4. Renaissance und
neuerliche Krise des Liberalismus
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Wir können nicht über den Liberalismus reden, als hätten wir im 20. Jahrhundert keine Erfahrung mit ihm gemacht. Eine wichtige Erfahrung liegt darin, daß Faschismus und Nationalsozialismus Produkte zusammenbrechender liberaler Systeme gewesen sind. Wenn der Kommunismus und vielleicht sogar der Faschismus funktioniert hätten, dann wäre der Liberalismus wohl längst begraben. Denn die Argumente, die schon im 19. Jahrhundert gegen den Liberalismus vorgebracht wurden, haben bis heute nur wenig von ihrer Plausibilität verloren.
Der Liberalismus lebt im 20. Jahrhundert wesentlich daraus, daß alle Versuche, ihn zu überwinden und zu liquidieren, gescheitert sind. Mit jedem Scheitern eines solchen Versuches gewinnt der Liberalismus an zusätzlicher Plausibilität und Überzeugungskraft. Das war auch im Umbruch von 1989 der Fall, als sich allenthalben eine Renaissance des Liberalismus ankündigte. Wenn sich der Liberalismus damals als besser erwiesen hat, so ist dies aber noch kein endgültiges Argument für den Liberalismus. Wir dürfen bei allem, was wir im folgenden zur Stärkung des Liberalismus sagen, nicht vergessen, daß alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts die Folge eines gescheiterten Liberalismus sind.
Der Zusammenbruch der Weimarer Republik, auch der Zusammenbruch der sich langsam liberalisierenden bürgerlichen Gesellschaft in Rußland bis hin zu den Schwierigkeiten, mit denen wir heute im deutsch-deutschen Einigungsprozeß konfrontiert sind, haben alle etwas mit dem Versagen des spezifischen Liberalismus zu tun, mit dem wir es im 20. Jahrhundert zu tun haben. Die Krise des heutigen Liberalismus ist andererseits auch kein Argument gegen die Richtigkeit liberalistischer Prinzipien, wenn man sie richtig versteht.
Die Schwächen des heutigen Liberalismus sind die Folge von zuviel Liberalismus in kultureller und politischer und zuwenig Liberalismus in ökonomischer Hinsicht. Wenn der Liberalismus in der Anwendung seiner Prinzipien hypertrophiert oder wenn er unter Abstraktion von den realen Zuständen und Gegebenheiten realisiert wird, ruiniert er sich selbst. Im Grunde genommen wissen wir das schon seit der Erfahrung mit der Französischen Revolution. Die Frage lautet also: Wieviel Liberalismus ist unter welchen Bedingungen und Umständen möglich?
Diese Frage, wieviel Liberalismus möglich ist, ist — mit Lenin gesprochen — immer von der Analyse einer konkreten Lage eines bestimmten Landes in einer ganz bestimmten Situation abhängig. Der entscheidende Grund für die Renaissance des Liberalismus nach 1945 und wieder 1989 ist der, daß die beiden radikalsten Experimente, den Liberalismus durch seine Zerstörung zu überwinden, nämlich die nationalsozialistisch-faschistische Version und der leninistisch-marxistische Versuch, ganz offensichtlich gescheitert sind.
Die Attraktion und Faszination, die die alten Theoriebestände des Liberalismus heute wieder zurückgewonnen haben, leben zu einem nicht unerheblichen Teil von der Absicht der gescheiterten Versuche, den Liberalismus zu liquidieren. Das Scheitern dieser Versuche stellt ein indirektes Plädoyer der Geschichte für die Unverzichtbarkeit eines bestimmten Maßes an Liberalismus dar. Von diesen Theoriebeständen soll nun in einem ersten Schritt die Rede sein.
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Wir wollen von den konstanten Elementen der liberalen Tradition aus dem 18. und 19. Jahrhundert ausgehen. In einem zweiten Schritt werden wir dann diese traditionelle, klassisch-liberale Position mit dem Anspruch gegenwärtiger gesellschaftlicher Systeme konfrontieren, um dann auf die unübersehbaren grundsätzlichen Widersprüche des heutigen Liberalismus zu sprechen zu kommen.
Welche Evidenz hat der Liberalismus durch den Zusammenbruch des Sozialismus erhalten? Was ist vom gesamten Erbe des Liberalismus durch das Scheitern des Sozialismus zu einer neuen Evidenz gelangt?
Der Sieg des Liberalismus über den Sozialismus ist vor allem gebunden an den Sieg der Marktwirtschaft über die Zentralverwaltungswirtschaft. An der Existenz eines freien Marktes hängt der freiheitliche Charakter des gesamten politischen und kulturellen Systems. Schafft man die Freiheit des Marktes ab, ist man gezwungen, ebenso die politische und soziale wie auch die kulturelle Freiheit zu beseitigen. Was hat der Gedanke des Marktes mit dem Liberalismus zu tun? Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Idee des freien Marktes der gesellschaftspolitische Kern des Liberalismus überhaupt ist. Dieses Produkt der bürgerlichen Gesellschaft ist das Ergebnis einer Reform, ja, eines revolutionären Umbruchs des Staates.
Eine Marktgesellschaft, die sich begrifflich als unpolitisch und staatsfrei definiert, ist — geschichtlich gesehen — immer das Ergebnis einer politischen Entscheidung. Auch den freien Markt gibt es nur aufgrund einer politischen Entscheidung. Die Rahmenbedingungen und die rechtlichen Voraussetzungen, die zur Entwicklung einer Marktgesellschaft nötig sind, kann nur der Staat schaffen. Die Französische Revolution bedeutete die Freisetzung des Individuums zur Verfolgung und Durchsetzung eigener Interessen. Das Individuum konnte erstmals eigene rechtliche Beziehungen eingehen, Verträge schließen. Es begann die Freiheit, in Übereinstimmung mit diesem vertragsmäßig vereinbarten gemeinsamen Handeln individuelle und partikulare Interessen durchzusetzen und zu verfolgen.
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Wenn wir uns an das Konzept der Zentralverwaltungswirtschaft erinnern, dann erhalten durch die Erfahrung mit dem Zusammenbruch dieses Systems zwei Kernprinzipien jedes Liberalismus eine Aufwertung:
1. Ohne Markt geht es nicht. Das Ziel, die realen materiellen Bedürfnisse einer Gesellschaft effizient zu befriedigen, kann nur bei einem relativ funktionsfähigen Markt erreicht werden. Die Entscheidung gegen den Markt war und ist eine Entscheidung gegen die ökonomische Vernunft. Man kann zwar aus ideologischen Gründen gegen die ökonomische Vernunft sein — es gibt womöglich andere Ziele, um derentwillen die Menschen bereit sind, die ökonomische Vernunft aufzugeben —, aber ohne Markt geht es nicht, wenn man um eine effiziente Befriedigung von materiellen Bedürfnissen bemüht ist.
2. Die Produktionsmittel müssen dabei nicht unbedingt in den Händen von privaten Eigentümern liegen. Die Frage des Eigentums muß man von dem Vorhandensein eines Marktes unterscheiden, denn die wichtigsten ökonomisch relevanten Entscheidungen werden heute nicht mehr von den Eigentümern der Unternehmen, sondern von angestellten Managern getroffen. Prinzipiell sind auch Genossenschaftsbesitz und Marktprinzip vereinbar.
Das entscheidende am Markt wiederum ist dasWettbewerbsprinzip. Dieser Wettbewerbsgedanke ist so alt wie unsere europäische Kultur. Die griechische Kultur war eine agonale* Kultur. Die einzigartige Größe der Griechen bestand darin, daß sie diesen Wettbewerbsgedanken, die Ermittlung des Fähigsten und des Tüchtigsten, als das höchste Lebensideal überhaupt angesehen und auch praktiziert haben. Die Griechen standen in einem strengen Wettbewerb untereinander, um zu ermitteln, wer der Beste ist. Den Griechen war an der Ermittlung des Besten gelegen, weil diese Ermittlung Ruhm bedeutete. Ruhm war die einzige Form für den griechischen Menschen, sein sterbliches Leben zu überdauern, an der Unsterblichkeit teilzuhaben. Die Grundlage des agonalen Gedankens bei den Griechen war also ein religiöser.
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Wettbewerb bedeutet heute den Wettbewerb von Anbietern durch die bestmögliche Befriedigung der Bedürfnisse der Nachfragenden. Die Absicht besteht in der Erzielung eines höchstmöglichen Gewinnes. An dieser Stelle taucht das »Unheilswort« unserer Zeit, nämlich der Gewinn, auf. Die Anbieter kämpfen um den größtmöglichen Gewinn. Darum ist es so wichtig, daß es viele Konkurrenten gibt, denn nur dann kann das notwendige Profitinteresse des Anbieters mit der Aufgabe der Wirtschaft in Einklang kommen, die real nachgefragten Bedürfnisse bestmöglich und zu möglichst niedrigen Preisen zu befriedigen.
