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3  Hungersnöte 

 

Nur Kanonen, keine Butter  

 

 

I

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In unserer modernen Welt gibt es keine durch eine Bevölkerungskrise ausgelösten Hungersnöte, Seuchen und Kriege; wir haben einfach nur Hungersnöte, Seuchen und Kriege. Davon lassen sich Kriege am leichtesten verurteilen, Seuchen sind am furcht­erregendsten, doch es sind Hungersnöte, die uns wirklich zu schaffen machen.

Hunger ist zu eng mit einer Diät verwandt. Wenn wir eine Diät halten, schnauzen wir unsere Frau an, versuchen uns leichter zu machen, wenn wir auf der Waage stehen, und essen anderen Leuten den Rest ihrer Torte weg. Wenn wir schon durch den bloßen Verzicht auf einen Nachtisch zu wütenden, verlogenen Dieben werden, wie muß dann echter Hunger sein?

Stellen Sie sich ein Programm zur Gewichtsabnahme vor, an dessen Ende nicht bessere Gesundheit, gutes Aussehen und wilde romantische Abenteuer stehen, sondern der Tod. Somalia war soeben zu so einer Art Kurort geworden. Ich begab mich im Dezember 1992 dorthin, kurz nachdem US-Truppen in Mogadischu gelandet waren.

Ich hoffte, Hunger würde sich als eine einfachere Frage erweisen als Übervölkerung. Die Bevölkerungs-Kassandras haben vergessen, daß jede Ziffer in einer Volkszählung für einen einzelnen Menschen steht, der am Weiterleben genauso interessiert ist und genausoviel Recht darauf hat wie eine dieser Kassandras. Die Leute, die vor Hungersnöten warnen, sind ebenfalls professionelle Schwarzseher, doch sie wünschen dem Rest der Menschheit nicht den Tod. Ganz im Gegenteil. Und in Somalia waren die guten Absichten, die diese professionellen Schwarzseher ständig auf den Lippen tragen, mit – was für eine seltene Mischung – guten Taten verbunden. Es wurden Nahrungsmittel ins Land gebracht und internationale Friedensstreitkräfte entsandt, um die Nahrungsmittel zu übergeben.

"Speist die Hungernden" ist einer der ersten Grundsätze der Moral. Hier wurde er in die Tat umgesetzt. Wo waren also die hungernden Kinder Mogadischus? Wo waren die bedauernswerten kleinen Kinder mit dem verlorenen Gesichtsausdruck, deren Gesichter sich schon einer weniger schmerzlichen Welt zugewandt hatten, die Kinder mit den Gliedmaßen, die so dünn waren wie die Schrifttypen in einer Todesanzeige und mit den aufgeblähten Bäuchen, die von einem nahen Tod kündeten? Ein Blick auf diese armen Würmer zerreißt einem das Herz. Sie sind das Sinnbild des Elends der Dritten Welt, das unvermeidliche Titelfoto von Nachrichtenmagazinen und begegnen uns auch immer wieder in den Fernsehnachrichten. Ich hatte fast schon erwartet, auf dem Flughafen von Mogadischu von einer Delegation dieser bedauernswerten Wesen in Empfang genommen zu werden.

Statt dessen traf ich auf Waffen. Überall neben der Landebahn sah ich amerikanische Waffen, Waffen der UNO, Waffen aus aller Welt. Lastwagen voller Somalis mit Waffen fuhren vor, um das Gepäck zu holen. Dies waren meine Waffen, angeheuert, um mich vor diesen anderen Somalis mit Waffen zu schützen, und diese waren sämtlich bewaffnet. Und ich dachte, ich könnte mich vielleicht sogar selbst bewaffnen, da keiner dieser Waffenträger - ob Somalis, Ausländer oder supranational - so aussah, als würde es ihm etwas ausmachen, mich zu erschießen.

Alles, was Waffen erreichen können, war in Mogadischu schon erreicht worden. Seit zwei Jahren taten sich die Bewohner der Stadt zusammen, teilten in sich in Gruppen, die Gruppen teilten sich in weitere Untergruppen und schlossen sich dann erneut in einem verrückten Gewimmel von Clan-Fehden und Bündnissen zusammen. Zuvor war Somalia von dem zwar verab­scheuungs­würdigen, doch stabilen zweiundzwanzigjährigen Regime des Diktators Siad Barre zusammengehalten worden. Doch Barre zog immer mehr Abscheu auf sich und verlor die Stabilität, und als er sich im Januar 1991 aus dem Staub machte, begannen sämtliche Bewohner der Stadt mit Gewehren aufeinander zu schießen, mit Maschinengewehren, Mörsern, Kanonen sowie – dem Anblick der Stadt nach zu urteilen – mit Dreckklumpen.

Kein Gebäude war davon verschont geblieben, und viele waren zerstört. Nur selten sah ich eine Hauswand, die nicht mit Einschußlöchern übersät war, und es fiel besonders auf, wenn eine größere Fläche keine Schäden aufwies. In der ganzen Stadt war kaum eine Glasscheibe heil geblieben. Es gab kein Trinkwasser und keine Elektrizität. Nachts wurde die Stadt nur durch Leuchtspurmunition erhellt. Die moderne Innenstadt Mogadischus war verschwunden. Die neue Architektur aus Stahl und Beton war völlig zerbombt.

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Die Altstadt war ein menschenleeres Trümmerfeld, ein Niemandsland zwischen zwei Clan-Fraktionen, die sich erbittert bekämpften. Überall sah ich Abfall, den man auf die Trümmer gekippt hatte, und Ziegen weideten auf dem Unrat. Ganze Hügel von Sand waren durch die Straßen geweht worden. Dort, wo noch etwas von dem Straßenpflaster übrig war, quollen Abwässer aus der Erde.

Die Vernichtungsorgie hatte die Menschen auf die Straßen getrieben, wo sie aus Brettern, Holzabfall und abgeplatteten Olivenöldosen kleine Marktstände gebaut hatten - Stände, an denen vor allem Holzreste und abgeplattete Olivenöldosen verkauft zu werden schienen. Junge Männer, die mit Kalaschnikows herumfuchtelten, drängten sich durch die Menschenmenge. Verrostete und verbeulte offene Lastwagen ohne Windschutzscheibe und mit Maschinengewehren auf der Ladefläche tuckerten auf den schäbigen Überresten der Straßen, auf denen jedoch weit mehr Eselskarren zu sehen waren. Gelegentliche Lastkamele überragten die Lastwagen.

Von den modernen Waffen abgesehen, war es eine Szene aus einem Ruinenfeld der Altsteinzeit. Früher hatten die Somalis die Gewohnheit gehabt, die Außenwände ihrer Läden mit unbeholfenen Bildern von Konservendosen, Fernsehgeräten, Fotokopiergeräten und ähnlichem zu bemalen. Die Überreste solcher Malereien an verlassenen Ladenfronten waren jetzt der einzige Beweis, daß das zwanzigste Jahrhundert überhaupt etwas Angenehmes hervorgebracht hatte.

Im Vergleich zu Mogadischu würden hungernde Kinder ein niedlicher Anblick sein. Tatsächlich sind hungernde Kinder wirklich niedlich, nämlich in den Tiefen unseres blutenden Herzens, dort, wo die weinerliche Betschwester in uns zu Hause ist. Man beachte die riesigen Augen, die bleichen Gesichtszüge, die so harmlos wirken wie die von Michael Jackson, bevor man ihn des sexuellen Mißbrauchs kleiner Jungen beschuldigte, die elfenhafte Körperlosigkeit der Leiber. Steven Spielbergs E. T. verdankt dem Modell anbetungswürdigen Leidens, wie wir es aus Biafra, Bangladesch und Äthiopien kennen, eine Menge.

Es ist leichter, unser Mitgefühl für Unschuldige zu bekennen, die im Elend leben, als sich dem zu stellen, was in einem Land wie Somalia geschehen ist. Dort ist es nicht einfach nur zu einer Hungersnot gekommen, sondern zum vollständigen Zusammenbruch von allem, was ein menschenwürdiges Dasein lebenswert macht. Ich habe zwei Wochen in Somalia verbracht und nie ein hungerndes Kind gesehen, doch nicht etwa, weil es sie nicht gegeben hätte, sondern weil sie irgendwo in einer dunklen Ecke im Sterben lagen. Irgendwo an den Rand und ins Abseits gedrängt, und zwar von Leuten mit Waffen.

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Dieser Besuch in Somalia war wie der Besuch eines Tatorts, an dem man entdeckt, daß der Mörder noch da, die Leiche aber geflüchtet ist.

 

II

Die Welt hat genug Lebensmittel. 1990 veröffentlichte das Welthungerprogramm der Brown University ein von Lucile F. Newman herausgegebenes Buch mit dem Titel Hunger in History. "World Hunger" ist die Art Programm (und Brown die Art Universität), das, wie ich glaube, sofort begierig sagen würde, wenn es auf der Welt tatsächlich nicht genug zu essen gäbe. Doch das sagt man uns nicht. Im Schlußkapitel des Buches, "Wie man dem Hunger ein Ende macht: Die Lektionen der Geschichte" sagen Robert W. Kates und Sara Millman, in den sechziger Jahren sei "ein weltweit ausreichendes Nahrungsmittelangebot" erreicht worden. Mitte der achtziger Jahre habe die Welt fast "ein ausreichendes Angebot an einer ausgewogenen Ernährung" erreicht, womit die Autoren meinten, die Erde habe genug Proteine, Kohlenhydrate, Vitamine, Mineralien und alles andere, was heute für eine ausgewogene Ernährung als wichtig gilt, damit wir gesund leben können.

Der vorletzte Artikel von Hunger in History, "Organisation, Information und Anspruch in dem sich abzeichnenden weltweiten Ernährungssystem" stammt von sechs Experten auf diesem Feld. Sie kommen zu folgendem Schluß: "Wenn Lebensmittel gerecht verteilt würden, würden die gegenwärtigen Vorräte mehr als ausreichen, um für alle eine ausreichende Ernährung zu sichern." Allerdings können sich diese Experten einen kleinen Seitenhieb gegen die Völlerei der westlichen Bourgeois nicht verkneifen, die auf der Nahrungskette ein wenig zu hoch geklettert sind. Und dort gehören sie offenbar nicht hin. Die Vorstellung von einer gerechten Verteilung, wie sie den Autoren von Hunger in History vorschwebt, würde eine Ernährung erfordern, "die erheblich weniger tierische Produkte vorsieht, als sie in der Ernährung der Industrieländer eine Rolle spielen". Wenn ich also dieses Steak nicht esse, wird die Kuh wohl wieder zum Leben erwachen, das Futter in Form von Mais und Silage herauswürgen, damit man diese Dinge dann an die Bewohner des Tschad verfüttern kann.

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Aber keine Angst, die Welt hat genug zu essen – Kates und Millman zufolge jedenfalls genug, um 120 Prozent des weltweiten Bedarfs bei einer "fast rein vegetarischen" Ernährung zu garantieren, und mehr als die Hälfte dessen, was nötig ist, damit jeder wie ein Amerikaner essen und dick werden kann.

Überdies gibt es dort, wo diese Lebensmittel hergekommen sind, noch mehr davon. Von allen Beschäftigten in den USA arbeiten nur 2,7 Prozent in der Landwirtschaft, während es in China 60 und in Rußland 43 Prozent sind. Trotzdem exportieren die Vereinigten Staaten jedes Jahr genug Weizen, um China und Rußland mit all dem Getreide zu versorgen, das diese beiden Länder importieren müssen, obwohl sie ganze Heerscharen von Landarbeitern beschäftigen. Dies liegt jedoch nicht einfach nur daran, daß Amerika ein großes und üppiges Land ist. Das auf engem Raum zusammengedrängte industrialisierte Japan erzeugt genausoviel Reis wie Burma, das doppelt so groß ist wie Japan und ein reines Agrarland ist. Und das rundliche kleine Frankreich erzeugt mehr Weizen als Argentinien und Australien zusammengenommen.

