 

 

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Neben der Angst gilt die Aggression als Grundtrieb des Menschen. Auch sie wird wie jene als Erbe unserer Natur­vergangenheit angesehen. Im Unterschied zur Angst gilt die Aggression jedoch in weiten Teilen der Zivilisations­gesellschaft als positives Element unseres Erbes. Der Aggressive, der Angreifer, wird bewundert, wenngleich seine Taten in der Regel bedauert werden, auch hier also eine schizophrene Betrachtungsweise und die Verdrängung des Problems in Form einer Zuweisung zum Urmenschen.

Wurde in den frühen Zivilisationen die Aggression noch als mehr oder weniger natürliches Element mensch­licher Lebens- und Handlungsweise angesehen, so taten sich die späteren Zivilisationsstufen vor allem seit der Entstehung des Christentums schwerer mit ihr. Es wird deshalb von allen heute existierenden Zivilisationen als Glücksfall gefeiert, daß die Aggression als Relikt des Tierhaften im Menschen überlebt hat und deshalb auch kaum zu bekämpfen ist.

Die Aggression, der Stärkere und das Auslese­prinzip werden auch hier trivial darwinistisch als Grundlage des Überlebens in einer feindlichen Umgebung angesehen und geradezu gefeiert. Wolf, Hai, Tiger, Skorpion und viele andere als aggressiv angesehene Tiere gelten als Vorbilder; die Zähmung der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften findet beim Menschen dann in der Ritterlichkeit statt, was nichts anderes als eine domestizierte Unterwerfungsform des Herrschenden und des Stärkeren darstellt.

In den letzten Jahrzehnten ist es der vergleichenden Verhaltensforschung jedoch gelungen, das Märchen vom Wolf mit seinen männlichen, nämlich aggressiven Eigenschaften zu entlarven. Der Hai ist auf das Tier reduziert worden, das er ist: Er ißt etwas, wenn er Hunger hat.

Der Mörder Hai und der Mörder Wal sind fast zu friedliebenden Tieren geworden, und der Tiger greift auch nur an, wenn er Hunger hat oder gereizt wird. Dasselbe gilt für den Skorpion und alle anderen als aggressiv angesehenen Tierarten.

Damit entfällt auch für den Menschen die Rechtfertigung seiner Aggressionshandlungen. Auch hier widerfährt dem Menschen einmal mehr ein furchtbares Schicksal: Ihm bleiben keine Erklärungen mehr für seine Handlungsweise, er selbst ist das bisher einzige Tier, das sich Aggressivität antrainiert hat. Die vergleichenden Untersuchungen bei lebenden Jäger- und Sammlervölkern und die geradezu dulderhafte Hingabe der eroberten Wilden in Nordamerika, Südamerika und Australien beweisen, daß nur die zivilisierten Abendländer aggressiv waren.

Wo liegen nun die Ausgangspunkte dieser Aggressivität?

Um es noch einmal zu sagen: Beute machen und Jagen sind keine aggressiven Handlungen, sondern Handlungen des Selbsterhaltungstriebs. Aggressivität kommt in der Natur nur in unaus­weichlichen Situationen vor, es ist die organisierte Notwehr des Tieres oder des Menschen, der in die Enge getrieben wird und nur durch die Tötung des anderen sein eigenes Leben retten kann.

Diese natürliche Aggressivität ist diejenige, die der Ackerbauer durch seine Lebensorganisation sich zivilisat­orisch selbst antrainiert. Er schafft sich durch seine Seßhaftigkeit Räume, aus denen er scheinbar nicht mehr entfliehen kann. Er schafft organisatorische Strukturen, die eine Flucht als die natürlichste Methode der Selbsterhaltung nicht mehr zulassen.

Ich will an dieser Stelle darauf verzichten, die komplizierten chemischen Abläufe zu beschreiben, die den Menschen in die Lage versetzen zu fliehen: Ansteigen des Blutdrucks, Adrenalinausschüttung usw. Klar ist aber, daß wir nunmehr endgültig durch die medizinische und chemische Forschung wissen, daß allen Aggress­ions­handlungen Fluchtbestrebungen vorausgehen. Die Organisations­methode ackerbaulicher Strukturen und die Organisationsstrukturen der Arbeitsgesellschaft verstellen dem Menschen seine natürlichen Flucht­möglich­keiten und treiben ihn in immer aggressivere zivilisatorische Handlungen hinein.

