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Wer befahl die Ermordung des Journalisten Listjew? 

 

 

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Moskau, Mittwoch, 1. März 1995, gegen 22.30 Uhr. Wladislaw Listjew betritt das Mietshaus, in dem er wohnt, geht einige Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Ein Mann mit einer Pistole kommt ihm entgegen. Listjew versucht zu flüchten. Da treffen ihn schon die Schüsse. Es sind zwei, eine Kugel durchschlägt den Kopf.

Ermordet wurde so – wieder einmal – ein widerborstiger und zugleich einflußreicher Journalist. Listjew leitete seit einigen Monaten als Generaldirektor das Öffentlich Russische Fernsehen (ORT), befand sich damit auf einem höchst gefährlichen Minenfeld.

Boris Jelzin, der russische Präsident, unterbrach, als ihn die Nachricht von der Ermordung Listjews erreichte, eine Sitzung im Außenministerium und eilte zum Fernsehsender nach Ostankino. Er wollte den Mitarbeitern sein "tiefes Mitgefühl" ausdrücken. "Angesichts des Zusammenwachsens von Behörden und kommerziellen Einrichtungen mit der Mafia drücken die Führer dieser Stadt und die Führer ihrer Rechtsorgane die Augen zu", klagte er und meinte Moskaus Bürgermeister Luschkow.

Wer am Tag danach das staatliche Fernsehprogramm einschaltete, blickte auf einen schwarzen Bildschirm, auf dem immer wieder derselbe Spruch erschien: "Möge unser Schweigen den Regierenden und der Gesellschaft als Warnung dienen: Ein Land, in dem kriminelle Organisationen schrankenlos walten, hat keine Zukunft."

Warum mußte Wladislaw Listjew sterben? "Er muß jemanden sehr gestört haben", sagten übereinstimmend Moskauer Journalisten. "Jelzin trägt die Verantwortung für den Mord", konkretisierte Artjom Borowik, Chefredakteur der Wochenzeitung "Sowerschenno Sekretno", die Vorwürfe. "Seit Jahren verspricht uns die Regierung, dem Verbrechen ein Ende zu setzen – doch sie kann es nicht, weil sie zur Hälfte selbst mit der Mafia zusammengewachsen ist." Viele hielten diese Personalisierung der Anklage für weit überzogen. Inzwischen jedoch ist klar, daß tatsächlich prominente Politiker, einflußreiche Wirtschaftsmagnaten und machtbesessene Mafiabosse in den spektakulären Mord verstrickt sind.

Denn sie wollen die Medien in den Griff bekommen. Schon Monate vor dem Mord kämpften Politiker, Unternehmer und Mafiabosse um den politischen Einfluß auf die Fernsehanstalt und um deren profitable Geschäfte. Denn am 1. April 1995 sollte der bisherige staatliche Fernsehgigant Ostankino in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden. 51 Prozent der Anteile übernahm die Regierung, die restlichen 49 Prozent teilten sich zwölf Privatkonzerne, darunter der Mischkonzern Logovaz, das Ölimperium Gasprom, die Kommerzbank und die Stolitschnyj-Bank. Sie sicherten sich damit den Zugriff auf einen Werbemarkt, der 1995 mit rund 170 Millionen Dollar beziffert wurde. Aufsichtsratsvorsitzender des neuen Senders: Boris Jelzin. Und das ist ein erster Hinweis auf kriminelle Verquickungen.

Die Stolitschnyj Bank ist eine der fünf russischen Großbanken. Deren Besitzer ist mit Boris Jelzin eng befreundet und gilt – zumindest glauben das europäische und amerikanische Polizeibehörden - als "Banker eines einflußreichen Moskauer Mafiasyndikats".