Im größten Teil der Welt hat die Nahrungsmittelproduktion das Bevölkerungswachstum weit überholt. In den dreißiger Jahren verzeichneten die amerikanischen Weizenbauern einen Durchschnittsertrag von dreizehn Bushel pro Morgen. Im Jahr 1970 lag der Ertrag bei einunddreißig Bushel. Im gleichen Zeitraum entwickelte sich der Maisertrag von sechsundzwanzig Bushel pro Morgen auf siebenundsiebzig. Die Lebensmittelverteilung hat sich ebenfalls verbessert. Der FAO zufolge, der Ernährungs­organisation der UNO, hungerten im Jahre 1950 fast 25 Prozent der Weltbevölkerung, während es heute nur zehn Prozent sind.

Die heutige Zeit hat eine gewaltige Zunahme der Lebensmittelerzeugung erlebt und eine ebenso ungeheure Zunahme der Menschen, die sich satt essen können - und eine unglaubliche Zunahme der Hungersnöte. Dies scheint allen Naturgesetzen zu trotzen. William A. Dando schätzt in seinem 1980 erschienen Buch The Geography of Famine, daß weltweit im siebzehnten Jahrhundert etwa zwei Millionen Menschen verhungert sind, im achtzehnten zehn Millionen und im neunzehnten fünfundzwanzig Millionen Menschen. Dann kommt das zwanzigste Jahrhundert. Zwischen 1958 und 1961 sind bei nur einer Hungersnot in China dreißig Millionen Menschen verhungert. In den dreißiger Jahren waren es in der Ukraine mindestens fünf Millionen mehr. Drei Millionen starben bei einer anderen chinesischen Hungersnot in den Jahren 1928 und

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1929, drei Millionen waren es 1943 in Bengalen, eine Million Ende der siebziger Jahre in Kambodscha und ungezählte weitere Millionen in Biafra in den Jahren 1967 und 1968, 1973 in Äthiopien, 1974 in Bangladesch sowie 1983 und 1984 im Afrika südlich der Sahara.

Wenn etwas den Naturgesetzen trotzt, ist meist Politik im Spiel. Dürre, Überschwemmungen, Mißernten und Insektenplagen haben in einigen der genannten Hungerkatastrophen zwar eine gewisse Rolle gespielt, doch wurde keine dieser Hungersnöte von der Natur verursacht. Die chinesische Hungersnot von 1958 bis 1961, die schlimmste der Geschichte, hatte nichts mit dem Wetter zu tun und auch nicht mit "höherer Gewalt". Tatsächlich könnte man sagen, daß sie buchstäblich nichts mit höherer Gewalt zu tun hatte, denn hier hatte Gott seine Hand nicht im Spiel. Vielmehr wurde sie durch schiere Gottlosigkeit ausgelöst – nämlich dadurch, daß man einer traditionellen bäuerlichen Landwirtschaft die marxistische Theorie aufzwang. Das gleiche löste die ukrainische Hungersnot der Jahre 1932 bis 1934 aus sowie die Hungersnot in Kambodscha in den Jahren 1975 bis 1979.

Einige Hungersnöte wurden sogar absichtlich herbeigeführt. Die nigerianische Regierung setzte den Hunger als Waffe in dem Krieg gegen Biafra ein. Das gleiche taten die Äthiopier mit den Eritreern, und die muslimischen Sudanesen sind im Augenblick dabei, es ihren christlichen und animistischen Landsleuten anzutun.

Einige Hungersnöte wurden nicht durch politische Organisationsformen ausgelöst, sondern durch das Fehlen jeder politischen Organisation. Keine Regierung kann vernünftigerweise Hungersnöte bekämpfen, wenn es gar keine Regierung gibt, wie etwa in China Ende der zwanziger Jahre.

Einige Hungersnöte haben politische Ursachen von geradezu verwirrender Komplexität. So hatten etwa die Briten 1943 in Bengalen keine unheimlichen Pläne oder bösen Absichten. Sie wollten jedoch verhindern, daß die Reisvorräte in die Hände möglicher japanischer Invasoren fielen, und überdies wollten sie die Massen in Kalkutta ernähren und die kriegswichtigen Industriebetriebe dort am Leben erhalten. Folglich konfiszierten sie die Reisvorräte, die in Bengalen auf dem Land gelagert waren. Das löste eine Panik aus, die Preise für Reis schnellten in die Höhe, und anschließend verhungerten die Menschen massenweise, obwohl Lebensmittel gar nicht so knapp waren.

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Tatsächlich kann es sogar dann zu einer Hungersnot kommen, wenn es Lebensmittelüberschüsse gibt. In einem Artikel über die politischen Ursachen von Hungersnöten schrieb Sylvia Nasar am 17. Januar 1993 in der New York Times: "Eine der schlimmsten Hungersnöte der jüngsten Zeit – die von Bangladesch im Jahre 1974 – ereignete sich in einem Jahr mit ungewöhnlich hoher Reisproduktion." Unbegründete Gerüchte über eine Reisknappheit ließen die Preise um das Doppelte in die Höhe schnellen. Dann machte sich die Regierung der "Volksrepublik Bangladesch", angerührt von dem selbsternannten Sozialisten Mujibur Rahman, daran, die Dinge noch zu verschlimmern. Die Armee wurde losgeschickt, um Hamsterer festzunehmen, "womit die Leute davon überzeugt waren", sagt Miss Nasar, "daß [Mujibur] die Kontrolle verloren hatte, und der Preisanstieg wurde dadurch noch weiter angeheizt". Die Preisexplosion hatte einen riesigen Schwarzmarkt zur Folge. Und der Schwarzmarkthandel wiederum verschlimmerte die ohnehin schon blühende Korruption des Mujibur-Regimes. Und die Menschen hungerten ohne echten Grund. Miss Nasar fügt hinzu: "Die Vereinigten Staaten verschärften die Lage noch durch die Ankündigung, sie würden die Lebens­mittelhilfe für das Land zurückhalten, um Bangladesch ausgerechnet wegen seiner Juteverkäufe an Kuba zu bestrafen." Da haben wir schon wieder diese verdammte Jute.

Fülle ist keine Garantie gegen Hungersnot, aber Knappheit garantiert ebenfalls nicht, daß es zu Hungersnöten kommt. Der indische Nationalökonom Amartya Sen war einer der ersten Wissenschaftler, die Hungersnöte nicht als Naturkatastrophen ansahen. Sein 1981 erschienenes Buch Pouerty and Famines war in akademischen Zirkeln so etwas wie ein in diesen Kreisen übliches Gegenstück eines neuen Zeichentrickfilms von Walt Disney. Sen nahm die bengalische Hungersnot von 1943 als Hauptbeispiel und bewies damit die politische Natur der Lebensmittelverteilung in der modernen Gesellschaft (sofern man in den Sozialwissenschaften überhaupt etwas beweisen kann).

Später studierte Professor Sen die Dürre der Jahre 1983 bis 1984 im Afrika südlich der Sahara. Er fand heraus, daß Sudan und Äthiopien einen Rückgang der Nahrungsmittelproduktion von elf beziehungsweise 12,5 Prozent hatten hinnehmen müssen. Diese Länder wurden von schweren Hungersnöten betroffen. Botswana hatte jedoch einen siebzehnprozentigen Rückgang der Lebensmittelproduktion zu verzeichnen, Simbabwe sogar einen Rückgang von 37,5 Prozent, und trotzdem gab es in beiden Ländern keine Hungersnot. Der Grund: Weder der Sudan noch Äthiopien hatten etwas dagegen, daß bestimmte aufrührerische Teile ihrer Bevölkerung verhungerten, während Botswana und Simbabwe dies zu verhindern trachteten.

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Wenn Hungersnöte tatsächlich politisch bestimmt sind, wie lange gilt dies schon? Wie weit in der Geschichte können wir zurückgehen und entdecken, daß menschliche Torheit menschliches Leid verursacht?

Die Große Hungersnot in Irland in den Jahren 1846 bis 1851 wurde durch die Kartoffelfäule ausgelöst, die man den Briten nicht in die Schuhe schieben kann (obwohl ich jeden nur davor warnen kann, bestimmte Angehörige meiner Familie davon überzeugen zu wollen). Englands Getreidegesetze machten jedoch andere Nahrungsquellen in Irland teuer, sogar so teuer, daß Irland selbst in den schlimmsten Hungerjahren noch Getreide exportierte. Und das von den Briten aufgezwungene System der durch Abwesenheit glänzenden Landherren ließ diesen Landadel aus bequemer Ferne gleichgültig auf das Leiden seiner Pächter blicken.

David Arnold, Autor des 1988 erschienenen Buches Famine. Social Crisis and Historical Change, behauptet, die immer wieder auftretenden Hungersnöte im China des neunzehnten Jahrhunderts seien auf die korrupte und teilnahmslose Mandschu-Dynastie zurückzuführen, die es nicht geschafft habe, die Infrastruktur der bäuerlichen Landwirtschaft zu erhalten. Er legt Beispiele dafür vor, daß energischere chinesische Regierungen mehr als tausend Jahre lang verschiedene Formen der Hungerbekämpfung praktiziert hatten. Darunter waren Lebensmittellieferungen und Geldzahlungen, subventionierte Getreideverkäufe, Import­erleichterungen für betroffene Regionen, Steuererleichterungen, Umsiedlung von Flüchtlingen, die Anlage von Staudämmen, die Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten, Beschlagnahmen von Land und eine Beschäftigung verarmter Menschen beim Straßenbau oder beim Bau von Kanälen. Während der Hungersnot von 1493 ließen Beamte der Ming-Dynastie mehr als zwei Millionen Menschen staatliche Hilfe zukommen.

In seiner Geography of Famine behauptet Dando, die gesamte lange und grausige Geschichte des Hungers in Rußland studiert zu haben, und erklärt: "Sämtliche Hungersnöte, die sich von 971 bis 1970 in Rußland ereignet haben, lassen sich vorwiegend auf menschliche Faktoren zurückführen."

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Robert Fogel, ein Nationalökonom der University of Chicago, hat für Großbritannien und Frankreich Akten über die Ernährungssituation in fünfhundert Jahren untersucht und ist zu dem Schluß gekommen, daß es in diesen beiden Ländern seit 1500 eine Reihe von Hungersnöten gegeben hat, von denen jedoch keine zeitlich mit leeren Kornkammern zusammenfiel.

Verantwortungsbewußte Regierungen und einsatzfreudige Bürger wissen schon seit langer Zeit, wie man mit Hungersnöten umgeht. Peter Gamsey versichert in seinem Buch Famine and Food Supply in the Graeco-Roman World, im klassischen Altertum "habe es zwar häufig Lebensmittelkrisen gegeben, doch nur selten Hungersnöte". Er hält fest, daß die drei am zuverlässigsten bezeugten Hungersnöte im antiken Athen durch Belagerungen ausgelöst wurden, und nennt Beispiele für Hungerbekämpfung, etwa die Lebensmittelverteilungen von Kaiser Augustus an zweihunderttausend Menschen im Jahre 6 u.Z.