Der Ackerbauer schafft sich durch seine Seßhaftigkeit, seinen Besitz und seine Herrschaftsstrukturen, also seinen Besitz an Menschen, ein Gebiet und einen geistigen Raum, der ihm eine Flucht, ein Ausweichen nicht mehr möglich erscheinen läßt.

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Bei jeder Bedrohung von außen muß er entgegen seinen natürlichen Anlagen zum Äußersten greifen, er muß an die Stelle der Flucht die Aggression setzen. Er geht zum Angriff über, er kämpft, und er rechtfertigt seinen Kampf mit vermeintlichen Notwehr­situationen. Er verteidigt sein Eigentum, er verteidigt seinen geistigen Raum, seine Ehre, und er betreibt — wie er alles vorsorgend betreibt — Einübungen in Aggression, was bedeutet, er organisiert Krieg. Dies ist der Eintritt der Zivilisation in eine Aggressions­gesellschaft.

Die erste Form dieser Aggression ist der Angriff des Ackerbauern auf den Boden.

Aus seinem Mangelwahn heraus sieht der Ackerbauer den Boden als Feind an, der ihm eines Tages keine Nahrung mehr geben könnte. Er reißt den Boden auf, er übt Gewalt aus. Darüber hinaus birgt diese Handlung eine sehr umfassende phallisch-männliche Symbolik. Es ist die gewaltsame Ausübung der Begattung. Diese organisierte Aggressionshaltung, die als Umwandlung der Flucht in Aggression zu einem Stau der Handlungen und zu einer Ausweglosigkeit führt, treibt den Menschen in einen immer weiter gehenden Verfolgungswahn. Er organisiert nunmehr seine Umgebung immer mehr zur Festung. Er baut sich Burgen und nennt diese dann auch noch merk­würdiger­weise Fluchtburgen, ein Widerspruch in sich, weil die Flucht in eine Burg keine Flucht, sondern ein Rückzug in die Aggression ist. Erst der moderne Partisanenkrieg hat gelehrt, daß der unbefestigte Dschungel eine wesentlich günstigere Verteidigungs­basis gegenüber jedem Aggressor ist als eine befestigte Burg, ein Panzer, ein U-Boot oder im zivilen Bereich ein Automobil.

Fast alle Sozialtheoretiker haben bisher Schwierigkeiten mit dem Übergang des Menschen vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern gehabt. Die einen begründen diesen entscheidenden Schritt der Menschen mit seiner Mangelsituation, und zwar nicht deshalb, weil die äußeren Erkenntnisse uns zu einer solchen Einsicht zwingen, sondern wie J. Rifkin es ausdrückt: "Man stürzt sich nicht in existenzbedrohende Abenteuer, wenn es einem gutgeht, außer man ist völlig verrückt" (Jeremy Rifkin, Entropie: Ein neues Weltbild, Frankfurt 1985, S. 77). "Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Jäger und Sammler sich dem Ackerbau aus reiner Not zugewendet haben."

Die existenzverändernde Umwandlung von Fluchttrieben in Aggressionstriebe ist die entscheidende, die den Menschen der Zivilisations­geschichte in lauter existenzbedrohende Abenteuer treibt.

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Die selbstverschuldete Ausweglosigkeit, die zum Aggressionstrieb führt, treibt den Menschen in die verrückt­esten Abenteuer und die Menschheit in einen zweifelhaften Nachahmungstrieb und einen blinden Fortschritts­glauben, nachdem die ersten Schritte zum Ackerbau getan sind. Alle weiteren Schritte in die fortwährende Technisierung sind nicht rational, wie Rifkin darstellt, sondern liegen in der Steigerung des Aggressions­verhaltens selbst.