Der systemtheoretische Grund für die Notwendigkeit des Gewinns auf der Basis der freien Preisbildung liegt darin, daß nur durch Preise, die in einem Wettbewerbssystem zustande kommen, die Rationalität ökonomischen Handelns gewährleistet wird. Preise sind die Quelle der Information, um über den Einsatz von Produktionsmitteln entscheiden zu können. Wenn man das die Preise ermittelnde Wettbewerbssystem restringiert, fehlen die Orientierungsdaten für einen rationalen Einsatz von Produktionsmitteln. Ein erfolgreiches Wirtschaften kann nur dann zustande kommen, wenn das in der Gesellschaft vorhandene Wissen, das man bei der Entscheidung über den Einsatz der Produktionsfaktoren benötigt, maximal ausgeschöpft wird.
Die entscheidende Frage für jeden Wirtschaftenden ist, wo die Produktionsmittel eingesetzt werden und im Hinblick auf welches Ziel produziert und angeboten werden soll. Aus der Perspektive des einzelnen Unternehmens heraus muß natürlich dann auch Gewinn erzielt werden. Eine Zentralverwaltungswirtschaft scheitert deshalb, weil sie das Wissen nicht bereitstellen kann, das notwendig wäre, um einen erfolgsorientierten Einsatz der Produktionsmittel zu erreichen. Und sie kann dies prinzipiell nicht, weil ohne freie Preise, die als Resultat von Angebot und Nachfrage auf dem Markt ermittelt werden, dieses Wissen nicht zustande kommt. Die Preise können ohne Wettbewerb ihre Funktion nicht erfüllen. Nur Preise, die in einem freien Wettbewerb zustande gekommen sind, erlauben einen gewinn- und zielorientierten Einsatz der Produktionsmittel. Die wichtigste Funktion der Preise liegt in der Bereitstellung der Information, und zwar der bestmöglichen Information, für diejenigen, die über den Einsatz der Produktionsfaktoren entscheiden.
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Preise sind somit das wichtigste Orientierungs- und Lenkungsinstrumentarium einer erfolgreichen Wirtschaft. In letzter Konsequenz gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird alles durch eine leitende Bürokratie dekretiert, die Bedürfnisse und Preise autoritär festlegt, oder die Orientierungsdaten sind die Preise auf einem durch relative Chancengleichheit des Wettbewerbs bestehenden Markt. Wer gegen die Gewinnerzielung auf einem Markt mit relativer Chancengleichheit im Wettbewerb wettert, muß Auskunft darüber geben, wie und an welchen Daten sich dann derjenige orientieren soll, der über die Verwendung und den Einsatz von Produktionsmitteln zu entscheiden hat.
In einem wettbewerbsorientierten Markt müssen ständig Entscheidungen getroffen werden. Es gibt aber keine Garantie für die Richtigkeit dieser Entscheidungen, so daß sich bei Fehlentscheidungen die Frage nach der Verantwortung stellt. Im liberalen Denken wird die Frage nach dieser Verantwortung mit dem Verweis auf den Privateigentümer beantwortet. Der Privateigentümer und seine Gewinnbeteiligung wurden immer damit gerechtfertigt, daß er im Falle des Versagens das Risiko zu tragen habe. Wer das Privateigentum an Produktionsmitteln verneint, muß auch die Frage nach der Verantwortung falscher Entscheidungen beantworten. Der Beantwortung dieser Frage sind die Anwälte des Sozialismus immer aus dem Wege gegangen.
Der größte Einwand gegen die Verbürgung einer relativen Chancengleichheit auf dem Markt liegt darin, daß man bereits auf dem Markt präsent sein muß, um mit anderen konkurrieren zu können. In der Tat: Es gibt in der heutigen Gesellschaft keine relative Chancengleichheit hinsichtlich des Marktzutrittes. Nicht jeder, der möglicherweise ein erfolgreicher Unternehmer wäre, kann dies werden, etwa weil ihm das dazu erforderliche Vermögen ermangelt. Möglicherweise haben auch die anderen Marktteilnehmer ein Kartell gebildet, um den möglichen neuen Wettbewerber mit subtilen Mitteln fernzuhalten. Der konsequente Liberale ist der Meinung, daß im Prinzip alles der Marktlogik unterworfen werden sollte.
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Für Konservative, übrigens auch für liberale Sozialisten, gibt es dagegen ganz bestimmte Ziele, Werte und Güter, die nicht den Marktgesetzen ausgesetzt und unterworfen werden dürfen. Denn wenn man den Markt sich selbst überläßt, schafft er den Wettbewerb und damit sich selbst ab. Am Ende würde allein der Stärkste übrig bleiben. Allein der Staat, ein starker Staat, kann eine relative Chancengleichheit des Wettbewerbs gewährleisten. Es gibt deshalb politische Instrumente wie z.B. die Kartellgesetze, die jedoch nicht ausreichend sind und auch nicht effektiv genug angewandt werden.
So berechtigt eine partielle Beschränkung des Marktes in vielen Fällen sein mag, eine der Lehren, die wir aus dem Zusammenbruch des Zentralverwaltungs-Wirtschaftssystems ziehen müssen, lautet dennoch, daß eine moderne Volkswirtschaft ohne Wettbewerb nicht funktionieren kann. Das zur Fällung rationaler ökonomischer Entscheidungen notwendige Wissen stellt nur ein nach gewissen Prinzipien organisierter Markt zur Verfügung. Das Zentralverwaltungssystem verfügt nur über ein ungenügendes Wissen, das eine rationale und effiziente Produktion undVerteilung unmöglich macht. Auch die Beschwörung sozialistischer Ideale kann auf die Dauer das Effizienzproblem nicht beheben.
Fassen wir zusammen:
Die Einsicht in die Unersetzbarkeit des Marktes ist eine der zentralen Erkenntnisse des Wirtschaftsliberalismus.
Der Markt ist zunächst einmal aus ökonomischen Gründen, aber auch aus Gründen der Lösung des Machtproblems, unverzichtbar.
Es geht nicht um den Markt als Markt, sondern um eine wettbewerbsorientierte Organisationsform der Wirtschaft. Wettbewerb besteht nur dann, wenn es eine relative Chancengleichheit auf dem Markt gibt. Ein sich selbst überlassener Markt zeigt die Tendenz, diese Chancengleichheit im Wettbewerb zu beseitigen.
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Die Wirtschaft ist auf die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse ausgerichtet. Aber was sind Bedürfnisse, was sind gesellschaftliche Bedürfnisse? Der Sozialismus behauptet, er hätte eine Wahrheitsquelle zum Sprudeln gebracht, aus der die zur Auslegung dieser Wahrheit Legitimierten sagen können, welche Bedürfnisse eine Gesellschaft hat und in welcher Reihenfolge und Priorität sie befriedigt werden sollten. Diese Rangfolge wurde nicht durch den Markt oder durch einen öffentlichen Diskurs entschieden, an dem alle direkt und indirekt Betroffenen auf unbegrenzte Zeit kontrafaktisch mit symmetrischen Chancen beteiligt waren.
Der existierende Sozialismus diskutierte nicht, sondern er entschied die Frage nach den zu befriedigenden Bedürfnissen durch die Macht. Diejenigen, die an der Macht sind, sind kraft der Macht legitimiert, diese Frage zu entscheiden. An dieser Stelle sind die totalitären Konsequenzen der Zentralverwaltungswirtschaft mit Händen zu greifen. Wenn diese Frage nicht durch die Macht entschieden werden soll, dann muß sie — im Kontext der liberal-sozialistischen Lösung Habermas' — durch alle Bürger entschieden werden. Über die Art und das Ausmaß des Einsatzes und der Verwendung von Produktionsmitteln müssen alle Bürger eines Landes entscheiden. Das ist die liberaldemokratische Lösung.
Nach Habermas müssen wir einen Diskurs führen: Alle Bedürftigen müssen sich darüber verständigen, welche Bedürfnisse zustimmungsfähig sind und wie jedem eine bestimmte Regelung der Bedürfnisbefriedigung zugemutet werden kann, bei der er in seinen berechtigten Eigenbedürfnissen nicht eingeschränkt wird. Die utopische Antwort von Habermas lautet, daß alle miteinander unbefristet kontrafaktisch aufgrund symmetrischer Bedingungen einen Diskurs führen — eben den herrschaftsfreien Dialog — an dem dann zum Schluß die zustimmungsfähige Antwort auf die Bedürfnisse herauskommt. Alle Bedürfnisansprüche müssen sich in diesem unbefristet geführten Dialog rational rechtfertigen, und was sich als rational gerechtfertigt herausstellt, ist dann auch konsensfähig.
Der große Gedanke des Wirtschaftsliberalismus ist — entgegen Habermas — der, daß die Verbraucher dies selbst entscheiden müssen. Diejenigen, die Bedürfnisse haben, müssen kraft individueller Entscheidung festlegen dürfen, welche Bedürfnisse sie haben und was ihnen die Befriedigung der Bedürfnisse wert ist.