Gamsey zitiert auch eine Abhandlung des römischen Arztes Galen aus dem zweiten Jahrhundert, Über die Eigenschaften von Lebensmitteln, in der Galen den Einfallsreichtum der römischen Bauern beschreibt: "Wenn der Hunger sie dazu treibt, essen die Menschen oft... Gelbdolde, Fenchel, wilden Kerbel, Chicoree, Knorpellattich, Sesamsamen, Wildkarotten und die zarten Schößlinge zahlreicher Sträucher und Bäume." Somit verdanken kunstvolle heutige Salate ihr Dasein antiken Hungersnöten.

Unter Experten schient Einigkeit darüber zu bestehen, daß Hungersnöte politische oder zumindest gesellschaftliche Hintergründe haben. Amartya Sen sagt, eine Hungersnot "sei dadurch gekennzeichnet, daß einige Menschen nicht genug zu essen haben. Es geht nicht darum, daß es nicht genug zu essen gibt." William A. Dando sagt: "Natürliche Faktoren verursachen Mißernten, aber Menschen verursachen Hungersnöte." Und Andrew B. Appleby sagt im Journal of Interdisciplinary History in einem Artikel mit dem Titel "Epidemics and Famine in the Little Ice Age": "Die entscheidende Variable bei der Beseitigung von Hungersnöten war nicht das Wetter, sondern die Fähigkeit, sich an das Wetter anzupassen."

Manche würden sogar so weit gehen zu behaupten, daß die Menschen noch nicht verhungerten, als die Menschheit noch nicht politisch organisiert gewesen sei, zumindest nicht massenweise. In seinem Artikel "Prehistoric Patterns of Hunger", der in dem Buch Hunger in History der Brown University abgedruckt ist, sagt Mark Nathan Cohen: "Frühe Menschengruppen waren relativ gut ernährt und gut vor dem Verhungern geschützt."

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Mr. Cohen behauptet, archäologische Funde "ließen vermuten, daß die Ernährung bei den frühesten Jägern und Sammlern in allen Weltregionen qualitativ recht gut war und mit dem Aufkommen der Landwirtschaft sich meist eher verschlechterte als verbesserte. Die Wirkungen der Zivilisation scheinen nicht immer positiv gewesen zu sein."

Nur zu wahr. Dennoch, für jemanden, der in Somalia gewesen ist, kommen Mr. Cohens Ansichten in gefährliche Nähe eines romantischen Primitivismus. Mogadischu ist nicht der Ort, um sich für Rousseaus Ideen vom "Naturmenschen" einzusetzen. Jeder mag einfachen Eingeborenen überlegene Tugenden zuschreiben, wenn er möchte, aber die Somalis sind von jeder Zivilisation so unberührt, wie sie nur sein können. Doch kein Mensch, der ihnen begegnet ist, nennt sie "edle Wilde".

 

III

Um nach Somalia zu kommen, nahm ich einen Job als Rundfunkreporter für die ABC-Nachrichten an. Somalia ist nicht der Ort, den man auf sich gestellt bereist. Nachrichtenredaktionen mußten für sich in Mogadischu Festungen bauen und diese Festungen mit ganzen Armeen bemannen.

Die ABC schickte ihre erfahrensten Reporter ins Land, Männer, die man im Nachrichtengeschäft kennt und (nicht ohne Respekt) als "kampferprobte Buchhalter" bezeichnet. Diese Buchhalter heuerten vierzig bewaffnete Männer an und fanden ein großes ummauertes Haus, das einmal einem arabischen Botschafter gehört hatte. Das Haus war fast unbeschädigt und lag in der Nähe der Ruinen der amerikanischen Botschaft, die - wie die Buchhalter hofften - schon mit amerikanischen Marineinfanteristen belegt sein würde.

Satellitenschüsseln, Telefonkabel, weitere Ausrüstungsgegenstände, ein halbes Dutzend Generatoren, Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, Bier, Toilettenpapier, Seife, Bettwäsche, Handtücher und Matratzen – all das mußte mit Chartermaschinen aus Nairobi eingeflogen werden. Aus irgendeinem Grund erhielten wir auch fünfhundert Schachteln mit kenianischen Schokoladenkeksen, die wie entzündete Fußballen schmeckten. Köche, Putzfrauen und Wäscher wurden ebenso eingestellt wie Dolmetscher – benommen aussehende akademische Typen von der seit langem zerstörten somalischen Nationaluniversität.

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Wir waren rund dreißig Leute — Journalisten, Kameracrews, Redakteure, Produzenten, Geldleute und Techniker —, die in der ehemaligen Residenz untergebracht waren. Wir schliefen in Schichten auf dem Fußboden der alten Empfangshalle, während unsere Söldner auf dem Hof kampierten.

Es war unmöglich, ohne "Sicherheitsbeamte" das Gelände zu verlassen ("Sicherheitsbeamte", mit dieser Bezeichnung ließen sich diese bewaffneten somalischen Mannen - in Wahrheit eher Jungen - gern belegen). Trotz der Anwesenheit dieser Figuren gab es immer Leute, die uns belagerten, um uns zu belästigen oder zu gaffen. Hände zerrten an den Taschen, in denen Geld vermutet wurde. Finger schnappten nach Uhrenarmbändern. Kein Ausländer konnte einen Schritt gehen, ohne einen ganzen Bienenschwarm von Menschen auf sich zu ziehen - die etwas forderten und ihn betasteten; drängelnde Menschenmengen fluchender, jammernder, schimpfender Menschen mit weiteren und noch schlimmeren Somalis, die an den Rändern dieses Rudels lauerten.

Eins der ersten Dinge, die ich nach meiner Ankunft in Mogadischu außer Waffen sah, war ein Rudel von Dieben, die durch das Trümmergelände des Flughafens krochen und die Ladung unserer Chartermaschine in Augenschein nahmen. Und das letzte, was ich beim Abflug sah, war die selbsternannte somalische "Bodencrew", die neben unserer Maschine herlief, die kurze Zeit später abhob, die Hände durch das Fenster der Kanzel steckte und versuchte, dem Piloten Geld abzunehmen.

Ein Ausflug von unserem Gelände zum Hauptmarkt von Mogadischu erforderte zwei junge Leute mit Kalaschnikows sowie einen Fahrer und einen Dolmetscher, die meist ebenfalls bewaffnet waren. Der Markt war zu Fuß bequem zu erreichen, doch jeder wollte mit einem Wagen oder LKW fahren, um seinen Status zu zeigen. Daß es in Mogadischu überhaupt einen Markt gab, bezeugte eine Besonderheit des menschlichen Geistes, wenn auch nicht unbedingt eine angenehme, denn das, was dort zum Verkauf angeboten wurde, stammte überwiegend aus den Lebensmittelbeständen, die für die somalischen Hungeropfer gespendet worden waren. CONTRIBUE PAR LES ENFANTS DE FRANCE stand in Druckbuchstaben auf sämtlichen Reissäcken. (Alle französischen Schulkinder waren aufgefordert worden, für Somalia ein Kilo Reis in die Schule mitzubringen.)

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Fleisch war ebenfalls zu haben, obwohl es nicht sofort als solches zu erkennen war. Eine Rinderhälfte sah aus wie fünfzig Pfund Fliegen an einem Haken. Und die Milch, die in der Hitze von rund vierzig Grad in Holzkrügen herumgetragen wurde, hatte einen Geruch, der schlimmer war als das Aussehen des Fleisches. Doch immerhin waren sämtliche Grundnahrungsmittel in mehr oder weniger scheußlicher Form auf dem Markt zu haben. Für den, der das Geld hatte, sie zu kaufen. Das heißt für den, der eine Waffe hatte, um sich das Geld zu beschaffen. Ein ganzer Abschnitt des Markts war nur für den Verkauf von Waffen reserviert.

Ich wollte einen Korb oder etwas ähnliches kaufen, einfach nur um zu sehen, wie das Alltagsleben in Somalia inmitten totaler Anarchie funktioniert. Offen gestanden war ich auch neugierig darauf zu sehen, ob es beim Feilschen um den Preis irgendwie hilfreich war, zwei bewaffnete Figuren bei mir zu haben. Ich dachte, ich könnte mich daran gewöhnen, zwei junge Leute mit Kalaschnikows bei mir zu haben, von denen einer mir den Weg bahnte und der andere mir Rückendeckung gab. In den Staaten hätte ich mir weniger Sorgen wegen eines Raubüberfalls gemacht, ganz davon zu schweigen, daß ich dann mehr Mut gehabt hätte, um eine Gehaltserhöhung zu bitten. Und wäre es mir eingefallen, zu einem Seelenklempner zu gehen, gehe ich jede Wette ein, wie unglaublich schnell meine Emotionen reifen und wie schnell meine Einsichten wachsen würden, wie bald man mich für absolut geheilt erklären würde, wenn ich zwei finster dreinblickende somalische Halbwüchsige mit automatischen Waffen auf der Couch neben mir gehabt hätte.

Beim Feilschen um Körbe waren die beiden allerdings nicht zu gebrauchen. Kein Mensch schafft es, eine somalische Marktfrau über den Tisch zu ziehen. Die Korbflechterin brachte es nicht nur fertig, mir das Fell über die Ohren zu ziehen, sondern fünfzehn Minuten nach Abschluß des Geschäfts jagte sie mich noch über den halben Marktplatz und schrie, sie habe es sich anders überlegt. Meine Bodyguards zuckten zusammen, und ich rückte drei weitere Dollar heraus - eine Art variable Hypothek auf Einkaufskörbe der Dritten Welt.

Die Marktfrau war eine furchteinflößende Dame. Häßlich auch, obwohl dies eher eine Ausnahme war. Die somalischen Frauen sind meist schön: hochgewachsen, mit feinen Gesichtszügen und selbst in Zeiten, in denen es üppiger zugeht als in den heutigen, schlank. Muslimische Prüderie ist ihre Sache nicht. Sie benutzen ihre grellbunten Schals nur, um sich vor der Sonne zu schützen, und nicht dazu, makellose Zahnreihen und ein erstaunliches Lächeln zu bedecken.

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Schreiend bunt bedruckte Baumwoll-Sarongs werden mit einer entblößten Schulter getragen und kunstvoll so gewickelt, daß sie eher ent- als verhüllen. Jede junge Frau, die einen Milchkrug trägt, ist eine Doppelgängerin des Models Iman. Man könnte mit Modellagenturen fabelhafte Geschäfte machen, wenn man diese Mädchen in Somalia pfundweise anheuert und sie dann meterweise in New York vermietet.

Die Männer sind etwas ganz anderes, was vielleicht daran liegt, daß ich selbst einer bin. Sie haben Galgenvogelgesichter, sind unsicher und schreckhart und neigen zu einem freudlosen Grinsen, das mit dem tropfenden Speichel des endlosen Kauens von Qat-Blättern geschmückt ist. Einige tragen den traditionellen tobe-Kilt. Andere tragen amerikanische Freizeitkleidung der siebziger Jahre. Die alten Kleidungsstücke, die man dem Roten Kreuz gibt, werden en gros an Händler verkauft und landen meist in Afrika. Wer etwas für die Würde der Menschen in den Ländern südlich der Sahara tun will, sollte damit aufhören, Hosen mit weitem Schlag ans Rote Kreuz zu geben.

Als wir den Markt verließen, stand der Fahrer mit einem Gesichtsausdruck neben dem Wagen, als hätten wir Sekunden vor dem Einwerfen eines Dirne an der Parkuhr einen Strafzettel bekommen. Die Vordersitze waren mit Glassplittern übersät. Der Fahrer hatte hinterm Lenkrad gesessen, als von irgendwoher eine verirrte Kugel die Windschutzscheibe zertrümmerte und neben seinem Kopf vorbeisauste.