Je mehr der Mensch sich technisch entwickelt, um so mehr schafft er sich immer ausweglosere Situationen und Systeme. Dem Ackerbau folgt die Stadt, ein System, das sich in sich abschließt, sich mit einer Mauer umgibt und damit eine selbstverschuldete Ausweglosigkeit schafft. Die Stadt als Fluchtburg wartet solange auf den äußeren Feind, bis er erscheint und sie sich endlich ihrem Aggressionstrieb hingeben muß. Der Stadt folgt der Zentralstaat, der durch seine umfassenden Organisations­methoden jeden Bürger permanent vor ausweglose Situationen stellt, ihn an der Flucht hindert, ihn aus seinem Staatssystem nicht entläßt und ihn seine natürlichen Triebe nicht mehr ausleben läßt. Das Bedrohliche von Verwaltungen, von Organisationen, Gerichten, Gesetzen, Verordnungen, Vorschriften usw. ist der Ausdruck dieser Verstrickungen des Menschen in Aggressions­systeme, die ihn hindern, sich natürlich zu benehmen. Aus dem einzelnen neurotischen Ackerbauern wird der organisierte, gesellschaftlich neurotische Städter, der Stadtneurotiker.

Je größer die Systeme werden, um so auswegloser werden sie. Sie bilden zwar in sich noch dschungelhafte Restflächen aus, schaffen aber für den einzelnen in kleineren Organisations­einheiten wieder neue Zwangssysteme, die ihn in die Aggression treiben. Die Menschheit wird in Gänze verrückt, eine Vorstellung, die erschütternd ist. Diese Erkenntnis dürfte genauso erschütternd sein wie die bei einem Volk, dessen Väter und Vorväter Massenmörder waren, die andere Menschen in KZs massenhaft vernichtet haben.

Vor einem ähnlichen Erkenntnisprozeß stehen wir heute am Ende unserer Zivilisation. Darum liegt es natürlich nahe, diejenigen, die dies aufzudecken versuchen, selbst zu Verrückten zu erklären und damit zu neutralisieren oder zu eliminieren. Erst dieser Erkenntnisprozeß wird aber die Menschen dazu bringen, aus ihrem selbstgewählten Aggressionstrieb zurückzugehen in die Freiheit der Flucht. Der Mensch als Fluchtwesen kann nur in dieser Freiheit eine Überleben­schance gewinnen.

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Auch Karl Marx hat mit seinen Eigentumsideen von dieser Grundproblematik des Aggressionsneurotikers abgelenkt. Das Problem der Menschheit besteht nicht im Privateigentum und einer Rückführung des Privateigentums in ein gemeinsames Eigentum, sondern in einer Neuorientierung des Menschen zu seiner Umgebung. In einer neuen Organisationsform, die allen Menschen wieder Fluchtmöglichkeiten bieten, Auswege eröffnen und sie vom Zwang zur Aggression befreien kann. Diese Befreiung kann aber nicht von außen kommen, sondern nur vom Menschen selbst. Der einzige, der dies bisher umfassend ausgedrückt und schon sehr frühzeitig die Auswege aus der ökologischen Katastrophe aufgezeigt hat, ist Kant mit seinen sehr einfachen Vorstellungen von Aufklärung: Sie ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit und die Aufforderung an den Menschen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.

Die Aggressionssysteme, die wir uns heute aufgebaut haben, übersteigen natürlich bei weitem das, was der einfache Ackerbauer vor 10.000 Jahren entwickelt hat. Man denke nur an die Situation eines Autofahrers, der ein Automobil mit 250 km/h bewegen kann. Er befindet sich auf der linken Spur der Autobahn, und vor ihm überholt ein anderer Autofahrer, der maximal 120 km/h fahren kann oder will, einen Lkw. Der Autofahrer sieht sich in einer ausweglosen Situation, weil er mit seinem potenziert schnellen Auto nicht weiterkommt. Die natürliche Reaktion dieses Menschen ist Flucht, sein Blutdruck steigt, die Adrenalin­ausschüttungen nehmen zu, er wird aggressiv. Das Ergebnis ist bekannt: Es sind die jährlich Tausende von Verkehrs­toten allein in der Bundesrepublik.