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Das ist gemeint mit der Autonomie des Wirtschaftsbürgers auf dem Markt. In einer nach der relativen Chancengleichheit des Wettbewerbs organisierten Wirtschaft löst sich das Machtproblem so, daß — idealtypisch gesehen — letztlich der Verbraucher entscheidet, was produziert werden soll. Die Produzenten richten sich nach den Verbrauchern, die auf den Märkten autonom entscheiden, was ihre Bedürfnisse sind und was sie ihnen wert sind. Diese Lösung auf der Basis eines organisierten Marktes stellt damit eine demokratische Lösung dar. Wie die Zentralverwaltungswirtschaft strukturell den totalitären Staat fordert, fordert der am Wettbewerbsgedanken orientierte Markt die Demokratisierung der Entscheidungen.
Der Kerngedanke der liberalen Demokratie ist der, daß jeder das Recht hat, zu entscheiden, welche Bedürfnisse er hat. Jede gegen den Markt getroffene Entscheidung wird sich über kurz oder lang zugunsten der Bürokratie auswirken. Vor dem siebzigjährigen Experiment in der Sowjetunion hätte man einen großen theoretischen Aufwand leisten müssen, um den Zusammenhang zwischen Eigentum und Freiheit darzustellen. Heute ist klar: Man kann in einer Gesellschaft ohne das Recht auf Privateigentum das Interesse an politischer Freiheit nicht aufrechterhalten. In dem Maße, in dem man das Privateigentum beseitigt, untergräbt man das Interesse der Individuen an Freiheit überhaupt.
In der Hegelschen »Rechtsphilosophie« wird das Eigentum als Folge des im Christentum aufgegangenen Verständnisses von Freiheit beschrieben. Hegel sagt, daß es zweitausend Jahre gedauert hat, bis aus diesem christlichen Begriff der Freiheit dann auch im Privateigentum eine rechtliche Konsequenz gezogen wurde. Es macht überhaupt keinen Sinn, uns noch als eine freie Gesellschaft zu bezeichnen, wenn wir in allen unser Überleben betreffenden Fragen immer mehr der subsumierenden Macht der Bürokratie unterworfen sind. Leben wir nicht zuweilen eher in einer bürokratischen Despotie als im gelobten Land der Freiheit? In der Bundesrepublik existiert mittlerweile ein Steuersystem, das zum Teil einen ausgesprochen konfiskatorischen Charakter hat.
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Die Prozesse der Enteignung vollziehen sich in unseren Gesellschaften nicht in der Form der Diktatur des Proletariats, sondern durch die Steuergesetzgebung. Der Staat kann — bei voller rechtlicher Anerkennung des Prinzips des Privateigentums — im Wege der Besteuerung enteignen. Wenn aber eine Gesellschaft Wohlstand durch den Einsatz privater Initiativen und des privaten Engagements erreichen will, dann muß diese Gesellschaft die Steuern so niedrig wie möglich halten. Denn von einem bestimmten Punkt an untergräbt der Steuerstaat die Motivationskraft, oder er schafft ein solch hohes Maß an Kriminalität, daß die Leute nur noch daran denken, wie man dem als konfiskatorisch und illegitim empfundenen Zugriff des Staates entgehen kann.
Der Gedanke des Rechtsstaates gehört zum Grundbestand des Liberalismus. Neben der Idee des Marktes ist es vor allem dieser Gedanke des Rechtsstaates, der nach der Erfahrung mit dem Totalitarismus eine Renaissance erfährt. Conditio sine qua non auch einer Marktwirtschaft ist die Einrichtung und Durchsetzung einer Rechtsordnung durch den Staat. Wenn der Staat nicht die Rechtsordnung garantiert, kann auch keine liberale Marktwirtschaft funktionieren. Der Rechtsstaat, wie er aus der Französischen Revolution hervorgegangen ist, ist vielleicht die größte politische Errungenschaft der Weltgeschichte. Da wir ohne den Rechtsstaat nicht in Freiheit leben können, müssen wir — bei aller Kritik am real existierenden Liberalismus — alle die liberalen Prinzipien verteidigen, ohne die der Rechtsstaat nicht zustande gekommen wäre und ohne die er nicht bestehen kann.
Von einem Rechtsstaat können wir dann sprechen, wenn vor dem Gesetz alle gleich sind. Der Normcharakter des Rechtes im Rechtsstaat verlangt die ausnahmslose Gültigkeit der vom Staat gesetzten Rechtsnormen. Nur wenn die vom Rechtsstaat gesetzten Normen den Charakter der ausnahmslosen Gültigkeit haben, gibt es keine Privilegierten, und nur dann besteht Rechtssicherheit. Die wichtigste Leistung des Rechtsstaates liegt in der Berechenbarkeit des Rechts und der Beseitigung des Willkürrechtes.
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Wer etwa auf dem Markt Angebot und Nachfrage zum Ausgleich bringt, schließt rechtsgültige Verträge. Im Falle der Nichteinhaltung drohen dem Vertragsbrecher rechtliche Konsequenzen. Der Wirtschaftsteilnehmer muß die rechtlichen Konsequenzen seines wirtschaftlichen Handelns berechnen können. Sobald der Rechtsstaat ins Wanken gerät, funktioniert auch eine Wettbewerbsgesellschaft nicht mehr.
Die entscheidende strukturelle Bedingung für wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und auch für einen rechtsstaatlichen Liberalismus ist die Differenz zwischen Staat und Gesellschaft. Diese Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist selbst eine Frucht des Rechtsstaates. Liberalismus existiert nur dort, wo Staat und Gesellschaft nicht identisch sind und ihre Unterscheidung strukturell organisiert und gefestigt ist. Wir müssen uns über die Einmaligkeit einer solchen Trennung von Staat und Gesellschaft im klaren sein. Diese Trennung hat es vor der Französischen Revolution nie gegeben. Der Gegenbegriff zur liberalen Gesellschaft ist der Feudalismus. Im Feudalismus gab es nicht die Freiheit als alles konstituierendes Element wie im Liberalismus. Im Feudalismus gab es auch nicht das in seiner Würde anerkannte autonome Individuum. Der einzelne war immer nur ein Teil eines verfaßten Ganzen. Damit gibt es im Feudalismus keine Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. Die Rechte, die der einzelne im Feudalismus hatte, waren immer inkorporierte Rechte, also Rechte, die an einen Status oder Stand gebunden sind.
Ein wichtiger Grund für das Scheitern des real existierenden Sozialismus liegt in der konsequenten Beseitigung der Differenz zwischen Staat und Gesellschaft. Der existierende Sozialismus bedeutete eine totale Verstaatlichung der Gesellschaft. Der Staat konnte in alle Produktions- und Lebensbereiche, auch tendenziell in alle privaten Bereiche hineindiktieren. Eine liberale Demokratie ist ohne eine funktionierende Öffentlichkeit nicht möglich. Die Voraussetzung hierfür ist der Pluralismus.
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Im real existierenden Sozialismus gab es faktisch keine Öffentlichkeit, die unabhängig von Organen, die für die Bildung des politischenWillens und für die Exekution politischer Entscheidungen zuständig waren, an einer öffentlichen Diskussion beteiligt war. Es gab keinen gesellschaftlichen Pluralismus. Den Pluralismus als Stätte des Austragens unterschiedlicher Meinungen und Interessen kann es andererseits nur geben, wenn die gesellschaftliche Diskussion von einem Grundkonsens getragen wird. Ein Grundkonsens ist die Bedingung des Marktes (pacta sunt servanda) wie des gesellschaftlichen Pluralismus. Ein sinnvoller Streit ist nur so lange möglich, wie es eine bestimmte Form an Gemeinsamkeit gibt. Ansonsten gäbe es nur polarisierende Konflikte, die potentiell zum Ruin und zum Zerfall der Gesellschaft führen könnten.
Abgesehen von diesem abgeforderten Grundkonsens ist der Einzelne aber in einem liberalen Staat frei, er genießt Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit. Der liberale Staat begrenzt sich selbst und verschafft dadurch dem einzelnen die Freiräume. Der liberale Staat schafft einen Raum, der frei ist von staatsinterventionistischem Zugriff. Die Grundrechte formulieren Grenzen der Staatsintervention in die Belange des einzelnen Bürgers. Der einzelne ist frei, diesen Freiraum nach seinem eigenenWillen und seinen eigenen Interessen, nach von ihm selbst gewählten Zielen und Zwecken auszufüllen. Der einzelne kann unabhängig vom Willen eines anderen gemäß seinem eigenen Willen handeln. Dieser von Staatsintervention freigehaltene Raum impliziert damit eine Trennung von Öffentlich und Privat.
Aus dieser Trennung resultiert das erwähnte, für den Liberalismus typische Phänomen der Trennung von Staat und Gesellschaft. Die Gesellschaft ist im Prinzip nichts anderes als der Zusammenhang von Beziehungen, der sich entwickelt, wenn die einzelnen in einem liberalen Staat dieses ihnen vom Staat eingeräumte Recht zur eigenbestimmten Betätigung ausüben. Wir können von Liberalismus nur dann sprechen, wenn diese Trennung von Gesellschaft und Staat funktioniert. Die Revolutionen von 1989 waren exakt auf dieses Ziel einerTrennung von Staat und Gesellschaft, von Privatsphäre und öffentlicher Sphäre gerichtet. In der bürgerlichen Gesellschaft handeln nicht nur einzelne. Die Bürger dürfen sich in der Gesellschaft zusammenschließen.