Mogadischu liegt fast am Äquator. Die Sonne geht um sechs unter, worauf es sofort dunkel wird. Wenn wir keine bewaffnete Erkundungsfahrt unternahmen, saßen wir hinter unseren Mauern fest. Wir aßen gut. Wir hatten unsere Konserven aus Kenia, und die Somalis backten frisches Brot für uns (zweifellos aus Mehl von den Lebensmittelspenden) und setzten uns jeden Abend eine warme Mahlzeit vor - frisches Gemüse, gefüllte Paprikaschoten, Spaghetti, Langusten, die im Hafen von Mogadischu gefangen worden waren, und Rindfleisch aus der Gegend. Ich gab mir Mühe, nicht allzuoft an die Herkunft des Rindfleischs zu denken. Nur einige von uns wurden krank. Wir tranken etwas Whiskey, rauchten Unmengen von Zigaretten und nahmen die Schmerz­tabletten aus unseren Erste-Hilfe-Kästen. Wir saßen draußen auf dem flachen Ziegeldach des großen, stuckverzierten Hauses und lauschten dem gelegentlichen Feuer von Artillerie und Handfeuerwaffen.

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Unten im Hof saßen unsere bewaffneten Beschützer und Fahrer und kauten Qat. Die Pflanze sieht aus wie Brunnenkresse und schmeckt, als hätte man aufs Geratewohl ein paar Dinge aus dem Blumenbeet gepflückt. Man muß eine Menge davon kauen, ein Bündel von der Größe eines Besens, und muß lange darauf herumkauen. Das Zeug machte mir den Mund taub, und ich bekam leichte Bauchschmerzen, das war alles. Vielleicht ist die Wirkung von Qat nicht sehr stark. Ich erinnerte mich daran, daß ich auch Kokain einmal unterschätzt hatte, bis mir aufging, daß ich schon seit drei Wochen wach war und keinen von den nackten Menschen kannte, die ohnmächtig neben mir herumlagen. Die Somalis schienen in Fahrt zu kommen. Sie fangen vor dem Mittagessen an zu kauen, aber das High setzt erst gegen drei Uhr nachmittags ein. Plötzlich fingen unsere Fahrer an, mit Höchstgeschwindigkeit in Schlaglöcher zu fahren. Manchmal nahmen sie auch Fußgänger und Vieh aufs Korn. Wir nannten das "die Qat-Stunde". Dann begannen unsere bewaffneten Freunde plötzlich durcheinanderzureden, und das Geplapper nahm an Geschwindigkeit, Lautstärke und Intensität immer mehr zu, bis der ganze Innenhof von wilden Streitereien der Männer widerhallte, die wie wütend gestikulierten. Das war das Stichwort für einen der "Buchhalter", nach draußen zu gehen und jedem seinen Tageslohn in Form dicker Bündel schmutziger somalischer Shillingnoten zu geben. Wechselkurs: viertausend Shilling für einen Dollar. Dann ging das Gebrüll erst richtig los.

Qat wird in Kenia angebaut. "Die Somalis können zwanzig Flugzeugladungen am Tag kauen!" sagte eine Frau, die auf dem Flughafen von Nairobi arbeitete. Nach Aussagen kenianischer Charter-Piloten werden tatsächlich rund zwanzig Maschinen voll Qat jeden Morgen nach Mogadischu geflogen. Normalerweise nehmen diese Flugzeuge eine Tonne pro Flug mit. Qat wird bündelweise verkauft; Einheit ist ein sogenanntes maduf, das etwa ein halbes Pfund wiegt und für 3,75 Dollar verkauft wird. Somit kommt jeden Morgen in Somalia Qat im Wert von 300 000 US-Dollar an. Es sind aber amerikanische Marineinfanteristen nötig, um einen Sack Weizen herbeizuschaffen.

 

IV

Einen Tag vor Weihnachten begab ich mich zum Lager des Marine Corps im Hafen von Mogadischu. Docks, Kais und Lagerhäuser waren so mit Abfall und Unrat überfüllt, daß die Marineinfanteristen als erstes militärisches Gerät Bulldozer an Land brachten.

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Die Marines pflügten den Unrat beiseite und sprühten das Hafengelände mit chemischen Feuerlöschern ein, die sie von den Schiffen der US Navy an Land gebracht hatten. Dreimal mußte alles abgekratzt und besprüht werden, bis Mogadischu nur so schmutzig war wie ein gewöhnlicher Seehafen. Anschließend errichteten die Marines eine sechs Meter hohe Mauer aus Containern um die Fläche, die sie gesäubert hatten, nicht so sehr aus militärischen Gründen, sondern um eine Art Zitadelle der Hygiene zu errichten.

Nur eins der Lagerhäuser im Hafen besaß noch genügend Wellblech auf dem Dach, um Schutz zu bieten, und selbst dieses rudimentäre Dach wies unzählige Einschußlöcher auf. Es müssen Somalis in der Halle gestanden und aus schierer Freude am Lärm durchs Dach geschossen haben. Hier schliefen sieben- oder achthundert Marineinfanteristen, deren mit Moskitonetzen verhüllte Pritschen in Reihen standen, und zwar so dicht nebeneinander wie Stühle in einem Vortragssaal. In Mogadischu erreichte die Temperatur jeden Tag achtunddreißig, dreiundvierzig, sechsundvierzig Grad, und die Luft war so feucht, daß sich der Wind wie Rasierschaum anfühlte. Selbst in unserem schattigen Haus mit seinen dicken Mauern konnte ich nur nackt auf meiner Matratze schlafen, wenn ich einen Ventilator direkt auf mich richtete. Im Lagerhaus gab es keine Ventilatoren und nicht einmal genug von dieser heißen, triefnassen Brise.

Neben den Lagerhaustüren hatte jemand einen Ast von einem Baum aufgestellt, der einigermaßen nach Kiefer aussah. Die Nadeln waren mit kleinen Tabascoflaschen, Kaugummipackungen und anderen weniger geschätzten Bestandteilen der fertigen Lebensmittelrationen geschmückt. Statt eines Sterns steckte an der Spitze die Kunststoffverpackung eines Rindergulaschs. Bei der Marine behaupteten einige, sie würden am nächsten Tag versuchen, in der Kombüse nach Truthahn zu fahnden. Ein paar Witzbolde hatten satirische Weihnachtslieder gedichtet:

In ihrer unendlichen Güte
Hat mir die Marine
Zu Weihnachten
Vierzig Spritzen
Gegen Tropenkrankheiten geschenkt ...

Die Soldaten waren mürrischer, als sie es im Golfkrieg gewesen waren. Die Kleidung klebte ihnen am Körper, sie waren schmutzig und langweilten sich. Es gab keine Duschen, keine warmen Mahl-

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zeiten, und trotz des zahlreichen weiblichen Personals gab es nicht mal einen Ort, an dem sie in Ruhe scheißen konnten. Doch diese Bedingungen hatten auch in Saudi-Arabien geherrscht, und das monatelang. In Somalia war das Problem abstrakter. Dies war das erste großangelegte militärische Unternehmen der Geschichte, das aus rein altruistischen Gründen stattfand. Niemand wußte, wie man so etwas anfängt. Was tut man in einem Krieg gegen den Hunger. Erschießt man das Mittagessen?

Ich begab mich mit einer Gruppe von Marineinfanteristen auf eine Patrouillenfahrt. Ich lieh mir eine der kugelsicheren Westen, die das Joggen im Klima von Mogadischu zu einer wahren Qual machen. Den Helm aus Kevlar-Kunststoff ließ ich weg, denn er fühlt sich an, als hätte man eine ausgehöhlte Bowlingkugel auf dem Kopf. Aber weder Jacke noch Helm halten die Patronen einer Kalaschnikow auf, sondern verlangsamen sie nur. Und ich hatte keinen Appetit auf langsame Kugeln im Kopf.

Diese Streifenfahrten wurden unternommen, da die Marines nicht wußten, was sie anfangen sollten, wenn sie nicht gerade dabei waren, Boote zu entladen oder Konvois zu begleiten. Wir fuhren in offenen Humvee-Lastwagen zu den von den Kämpfen am schlimmsten heimgesuchten Teilen der Stadt. Wahrscheinlich wollten die Marines nach Heckenschützen und Ganoven Ausschau halten sowie Leuten, die allzu auffällig Waffen trugen, um zu sehen, ob jemand Marines erschießen wollte, um sie dann als erste zu erschießen. Es ist schwer zu sagen, was der durchschnittliche Somali – der Mann in der Gosse, sozusagen – darüber dachte. Eine große Gruppe hing an der Hafeneinfahrt herum und bettelte. Manchmal wurden sie der Bettelei überdrüssig und warfen mit Steinen, bis ein paar Marines herausrannten und sie mit Gummiknüppeln verprügelten. Anschließend bettelten sie wieder. Doch als wir unsere Lastwagen in der verwüsteten Innenstadt anhielten, sagte ein einsamer alter Mann mit einem sorgfältig modulierten Ausruf: »Erschießt jeden, der Ärger macht! Wir wollen den Frieden! Lang lebe Amerika!« Dies war vor der einzigen christlichen Kirche der Stadt. Jemand hatte versucht, Türen und Fenster zuzumauern. Andere hatten alles weggeschleppt, was nicht niet- und nagelfest war.

Schulen gab es in Mogadischu schon lange nicht mehr. Dafür waren die Straßen voller Kinder, die zwar nicht hungerten, aber vor Schmutz starrten. Wenn sie uns kommen sahen, warfen sie Dinge auf die Straße — Ziegel, Steine, Rohrstücke.

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Wenn wir näherkamen, rannten sie heraus und schnappten sich die Sachen wieder. Sie spielten »Straßensperre«. Sie wollten gern ihr Englisch ausprobieren. Als ich am Vormittag zum Hafen gefahren war, hatte ein kleiner Junge den Kopf durch die Seitenscheibe gesteckt, ein breites, gewinnendes Grinsen aufgesetzt und gesagt: »Ich werde dich töten.« Die Kinder schienen die Marines jedoch zu mögen. Manchmal öffnete ein Marineinfanterist seine Notration und verschenkte ihren Inhalt. Als Gegenleistung zeigten die Kinder dann auf bestimmte Bauwerke und riefen, dort befänden sich Heckenschützen.

Die Marines sagten, die Kinder hätten manchmal recht. Einen Zehnjährigen nahmen wir einmal zur Belohnung auf eine Humvee-Fahrt mit. Ein paar Tage vorher hatte er den Soldaten gezeigt, wo ein mit einem Maschinengewehr ausgerüsteter Toyota-Pick-up – ein »technical«, wie man sie hier nennt – versteckt war. Die Soldaten hatten die Bewohner des Hauses erschossen.

Die Kinder rannten in Rudeln hinter den eilig dahinbrausenden Humvees her, wobei ihre Sandalen wie Beifall klatschten. Sollte ein Zehn-Kilometer-Lauf mit losen Sandalen einmal olympische Disziplin werden, wird ein vorpubertärer Somali die Goldmedaille gewinnen.

Die Kinder betätigten sich auch als Minensucher. Es kommt nämlich vor, daß sie plötzlich nicht mehr hinter den Humvees herrennen. Urplötzlich sind sie alle verschwunden, und dann wissen die Marines, daß sie sich auf entschieden gefährlichem Gelände bewegen. Etwa an der »grünen Linie«, die nach der berühmten innerstädtischen Grenze in Beirut so genannt wird, obwohl die grüne Linie Mogadischus keine Linie ist, sondern ein ganzes Gebiet, das so heftig umkämpft ist, daß nichts mehr da ist, worum sich zu kämpfen lohnt. Dann gibt es noch die »Brücke des Todes« (in Wahrheit eine Unterführung) und »Bermuda«, so genannt nach dem gleichnamigen Dreieck. Wenn man dieses Viertel nämlich betritt, taucht man nie mehr auf.