Oder denken wir nur an denjenigen, der eine Rakete konstruiert, diese letzte Steigerung des phallischen Gerätes des Ackerbauers und die definitive Möglichkeit der Menschheit, die Gesamtaggression, die sie gegen sich selbst aufgestaut hat, in eine zerstörerische Kraft mittels eines atomaren Sprengkopfs umzusetzen. Der überdimensionale Aggressionsneurotiker hat die Möglichkeit, die Menschheit zu vernichten, und verbirgt sein Aggressions­potential hinter einem Verteidigungsvorwand. Er muß die Menschheit notfalls vor sich selbst schützen.

Dieses tut natürlich auch der Konstrukteur des Schnellen Brüters, der in einem Radiointerview erklärt, Plutonium, der Hauptbrennstoff des Schnellen Brüters, sei ein Gift wie viele andere auch, welche die Zivilisation hervorgebracht habe und die mehr Fortschritt als Gefahren brächten.

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Gift ist in diesem Falle ein Synonym für Aussichtslosigkeit, für Fluchtunmöglichkeit, für Endlichkeit, für Selbstmord. Gift ist die Entscheidung ja oder nein, ist die Fluchtburg, ist die Potenzierung des Aggressions­triebs. Plutonium ist das Gift, das bisher in der Entwicklungsgeschichte der Zivilisation die längste Wirkung hat. Frühere Gifte wirkten entweder sofort tödlich, wie noch bei Sokrates, oder höchstens eine Generation lang. Plutonium wirkt heute schon länger, als die gesamte Zivilisation besteht.

Wenn wir schon keine Aussicht haben auf die Erfüllung all unserer Wünsche — so lautet die Botschaft —, dann sollen die künftigen Generationen dies auch nicht haben. Dies als Ausdruck des vorausplanenden Aggressions­triebs, der viel mehr ist als der Aggressionstrieb eines Adolf Hitler, der "lediglich" eine Nation vernichten wollte, nämlich die auserwählte, die eigene, während hier die potentielle Vernichtung der gesamten Menschheit organisiert wird. Dahinter verbirgt sich wahrscheinlich die Ausweg­losigkeit eines Konstrukteurs, der sieht, daß die feige Menschheit keinen Mut zum Fortschritt mehr hat und sie deshalb ein Überleben auch nicht mehr verdient.

Wenn wir unsere zivilisatorischen Produkte, Organisationsstrukturen, Gesellschaftsformen und Denk­schemata untersuchen, können wir leicht die Ausweglosigkeit der Systeme erkennen. Niemand kann sich dem durch­organisierten demokratischen Staat entziehen, niemand entgeht der Volkszählung, keiner kann sich der Luftverschmutzung entziehen, die Menschheit zieht sich in einem umfassenden kollektiven Akt in ihre technische Fluchtburg zurück. Sie ist so krank, daß sie bereit ist, kollektiven Selbstmord zu begehen, und faßt dies als gigantischen Kampf gegen den drohenden Mangel auf. 

Aus Mangel an Arbeit werden sinnlose Arbeitsplätze erhalten, aus Energiemangel werden Kernkraftwerke gebaut, aus Mangel an Unterhaltung wird eine gigantische Tourismusindustrie in Gang gesetzt, wegen einer Bedrohung der Freiheit im Staat werden gigantische Gesetzgebungen und Polizeiapparate auf den Weg gebracht, und wegen der drohenden Immobilität der Bevölkerung werden ganze Landstriche plattgewalzt und in Autobahnen verwandelt. Der nichts tuende, nichts denkende, nichts fühlende Computer-Roboter-Verwalter­mensch der zivilisatorischen Endzeit bringt sich selbst um und wird noch einen Roboter hinstellen, der 36 Stunden weiterläuft und seinen Untergang endlich als Sieg über die eigene Unfähigkeit zum Fortschritt feiern wird.

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Die einzige Chance, die Chance zur Flucht, zum Nicht-Mitmachen, zum Aussteigen, zum Abschalten, zum Nichtstun, zum Weghören wird der Mensch in seiner gesteigerten Aggressions­neurotisierung nicht ergreifen können. Er ist gelähmt von der Vorstellung, daß gar kein Gegner da ist, daß sein Gegner nur er selbst ist, und er wird deshalb männlich heroisch untergehen.