Listjew versuchte, mehr Unabhängigkeit im neuen Medienkonglomerat zu erreichen und jene Vermittlungsfirmen zu vertreiben, die die Sendezeit mit ihrer Werbung vollstopften. Die Journalistin Marina Rumjanzewa sagte über ihren ermordeten Freund Wladislaw Listjew und den Streit um den millionenschweren Werbetrog: "Wlads neues Fernsehen brauchte diese Vermittler nicht. Wlad gab bekannt, daß er den Vertrag mit der Reklameholding, die mehrere Vermittlungsfirmen umfaßte und bis jetzt allein über die Werbezeit des Fernsehens bestimmte, nicht mehr erneuern würde." Listjew soll überdies eine Finanzrevision angekündigt haben, um die undurchsichtigen Machenschaften der am Fernsehsender beteiligten Machtgruppen aufzuklären. Das hätte er wohl unterlassen sollen - wenn man sich die Namen der Beteiligten anschaut.

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Die stehen in einem geheimen Bericht, der sowohl einem kundigen Moskauer Journalisten wie den Ermittlungsbehörden vorliegt. Der Moskauer Journalist hat Angst, dessen brisante Aussagen zu veröffentlichen, gleiches gilt für die Ermittlungsbehörden, die deshalb auch kein Interesse haben, den Mord aufzuklären.

Dieser geheime Bericht sagt zwar nichts über die Mörder aus. Aber viel über die Hintermänner im Machtkampf um das russische Fernsehen und deren Interessen, sich das Geschäft durch Listjew nicht verderben zu lassen. Da bittet "B.N." einen "Papa" aus "dem Hintergrund" hervorzutreten. "B.N." ist Boris Jelzin und "Papa" der Bürgermeister von Moskau, Jurij Luschkow. Und dann werden pikante Details über Verhandlungen um den größten russischen Fernsehsender mitgeteilt: "Nachdem die neue Situation bezüglich der Werbung auf dem Fernsehkanal bekanntgegeben wurde, reiste ›Kitaez‹, der aller Wahrscheinlichkeit nach über ›Premier‹ am Werbegeschäft verdiente, nach Moskau. In Peking findet ein Gespräch zwischen Kitaez, Petrik und B. A. statt."

Unter dem Kürzel "B. A." verbirgt sich Boris Beresowski, Aufsichtsratsvorsitzender des milliardenschweren Konzerns Logovaz und einer der einflußreichsten Aktionäre des Fernsehsenders. "Kitaez" (Chinese) ist der 55jährige Vyacheslav Ivankov. Er allein kassierte monatlich rund 250.000 Dollar über das lukrative TV-Werbegeschäft. Ivankov ist zu dieser Zeit einer der gefährlichsten russischen Mafiabosse. FBI-Direktor Louis J. Freeh sieht in ihm den "Kopf eines internationalen Gegners, der sehr mächtig ist und weltweit agiert – die Russenmafia". Diese erwirtschaftet einen geschätzten Jahresumsatz von 100 Milliarden Dollar, herrscht über 1,8 Millionen "Mitarbeiter" und dürfte demnach - ohne Konkurrenz fürchten zu müssen - der größte Konzern der Welt sein.

Von ähnlichem Kaliber wie Ivankov, um dessen Hände sich im Sommer 1995 in New York Handschellen schlossen, ist jener Mann, der in dem erwähnten Dokument als "Premier" auftaucht. Ihn verbindet einiges mit Gangsterboß Ivankov. "Premier" ist Jossif (Josef) Kobson, der "Frank Sinatra Rußlands", einst ein berühmter Volkssänger und ebenfalls, wie der Mafia-Banker, ein "guter Freund" des Präsidenten Boris Jelzin. 

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"Kassierer der Verbrecherwelt" beschimpften ihn die russischen Medien, und von europäischen Polizei­behörden wird Kobson als "zentrales Bindeglied zwischen krimineller Mafia und der Regierung in Moskau" eingestuft, ein Vorwurf, den Kobson vehement von sich weist. Er sei Unternehmer, sagt er, und habe mit der Mafia nichts zu tun. "In Moskau gibt es keine einzige ›Autorität‹ der Verbrecherwelt mehr. Alle leben im Ausland, doch das süße Leben dort hindert sie nicht, das kriminelle Leben in Rußland zu steuern", weiß er zu erzählen. Gleichzeitig ist es für ihn abwegig, die kriminellen Paten zu bekämpfen, im Gegenteil. "Man soll sich mit denen an einen Tisch setzen und einen Dialog führen. Rußland kann man mit einem Straflager vergleichen, in dem Gesetzlosigkeit herrscht und wo der Lagerleiter unbedingt mit den ›Autoritäten‹ kommunizieren muß, um irgendeine Ordnung zu erhalten."