Wie viele Völker mit gemeinen Charakterzügen haben die Somalis eine Vorliebe für Spitznamen. So nennt man einen ausgesprochenen Finsterling vielleicht Mattikaday – »Mann, den man noch nie in einer Moschee gesehen hat«. Ein Warlord wird wegen seiner Rätselhaftigkeit »Fuji« genannt, und es gibt einen Arzt mit dem Spitznamen »Cholera«. Eine besonders schnelle Niederlage eines Sub-Clans kennt man als »Kuwait«. Die verkehrsreichste Straßenkreuzung in der Stadt heißt »Kamikazi Corner«, nicht weil die Leute wie

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Selbstmörder fahren, sondern wegen der mörderischen Streitigkeiten, zu denen es dort unter den bewaffneten Clan-Angehörigen kommt. Siad Barre war als »Großmaul« bekannt, was nicht näher erläutert werden muß, seine Spießgesellen hießen zu ihrer Fähigkeit, in Reih und Glied zu marschieren, »Vier Taschen«.

Wir verließen unsere Humvees und begannen zu Fuß zu patrouillieren. Mogadischu hat so etwas wie einen Capitol Hill, der früher Regierungssitz war. Hier verschwanden die Kinder ebenso plötzlich, wie es die Marineinfanteristen erzählt hatten. Meine Begleiter begaben sich in rechteckiger Formation die Straße entlang, wobei jede Seite die Mauern und Fenster über den Männern auf der anderen Straßenseite im Auge behielt. Ein Mann bildete die Nachhut. Einer lief voraus und ließ sein M-16-Gewehr als erstes um jede Hausecke lugen.

Ein Kleinbus voller junger somalischer Männer fuhr auf eine Straßenkreuzung vor uns. Das Getriebe kreischte, der Rückwärts­gang wurde eingelegt, und die Somalis zogen sich mit höchster Geschwindigkeit zurück.

Wir betraten ein ruiniertes Regierungsgebäude. Zwei Marines stürmten hinter uns herein und blockierten den Eingang. Zwei Männer gingen die Treppe hinauf, suchten die Flure ab und hielten sich dabei dicht an den Wänden. Zwei weitere Männer riefen »Könnt raufkommen!« und begaben sich ins nächste Stockwerk. So wurde Stockwerk für Stockwerk gesichert, bis wir uns auf dem Dach befanden.

Unter uns breitete sich das aus, was einmal Mogadischu gewesen war. Die Stadt dürfte nie sehr eindrucksvoll gewesen sein, obwohl sie mehr als tausend Jahre alt ist. In der Ferne waren die gelben und blauen Streifen, wo die Wüste auf die Brandung trifft, zwar hübsch anzusehen, obwohl das Land mit Dornenbüschen bedeckt und der Ozean von Haien verseucht ist. Wo sich früher einmal breite Alleen befunden hatten, waren jetzt breite Schotterstreifen mit Baumstümpfen zu erkennen. Vielleicht hatten die schmalen steinernen Omani-Häuser in der Nähe des Hafens früher einmal den Charme von Tausendundeine Nacht, wenn es einem nichts ausmachte, daß sie von Sklavenhändlern und Elefantenmördern erbaut worden waren. Jetzt waren sie Slums. Und der Rest Mogadischus, das, was von der Stadt noch übrig war, war ein Witz. Die höheren Gebäude, inzwischen fast alle verlassen, waren in dem allgegenwärtigen modernen Baustil der Dritten Welt errichtet, steingewordene Karikaturen auf Le Corbusier.

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Siad Barre hatte für sich eine riesige Aussichtsplattform bauen lassen, deren Großartigkeit jedoch durch ihre Ähnlichkeit mit einem Parkhaus zunichte gemacht wird. Die Italiener, seit den 1880er Jahren bis 1960 Kolonialmacht im Süden Somalias, hatten auf einem steilen Felsufer über dem Hafen ein nachgeahmtes nahöstliches Schloß errichtet, was der Altstadt eine Aura verlieh, als wäre die Stadt Ziel einer Gruppenreise auf den Spuren Sindbads. Hier und da entdeckte ich getürkte klassische Monumente aus der Zeit Mussolinis, vor allem eine Art Triumphbogen ins Nichts von gedrungenen Proportionen mit zahlreichen Faszes daran. Die post-kolonialen Somalis hatten sich nach Kräften bemüht, den schlechten Eindruck dieses Triumphbogens zu verwischen, und in der Mitte eines Rondells in der Nähe des Flughafens stand eine riesige Triumphbogen-Nachahmung, handwerklich nachlässig errichtet, nicht ganz senkrecht stehend, mit abblätternder weißer Farbe und großen blauen Buchstaben: triumphbogen des volkes. Die Fassade sah aus wie ein mexikanisches Restaurant in Texas. Somalia ist eine Zivilisation, die in Ruinen liegt, aber die Ruinen sind nicht großartig.

Die Marineinfanteristen verließen das Dach des Regierungsgebäudes und zogen sich Stockwerk für Stockwerk zurück wie eine sich windende Schlange. Man ahnt gar nicht, wieviel Papier eine Regierung verbraucht, bis man sieht, wie es aus den Aktenschränken gerissen und auf Fußböden und Innenhöfen in Stapeln herumliegt. Dann hat es den Anschein, als wäre Regierung gleichbedeutend mit Papier, und ich habe den Verdacht, daß die somalische Regierung nichts anderes gewesen ist. Papier und, natürlich, Kanonen - die Kanonen funktionieren immer noch.

Unsere Patrouille begab sich auf den Hügel vor dem Parlamentsgebäude. Dieses Bauwerk schien eher ausgeweidet als geplündert worden zu sein. Die Marmorplatten der Fußböden waren herausgerissen worden, und man hatte die elektrischen Installationen mit solcher Gewalt aus den Verankerungen gerissen, daß die Kabel durch den Putz gezogen worden waren, was in den Wänden senkrechte Vertiefungen hinterlassen hatte. Der Sitzungssaal der Nationalversammlung war seines Teppichbodens und seiner Wandornamente beraubt worden. Der Fußboden war mit menschlichen Exkrementen bedeckt. Sämtliche Stühle und Tische waren aus ihren Verankerungen gerissen worden. Somalias Regierungssitz war mit großer Gründlichkeit verwüstet worden. Wie viele Völker in wie vielen Ländern gibt es, die den Wunsch dazu gehabt hätten? Die Somalis haben der Versuchung nachgegeben.

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V

Woher ist diese seltsame Nation gekommen? In Somalia kursiert ein Witz: Gott langweilte sich. Folglich erschuf Er das Weltall. Aber auch das langweilte Ihn. Folglich erschuf Gott Adam und Eva. Doch Er langweilte sich immer noch. Und so erschuf Gott den Rest der menschlichen Rasse. Doch auch das langweilte Ihn. Und so erschuf Gott die Somalis. Seitdem hat Er nicht aufgehört zu lachen.

Wie alle Nomadenvölker stammen die Somalis im Grunde aus dem Nichts. Herumstreifende, streitlustige und raubende Somali-Gruppen tauchen etwa um dieselbe Zeit am Hom von Afrika auf - dem biblischen Land Punt -, in dem die kämpferischen und räuberischen Normannen sich für die Schlacht von Hastings rüsten. Die Somalis sind heute in Clans unterteilt und scheinen es schon immer gewesen zu sein. Es gibt sechs davon: Dir, Isaaq, Hawiye, Darod, Digil und Rahanweyn. Sie hassen einander aus tiefstem Herzen. Doch ihr Haß gilt nicht nur den anderen Clans. Die beiden schlimmsten somalischen Warlords um die Zeit meines Besuchs, Mohammed Farah Aidid und Ali Mahdi Muhammad, sind beide Hawiye. Jeder Clan ist in zahlreiche Sub-Clans unterteilt, die einander ebenfalls hassen. Und jeder Sub-Clan ist ähnlich gespalten und verfeindet. Die ersten Europäer, die Mogadischu im sechzehnten Jahrhundert besuchten, fanden selbst damals schon die noch winzige Stadt in verschiedene Clan-Sektoren zerrissen vor.

In einer Zeit, in der eine Kultur noch laut und deutlich sagen konnte, was sie über eine andere dachte, ohne gleich lautes Wutgeheul auszulösen, äußerte die Encyclopaedia Britannien von 1911 (das einzige Lexikon, dem ich wirklich vertraue) die Meinung: »Die Somalis sind eine kämpferische Rasse, und alle Männer sind bewaffnet... Sie sind äußerst redselig, sehr empfindlich gegen Hohn und Spott und jähzornig ... Sie lieben es. Imponiergehabe zu zeigen ... Sie sind von zügelloser Eitelkeit und großer Habsucht ...« Und weiter heißt es in der Britannien: »Die Somalis haben einen nur geringen politischen oder sozialen Zusammenhalt.« Tatsächlich ist die Grundeinheit der somalischen Gesellschaft etwas, was »diya-zahlende Gruppe« heißt. Diya ist das arabische Wort für Blutgeld.

Neben den Angehörigen der sechs Clan-Familien gibt es noch weitere, nicht an Clans gebundene Somalis, sab oder »niedrig«. Dazu gehören Jäger, Friseure, Lederarbeiter, Blechschmiede und andere produktiv tätige Bürger, auf die die Nomaden hinabblicken.

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Edle Kameldiebe halten sab-Berufe für entwürdigend. Die sechs Clans werden nach Prestige unterteilt, je nach dem Grad ihrer Untätigkeit. Die Dir, Isaaq, Hawiye und Darod nennen sich »Samale« - daher der Name des Landes. Die Samale-Clans halten sich für reine Nomaden - für Kämpfer und Hirten. Die Digil und die Rahanweyn bezeichnen sie als »Sab-Clans«. Rahanweyn bedeutet auf Somali nichts weiter als »große Menschenmenge«. Die Sab sind Bauern, und Nomaden betrachten Bauernhöfe mit dem gleichen heftigen Abscheu wie ich Anwaltskanzleien.

Die Waffenträger, die Somalia gegenwärtig zerstören, den Lebensunterhalt unschuldiger Somalis ruinieren und ihnen ihre Möglichkeiten rauben, sich zu ernähren, sind überwiegend Samalen. Und von den Hungernden sind viele Sab. Es ist eine der zahlreichen grausamen Ironien Somalias, daß die Opfer der Hungersnot gerade die Menschen sind, die das Land mit Lebensmitteln versorgen.

Natürlich sind die nomadisierenden Clan-Mitglieder, die das Land ausplündern und ruinieren, ebensowenig traditionelle Nomaden zu nennen, wie ein Toyota-Pick-up mit einem Maschinengewehr auf der Ladefläche als traditionelles Element einer Karawane anzusehen ist. Die Somalis brauchen jedoch keine Wochenendkurse, um den Krieger in sich kennenzulernen. Somali wurde erst 1972 eine Schriftsprache. Nur wenige Kilometer außerhalb der großen Städte sieht man umherwandernde Familien von Darod und Dir, die ohne weiteres als Maria und Josef auf der Flucht nach Ägypten durchgehen könnten. Hier tragen alle Männer tobe-Kilts, im Gürtel steckt unfehlbar ein langer Krummdolch, und die Frauen sind in selbstgewebten Stoff gehüllt und nicht in Chintz aus Kenia. Das Zaumzeug der Kamele, die Decken der Esel, die Tragekörbe und Milchkrüge sind sämtlich Handarbeit. Das Nomadenleben wird ebensosehr von ehrlicher, natürlicher, ein wenig grobschlächtiger Volkstümlichkeit geprägt wie eine Handwerksmesse in Neuengland. Nur ein gelegentlich aufblitzender knallgelber Plastikeimer klärt einen darüber auf, in welchem Jahrtausend man sich befindet.