Marx sieht den Wert der Zivilisation in der Aneignung des Materiellen durch den Menschen in Form des dialektischen Prozesses. Er gesteht dabei dem Menschen die Freiheit zu, sich der materiellen Ressourcen der Umgebung fast beliebig zu bedienen. Diese Freiheit der Aneignung sprengt den kategorischen Imperativ von Kant und führt ihn scheinbar weiter. Denn nach Meinung von Marx und Hegel engte Kant den Menschen durch die Moral ein. Er tat dies aber mit Sicherheit nur in geistiger, nicht jedoch in materieller Hinsicht. Wenn man mit unserem heutigen Wissen die aufklärende Philosophie Kants betrachtet, kann uns wahrscheinlich nur ein materieller kategorischer Imperativ vor der Umweltkatastrophe bewahren. Alle Vorstellungen von Neokonservativen oder anderen, die Umweltkatastrophe sei dadurch aufzuhalten, daß man die Umwelt zu einem Wirtschaftsgut im kapitalistischen Wettbewerbskreislauf macht, sind naiv, denn auch die Vorstellung, daß diese Wettbewerbswirtschaft die Arbeitsplatz­problematik lösen könnte, hat nur für eine kurze und besondere Zeit Bestand gehabt.

Von heute aus gesehen propagierte Marx mit seinen materialistischen Thesen lediglich einen Vulgär­material­ismus, denn er verstand die Ressourcen der Natur als unendlich zur Verfügung stehend. Auf diesem Wege folgten ihm leider fast alle, ob Sozialisten, Kapitalisten, Anhänger der freien wie der sozialen Marktwirtschaft, und selbst viele Entwicklungsländer glauben immer noch, daß ihr Elend durch einen möglichst umfangreichen Güterverbrauch beseitigt werden könne.

In diesem allgemeinen philosophischen Durcheinander siedelte Norbert Elias seine Theorie vom Prozeß der Zivilisation an. Er schuf damit zweifelsohne eine interessante Neuinterpretation geschichtlicher Abläufe, unterschied er doch zwischen der individuellen Triebsublimierung einer komplexen Welt und dem gesamt­gesell­schaftlichen Bewußtseinswandel.

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Zwischen diesen stellte er keine unmittelbaren Bezüge her und entwickelte dennoch eine Theorie, wie durch ein Auf und Ab von Beeinflussungen ein Gleichklang der Rationalität immer stärker am Horizont aufstieg. Nach seiner Auffassung wird der Mensch in einer fortgeschrittenen Zivilisation friedlicher, er sublimiert seine Triebe besser, und er wird affektfreier. Trotz aller Kritik an den Unterwerfungsstrategien der Abendländer gegenüber anderen Völkern sieht er einen gemeinsamen Prozeß der Erdbevölkerung zur Triebgebundenheit: 

"Es ist oben ausführlicher gezeigt worden, wie etwa von den verschiedenen Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird. All das geht gewiß nicht auf eine rationale Idee zurück, die vor Jahrhunderten irgendwann einmal einzelne Menschen konzipierten und die dann einer Generation nach der anderen als Zweck des Handelns, als Ziel der Wünsche eingepflanzt wurden, bis sie schließlich in den Jahrhunderten des Fortschritts zur vollen Wirklichkeit wird. Aber diese Transformation ist dennoch auch nicht nur ein strukturloser und chaotischer Wechsel... Aus ihr, aus der Interdependenz des Menschen ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die zwingender und stärker ist als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden" 

(N. Elias, Der Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 323).

Nach Elias wird also das Trieb- und Affektleben durch beständige Selbstkontrolle, durch den Prozeß der Zivilisation gleichmäßiger und stabiler. Der Erkenntnis­prozeß von Elias fand zweifellos einerseits unter dem Eindruck des überwundenen Faschismus und andererseits unter der stabilen Funktion des Staates der fünfziger und sechziger Jahre statt. Die Ordnungs­funktion des Staates in fast allen westlichen und in vielen sozialistischen Ländern garantierte in der Tat nach dem Zweiten Weltkrieg an der Oberfläche eine scheinbar stabile, nach außen affektschwache und sichere Umgebung, in der der einzelne seinem individuellen Streben weitgehend nachgehen konnte, ohne daß er damit den anderen entscheidend treffen mußte.

