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8  Das Dilemma eines Vermächtnisses 

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«... wir haben das Recht, stolz zu sein», schrieb Lenin kurz vor dem «Rückzug auf den Staatskapitalismus», wie er sich in der NEP abzeichnete, 

«und wir sind stolz darauf, daß uns das glückliche Los zugefallen ist, den Aufbau des Sowjetstaats zu beginnen, hiermit eine neue Epoche der Weltgeschichte einzuleiten, die in allen kapitalistischen Ländern unterdrückt ist und die überall zu neuem Leben, zum Sieg über die Bourgeoisie, zur Diktatur des Proletariats, zur Erlösung der Menschheit vom Joch des Kapitals, von den imperialistischen Kriegen vorwärtsschreitet.»(87)

In den Dienst desselben messianischen Glaubens - der russischen Variante des Marxismus - stellte sich Stalin mit seiner ganzen Willenskraft, «indem er sich im Apparat so sehr verkörperte, daß man lange nicht unterscheiden konnte, ob Stalin ein Instrument des Apparats war oder der Apparat ein Instrument Stalins».(88) So urteilt Boris Souvarine in seiner Untersuchung der sozialgeschichtlichen Zusammenhänge, die Stalins Aufstieg zur Alleinmacht verständlich machen, nicht ohne sich zu fragen, inwieweit der politische Terror als Herrschaftsmethode vom Parteiführer gefördert wurde. «Dies war Stalins Schule», meint Souvarine.89

Der Schüler entpuppte sich als ein konsequenter «Praktiker», besonders in der Durchführung des Auftrags, den der Meister in seinen letzten Lebensjahren mit erstaunlicher Offenheit verkündete: «Wir stehen jetzt vor der Aufgabe, das Fundament der sozialistischen Ökonomie zu errichten. Ist das vollbracht? Nein, es ist noch nicht vollbracht. Wir haben noch kein sozialistisches Fundament. Die Kommunisten, die sich einbilden, das Fundament sei schon vorhanden, begehen einen ganz großen Fehler.»(90) 

Nun leitete er die NEP ein, mit der Versicherung: «Wir haben uns auf den Staatskapitalismus zurückgezogen.» Er verschwieg aber so manches andere, wie etwa die Verwandlung der Tscheka in die «Politische Staatsdirektion» (GPU), bei der Stalin als Repräsentant des Politbüros fungierte; oder die Wieder­einführung der Todesstrafe; die Verbreitung der seit Herbst 1918 bestehenden Zwangsarbeitslager; die Säuberung der Partei von «Gaunern, Verbürokratisierten, von unbeständigen Kommunisten und von Menschewiki, die ihre <Fassade> übertüncht haben, aber im Herzen Menschewiki geblieben sind!».91) 

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Zwangsarbeitslager bei Moskau. 
Inschrift über dem Eingangstor: 

«In der UdSSR ist die Arbeit eine Sache der Ehre, 
des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums.»

Durch derartige Maßnahmen wurde der rote Terror zu einer Einrichtung, die Stalin in wenigen Jahren in ein System verwandeln sollte.

Daß er für die Errichtung des «sozialistischen Fundaments» der geeignete Mann war, vernahm Stalin aus Lenins Mund, als Jewgenij Preobraschenski, einer der bedeutendsten Parteiökonomen, sein Unbehagen darüber kundgab, daß Stalin im Politbüro, im Orgbüro, in mehr als zehn Kommissionen des ZK der Partei saß und dabei zwei der wichtigsten Kommissariate leitete: 

«Wir brauchen einen Mann, an den sich jeder Vertreter einer Nationalität wenden kann, um ihm sein Problem vorzulegen. Wo ist ein solcher Mann zu finden? Ich glaube, Preobraschenski könnte keinen anderen nennen als Stalin. Ebenso, was die Arbeiter- und Bauerninspektion betrifft. Es ist eine Riesenarbeit. Aber um zu verstehen, wie man in der Kontrolle vorzugehen hat, brauchen wir einen Mann an der Spitze, der Autorität besitzt, sonst versinken wir im Schlamm und ertrinken in kleinbürgerlichen Intrigen.» 92) 

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Einige Tage später wurde Stalin — wahrscheinlich auf Lenins Vorschlag — zum Generalsekretär des ZK ernannt, eine Funktion, die sich als seine Schicksals­bestimmung erwiesen hat.

Es sollte nicht lange dauern, bis Lenin Ahnungen überkamen, daß es sich mit der erforderlichen Autorität seines bevorzugten Parteigenossen anders verhielt, als er wähnte. Stalin wurde inzwischen seiner unerschütter­lichen Machtstellung um so gewisser, als ihm Lenins Erkrankung die Gelegenheit bot, Beweise seiner Talente zu liefern. Während der unfreiwilligen Muße, die ihm seine temporäre Genesung nach den zwei Schlaganfällen in den Jahren 1922 und 1923 verschaffte, bemühte sich Lenin um eine kritische Selbstprüfung. Es wurde ihm erst jetzt bewußt, daß er in Stalin ein «Einzelkind» großgezogen hatte, dessen eigenwillige Praktiken das Fundament des Partei- und Staatsapparats zu erschüttern drohten. Lenin erkannte im Gehaben seines Jüngers alle Mängel, die sein eigener Hang zur Überschätzung des Politischen im «Aufbau des Sozialismus» verursachen mußte. 

