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2.  Chronobiologie:

 Die Uhr, nach der wir gehen

 

 

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Um die Zeit wiederzuentdecken, ist es wesentlich, in die Mikrowelt weit unterhalb der Oberflächen zu reisen. Bei der Durchdringung jedes materiellen Substrats wird unser Wirklichkeitsgefühl von der Lebhaftigkeit dessen erschüttert, was wir für harte physikalische Wirklichkeit hielten. Organe lösen sich auf in Gewebe, Gewebe in Moleküle, Moleküle in Atome. Könnten wir den winzigsten Aspekt unserer physikalischen Welt genügend vergrößern, so würden wir feststellen, daß selbst die Atome sich auflösen.

Wir entdecken auf dieser elementarsten Stufe der materiellen Wirklichkeit nicht harte, materielle Dinge, sondern oszillierende Felder und Wellen von Rhythmen. Unterhalb der materiellen Welt, die wir lange als Muttergestein der Wirklichkeit hingenommen haben, liegt eine andere Welt, die die Physik des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt hat: eine nichtmaterielle Welt reiner Zeitlichkeit, eine Welt vibrierender Kräfte, eine Welt pulsierender Energien, die rhythmisch in einem ausgeklügelt choreographierten Tanz interagieren, der das ganze Universum auszubreiten, ihm Ordnung und Sinn zu geben scheint.

Hier in diesem stillen, unberührbaren Reich entdecken wir eine tiefere Ordnung; sie ist vom menschlichen Verstand wenig erklärt und wenig verstanden, doch nun fordert sie immer mehr unsere Aufmerksamkeit.

So lange wir uns erinnern mögen, klassifizieren und reklassifizieren, ordnen und neuordnen wir die Welt schon, als bestünde sie allein aus räumlich gebundenen, materiellen Stücken Wirklichkeit. Nun beginnen wir eine neue Reise, ein Ausloten der zeitlichen Ordnung, die der physischen Dimension zugrunde liegt, Form und Sinn gibt. Die Idee der Zeit ist seit langem interessant für Philosophen, aber für wenig andere in der intellektuellen Gemeinschaft. Heute erfährt die Zeit eine Renaissance. Sie ist zu einem heiß diskutierten Thema unter Psychologen, Anthropologen und Soziologen geworden. Nirgends jedoch wird ihr mehr Aufmerksamkeit zuteil als in der Biologie, wo Hunderte von wissenschaftlichen Aufsätzen jedes Jahr unter der Rubrik einer neuen Disziplin namens Chronobiologie veröffentlicht werden. 

Die Biologen sind dabei, den Begriff Zeit von dem erhabenen philosophischen Thron herunterzustoßen, auf dem er lange Zeit als letzter Gegenstand abstrakten, theoretischen Nachdenkens residiert hat, und untersuchen ihn als ein beobachtbares Phänomen in der physisch-biologischen Welt. Mit jeder neuen Entdeckung in der Chronobiologie kommen wir näher daran, uns in zeitlichen wie auch materiellen Begriffen neu zu definieren. Die gesellschaftlichen Implikationen dieses Wandels im Denken sind wahrscheinlich enorm und weitreichend. Wie die meisten großen Verschiebungen im menschlichen Bewußtsein war der Anfang dieses speziellen Besuchs bei der Erforschung der Zeit unauffällig. Ein Schweizer Arzt, Auguste Forel, frühstückte gern auf seiner Terrasse. 1906 machte Forel eine Beobachtung, die den Lauf der Wissenschaftsgeschichte ändern sollte. Jeden Morgen kamen genau zur gleichen Zeit Bienen von einem nahen Bienenstock, um von der Marmelade auf seinem Frühstückstisch zu kosten.

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Selbst nachdem Forel begann, im Haus zu frühstücken, bemerkte er, daß die Bienen weiterhin wie ein Uhrwerk, genau zur gewohnten Zeit, auf die Terrasse kamen und nach der Marmelade suchten. Forel schloß daraus, daß die Bienen, weil sie nur zu der Stunde jeden Morgen kamen, in der sie das erstemal die Marmelade gefunden hatten, irgendein eingebautes Zeitgedächtnis haben mußten.1 In den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts bemerkten die deutschen Wissenschaftler L. Beling und O. Wahl das verblüffende Zeitgefühl der Bienen in einer Versuchsreihe mit Orientierungspunkten. Die Forscher beobachteten, daß eine Biene jedesmal, wenn sie eine Nektarquelle entdeckt hatte, am nächsten Tag zu exakt der gleichen Sonnenzeit wiederkam.

Damit wir nicht voreilig schließen, die Biene hätte die Zeit an der Stellung der Sonne gemessen, sei darauf hingewiesen, daß die Biene sogar ihr Verhalten beibehielt, wenn sie in einen Keller oder eine Salzmine gesetzt wurde und keinerlei äußere Bezugsgrößen mehr hatte.2

Um etwa die gleiche Zeit entdeckte ein weiterer deutscher Wissenschaftler, E. Kleber, einen interessanten Rhythmus bei bestimmten nektarbildenden Pflanzen. Die Nektarsekretion geschah nur zu bestimmten Zeiten an jedem Tag. Die Bienen ihrerseits entdeckten, zu welcher Zeit diese blühenden Pflanzen sekretierten, und stellten sich genau zur richtigen Fütterungszeit ein.3 Mehrere Jahrzehnte später versuchten Wissenschaftler erfolglos, die Bienen zu überlisten, indem sie sie per Flugzeug über die Zeitzonen hinwegtransportierten, um die biologische Uhr der Bienen abzustellen. Bienen, die darauf trainiert waren, zwischen 10 Uhr vormittags und zwölf Uhr mittags mitteleuropäischer Zeit Nektar zu sammeln, wurden nach New York geflogen. Dort fuhren sie mit dem Sammeln phasengleich zur mitteleuropäischen Zeit fort.4)

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