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Was Elias und fast alle mit ihm übersahen, war die Tatsache, daß in den Kellern dieser Gesellschaft sich ein materieller und geistiger Müll anzuhäufen begann, den wir heute ausgraben müssen und der uns und die nachfolgenden Generationen zu verschlingen droht. Wir müssen erkennen, daß die Triebsublimierung nicht in Richtung zur Gesundheit hin ablief, sondern einerseits zur psychischen Deformierung immer weiterer Teile der Bevölkerung führte und andererseits in immer verhängnisvollere Bereiche des materiellen Lebens überführt wurde. 

Vor allem das letztere wurde zunächst von fast allen als positiv empfunden. Die Gesellschaft der damaligen Zeit war scheinbar in einem Neuaufbau begriffen und überwand den Einbruch des Faschismus. In dieser Phase des Neuaufbaus blieben den einzelnen Menschen und Gruppen noch genügend Fluchtmöglichkeiten in die Aufbauprobleme, in die Träume vom besseren Leben und — so makaber das auch klingen mag — in die Trümmer des Vergangenen.

Trümmerlandschaften sind für Menschen schon immer interessante Ersatzgebiete für verlorene Naturträume gewesen. Es gab zu dieser Zeit noch nicht den allumfassenden Zugriff der Verwaltung, noch nicht das streng gegliederte Rechtswesen. Was vorherrschte, war immer noch die Ordnung des Lebens und nicht das Chaos der Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Die fünfziger und sechziger Jahre waren illusionäre Zeiten, die den Menschen mehr denn je das Gefühl gaben, das Dasein auf dieser Erde unterläge keinen Beschränkungen, sondern brächte die endliche Erfüllung fast allen bisher Erträumten.*

Der ungeheure Aufbruch einer optimistischen Wissenschaft, die Überwindung fast aller Krankheiten, das unbeschränkte Zur-Verfügung-Stellen aller leiblichen Genüsse, die Eroberung der Weiten dieser Erde und das Abheben des Menschen von der Erde in den Weltraum waren die Illusionen, die die realen Probleme vergessen und die wirklichen Probleme in den Keller sacken ließen. Niemand schien zu bemerken, welche Abfallstoffe materieller und geistiger Art sich aus diesen Allmachtsträumen ergeben würden. Die einen träumten von der Eroberung des Weltraums, die anderen von der Entdeckung des kleinsten Teilchens, der Unternehmer vom Aufbau eines großen Konzerns und die Arbeiter vom Auto, vom Eigenheim, von der Sauna oder vom Swimmingpool. 

Die geistige Elite oder die Intellektuellen träumten von der sexuellen Befreiung und vom Übergang des Menschen zu einem edlen, sozialisierten, zivilisierten und urbanisierten Wesen. Auch hier zeigt sich wieder der Glaube an die Unbeschränktheit der Möglichkeiten. Während der Arbeit an diesen Illusionen wurden für die denkenden wie für die träumenden Menschen die Fluchtmöglichkeiten verbaut — materiell durch die

* (d-2006)  Das ergänzt Bahro dort, wo er schrieb, daß das Wirtschaftswunder als Erkenntnisbremse wirkt.

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Ausräumung der Natur und geistig durch die Materialisierung der Traumwelt, denn Träume, die ganze Menschheits­generationen geträumt hatten, wurden nun ins Materielle übertragen und führten zu riesigen Ernüchterungen und Enttäuschungen.

Die totale Mobilität des Menschen durch das Automobil führte zum Stau, die totale Unterhaltung durch Fernsehen und viele weitere Medien zur tödlichen Langeweile und der Aufbruch ins Weltall zur Angst vor der Unendlichkeit. Daneben wuchsen die Müllberge, die wesentlich größer waren als die Errungenschaften, in immer beängstigenderem Ausmaß. Der Zwang des selbst­geschaffenen Systems ließ gleichzeitig dem einzelnen oder der kleinen Gruppe immer weniger Spielräume. Der Widerspruch des Strebens nach dem Ausstieg aus dem Materiellen und die materiellen Zwänge selbst neurotisierten eine ganze Gesellschaft. Das alte Schema von Flucht und Aggression tritt auf, wird aber niemandem mehr deutlich.