Der Volkssänger Kobson avancierte im Laufe weniger Jahre zu einem reichen Unternehmer mit beträchtlichem politischen Einfluß. Er ist einer der Hauptaktionäre des an der Moskwa liegenden Gorki-Parks, des größten Moskauer Vergnügungsparks. Ein anderes Unternehmen, das er besitzt, ist die Firma Moskowit, die vor allem an dunklen Geschäften mit der einstigen Sowjetarmee mächtig verdient hat, selbst unter Berücksichtigung der an bestimmte Generäle gezahlten hohen Korruptionssummen. "Kobson ist einerseits eng verbunden mit dem Generalinspekteur der GUS-Truppen, General Kobez, und andererseits mit dem Oberkommandierenden der GUS-Streitkräfte, Marschall Schaposchnikow. Dessen Sohn wiederum steht hinter der Aktiengesellschaft Reknet, die vor allem dadurch aufgefallen ist, daß sie Militäreigentum versilbert und den Gewinn ›privatisiert‹.1

Was nützt dem Millionär sein vieles Geld, wenn er nicht frei wie ein Vogel in der Welt herumreisen darf, zum Beispiel in die USA, zu seinen dortigen Freunden? Im Mai 1985 verweigerte ihm das US-Außenminsterium das Visum. Die Begründung stand in der "Washington Post": "Kobson hat Verbindungen zur russischen Mafia und zu Drogenhändlern." Gegen diesen "verleumderischen Vorwurf" wollte sich Kobson gerichtlich zur Wehr setzen. Anfang Januar 1986 jettete er nach Israel. Auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv war die Reise zu Ende. Diesmal hielt ihn die israelische Polizei sechs Stunden lang fest und verweigerte ihm die Einreise nach Israel, trotz einer Intervention des russischen Botschafters in Tel Aviv. Erneut traf ihn der schwere Vorwurf, diesmal durch den israelischen Innenminister, er sei "Mitglied der Russenmafia".

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Wäre Kobson dagegen nach Deutschland gekommen, um seine Geschäftspartner in Berlin oder Frankfurt zu besuchen, wäre er sicher nicht aufgehalten worden. Dabei wissen die Behörden in Deutschland von merkwürdigen Firmenverflechtungen, an denen Kobson beteiligt ist. Zum Beispiel des Unternehmens Liat-Natali. Die Verbindungen dieser Firma führen direkt zur größten Mafiabande Litauens, der Vilnius-Brigade, und von dort in die Bankenmetropole Frankfurt.

Die Stadt am Main ist ein fruchtbarer Boden für kriminelle Geldgeschäfte jeder Art. Hier soll es zwei russische Finanzinstitute geben, die, nach einem CIA-Bericht aus dem Jahr 1995, als "mafiainfiltriert" gelten. Der Aufbau eines kriminellen Netzwerkes wird erleichtert, da die Polizei, deren einst hochmotivierte und engagierte Beamte durch bürokratische Willkür und fehlende Finanzmittel massiv in ihrer Ermittlungsarbeit behindert werden, kaum dabei stört, nicht einschreitet. Bei einer Frankfurter Staatsanwaltschaft und einem hessischen Justizministerium, die nicht einmal wissen, daß sich die Russenmafia ausgebreitet hat, ist das nicht weiter verwunderlich. Obwohl hier doch, zumindest bis Anfang Januar 1996, ein hochrangiges Führungsmitglied der Russenmafia lebte, ein "ehrbarer Kaufmann", versteht sich, der an der Firma Liat-Natali beteiligt sein will. Als Szenekenner weiß er, wie die tschetschenische Mafia in Frankfurt Schutzgelder kassiert, welche Gruppe der Russenmafia in Hessen für Autoverschiebungen und Mädchenhandel zuständig ist, welche Firmen aus Rußland und den anderen Nachfolgestaaten der UdSSR in Frankfurt Tarnorganisationen der Mafia sind.