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Es kommt zu Assoziationen und zur Gründung von Vereinen, und daraus entsteht ein für den Liberalismus sehr wichtiges Recht, nämlich das Bürgerrecht. Die Inanspruchnahme solcher Bürgerrechte hat den Sozialismus in Mittel- und Osteuropa zu Fall gebracht.
Der liberale Staat ist ein Staat, der das Individuum mit Freiheitsrechten ausstattet. Das Subjekt der Freiheit im Liberalismus ist der einzelne. Die Grundkategorie der liberalen Sozialphilosophie ist das Individuum. Es geht im Liberalismus um die Rechte und um die Freiheit des einzelnen und nicht um das Gemeinwesen, den Staat oder das Volk. Es muß immer wieder daran erinnert werden, daß es die Gewährleistung von Grundrechten nur geben kann, wenn der Staat den Willen und die Macht hat, diese gewährten Freiheitsrechte durchzusetzen und zu schützen. Der Staat muß jede andere Macht in der Gesellschaft daran hindern, in die Freiheitsrechte des einzelnen einzugreifen. Dem Staat kommt hier eine freiheitsverbürgende Rolle zu.
Was ist das alles prägende und konstituierende Prinzip einer liberalen politischen Philosophie? Wir denken bei der Antwort zuallererst an das Prinzip der Freiheit, verstanden als Willkürfreiheit. Diese These, daß Liberalismus identisch sei mit Willkürfreiheit, ist falsch. Ein so verstandener Liberalismus — wir leiden heute unter dieser Form des Liberalismus — ist ein Liberalismus in seiner Verfallsform. Dann herrscht die sogenannte Ellbogengesellschaft. Den Kampf aller gegen alle muß ein starker Staat verhindern, ein Staat, der die Rahmenbedingungen festsetzt und kontrolliert. Die Freiheit, die der liberale Staat dem einzelnen gewährt, ist immer Freiheit unter dem Gesetz.
Die Emanzipation von dem diese Freiheit ermöglichenden und beschränkenden Gesetz bedeutet die Zerstörung des Liberalismus selbst. Der liberale Staat kann nur dann funktionieren, wenn es wenigstens über das Prinzip des Rechtes und seiner gesetzesmäßigen Kodifizierung zwischen den Bürgern einen Konsens gibt. Auch eine liberale Gesellschaft kann ohne Konsens nicht existieren. Es muß einen Konsens in der Anerkennung des Rechtes und der Selbstdisziplinierung eines jeden einzelnen Bürgers geben, von seinen Rechten nur innerhalb der von den Gesetzen gezogenen Grenzen Gebrauch zu machen.
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Der liberale Grundgedanke der Bundesrepublik ist, daß jedes Individuum das Recht hat, sich und seine Persönlichkeit zu entfalten. Jeder hat das Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der Liberalismus gewährt und sichert das Recht auf ein privates Leben. Das Entfaltungsrecht des einzelnen wird aber eingeschränkt. Die einschränkenden Bestimmungen sind zum einen, daß der Mensch von seiner Freiheit zur Entfaltung der Persönlichkeit nur insoweit Gebrauch machen darf, als die Freiheit eines anderen zur Entfaltung seiner Persönlichkeit nicht beeinträchtigt wird. Das ist das berühmte Prinzip der Legalität. Wenn der Liberalismus auch noch diese Minimalbedingung des Legalitätsprinzips verneint, dann nimmt er die Gestalt des Anarchismus an.
Der fundamentale Unterschied zwischen der liberalen Verfassung von Weimar und der liberalen Verfassung der Bundesrepublik besteht darin, daß die Bundesrepublik unter anderem aus der Erfahrung des Untergangs von »Weimar« den Schluß gezogen hat, daß die Verfassung nicht wertneutral sein darf, sondern daß sie im Gegenteil durch Werte konstituiert sein muß. Das Grundgesetz der Bundesrepublik schränkt deshalb das Individuum noch mehr ein, denn es besagt, daß der Mensch sich nur insoweit frei entfalten darf, als er das »natürliche Sittengesetz« achtet und nicht dagegen verstößt. Diese zweite Einschränkung ist aus dem Prinzip des Liberalismus nicht zu begründen, und darum haben wir es auch de facto abgeschafft. Derjenige, der heute eine Einschränkung der individuellen Freiheit unter Verweis auf die Achtung vor dem Sittengesetz fordert, wird als Neofaschist öffentlich bekämpft. Der Begriff des »Sittengesetzes« ist zugegebenermaßen ein auslegungsbedürftiger Begriff.
Wer interpretiert, was das natürliche Sittengesetz an Achtung vom einzelnen verlangt?
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Diese Frage haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht beantwortet, sie wußten auch um die Probleme einer solchen Definition. Aber sie konnten auf den Begriff des Sittengesetzes nicht verzichten, weil sie dieses Grundgesetz unter dem Eindruck des Verbrechens des Nationalsozialismus verfaßten. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren der Meinung, daß die Verbrechen der Nationalsozialisten so evident sind, daß der Begriff des natürlichen Sittengesetzes nicht mehr erläuterungsbedürftig ist. Die Freiheit muß durch die Achtung vor dem natürlichen Sittengesetz begrenzt werden. Wer heute eine solche Achtung vor dem natürlichen Sittengesetz fordert, wird — und das ist die ungeheure Paradoxie der Geschichte unserer Republik — selbst als Präfaschist beschimpft.
Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, die Freisetzung der individuellen Freiheit gründet in der Religionsfreiheit des einzelnen. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, privat und öffentlich, hat ihren Grund in der liberalen Beantwortung der Wahrheitsfrage. Der Liberalismus setzt den Verzicht auf eine öffentlich anerkannte Wahrheit voraus. Das ist die innerste geschichtliche Ermöglichung des Liberalismus. Vor dem Beginn der Moderne hat es dies nirgendwo gegeben. Die geschichtliche Bedingung des Verzichtes auf eine öffentlich anerkannte Wahrheit ist das Christentum. Die Christen waren sich im Verständnis und in der Interpretation ihrer eigenen Wahrheit nicht einig. Der sogenannte konfessionelle Bürgerkrieg im 16. und 17. Jahrhundert ist für die ganze Moderne und auch für alle liberalen Konsequenzen die entscheidende Grunderfahrung.
Die Christen waren in der Frage der richtigen Interpretation der christlichen Wahrheit zerstritten. Sie konnten sich nicht einigen, wer berechtigt ist, die christliche Wahrheit verbindlich zu interpretieren. An dem Versagen der Christen, auf diese Frage eine Antwort zu geben, ist der Anspruch auf öffentliche Anerkennung der Wahrheit zusammengebrochen. Die Folge war, daß die Wahrheitsfrage für die Organisation der politischen, ökonomischen und in letzter Konsequenz kulturellen Öffentlichkeit entpolitisiert wurde. Von nun an gab es keine allgemeinverbindlich interpretierbare Wahrheit mehr, es gab keine das Gemeinwesen verpflichtende Wahrheit mehr, und es mußte keiner mehr eine öffentlich geforderte Wahrheit anerkennen.
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Die Voraussetzung für das Entstehen des neuzeitlichen Liberalismus waren dieser konfessionelle Bürgerkrieg und die sich aus ihm ergebenden politischen Konsequenzen. Die in sich geteilte Christenheit konnte sich nicht mehr über die Frage einigen, wer berechtigt sei, die christliche Wahrheit verbindlich zu interpretieren. Thomas Hobbes* lieferte die Antwort auf dieses Problem: »Non veritas set autoritas facit legem« — Nicht die Wahrheit, sondern die Autorität macht das Gesetz. Das ist das Grundaxiom des neuzeitlichen Liberalismus. Insofern ist Hobbes, der von vielen als der Vater des Totalitarismus hingestellt wird, im Grunde genommen der wahre Begründer des Liberalismus. Die in einem liberalen System gültigen Regeln und Gesetze gelten unter der Bedingung, daß ihre Wahrheit nicht entscheidbar ist und auch nicht entschieden zu werden braucht. Die Wahrheitsfrage ist damit kein Gegenstand der Politik mehr, vielmehr ist die Politik und damit das Recht, Gesetze zu machen und das Zusammenleben einer Gesellschaft zu ordnen, am obersten Ziel des Friedens orientiert.
Zusammengefaßt kann man sagen, daß der Verzicht auf eine öffentlich anerkannte Wahrheit von zentraler Bedeutung für jede liberale Ordnung ist. Daraus folgt natürlich, daß in allen wahrheitsrelevanten Fragen der einzelne letztlich für sich selbst entscheiden muß. In letzter Instanz entscheidet jeder einzelne selbst über das, was er für Wahrheit hält. Was ist die Folge des Verzichts auf öffentlich anerkannte Wahrheit, und was bleibt für die öffentliche Kultur, also auch für die politische, zur Entscheidung von Fragen übrig, für die man früher die Legitimation des Besitzes von Wahrheit in Anspruch nehmen konnte?