Ein Freund von mir, Carlos Mavroleon, arbeitet als freiberuflicher Fernsehreporter für die ABC. Er hat viel Zeit unter Nomaden der muslimischen Welt verbracht. Carlos suchte sich einmal einen sehr guten Dolmetscher und machte sich dann mit einem Minimum an Gepäck und persönlicher Sicherheit in die entlegeneren Teile der somalischen Wüste auf, um mit den wirklichen Samalen zu sprechen. Diese hatten eine Scheu vor Fremden — angesichts der

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heutigen Ereignisse in Somalia wären sie verrückt, wenn sie die nicht hätten —, und Carlos brauchte mehrere Tage, in denen er untätig herumsaß, den Samalen Tee und Tabak schenkte, bevor sich die Nomaden zu einer Plauderei bereit erklärten. Schließlich luden sie ihn in ihr Lager ein, und nachdem einige Zeit Höflichkeiten ausgetauscht worden waren, fragte Carlos die Nomaden: »Wie wirkt sich dieser Krieg auf euch aus?«

»Oh, der Krieg ist schrecklich!« erwiderten sie. Sie erzählten Carlos, gerade erst vor einer Woche seien einige Ziegen gestohlen worden, und einen Monat davor hätten sie ein wertvolles Kamel verloren. Es sei tatsächlich ein schrecklicher Krieg. Sie könnten jederzeit weitere Ziegen verlieren, und vor nur ein paar Jahren sei sogar eine Ehefrau entfuhrt worden.

Carlos erzählte mir, erst nach einiger Zeit sei ihm aufgegangen, daß die Nomaden von dem Krieg sprachen, den sie seit undenklichen Zeiten mit dem nächsten Sub-Clan am selben Wadi führten. »Nein, nein, nein«, sagte Carlos. »Ich meine den großen Krieg in Mogadischu.«

»Ach so, der Krieg«, sagten die Nomaden und zuckten die Achseln.

Carlos mochte die Somalis. »Männer in Röcken, die sich gegenseitig wegen Clan-Streitigkeiten umbringen«, sagte er. »Die Leute nennen das barbarische Wildheit. Wenn man Dudelsäcke und einen Golfplatz dazu nimmt, nennen sie es Schottland.«

Und wie gute schottische Presbyterianer können auch die Somalis religiöse Fanatiker sein, wenn ihnen danach zumute ist. Sayyid Muhammad 'Abdille Hassan, auch unter dem Namen »der verrückte Mullah« bekannt, kämpfte in den Derwisch-Kriegen von 1900 bis 1920 im nördlichen Somalia gegen das britische Weltreich, das es nicht schaffte, ihn niederzuwerfen. Die Briten waren gezwungen, sich in die Küstengarnisonen zurückzuziehen, was bei den Somali-Clans, die nicht mit dem Mullah verbündet waren, zu einer Hungersnot führte. Während der Derwisch-Kriege, so wird geschätzt, ist ein Drittel der Bevölkerung Britisch-Somalilands gestorben. Die Somalis nennen diese Zeit »die Zeit, in der wir Schmutz essen mußten«.

Die Briten hatten nicht vor, Somalia zu unterwerfen, sahen sich aber immer wieder gezwungen, sich in somalische Angelegenheiten einzumischen, um die Nachschubwege zu ihrem strategischen Vorposten in Aden zu sichern. Mit den Worten von I. M. Lewis in seinem Buch A History of Modern Somalia: »Das Problem des künfti-

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gen Status dieser Gebiete war kompliziert; keine uns freundlich gesinnte oder für uns akzeptable Macht... schien sie zu wollen.« Daran hat sich bis heute nichts geändert. Man hat es mit verschiedenen international abgesegneten Möglichkeiten versucht, von denen Italienisch-Somaliland eine war. Der verrückte Mullah blieb unbeeindruckt. Während des Ersten Weltkriegs schrieb er einen Brief an den britischen Hochkommissar in Berbera:

Sie ... haben sich mit allen Völkern der Welt verbündet, mit Tau» genichtsen und mit Sklaven, weil Sie so schwach sind. Aber wenn Sie stark gewesen wären, hätten Sie allein gekämpft wie wir, unabhängig und frei. Es ist ein Zeichen Ihrer Schwäche, Ihr Bündnis mit Somalis, mit Knechten, Arabern und Sudanesen, mit Kaffern und Perversen, mit Jemeniten und Nubiem, mit Indem, Russen und Amerikanern, mit Italienern, Serben und Portugiesen, mit Japanern, Griechen und Kannibalen, mit Sikhs, Bengalen und Mohren, mit Afghanen und Ägyptern ... gerade wegen Ihrer Schwäche müssen Sie Fremde ansprechen wie eine Prostituierte.

Fünfundsiebzig Jahre vor der Existenz der UNO war Sayyid Muhammad in der Lage, ihre heutige Zusammensetzung, Effizienz und moralische Statur genau vorherzusagen.

Der Mullah wird in Somalia noch heute verehrt. Am Tag meiner Ankunft in Mogadischu wurde in den Moscheen der Stadt ein Flugblatt verteilt, das einen servilen Somali zeigte, der für zwei bewaffnete Männer auf einem Pferd einen Teppich ausrollte. Ein Mann war mit einem Kreuz markiert, der andere mit einem Davidstern. Zwei kämpfende Männer auf einem Pferd waren das Siegel der Templer, eines im zwölften Jahrhundert zur Bekämpfung der Muslime in den Kreuzzügen gegründeten christlichen Soldatenordens. Die Vernunft mag in Somalia manchmal zu kurz kommen, aber das historische Gedächtnis ist lang.

 

VI

Und wir befanden uns nun wieder auf einem Kreuzzug, diesmal auf einem Kreuzzug des Mitgefühls (obwohl auch Richard Löwenherz der Meinung war, seine Sache sei eine des Mitgefühls). In Mogadischu kamen nach und nach gewaltige Lebensmittelmengen an. Lebensmittel, die von verschiedenen Regierungen und privaten

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Wohltätigkeitsorganisationen gestiftet worden waren. Bewaffnete Konvois wurden zusammengestellt, um diese Lebensmittel zu der» Menschen zu bringen. Es erfordert viele Waffen, gute Werke zu tun (wie Richard Löwenherz uns hätte bestätigen können). Doch das ist nicht nur ein somalisches Problem. Wir haben auch im eigenen Land, den USA, Armut und Not. Versuchen Sie mal, sich an eine Straßenecke in der South Bronx hinzustellen und Zwanzig-Dollar-Scheine an die Leute zu verteilen, dann werden Sie sehen, wie lange Sie noch am Leben bleiben.

Ich fuhr mit einem Kamerateam der ABC mit dem ersten Konvoi nach Jalaaqsi, das etwa hundertfünfundachtzig Kilometer nördlich von Mogadischu am Shebeli-Fluß liegt. Damit die Verbündeten der USA weniger nutzlos aussahen, wurde den italienischen Streitkräften die Rolle einer Eskorte zugewiesen. Eine Kompanie von Italienern in Fiat-Geländewagen und Mannschaftswagen fuhr vor einem Dutzend LKW mit Lebensmitteln her. Zwei amerikanische Infanteriezüge in Humvees bildeten die Nachhut.

Der Konvoi war kein logistischer Geniestreich. Er verließ die Stadt mit einem Tag Verspätung, weil die Italiener sich mit dem Mittagessen so viel Zeit ließen (meine Quellen beim amerikanischen Militär schwören, daß dies die Wahrheit sei). Dann bestanden die Italiener, die in ihrer Heimat selbstmörderisch schnelle Autofahrer sind, auf einer Geschwindigkeit des Konvois von dreiunddreißig Stundenkilometern. Sie machten überdies drei Essenspausen. Dann schlief einer der italienischen Fahrer am Steuer ein und fuhr gegen den praktisch einzigen Baum der somalischen Wüste. Nach Sonnenuntergang kam der Konvoi irgendwie vom Kurs ab. Ich weiß zwar nicht genau, was passierte, aber ich glaube, daß der Fahrer an der Spitze der Kolonne etwas sah, was er für die Lichter des Flugfelds von Jalaaqsi hielt. Er muß auf sie zugefahren sein. In Wahrheit waren es die Lichter der letzten Fahrzeuge des Konvois. Wie auch immer: Am Ende hatten wir ein riesiges Karussell aus Lastwagen, Jeeps und Humvees, die in der Wüste im Kreis herumfuhren.

Die Fahrt dauerte vierzehn Stunden. Und dann schafften es die Italiener, obwohl wir in allen Himmelsrichtungen von Tausenden von Quadratmeilen ausgedörrten Sands umgeben waren, eine Schlammfläche als Lagerplatz für uns auszusuchen.

Die Somalis waren in der Zwischenzeit auch nicht untätig gewesen. Noch bevor wir Mogadischu überhaupt verlassen hatten, hatte der für den Konvoi verantwortliche italienische Oberst einen der

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somalischen Fahrer dabei erwischt, wie dieser das Wasser aus dem Kühler seines Lastwagens ließ. So wollte er sicherstellen, daß sein LKW unterwegs »liegenblieb« und die Ladung »gestohlen« werden konnte. Die Militärs kamen noch einer Reihe weiterer solcher Sabotageakte auf die Spur. Die Somalis waren außerdem untereinander zerstritten, und ihre durch Qat befeuerten Fahrkünste waren selbst nach italienischen Maßstäben unter aller Kritik. Und dann, während der Essenspause Nummer drei, beschlossen die Somalis, sie könnten weder die italienischen Rationen essen noch die amerikanischen. Sie müßten den Konvoi verlassen und sich zu einem Dorf begeben, um somalisches Essen zu bekommen.

»Dies ist eine Hungersnot, verdammt noch mal«, sagte ein amerikanischer Sergeant. »Es gibt kein somalisches Essen. Wenn es hier in Somalia etwas zu essen gäbe, brauchten wir gar nicht hier zu sein, verdammt noch mal.«

Der italienische Oberst sagte, er hätte Lust, sämtliche somalischen Fahrer zu erschießen.

Ein amerikanischer Lieutenant bemerkte: »Ich nehme meinen Abschied aus der Armee. Ich melde mich bei der Fürsorge. Ich werde meinen Verwandten mein Auto geben, meiner Schwester das Haus geben und von der Sozialhilfe leben. Das hier ist ansteckend - Leuten zu helfen, denen die Hilfe scheißegal ist.«

Die somalischen Beschäftigten der ABC hatten ebenfalls behauptet, sie brauchten besonderes Essen. Die kenianischen Konserven, die wir ihnen einpacken wollten, könnten vielleicht Schweinefleisch enthalten. Sie wollten eine Million Shilling. Die sie bekamen. Obwohl sie dafür nichts zu essen kauften. Und als wir nicht hinsahen, aßen sie unsere Vorräte auf. Wir mußten das Satellitentelefon der ABC installieren, mitten in dem Schlammloch, und auf der für Soldaten reservierten Fernleitung Muttern anrufen, um weitere Lebensmittel zu bestellen.