Eine neue Theorie der Zivilisation ist also nicht nur auf der Beziehung zwischen den Menschen, sondern vor allem auf der Beziehung des Menschen zu seiner Umgebung aufzubauen. Alle Zivilisationsgeschichte geht bisher nur von der Menschenwürde aus, nicht aber vom Wert der Natur. Die bisherige Entwicklung der Zivilisation belegt aber eine fundamentale Erkenntnis: Je zivilisierter die Menschen miteinander umgegangen sind, um so grausamer sind sie mit der sie umgebenden Natur umgegangen. Die Abendländer aus Europa und Asien halten es sich zugute, die am weitesten entwickelten Menschenrechte zu haben, die je auf dieser Erde existierten. Diese Zivilisierten haben in derselben Zeit, in der sie diesen Musterstaat aufgebaut haben, die größte zivile Zerstörungsmaschinerie in Gang gesetzt, die es auf dieser Erde jemals gegeben hat und die auch die der Römer weit in den Schatten stellt. Als scheinbar triebsublimierte Menschen setzen sie Instrumente und Maschinen in Gang, mit denen sie in Zivilzeiten mehr Menschenopfer, Schwer- und Leichtverletzte produzieren, als je ein Krieg gefordert hat. Das System Automobil ist die größte zivile Zerstörungs­maschinerie, die sich Menschen jemals ausgedacht haben.

Die Theorie der Triebsublimierung von Norbert Elias ist eine Theorie des optimistischen Zeitgeistes, der die Umbruchsituation der sechziger Jahre nicht erkennen konnte. Sie beruht auf zwei falschen Voraussetzungen, daß nämlich 1. der Mensch von Natur aus triebhaft und aggressiv ist, und 2. die Zivilisation es unmerklich und mit einigen Rückschlägen, aber letztlich doch fast geschafft hat, aus diesem ungestalteten, triebhaften Wesen einen sublimierten, affektarmen, intelligenten, zwanglosen, aber beherrschten Menschen zu machen.

Schon wenn wir auf das Verhältnis des heutigen Menschen zu seiner Umwelt schauen, müssen wir jedoch feststellen, daß nie zuvor Menschen so schrecklich mit ihrer Lebens­grundlage umgegangen sind. Wir müssen also heute erkennen, der Wilde war nicht wild, aber der Gezähmte wurde wild gemacht. Wir können sogar feststellen, der heutige sozialisierte Mensch (welch ein Widerspruch!) ist wahrscheinlich der am wenigsten trieb­sublimierte, auch die kleinste Ursache löst bei fast jedem einzelnen schon eine ungeheure Affekthandlung aus. Ganze Gesellschaften befinden sind heute in einem Zustand, in dem auch der geringste Impuls eine ungeheure Panik bewirkt.

Vergleicht man diesen Zustand mit dem intelligenten Gleichmut der wenigen noch verbliebenen Wilden, so wird sofort klar, welche Funktion die Zivilisation hatte. Die Gesellschaft und die Menschen haben sich eine Situation aufgebaut, in der ihnen jede Möglichkeit der Flucht voreinander und der Flucht aus dem System versperrt bleibt. Die damit verbundenen Konsequenzen für das Fortbestehen von Gesellschaften sind gravierend. Wenn fast eine ganze Gesellschaft neurotisiert ist, kann man nicht mehr den einzelnen an die Gesellschaft anpassen, sondern muß die Gesellschaft wieder an den Menschen anpassen. Wenn die künstlich geschaffene Umgebung die Menschen physisch und psychisch krank macht, muß man die Umgebung ändern und nicht den Menschen an die Umgebung anpassen.

Die bisherige Zivilisation war ein untauglicher Versuch, die Menschen zu beglücken. Sie hat den Menschen nicht stark gemacht, sondern hat ihm nur die Illusion der Stärke gegeben. Sie hat ihm nicht die Flucht­möglichkeit offengelassen, sondern hat ihn eingebaut und gezwungen. Sie hat ihn aggressiv gemacht, und wenn er an ihr festhält, wird er mit ihr untergehen.

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Arbeit bis zum Untergang  #  Die Geschichte der Naturzerstörung durch Arbeit  #  Hans Joachim Rieseberg 

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