Als Entscheidungsinstanz strittiger Fragen gelten von nun an nur noch Verfahren. An die Stelle der Legitimation durch Wahrheit setzt der Liberalismus die Legitimation durch Verfahren. Wenn die Wahrheit als legitimierende Kraft ausgeschaltet ist, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder kämpft jeder gegen jeden, bis sich schließlich einer mit seiner Wahrheit durchsetzt und sie den anderen aufoktroyiert, oder man einigt sich darauf, das Zustandekommen von Entscheidungen von Verfahren und Prozeduren abhängig zu machen.
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Der liberale Staat mutet seinen Bürgern nicht zu — darin liegt seine Stärke und seine Liberalität —, die verfahrensgerecht getroffene Entscheidung auch als richtig und wahr zu akzeptieren. Der einzelne muß verfahrensmäßig korrekt zustande gekommene Entscheidungen auch dann akzeptieren, wenn er sie für falsch hält.
Es stellt sich hier die Frage, ob dann alle Tatbestände menschlichen Lebens verfahrensregulierten Entscheidungen zur Disposition gestellt werden dürfen. Darf die Frage etwa nach Leben und Tod zur Disposition einer Mehrheitsentscheidung gemacht werden? Die Weimarer Demokratie ist auch daran zugrunde gegangen, daß sie alle Fragen der Werte, der Religion, der Sittlichkeit zur Disposition von Mehrheitsentscheidungen gestellt hat. In einer dem Mehrheitsprinzip folgenden Demokratie dürfen deshalb keine unrevidierbaren Entscheidungen getroffen werden.
Der Staat der Neuzeit, als Vorform eines liberalen Staates, fragt danach, wie das Zusammenleben von Menschen so geregelt werden kann, daß sie sich nicht wegen unterschiedlicher Wahrheitsauffassungen gegenseitig bekämpfen. Die Bedingung, unter der in diesem Sinne eine formale Ordnung des Zusammenlebens von privaten Individuen in einer Gesellschaft ermöglicht wird, ist nach Hobbes die Existenz eines staatlichen Souveräns. Es muß jemanden geben, der in letzter Instanz entscheidet, durch wen und unter welchen Bedingungen der Frieden bedroht ist.
Ob dieser Souverän ein Monarch, eine aristokratische Versammlung oder ein demokratisches Parlament ist, ist Hobbes völlig gleichgültig. Ihm kommt es nur darauf an, daß es eine solche souveräne Instanz in der Gesellschaft gibt. Im liberalen Staat verschwindet tendenziell der Souverän im Hobbesschen Sinne. Das Problem des liberalen Staates ist, wie ein sich selbst beschränkender Staat die öffentliche Ordnung und die Rechtsordnung aufrechterhalten kann. Wenn man die Souveränität abschafft, ist der liberale Staat und damit die liberale Demokratie durch die Abwesenheit von Herrschaft bestimmt. Jetzt herrscht kein Souverän mehr, sondern das kodifizierte Recht. Das Grundproblem besteht darin, wie das Problem der sich selbst um des Rechtswillen beschränkenden Macht zu lösen ist. Der Liberalismus löst das Problem dadurch, daß er die Macht letztlich entfernt und alle Machtprobleme in Rechtsprobleme transformiert. Dies ist die liberale Utopie.
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Das Problem des Liberalismus ist, daß zur Institutionalisierung der Rechtsordnung und zur Kontrolle ihrer Einhaltung sowie zur Durchsetzung der Sanktionen im Falle des Durchbrechens des Rechtes ein Staat notwendig ist, der dafür zu sorgen hat, daß ein rechtlich geordnetes Zusammenleben von Individuen nach den liberalen Prinzipien möglich ist. Um dies zu leisten, braucht der Staat Macht. Der Staat wird aber erst dann zu einem liberalen Staat, wenn er die Macht, die er haben muß, gleichzeitig auch limitiert. Damit es einen liberalen Staat geben kann, muß es auch eine Macht geben, die Recht setzen und durchsetzen kann. Wenn diese Macht, alle unter die Bedingungen des Rechtes zu zwingen, nicht mehr da ist, dann kehrt umgekehrt die Anarchie des Urzustandes wieder.
Das ewige Problem des Liberalismus ist, wieviel Macht man dem Staat zubilligt. Die Frage nach dem Maß der Selbstbeschränkung im Gebrauch der Macht wird auch je nach den unterschiedlichen inneren Situationen und Lagen der Gesellschaft unterschiedlich sein. Eine blühende Bundesrepublik mit einem enormen wirtschaftlichen Erfolg braucht natürlich wenig Staat.
Der Liberalismus löst das Machtproblem in der Politik letztlich durch die Konvertierung von Macht in Recht. Die Einzigartigkeit eines liberalen Staates liegt darin, daß er seine eigene Macht beschränkt, um dem einzelnen Grundrechte zu gewähren.Das Grundproblem der liberalen Philosophie ist das Problem der Begrenzung der Macht. Die Grundaufgabe eines liberalen Staates ist es, tendenziell alle Machtfragen in Rechtsfragen zu transformieren. Die Macht wird in Übereinstimmung mit einem Rechtsprinzip aufgehoben, so daß das Recht selbst das Recht des einzelnen auf Grundrechte wahrt. Das Recht soll die Macht begrenzen. Der Liberalismus zielt darauf ab, Macht zu kontrollieren, sie zu minimalisieren, zu neutralisieren und — im idealsten Fall — in Recht zu konvertieren. Das ist die zeitübergreifende Strategie des Liberalismus.
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Die Macht kann so minimalisiert werden, daß man durch den modernen Rechtsstaat den Staat auf einige zentrale Funktionen reduziert und im übrigen das gesamte gesellschaftlichen Leben der freien Gestaltung gesellschaftlicher Einzelindividuen oder gesellschaftlicher Gruppen überläßt. Die historische Mission im Selbstverständnis des Liberalismus liegt darin, die Macht letztlich zu beseitigen und sie durch Recht zu ersetzen. Der liberale Verfassungsstaat fühlt sich der historischen Zielsetzung verpflichtet, Herrschaft zu beseitigen und an die Stelle von Herrschaft Recht zu setzen. Letztlich regieren in einem liberalen Staat nicht mehr Menschen über Menschen, sondern nur noch das Gesetz. Jede personal zurechenbare Herrschaftsausübung dürfte — idealtypisch gesehen — im Liberalismus nicht mehr existieren.
Es gibt in der Geschichte zwei große Anstrengungen, dieses Ziel zu erreichen: den Liberalismus und den Marxismus. Der Grundgedanke des Marxismus ist, daß die Herrschaft, die Politik überhaupt, ihre realen Wurzeln in der Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen hat. Wenn durch eine Diktatur des Proletariates diese Zweiklassenspaltung beseitigt ist, dann entfalle auch die Wurzel für Politik und Herrschaft. An ihre Stelle tritt dann laut Lenin die rationale Verwaltung der Sachen und der Sachprozesse, also dieTechnokratie. Der Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur soll dann nicht mehr nach dem Prinzip der Herrschaft und der Politik, sondern nach dem Prinzip der Verwaltung organisiert werden.
Ist das nicht auch, wenn auch auf anderem Wege, unsere Zielsetzung? Politik war bisher in Deutschland im wesentlichen auf Sozialpolitik und Sozialpolitik auf Umverteilung reduziert. Wir haben von diesem Kernziel des Marxismus in Deutschland mehr verwirklicht als irgendein Staat auf dieser Welt und ganz sicher mehr als die Länder, die jahrzehntelang alle Anstrengungen auf dieses revolutionäre Ziel gerichtet hatten. Das allgemeine Prinzip, auf das der liberale Verfassungsstaat sich verständigt hat, um die Machtbegrenzung zugunsten der Gewährung von Grundrechten und Grundfreiheiten zu erreichen, ist die Gewaltenteilung. Man müsse die Macht so verteilen, daß die einzelnen Teile in ein sich wechselseitig kontrollierendes und tendenziell neutralisierendes Verhältnis gebracht werden.
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Wie steht es zunächst mit der Teilung der Macht zwischen Legislative und Exekutive in Deutschland? Formal besteht zwar dieTeilung zwischen Legislative und Exekutive, aber faktisch ist die Regierung ein von der Mehrheit des Parlamentes bestellter Ausschuß, so daß die Gesetze von denen beschlossen werden, welche die Regierung tragen. Das Parlamemt übt nur noch sehr bedingt eine Kontrollfunktion aus. Faktisch beschließt nicht das gesamte Parlament die Gesetze, sondern es gibt eine Art Bündnis zwischen der Mehrheitsfraktion im Parlament und der Regierung.
Noch komplizierter wird es, wenn wir die Frage stellen, wie es mit der Unabhängigkeit der dritten Gewalt, also der Judikative, steht. Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert das Parlament. Es untersucht die Gesetze auf ihre Verfassungskonformität. Daraus folgt heute eine immer weiter getriebene Juridifizierung der Politik. Die oberste letzte Instanz ist heute nicht mehr die Legislative, sondern das Bundesverfassungsgericht.