Im Vergleich zu Kobson oder dem Vorstandsvorsitzenden der Liat-Natali in Moskau, Shabtei Kalmanovich, dürfte er jedoch ein kleines Licht sein. Kalmanovich hat dafür beste Verbindungen ins Frankfurter politische Establishment. Er hat eine steile Karriere hinter sich, bei der es nicht störte, daß er in den "USA Probleme wegen Scheckfälschungen hatte, oder Anfang 1987 kurzfristig in Großbritannien inhaftiert wurde. Auch seine Verhaftung in Israel, Ende 1987, wegen des Verdachts der Spionage für die UdSSR"2,

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behinderte keineswegs seinen Aufstieg zum millionenschweren Unternehmer. Bereits Ende der achtziger Jahre hatte er ein Netzwerk von Firmen aufgebaut, Büros in Frankfurt, Köln, Tel Aviv, Johannesburg und Freetown (Sierra Leone) eröffnet. Über die liefen seine Geschäfte, vor allem der Diamanten- und Goldhandel für die UdSSR. "Sein Aufstieg zum Millionär wurde durch die Aufnahme in ein mächtiges Netzwerk des Organisierten Verbrechens ermöglicht, ein Netzwerk, in dem Diamanten und Drogen eine entscheidende Rolle spielten"3, behauptet ein interner Bericht der südafrikanischen Polizei, der, "Vertraulich - unter Umschlag", bereits 1988 dem Hessischen Landeskriminalamt in Wiesbaden zugestellt wurde. Informationen über Kalmanovich liegen außerdem verschiedenen Nachrichtendiensten vor, wie dem israelischen Mossad. Die glauben beweisen zu können, daß er "in den achtziger Jahren eine wichtige Stütze für KGB-Operationen in Afrika" war. Viele Jahre liegt das alles zurück, ist heute Geschichte. Eine Geschichte, die durchaus typisch ist für das seit langem bestehende Fundament, auf das sich die Russenmafia heute stützt. Inzwischen sitzt Kalmanovich wieder in Moskau und macht mit dem einschlägig bekannten Jossif Kobson über die Firma Liat-Natali Geschäfte, wahrscheinlich sogar auch legale.

 

"Die Mafia herrscht in Moskau", klagt der Moskauer Polizeidirektor Sergej Donzow. Er dient unter dem Moskauer Bürger­meister Jurij Luschkow. Dem jedoch werden engste Mafiakontakte selbst von deutschen Sicherheitsbehörden nachgesagt. Er ist ein Politiker, der sich im spanischen Marbella 1995 eine prunkvolle Villa kaufte, und "zwar über den iranischen Geschäftsmann Ha-mit Nagashan", erzählen Fernsehjournalisten von Televisiö de Catalunya aus Barcelona. Dieser Nagashan war Mitte der achtziger Jahre iranischer Sonderminister, zuständig für illegale Waffenbeschaffung. Entsprechend umfangreich ist die Ermittlungsakte Nagashan bei der Schweizer Polizei, die sich 1987 mit ihm beschäftigte.

Die Beamten wurden auf ihn im Zusammenhang mit einem unglaublichen Drogen- und Waffengeschäft aufmerksam. Im Auftrag der iranischen Regierung wurden auf dem europäischen Schwarzmarkt Waffen eingekauft. Ein Teil der Bezahlung erfolgte durch Drogen: 3000 Kilogramm. Zuständig für den kriminellen Megadeal war – das ergaben Ermittlungen des Berner Justizdepartements – Hamit Nagashan in Teheran. Zwangsläufig stellt sich jetzt die Frage, was den vermögenden Iraner Hamit Nagashan mit dem Moskauer Bürgermeister Luschkow verbindet? Geht es etwa darum, politische Freunde in der russischen Hauptstadt zu gewinnen, um endlich die ersehnte islamische Atombombe bauen zu können?

All diese dubiosen Verstrickungen weisen jedenfalls auf die zentrale Stoßrichtung der Mafia hin, weiß Sergej Donzow aus eigener Erfahrung, vielleicht mit seinem obersten Chef: "Die Mafia ist in den Staatsapparat eingedrungen."

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