Campingausrüstung besaßen wir ebenfalls nicht, und als wir uns bereit machten, in unseren Lastwagen zu schlafen, mußten wir entdecken, daß sich unsere Beschützer schon auf allen Sitzen, Wagendächern und Motorhauben ausgestreckt hatten. Ich nahm drei Schlaftabletten und legte mich in den Schlamm. Soviel ich weiß, habe ich sämtliche anwesenden amerikanischen Militärs in Jalaaqsi mit meinem Schnarchen die ganze Nacht wachgehalten.

Als die Sonne aufging, sahen wir am Shebeli-Fluß ein Flüchtlingslager mit Landbesetzem, das sich über eine Meile erstreckte. Diese Leute hungerten nicht; das heißt, sie waren nicht am Verhun-

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gern. Ihre Not hatte noch nicht das fotogene Stadium erreicht, das Fotoreporter aus aller Welt anlockt. Aber sie lebten in Hütten, die nicht größer waren als die Häuser, die Kinder bauen, wenn sie eine Decke über einen Kartentisch legen. Diese Behausungen waren nicht einmal Unterstände oder Schuppen, sondern nur kleine Höcker in der Landschaft. Die Somalis hatten sie mit halbkreisförmig in die Erde gesteckten Stöcken gebaut und mit Getreidesäcken und Stoffetzen gedeckt.

Die Flüchtlinge hatten nichts von der stolzen Scheu, die Carlos bei den Nomaden gefunden hatte. Diesen Menschen konnte man sich nach Belieben nähern, und sie waren nur zu froh, sich unterhalten zu können. Etwas anderes hatten sie nicht zu tun.

Ich sprach mit einer Frau namens Habiba Osman. Sie war vor den Kämpfen in einem Ort namens »Burrui« geflüchtet, den ich auf keiner Karte finden kann. Sie war eine Hawiye, Angehörige des Hawadli-Subclans. Andere Hawiye hatten sie aus ihrem Haus verjagt, Angehörige des Abgaal-Subclans. Sie habe neun Kinder, sagte sie und hielt dabei vier Finger hoch, und sei fünfundvierzig. Ihr Ehemann Muhammad stand im Hintergrund. Sie bekämen eine Portion groben Maisbrei pro Tag. Er sei schwer zu essen. Sie machten ihn zu Porridge.

Ich zählte ihre Besitztümer: eine Holzschüssel, ein langer Stößel zum Zerstoßen von Getreide, eine leere Olivenöldose für fünf Liter Inhalt, ein Aluminiumtopf, ein paar Aluminiumteller. Ihre Ziegen und Kamele hatte man gestohlen.

Ich ging zu einem Lastwagen unseres Konvois, dessen Lebensmittel gerade für »Save the Children« in Jalaaqsi entladen wurden. Die Stadt selbst gab es kaum noch, obwohl sie weder durch den Krieg ruiniert oder von ihrer Bevölkerung verlassen worden war. Sie war wie der Rest von Nation, Bürgertum und Kultur Somalias ein vernachlässigter, tropischer, zerfallender Misthaufen. Das Hauptquartier von »Save the Children« befand sich auf einem Hof hinter den hohen Mauern, mit denen in Somalia alles umgeben sein muß. Die Nahrung, die wir den Menschen brachten, war eine seltsame Mischung namens Unimix, die aus fünfzig Prozent Mais, dreißig Prozent Bohnen, zehn Prozent Zucker und zehn Prozent Öl besteht. Das alles war zu einer Masse verrührt. Wenn man sie mit Wasser verdünnt, ergibt sie einen nahrhaften Brei, das heißt, wenn es einem gelingt, sauberes Wasser zu finden. Es mußten zahlreiche Somalis angeheuert werden, um die Lebensmittel zu entladen:

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Einige sollten die fünfzig Pfund schweren Säcke entladen, weitere standen herum, um Kommandos zu brüllen, und wieder andere, die mit langen Ruten bewaffnet waren, stritten mit den anderen und schlugen auf Stadtbewohner ein, die sich in einer aufdringlichen Traube um den Lastwagen versammelt hatten.

»Save the Children« hatte es fertiggebracht, laufend Nahrungsmittel nach Jalaaqsi zu bringen. In der Zeit des schlimmsten Chaos hatten sie acht Feldküchen betrieben, um Kinder zu ernähren. Sie sagten, sie hätten dies nur geschafft, weil sie eng mit den Clan-Ältesten zusammengearbeitet hätten. Ein wichtigerer Grund dürfte gewesen sein, daß es für Unimix keinen großen Hehlermarkt gibt. »Save the Children« verlor nur zehn Prozent seiner Lebensmittellieferungen. Doch dennoch starben bis zu zehn Kinder pro Tag in dem Flüchtlingslager, in dem ich mit Habiba Osman sprach.

Einige Reporter waren dabei, einen »Save the Children«-Helfer zu interviewen. Einer der Reporter muß vorzeitig von der Journalistenschule abgegangen sein, denn er stellte eine Frage, mit der er gleich zur Sache kam. »Wen kümmert das?« sagte er und sah sich dabei um. Er betrachtete den Schmutz, die Verwahrlosung, das Durcheinander, die Verzweiflung. »Drüben in den Vereinigten Staaten oder im Rest der Welt, wen kümmert es wirklich, was mit diesen Menschen geschieht?« Der Mann von »Save the Children« fing an zu lachen. Er war von christlicher Nächstenliebe erfüllt -oder muslimischer oder jüdischer oder sonst etwas. Die Vorstellung, daß jemand sich all dieses Leiden ansehen konnte, ohne davon gerührt zu sein, war für diesen Sozialarbeiter absurd und zutiefst lächerlich. Folglich lachte er. Es war das einzige Lachen aus Liebenswürdigkeit, das ich je gehört habe.

Es waren weit häßlichere Scherze zu haben. Über Lebensmittel zum Beispiel. Wir sahen überall Lebensmittel. Während der vierzehnstündigen Fahrt am Vortag war uns Nahrung nie aus dem Blickfeld geraten. Der amerikanische Sergeant, der die Somalis angeschrien hatte, weil sie in einer Hungersnot versucht hatten, ihr Schäfchen ins trockene zu bringen, hatte sich geirrt. So wie ich mich geirrt hatte, als ich mir nur ausgedörrten Sand vorgestellt hatte, als wir unser Biwak aufschlugen. Das Tal des Shebeli-Flusses ist feucht und fruchtbar und besitzt das beste Ackerland in Somalia. Die Straße von Mogadischu durchschneidet weite Mais- und Sorghumfelder, wobei die Felder mit Tierschädeln auf Pfählen markiert sind. (Die vielleicht als Vogelscheuchen oder aber als Menschenscheuchen dienen sollen. Einmal sah ich ein menschliches Skelett neben der Asphaltstraße.)

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Selbst in den trockeneren Regionen in größerer Entfernung vom Fluß gab es Rinder- und Ziegenherden. Wir hatten tausende Pfund Lebensmittelhilfe durch Tausende von Morgen mit Lebensmitteln transportiert.

Somalia hatte es nicht mit einem Mangelproblem zu tun, wie unsere Fahrer und bewaffneten Beschützer uns gegenüber an jenem Nachmittag betonten, als sie sich weigerten, uns nach Mogadischu zurückzubringen. Sie sagten, sie würden nur ausgeraubt und erschossen werden. »Aber Sie haben doch gewußt«, entgegneten wir, »daß wir nach Jalaaqsi fahren, und Sie haben ebenso gewußt, daß wir auch wieder nach Hause müssen. Darüber haben wir vor der Abfahrt gesprochen. Wir haben Freiwillige gesucht. Zu dieser Zeit hatten Sie keine Angst.« Sie entgegneten, sie hätten es sich anders überlegt.

Folglich ließen wir die kleine Armee, die unser Unternehmen angeheuert hatte, mit der größeren Armee, für die unsere Steuergelder bezahlten, zurück und ließen uns von der Maschine einer Hilfsorganisation nach Mogadischu zurückfliegen.

Somalia ist eine erstaunlich dachlose Stadt. Fast jedes Gebäude, das wir überflogen, hatte keine Decke mehr. Wie sehr dies an Vernachlässigung und Artillerie und wie sehr am Diebstahl von Wellblech lag, vermag ich nicht zu sagen, aber man konnte direkt in die Zimmer und Flure hinunterblicken, und das ließ das ganze Land wie ein gigantisches Spielbrett aussehen, das Brett eines Cluedospiels: Wer ist der Täter? Und wo versteckt er sich? Vermutlich korrekte Antwort: Jeder. Auf der Toilette. Mit einer Kalaschnikow.

Das Land hat jedoch wunderschöne Strande. Als wir Mogadischu überflogen, konnten wir weite Strecken braungelben Sands sehen, ohne auch nur ein Hotel oder einen Ferienwohnungskomplex zu entdecken. In dieser Minute sagt vermutlich irgendein Baulöwe: »Hier haben wir die zwei schlimmsten Obsessionen des Babybooms: Land am Meer und Gewichtsabnahme. Bingo, hier kommt das neue Hilton Head hin.«

 

VII

Silvester fuhr ich mit einem anderen Konvoi hundertsechzig Kilometer westwärts nach Baidoa, diesmal mit US-Marines an der Spitze. Wir schafften die Fahrt in drei Stunden, obwohl wir über lange Strecken keine Straße mehr hatten. Amerikanische Marinein-fantcristen fahren wie die unter Qat-Einfluß stehenden Somalis,

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wenn man davon absieht, daß sie nicht überall Abfall hinwerfen. Die amerikanischen Truppen in Somalia achteten sorgfältig darauf, keine leeren Wasserflaschen aus ihren Humvees zu werfen oder ihre Rationspackungen zu verstreuen, wenn sie Streife gingen. Sie durchsuchten das Gebiet, das man ihnen zugewiesen hatte, und ließen immer jeden Lagerplatz sauberer zurück, als sie ihn vorgefunden hatten. Wir versuchten den Marines zu erklären, daß die Somalis diese Wasserflaschen und Packungsreste wollten. In Somalia sieht es so übel aus, daß das Land einen Aufschwung erfährt, wenn man es mit Unrat bestreut.

Der Boden war hier weniger fruchtbar als in Jalaaqsi. Das westliche Somalia ist eine einzige große Savanne mit Dornengestrüpp, die allmählich zu den Bergen Äthiopiens hin ansteigt. Von zwei riesigen Sandsteinfelsen abgesehen, Bur Acaba und Bur Eibi, hat das Land keinerlei auffällige Merkmale. Die beiden Felsen ragen so hoch und steil und deplaziert heraus, als befänden sich darauf zwei Wintersportorte. Aber obwohl auch dies Wüste war, hatte sie Quellen und bewässerte Felder, und zwischen den Feldern sah ich Weiden, auf denen Kühe, Ziegen und Kamele grasten. Auch hier verloren wir Lebensmittel keine Minute aus den Augen. Hunger allerdings ebensowenig.

Am Straßenrand standen Kinder und bettelten heftig grimassierend. Sie zeigten auf ihre Bäuche und schnitten schreckliche Grimassen. Ältere Jungen zwirbelten Stoffetzen, um uns auf sich aufmerksam zu machen. Daß sie noch genug Energie für dieses theatralische Gehabe hatten, bedeutete, daß sie noch zu denen gehörten, die es besser getroffen hatten. Wir hätten ihretwegen ohnehin nicht angehalten. Die Straße war für ihre Banditen berüchtigt.