Die vierte Gewalt stellt die öffentliche Meinung dar. Über das Parlament und die Judikative hinaus soll nach der Idee eines liberalen Staatswesens die öffentliche Meinung die Stätte der permanenten Kontrolle und damit die eigentliche politische Macht sein. Gedankenfreiheit und die Freiheit, seine eigenen Gedanken zu veröffentlichen, also die Freiheit des öffentlichen Wortes, sind Grundrechte im liberalen Rechtsstaat. Der permanente öffentliche Diskurs ist — zumindest seiner Konzeption nach — eine wirksamere Sicherung liberaler Freiheit als die Gewaltenteilung, weil die öffentliche Meinung die ständige Kontrolle aller Tätigkeiten des Staates und damit auch der jeweils konkreten Politik darstellt. Heute aber schwindet tagtäglich das Vertrauen der Öffentlichkeit, daß die politische Klasse in der Lage sein könnte, der neuen Lage Herr zu werden und die großen Aufgaben zu lösen. Eine große Mehrheit der Bürger wendet sich von der politischen Klasse und den durch diese Klasse getragenen Parteien ab.
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Richard von Weizsäcker sagt mit Recht, daß sich eine in der Verfassung nicht vorgesehene vierte Gewalt etabliert habe. Entgegen dem Wortlaut der Verfassung sei in Deutschland ein Parteienstaat entstanden. Es könnte leicht ein Zustand eintreten, in dem sich eine Gewalt bildet, die ihre Macht dazu nutzt, die Prinzipien und den Geist einer liberalen Verfassung außer Kraft zu setzen. Nach der Verfassung sollen die Parteien an der »politischen Willensbildung mitwirken«, sie aber nicht okkupieren und monopolisieren. Mitwirkung an der politischen Willensbildung impliziert aber durchaus die Möglichkeit, ja, den Auftrag einer geistigen und politischen Führung durch die Parteien. Der geschichtliche Umbruch der letzten Jahre hat einen ungeheuren Orientierungsbedarf erzeugt, aber die Parteien zeigen sich außerstande, sich dieser politischen Aufgabe einer geistigen Orientierung zu stellen. Sie sind bisher, so von Weizsäcker, eine konzeptionelle Führung schuldig geblieben.
Sir Ralf Dahrendorf kritisierte Richard von Weizsäckers Anmahnung einer geistigen Führung als einen Rückfall in den Wilhelminismus. Diese Kritik ist im Sinne eines liberalen Grundverständnisses völlig berechtigt, denn es stellt sich die Frage, inwieweit die Wahrnehmung geistiger Führung durch Parteien nach liberalem Selbstverständnis überhaupt legitim ist. Geistige Orientierung ist in der Sicht der Liberalen eine Sache der öffentlichen Meinung, nicht der Parteien. Die öffentliche Meinung, die Ausübung der Denk- und Meinungsfreiheit, die Teilnahme am öffentlichen Gespräch sollte die Form und die Stätte sein, in der die Gesellschaft aus sich selbst heraus die geistige Kraft findet, ihre Orientierungsprobleme zu erkennen und zu lösen.
Wenn Richard von Weizsäcker eine intellektuelle Führung anmahnt, dann deshalb, weil unsere öffentliche Meinung nicht mehr die Vielfalt der Standpunkte mit dem Grad der Objektivität und Sachlichkeit widerspiegelt, wie sie in der Gesellschaft tatsächlich existiert. Im übrigen wird Dahrendorf Richard von Weizsäcker nicht gerecht. Denn nach der Auffassung von Weizsäckers sollte nun dieses geistig-politische Vakuum durch die Aktivitäten der Intellektuellen ausgefüllt werden. Die Intellektuellen müßten jetzt aktiv werden und sich einmischen, um dieses Vakuum auszufüllen.
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Die Intellektuellen sind hierzu durch das, was von Weizsäcker die »Bürgergesellschaft« nennt, legitimiert. Wir sollten uns von dem gegenwärtig zu beklagenden Zustand wieder in Richtung einer Bürgergesellschaft entwickeln. Probleme, die die Gesellschaft hat, sollten im wesentlichen auch von der Gesellschaft gelöst werden. Von Weizsäcker sucht eine Lösung, den deformierten Zustand unserer politischen Kultur im Sinne der klassischen liberalen Vorstellungen zu überwinden.
Die klassische liberale Antwort im Blick auf dieTransformation von Macht in Recht und im Blick auf das Verhältnis von Öffentlichkeit und politischer Führung findet sich im Vertragsgedanken. Der Begründer des Vertragsgedankens ist Thomas Hobbes. Im vorstaatlichen Naturzustand hat jeder das Recht auf alles. Aus dem Geltendmachen dieses Rechtes folgt, daß keiner seines Lebens sicher sein kann, daß also dieser Naturzustand durch einen Krieg aller gegen alle gekennzeichnet ist. Das Leben im Naturzustand ist nach Hobbes unmenschlich, kurz und vergeblich. Dieser unerträgliche Zustand führt zu der Überlegung, wie man aus diesem Zustand, in dem jeder gegen jeden kämpft, in dem »the fear ofdeath«, die Furcht vor dem Tod, allesbeherrschend ist, herauskommen kann.
Hobbes antwortet: indem die Individuen untereinander einen Vertrag schließen. In diesen Vertrag bringen alle ihre Macht ein, und sie einigen sich darauf, den Gebrauch der Macht durch den einzelnen auf ein Maß zu beschränken, das ein friedliches Zusammenleben der Bürger ermöglicht. Das bedeutet zum einen, daß jeder — in seinem Gewissen unbeschädigt — seinen Glauben leben kann, und zum zweiten, daß die Individuen in wirtschaftlicher Betätigung ihren Geschäften nachgehen können. Die vertragschließenden Subjekte sind Individuen. Darum ist jede liberale Philosophie eine individualistische Philosophie. Der Stoff, aus dem die Staaten und Gesellschaften hervorgehen und gedacht werden, ist der einzelne. Diese einzelnen werden als Freie und Gleiche betrachtet. Das Prinzip der Gleichheit ist für den Liberalismus wie für jede Form des Sozialismus konstituierend.
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Durch die gleiche Gültigkeit des Rechtes für jeden stellt der Liberalismus aufgrund des Vertragsgedankens die einzige Gleichheit her, die in der Tat herstellbar ist, nämlich die Gleichheit vor dem Gesetz. Darin besteht der große Durchbruch des Gleichheitsgedankens im modernen liberalen Rechtsstaat, daß vor dem als generelle Norm gefaßten Recht alle Menschen gleich sind. Dieses Rechtsstaatsprinzip fordert dann auch eine demokratische Ergänzung, insofern die Bürger, die diesem Gesetz nach dem Prinzip der Gleichheit unterworfen sind, auch am Zustandekommen des Gesetzes beteiligt sein müssen. Die demokratische parlamentarische Vertretung ist im Rechtsstaatsprinzip insofern angelegt, als dies die bislang einzig praktikable Weise ist, in der die Bürger auch am Zustandekommen dieses Gesetzes beteiligt sein können. Der Grundgedanke der Demokratie besteht darin, daß in einem demokratisch organisierten Staat keiner einem Gesetz unterworfen sein soll, an dem er nicht irgendwie Anteil hat.
Nach dem Vertragsmodell schließen die an sich freien Individuen einen Vertrag in der Absicht, eine Konstitution hervorzubringen, die sie in der Realität in den Genuß der Gleichheit und Freiheit bringt, die in der Natur des Menschen begründet sind. Nach dem Selbstverständnis des neuzeitlichen Liberalismus ist der Rechtsstaat die wichtigste institutionelle Ermöglichung und Garantie der Herstellung von politischen Verhältnissen, in denen die einzelnen in Übereinstimmung mit ihrer Natur als einzelne in Gleichheit mit den anderen in Freiheit ihrer Bedürfnisbefriedigung nachgehen können.
Der Gedanke des Vertrages, der ein ungeschichtlicher, rein der konstruierenden Phantasie sich verdankender Modellgedanke ist, gilt als die philosophische Basis eines jeden Liberalismus in der modernen Welt. Diese liberale Konstruktion des Vertrages, wonach sich Individuen zusammenschließen, um die Bedingungen zu ermitteln, unter denen nach dem Legalitätsprinzip die Freiheit des einzelnen mit der Freiheit des anderen vereinbar ist, ist natürlich eine reine Fiktion. Das wissen auch Hobbes und Rousseau. Dennoch wird bis zum heutigenTag diese Fiktion zum Maßstab der Beurteilung der Liberalität der herrschenden Zustände erhoben.
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Heute gilt der Vertragsgedanke als Kriterium und Maßstab, um zu beurteilen, ob die faktischen Verhältnisse auch dem Gedanken der liberalen Freiheit und Gleichheit entsprechen. Der Staat schränkt sich in einer liberal gedachten Konstitution selbst auf die Aufgabe ein, die Bedingungen herzustellen, unter denen jeder einzelne, mit bestimmten Freiheiten ausgestattet, das Recht hat, seine Interessen zu verfolgen und sein Glück zu machen. Die wesentlichen Grundlagen dieser Philosophie bilden zum einen das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, zweitens die Erwerbsfreiheit, drittens die Vertrags- und Versammlungsfreiheit und schließlich die Garantie des erworbenen Eigentums.
Die Freisetzung der Individuen nach den formalen Prozeduren des modernen Rechtsstaates ist nun aber die Bedingung, unter der sich nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheit widerspiegelt. Die formale Gleichheit im Ausgangspunkt muß aus sich selbst heraus die Ungleichheit hervorbringen. An der Startlinie haben alle Läufer die gleiche Wahrscheinlichkeit zu gewinnen, aber am Ziel werden einige früher und andere gar nicht ankommen. Hier taucht das Problem derjenigen auf, die auf der Strecke bleiben, also die Frage nach der formalen und der materialen Gleichheit. Der Sozialstaat ist das Ergebnis einer Entwicklung, die aus der deutschen philosophischen Tradition hervorgegangen ist. Die Urväter dieses Gedankens sind Hegel und sein Schüler Lorenz von Stein*.
Ein von allen Formen des Sozialismus versprochener sozialer Egalitarismus ist eine Antwort auf das Versagen des Liberalismus, das in seiner Philosophie enthaltene Versprechen auf Herstellung von Gleichheit (nicht nur der formalen, sondern auch der materialen Gleichheit) nicht eingelöst zu haben. Es wird den Sozialismus deshalb so lange geben, wie es den Liberalismus gibt. Denn solange der Liberalismus das Versprechen auch auf diese Gleichheit hin nicht realiter einlöst, so lange hat — aufgrund des Versagens des Liberalismus — der Sozialismus seine Chance. Es ist die Position des klassischen Liberalismus, daß diese Gleichheit aus der gleichen Teilhabe aller Individuen an der Vernunft resultiert:
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Alle sind gleich, weil alle an der universalen Vernunft in gleicherweise Anteil haben. Die Position des neueren Liberalismus ist eine vollkommen andere: Die Gleichheit wird als die Gleichheit der Bedürfnisse bestimmt. Man rekurriert nicht mehr auf die Gleichheit der Vernunftnatur, sondern auf die Gleichheit der Bedürfnisnatur. Das bedeutet, daß alle Menschen von Natur aus die gleichen Bedürfnisse haben und aus der Vorstellung dieser Bedürfnisse sich in ihrem Glücksstreben vereinigen. In der amerikanischen Verfassung ist daher zu lesen, daß alle Menschen von Natur aus das gleiche Recht auf Verfolgung des Glücks (pursuit of happiness) haben. Es gibt aber in der amerikanischen Geschichte keine Phase, in der auch die reale Einlösung dieses Glücksversprechens durch die Gesellschaft und den Staat versprochen wurde.
Anders der Kommunismus: Der revolutionäre Sozialismus beansprucht, revolutionär einen Zustand herzustellen, in dem sich Gerechtigkeits- und Gleichheitsfragen gar nicht mehr stellen. Das Ziel des Marxismus ist nicht die Verwirklichung der Gerechtigkeit oder auch der materiellen Gleichheit, sondern das Ziel des marxistischen Sozialismus besteht darin, einen Zustand zu schaffen, in dem sich Gerechtigkeitsfragen und Probleme der Gleichheit des Anteils am materiellen Vermögen der Gesellschaft überhaupt nicht mehr ergeben. Der revolutionäre Sozialismus will das Problem lösen, indem er die Fragestellung abschafft. Die Annäherung an einen solchen Zustand sei aber nur unter den Bedingungen eines leistungsstarken Kapitalismus denkbar.
Auch der Sozialismus setzt in seiner Inkonsequenz voll auf die Entfaltung des Kapitalismus als derjenigen Gesellschaftsform, die den Reichtum schafft. Der Kapitalismus soll zuerst den materiellen Reichtum erwirtschaften, um dessen gleiche Verteilung es dann dem Sozialismus zu tun ist. Kein liberaler oder konservativer Theoretiker hat eine solche Apologie des Kapitalismus formuliert wie Karl Marx. Darum waren auch die konsequenten Marxisten immer dagegen, dem im Kapitalismus geschaffenen Elend entgegenzuwirken, denn je größer das Elend bei wachsendem Reichtum sei, desto günstiger stünde es um die bevorstehende sozialistische Revolution.
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Die Geschichte hat nun einen anderen Verlauf genommen, als Marx prophezeite. Sie hat den Sozialstaat hervorgebracht. Es gibt eine Fassung des Sozialstaates, die mit dem liberalen Rechtsstaatsprinzip vereinbar ist, und es gibt eine Fassung des Sozialstaats, die darauf hinausläuft, daß der Rechtsstaat faktisch abgeschafft würde. Die rechtsstaatskonforme Handhabung des Sozialstaates besteht darin, daß der Sozialstaat nur insoweit die materiellen Bedingungen herstellt, als jeder einzelne von den ihm im liberalen Staat gewährten Freiheitsrechten Gebrauch machen kann. Der Sozialstaat wird hier verstanden als materielle Ermöglichung der Wahrnehmung individueller Freiheitsrechte. In diesem Sinne hat bereits Hegel die Unverzichtbarkeit der staatlichen sozialen Fürsorge anerkannt. Das von Marx gesteckte Ziel einer allgemeinen materiellen Gleichheit kann dagegen nur unter der Bedingung der Abschaffung der Freiheit verwirklicht werden.
Man kann den Rechtsstaat zur Stabilisierung des liberalen Rechts- und Freiheitsprinzips organisieren, und man kann ihn zur Abschaffung organisieren. Unser Sozialstaat ist inzwischen jeder Steuerung und Kontrolle entglitten. Das Rechtsstaatsprinzip wird immer häufiger zugunsten des Sozialstaatsprinzips verletzt. Die Rechte, die aus dem Rechtsstaatsprinzip resultieren, sind freilich ganz anderer Natur als die, die aus dem Sozialstaatsprinzip resultieren: Es sind Gewährungsrechte. Die Erwerbsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Garantie des Eigentums, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit usw. sind Rechte, die aus dem Rechtsstaatsprinzip hervorgehen. Die Rechte, die aus dem Sozialstaatsprinzip resultieren, sind genau entgegengesetzter Natur: Sie limitieren Freiheitsrechte um der Intervention des Staates willen. Das Rechtsstaatsprinzip bedeutet die Reduktion staatlich interventionierender Tätigkeit, das Sozialstaatsprinzip bedeutet deren Ausweitung.
Jetzt stellt sich die Frage, wie das liberale Rechtsstaatsprinzip durch das einschränkende und ordnende interventionistische Sozialstaatsprinzip mehr und mehr verdrängt werden konnte. Die Gründe liegen auf der Hand. Es gibt deren zwei:
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1. Wir interpretieren heute Rechte als Werte. Mit Hilfe desWertbegriffes war es möglich, aus Vorbehaltsrechten des einzelnen gegenüber dem Staat Eingriffsrechte des Staates in den Bereich der Freiheit des einzelnen zu machen. Durch die Einführung desWertbegriffes wird das Recht subjektiver Willkür ausgeliefert. Es ist damit nicht mehr berechenbar, weil man aus Grundrechten Grundwerte macht. Der Staat ist dann ein sich auf Grundwerte beziehender Staat, der die staatliche Tätigkeit in allen Formen auf das Ziel der Werteverwirklichung bezieht. Es besteht ein großer Unterschied, ob der Staat dazu da ist, dem einzelnen Grundrechte zu gewähren und diese zu schützen, oder ob der Staat in den Dienst der Verwirklichung von Werten tritt. In der Verfassung von Brandenburg ist beispielsweise das Recht auf Arbeit als Staatsziel definiert. Wenn dies auch nicht durch das einzelne Individuum einklagbar ist, so ist der Staat doch auf den Wert verpflichtet, das Recht des einzelnen auf Arbeit durchzusetzen. Es kann aber kein Recht auf Arbeit geben, wenn es nicht auch die Pflicht zur Arbeit gibt. Würde das Land Brandenburg der Aufforderung nachkommen, müßte sie de facto eine der großen Freiheiten der modernen Welt, nämlich die Freiheit der Berufswahl, abschaffen.
2. Die Ersetzung der generellen Norm durch Maßnahmegesetze: Der Rechtsstaat darf kein Maßnahmestaat sein, sondern er muß für bestimmte Tatbestände generell verbindliche, also für alle geltende Normen als Recht setzen. Unser Rechtsstaat kommt ins Wanken, wenn er Recht nicht mehr als die Setzung und Durchsetzung genereller Normen versteht, sondern das Recht zu Maßnahmegesetzen mißbraucht. In Deutschland ist das Recht in Teilen ein Mittel der sozialtechnischen Regulation einer modernen Industriegesellschaft geworden. Dieser Rechtsbegriff ist nicht mehr mit dem Rechtsbegriff des klassischen Liberalismus vereinbar. Der Gedanke des Rechtes ist unvereinbar mit einer willkürlichen sozialen Bevorzugung der einen und Benachteiligung der anderen Gruppe.