Am Neujahrstag fuhren wir ohne Marineinfanteristen zurück. Die Bettler waren verschwunden, und an ihrer Stelle sahen wir ein Dutzend improvisierter Straßensperren. Es waren lange Eisenrohre, von denen jedes auf einem Ölfaß balancierte und auf der anderen Seite mit einem Stück Beton unten gehalten wurde. Ein halbes Dutzend bewaffneter Halunken lauerte im Schatten der Dornensträucher, während ein harmlos aussehener Bursche neben der Trommel hockte, um die Schranke jederzeit öffnen und einen anschließend durchwinken zu können - es sie denn, man sah so harmlos aus wie er selbst. In diesem Fall wurde man ausgeraubt und erschossen. Wir hatten ein paar hartgesottenere Beschützer gefunden als die Typen, die uns nach Jalaaqsi begleitet hatten, drei

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Dutzend Mann, die in drei Lastwagen mit uns fuhren. Wir fuhren schnell auf die Straßensperren zu, schimpften dabei laut, ließen die Gewehrläufe aufblitzen und blieben unbehelligt.

Wir hatten den Trip nach Baidoa mitgemacht, um George Bush zu sehen. Dieser machte eine der bei Politikern üblichen schnellen Rundfahrten, um kleine Kinder zu streicheln und den Leuten das Blaue vom Himmel zu versprechen. Ich hatte den Eindruck, daß es wie im Präsidentschaftswahlkampf war - als hätte der Mann einen vollständigen Gedächtnisverlust erlitten und vergessen, daß er schon im November geschlagen worden war, als hätte er überdies vergessen, daß er sich im falschen Land befand.

Baidoa war vollständig zerstört worden: »somalifiziert«, wie wir das nannten. Die Stadt verbreitete den gleichen Gestank der Armut, den man überall auf der Welt trifft - es roch nach muffigem Rauch und frischer Scheiße. Die einzigen Gebäude, die noch intakt waren, waren die befestigten Büros der Hilfsorganisationen. Diese besaßen auch die einzigen noch fahrtüchtigen Fahrzeuge. Alle waren voller bewaffneter Männer und ließen die Flaggen und Logos der verschiedenen Hilfsorganisationen flattern. Wenn man einen total ahnungslosen Menschen in dieser Umgebung absetzte, würde er nach dem äußeren Anschein zu dem Urteil kommen, daß Baidoa vom Roten Kreuz, von OxFam und CARE erobert und geplündert worden war.

In Baidoa fanden wir im Bikiin Hotel eine Art Unterkunft. Das Hotel ist nicht nach dem fast gleichnamigen Badeanzug benannt, sondern, nur sehr annähernd und nicht ganz nachvollziehbar, nach der Hauptstadt Chinas. Das Bikiin war ein kurz vor dem Zusammenbruch stehendes Etablissement aus Strohdächern und Zement, in dem schmutzige Teller mit Spaghetti und warmes kenianisches Bier serviert wurden. Es hatte allerdings das eine, was man sich in Somalia am meisten wünscht - eine hohe Mauer. Ebenso hatte es eine Luftabwehrkanone, und vor der Vordertür stand eine Haubitze.

Zimmer waren nicht zu bekommen, selbst wenn wir eins der feuchten kleinen Kabuffs hätten haben wollen. Und überdies gab es keine Badezimmer, die wir freiwillig auch nur einmal betreten hätten. Wir requirierten eine leere Hütte an der Rückseite des Geländes, bereiteten uns auf dem Boden ein Lager aus Stroh und drapierten nach bestem Vermögen Moskitonetze um das Ganze. Unsere Beschützer hatten wir strategisch verteilt, mit Spaghetti bewirten lassen und um unsere Lastwagen herum postiert. Dann besorgten wir uns einen Tisch und einige Stühle, die wir unter eine Palme stellten.

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Wir waren vier Angestellte der ABC: ein Reporter aus New York, ein Toningenieur aus Südafrika, ein Kameramann aus Kairo und ich. Aus dem Behälter mit den Notrationen der ABC hatten wir zwei Flaschen Scotch requiriert. Im Sonnenuntergang rollten riesige rote Wolken am Himmel entlang, als würde Blut in Wasser tropfen. Der Himmel wurde rubinrot, dann kastanienbraun, dann mahagonifarben, dann schwarz. Eine Brise kam auf. Die Temperatur sank auf nur dreiunddreißig Grad. Die Wolken wurden wieder weggeweht, und wir sahen einen mondlosen Äquatorhimmel, den kein Licht der Zivilisation oder etwas Vergleichbares trübte. Der Himmel war so klar, daß das Licht der Sterne Schatten warf. Über uns glitzerte und funkelte und blitzte es so sehr, daß es aussah, als wäre dort am Himmel etwas wirklich Teures hingefallen und zerbrochen - vielleicht der mit Blattgold belegte Kristallaschenbecher Gottes.

Wir begannen zu trinken und große Gedanken zu wälzen. Was zum Teufel machten wir hier überhaupt? Solche Gedanken etwa kamen uns. Und wir dachten auch, na schön, jedenfalls passiert ein wenig Gutes in Somalia. Der Leiter des Waisenhauses von Baidoa hatte uns erzählt, daß im Dezember nur ein Kind gestorben sei. Bevor die Marineinfanteristen gekommen seien, seien die Kinder gestorben wie ... »gestorben wie die Fliegen« ist kein Vergleich, den man in Somalia benutzt. Die Fliegen wachsen und gedeihen hier und führen ein normales Fliegenleben. Bevor die Marineinfanteristen kamen, starben die Kinder wie Kinder. Würde es so bleiben? Nein, dachten wir. Sobald die Marineinfanterie wieder weg ist, wird alles wieder im Chaos versinken. Wenigstens besser, kurze Zeit etwas Gutes zu tun, als nie Gutes zu tun. Aber gilt das immer? Somalia wurde mit Lebensmittelhilfe überschwemmt. Es gab nur einen Weg, das Problem der Diebstähle zu überwinden, nämlich Lebensmittel so billig zu machen, daß sich Diebstähle nicht mehr lohnten. Reis wurde in Somalia für zehn Cent pro Pfund verkauft und war damit der billigste Reis der Welt. Doch was, überlegten wir, bedeutete das für die Leute mit den Mais- und Sorghumfeldern und den Ziegen- und Viehherden? Sind die jetzt auch nichts mehr wert? Waren wir in ein Somalia gekommen, in dem einige Menschen manchmal hungerten, nur um ein Somalia zurückzulassen, in dem alle immer hungern würden?

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Wir tranken noch etwas und rauchten so viele Zigarren und Zigaretten, wie wir konnten, um die Moskitos fernzuhalten — Moskitos, die Gelbfieber übertragen, Denguefieber, Lymphknoten-Filariasis sowie vier Arten von Malaria, von denen eine fast augenblicklich tödlich ist. War dies der schlimmste Ort, über den wir je berichtet hatten? Wir hielten ihn dafür. Wir vier hatten zusammen fast vierzig Jahre Erfahrung in Bericht­erstattung von den unglücklichsten Orten der Welt. Aber Somalia ... Lästige Unannehmlichkeiten, irritierende Gefahr, verblüffender Schmutz, überall nichts als Krankheiten, eine langweilige Landschaft (dieser Nachthimmel nicht mitgezählt), schauerliches Essen (vor allem die amerikanischen Armeerationen, auf denen wir herumkauten), ein merkwürdiges Wetter, heruntergekommene Landesbewohner und, wohin man auch blickte, leidende Unschuldige und Schweine, die in all dem Unrat bestens gediehen. Zwar waren die Frauen schön, doch all ihre Väter, Brüder, Onkel, Ehemänner und außerdem auch ihre männlichen Kinder über zwölf waren bewaffnet.

Trotzdem, dachten wir, war dies nicht der schlimmste Silvesterabend, den wir je verbracht hatten. Wir genehmigten uns noch ein paar Drinks. Der Ruin der Umwelt, der schrumpfende Arbeitsmarkt für Angestellte oder die Furcht vor Nähe machten uns jedenfalls nicht zu schaffen. All diese »Anomie der modernen Zeit« verschwindet«, sobald man eine Dosis Somalia genossen hat. Furcht heilt die Angst. Das wirklich Fremde vertreibt die Entfremdung. Existentielle Verzweiflung kann dort nicht gedeihen, wo wirklichen Menschen an jeder Straßenbiegung das Lebenslicht ausgeblasen wird. Wahrer Schmerz übertrumpft den Weltschmerz. Wenn man genug zu trinken hat.

Aber was soll mit Somalia passieren? Wir genehmigten uns noch mehr zu trinken und argumentierten nach Leibeskräften.

Professor Amartya Sen sagt: »In einem Land mit einer Demokratie und einer relativ freien Presse hat es noch nie eine Hungersnot gegeben. Ich kenne keine Ausnahme. Und zwar gilt das für sehr arme Länder mit demokratischen Systemen ebenso wie für reiche.« Und in der New York Times, in dem Artikel mit dem Zitat von Professor Sen, sagt Sylvia Nasar: »Die modernen Transportmittel haben es leicht gemacht, Hilfslieferungen überallhin zu bringen. Weit wichtiger sind aber noch die Anreize für die Regierungen, ihr eigenes Volk zu retten. Es ist kein Zufall, daß die vertrauten Horrorgeschichten ... sich in Ein-Parteien-Staaten, Diktaturen oder Kolonien ereignet haben: China, Britisch-Indien, dem Rußland Stalins.« Sie hält fest, daß Indien seit der Unabhängigkeit keine Hungersnot erlebt hat, obwohl das Land in den Jahren 1967, 1973, 1979 und 1987 unter großer Lebensmittelknappheit litt.

Professor Sen sagt: »Ich möchte es wirklich so zugespitzt ausdrücken: Wenn sich irgendwo eine Hungersnot ankündigt, kann die Demokratie garantieren, daß es nicht dazu kommt.« Und er fährt mit der Bemerkung fort, wenn es keine freie Presse gebe, »verblüfft es einen immer wieder, wie unwissend und immun gegen Druck von außen eine Regierung sein kann«.

Nun, jedenfalls für den Augenblick hatte Somalia ganz gewiß eine freie Presse. Wir vier waren so frei, daß kein Mensch wußte, wo wir uns überhaupt befanden. Aber wie verschafft man Somalia eins dieser demokratischen Systeme, die Amartya Sen so liebt? Wie soll man dem Land überhaupt ein System verpassen, was für eins auch immer? Eine provisorische Regierung, bestehend aus Clan-Ältesten? Eine ständige Besetzung durch internationale Truppen? Eine Treuhänderschaft der UNO? Neo-Kolonialismus? Sollte man das Land an Microsoft verkaufen? Oder ... Oder ... Oder ...

Wir hatten jetzt schon einen guten Teil der zweiten Flasche Scotch geleert, und die beschwipste Frustration stieg uns zusammen mit den Vorspeisen der Fertiggerichte der Armee in die Kehle. Es ist schön und gut, darüber zu sprechen, was man tun kann, um Hungersnöte ganz allgemein zu beenden. Aber was läßt sich gegen eine ganz bestimmte Hungersnot unternehmen? Und vor allem gegen diese? In einem so durchgedrehten Land wie Somalia? Was, verdammt und zugenäht, tut man da?

Es gibt einen häßlichen Gedanken, der schon fast jedem in den Sinn gekommen ist, der Somalia einmal besucht hat. In dem Konvoi nach Baidoa hörte ich einen Gefreiten der Marineinfanterie etwas äußern, was es auf eine kurze Formel brachte. Er sagte: »Die Somalis – man sollte ihnen bessere Waffen geben, eine bessere militärische Ausbildung, und dann die Grenzen abriegeln.«

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