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Der Gedanke des Rechts ist ebenso unvereinbar mit der rechtlich erlaubten Tötung etwa ungeborenen Lebens, auch wenn man noch so viele soziale Gründe der Not verständlich manchen kann. Ein Rechtsstaat, der individuelle Tötungsakte legalisiert, zerstört sich damit als Rechtsstaat. Wenn für eine solche Tötung gar noch das Gewissen einzelner als eine Letztinstanz in Anspruch genommen wird, so liegt darin die grauenhafteste Pervertierung dessen, was man in den letzten zweitausend Jahren in Europa unter Gewissen verstanden hat. Eine Gewissenssanktionierung von Tötungshandlungen an unschuldigen Menschen, die niemanden bedrohen, ist die Vernichtung dessen, was wir unter Gewissen verstehen. Die Gewissenstradition beginnt mit Sokrates* und hat zunächst gar nichts mit dem Christentum zu tun. Sokrates sagt, daß das Gewissen die Stimme ist, die jemanden warnt, der im Begriffe ist, etwas Schlechtes zu tun, und ihn zum Handeln des Guten zurückruft. Eine Gewissensbegründung für Tötung ist von Sokrates her völlig ausgeschlossen. Sokrates hat das Gewissen so verstanden, daß er in seine Tötung durch den Staat eingewilligt hat, obwohl er unschuldig war. Er tat dies mit der Begründung, daß Unrecht leiden besser sei, als Unrecht tun. Das ist die abendländische Gewissensethik. Die Freiheit im Liberalismus ist immer die Freiheit unter den Gesetzen. An eine sich vom Gesetz emanzipierende Freiheit haben die Väter und Mütter der liberalen Tradition nie gedacht.
Hier ist der Ort, um auf den Unterschied zwischen der liberalen Verfassung der Weimarer Republik und der liberalkonservativen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland hinzuweisen. Wenn eine Verfassung dem Modell von Liberalismus am ehesten entsprach, dann war es die Weimarer Verfassung, die im Vergleich zum liberalkonservativen Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eine wirklich liberale Verfassung war. Dieser Liberalismus der Weimarer Republik ist politikphilosophisch am Wertneutralismus gescheitert. Die Weimarer Verfassung zerfiel in zwei Teile.
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Der eine Teil der Verfassung verstand sich als wertneutral, also nicht nur neutral gegenüber Religionen und Weltanschauungen, sondern auch noch neutral gegenüber dem Wert der Liberalität selber. Toleranz und Offenheit als allein maßgebliche Prinzipien bildeten in Weimar den Keim der Selbstzerstörung der Demokratie. Weimar ist nicht in der Lage gewesen, durch die Organe der politischen Willensbildung die Macht zu bilden, deren es bedurft hätte, die Weimarer Republik vor ihren Feinden zu schützen und die großen Aufgaben zu bewältigen, mit denen Weimar damals konfrontiert war. Der große Versuch einer liberalen Verfassung ist in Weimar am Macht- und am Konsensproblem gescheitert. Die Verzweiflung der Bürger an der Fähigkeit der Demokratie war ein entscheidender Grund für den Untergang Weimars. Dieser Prozeß scheint sich heute zu wiederholen.
Das grundsätzliche Problem, das sich angesichts der Erfahrungen in Weimar und der erneuten Erfahrungen in der Bundesrepublik stellt und das an der Einforderung einer Bürgergesellschaft sichtbar wird, ist das prekäre Verhältnis von Liberalismus und Demokratie. Carl Schmitt* und auch August von Hayek* haben sich mit dieser Frage beschäftigt. Es ist eines der aufregendsten Phänomene, daß in der Problematisierung des Verhältnisses von Demokratie und Liberalismus der liberalste aller Theoretiker und der konservativste aller großen Theoretiker des 20. Jahrhunderts übereinstimmen.
Hayek bestimmt die Wurzel dieses Übels in der Neigung der Demokratie, den Liberalismus abzuschaffen. Solange die Parteien uneingeschränkt über das Instrument der Gesetzgebung verfügten, sei die Sache des Liberalismus gefährdet. Von Hayek kritisiert die Instrumentalisierung des wichtigsten Organs, nämlich der Legislative, für partikulare Zwecke. Das ist das Grundproblem, aus dem die Überwältigung der Demokratie durch den Liberalismus droht. Denn die Parteien setzen das Instrument der Gesetzgebung nicht mehr zur Befriedigung von Allgemeinwohlinteressen, sondern zur Sicherung ihrer Klientel ein, und zwar mit dem Ziel, ihre Klientel zu vergrößern. Entgegen der Verfassung sind nach von Hayek zwei weitere Deformationen eingetreten:
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1. Nicht mehr das Parlament als Ganzes kontrolliert die Regierung, sondern immer nur die Partei, die jeweils in der Opposition ist.
2. Über die Gesetze wird nicht in einer offen geführten Diskussion im Parlament entschieden, wo — nach dem Wortlaut der Verfassung — jeder einzelne Abgeordnete verpflichtet ist, seinem Gewissen und dem zu folgen, was er für das Interesse des Allgemeinwohls hält. Der Grund liegt nach von Hayek darin, daß die Form des Gesetzes sich im Rechtsstaat verändert hat. An die Stelle des Verständnisses des Gesetzes als einer generellen Norm — wir haben in anderem Zusammenhang schon darüber gesprochen — ist das Maßnahmegesetz getreten. Dadurch sei der Verfügung des Parlaments über die Gesetzgebung überhaupt keine Grenze mehr gesetzt. Man kann das Gesetz für beliebige Zwecke einsetzen, ohne daß das Gesetzesverständnis des Rechtsstaates noch eine Barriere darstellt. Je nach politischer Opportunität kann z.B. in der Steuergesetzgebung das Parlament die Maschine der Maßnahmegesetze in Gang setzen. Es wird das zerstört, was im klassischen Liberalismus nach der Gewährleistung des Schutzes des Lebens die wichtigste Staatsaufgabe überhaupt war, nämlich der Schutz des rechtmäßigen Eigentums.
Fassen wir zusammen:
Der Liberalismus hat bedeutende Leistungen aufzuweisen, die zu verteidigen sich lohnt. Dazu gehören in erster Linie der Rechtsstaat, die Wettbewerbswirtschaft, die Trennung von Staat und Gesellschaft und der Ausschluß der Wahrheitsfrage aus dem politischen Diskurs. Der Liberalismus funktioniert, wenn eine normale Lage besteht und ein relatives Wohlstandsniveau erreicht ist. Im übrigen kann aber von der Existenz eines klassischen Liberalismus heute keine Rede mehr sein. Der Rechtsstaat ist beschädigt, die Gewaltenteilung ist unterminiert und die philosophische, letztlich christliche Grundlage des Liberalismus ist in voller Auflösung begriffen. Eine den Liberalismus ermöglichende Normalität der Lage war in allen großen Krisen des 20. Jahrhunderts nicht gegeben.
Es hat sich gezeigt, daß der Liberalismus eine schwere gesellschaftliche Krise, wie wir sie in Weimar erlebt haben, kaum zu bewältigen vermag. Zur Bewältigung von Krisenlagen eines Ausmaßes wie in Deutschland am Ende der Weimarer Republik oder in Rußland heute — und möglicherweise auch bei uns wieder — ist der Liberalismus vielleicht prinzipiell außerstande. Der Liberalismus hat ein prekäres Verhältnis zur Macht. Er wird bei dem Versuch, Macht in Recht zu transformieren, immer wieder an objektive Grenzen stoßen. Im Grunde genommen hat der Liberalismus — wie das folgende Kapitel zeigen will — kein Verhältnis zum Politischen und zum Staat.
Die naturrechtliche Herkunft dieser Ideologie schließt ein geschichtliches und politisches Denken aus und impliziert ein Denken in Modellen undVerfahren. Der Liberalismus bringt keine Kategorien bei, die ihn befähigen könnten, in einer exorbitanten Lage außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. Der Liberalismus entwickelt nur ein funktionales Verhältnis zum Staat. Der Gedanke, daß Staat und Politik mehr sein könnten als die Organisation des Interessenausgleichs, ist ihm fremd. Der Liberalismus setzt einen Grundkonsens der Bürger voraus, ohne selbst einen Beitrag zur kulturellen Konstitution des Konsenses leisten zu können. Pluralismus allein aber hält noch keine Gesellschaft zusammen.
Last but not least denken Liberale — ausgehend vom Vertragsmodell — ungeschichtlich. Geschichtliche Krisen, zu deren Lösung womöglich andere als nur liberale Methoden nötig sind, kommen in ihrem Denken per definitionem nicht vor. Deshalb werden die Versuche, den Liberalismus auf seine Mängel hin zu befragen, ihn in Frage zu stellen und ihn zu überwinden, wiederkehren. Die Geschichte hat die Aufgabe gestellt, ein Problem zu lösen. An dieser Aufgabe sind wir — wie die jüngsten, an Weimar erinnernden Ereignisse zeigen — bis heute gescheitert. Nationalsozialismus und Marxismus sind geschichtlich widerlegt, aber dennoch ist der Liberalismus weit davon entfernt, als Triumphator aus deren Scheitern hervorzugehen.
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