 

In seiner Reflexion entfernte er sich vom unmittelbar Politischen, um die Grundfragen der Kultur, der Zivilisation und des Sozialismus zu überdenken. Zwar sah er in Robert Owens «Genossenschafts­sozialismus» nur Phantasterei und Träumerei, doch hielt dies ihn nicht davon ab, die «Vergenossenschaftung Rußlands» als den wahren Weg zur sozialistischen Wirtschaft zu erkennen. Er kam zu dem Schluß, daß es darauf ankomme, die Bevölkerung Rußlands zu «zivilisieren», um durch die allgemeine Beteiligung an den Genossenschaften Einsicht zu gewinnen und Selbstzucht zu pflegen. 

Der Kranke ging soweit, eine, wie er sagte, «grundlegende Änderung unserer ganzen Auffassung vom Sozialismus» ins Auge zu fassen. Der Staatsapparat sei «im höchsten Grade ein Überbleibsel des Alten ... an dem nur im geringsten Grade einigermaßen ernsthafte Veränderungen vorgenommen worden sind» — mit anderen Worten, «etwas ganz typisch Altes aus unserem alten Staatsapparat». 93)

Die Frage nach dem Schicksal des Sozialismus in einem von kapitalistischen Ländern bedrohten Land verknüpfte Lenin mit der Frage nach der Zukunft des vom westlichen Imperialismus ausgebeuteten Ostens. Genau wie für Sowjetrußland war die Entwicklung des Ostens von ihren Zivilisierungschancen abhängig. Da er felsenfest glaubte, daß die «Voraussetzungen der Zivilisiertheit» durch den Sieg der Sowjetmacht im Oktober 1917 bereits gesichert seien, meinte er, es genüge nun «diese Kulturrevolution, um ein vollständig sozialistisches Land zu werden».94) 

Es handle sich nunmehr lediglich darum, durch die Ausmerzung des Bürokratismus den Partei- und Staats­apparat zu verbessern und zu reformieren, um ihn in das für jene immense Zivilisierungsarbeit geeignete Instrument zu verwandeln. Bedenkt man, wie dezidiert «bürgerlich» diese Überlegungen des Staatsgründers waren, so kann man annehmen, daß ihm damals sein Generalsekretär als die Verneinung jener «kulturellen Umwälzung» vorkommen mußte, obwohl Stalin sämtlichen Parteileitern als ein unersetzlicher Apparatschik galt.

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Lenin und Stalin in Gorki, 1922

«Deshalb besteht nicht der geringste prinzipielle Widerspruch zwischen dem sowjetischen (d. h. dem sozialistischen) Demokratismus und der Anwendung der diktatorischen Macht einzelner Personen.» 

(Lenin: «Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht», 28. April 1918)

 

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Während seiner Krankheit hatte Lenin öfters Gelegenheit, Stalins Tauglichkeit für die Erfüllung der mit der kulturellen Erneuerung verbundenen Aufgaben in Frage zu stellen. Auf dem Gebiet der Nationalitäten beschäftigte sich Stalin mit der Vereinigung der Sowjetrepubliken zu einem Bundesstaat; in Georgien setzte er die 1921 begonnene gewaltsame Bolschewisierung fort; mit dem Einverständnis von Sinowjew und Kamenew verfolgte er eine Abschwächung des sowjetischen Außenhandelsmonopols. Besonders zeigte sich seine grenzenlose Geltungssucht im Umgang mit Menschen, weil er vor keiner Vulgarität zurückschreckte, wenn es galt, seine Umwelt einzuschüchtern. Er ging soweit, Lenins Gefährtin Nadeshda K. Krupskaja mit «gemeinen Beleidigungen und Drohungen» zu überschütten.95)

Lenins am Krankenbett diktierte Tagebuchnotizen, die als sein «Testament» bekannt wurden, sind in ihrem kritischen Teil beinahe ausnahmslos gegen den Generalsekretär gerichtet, auch wenn dieser nicht immer ausdrücklich genannt ist.96) Trotzki, der andere der «beiden begabtesten Führer des gegenwärtigen ZK», wird offensichtlich bevorzugt. In Lenins letzten Meditationen nimmt die Frage der Nationalitäten und des Sowjetnationalismus geraumen Platz ein. Ahnungsvoll kommt er auf die Politik in Georgien zu reden und sagt warnend voraus, «daß sich das <Recht des Austritts aus der Union>, mit dem wir uns rechtfertigen, als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird, der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Rußlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des Großrussen, des Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist».97) 

Er brandmarkt die «Verbohrtheit» der von Stalin nach Georgien kommandierten Säuberungskommissare und zögert nicht, das Kind beim Namen zu nennen: «Ein Georgier ..... der leichtfertig mit Beschuldigungen des <Sozialnationalismus> um sich wirft (während er selbst ein wahrer und echter <Sozialnationalist> ist, ja mehr noch, ein brutaler großrussischer Dershimorda ist), ein solcher Georgier verletzt, im Grunde genommen, die Interessen der proletarischen Klassensolidarität, weil nichts die Entwicklung und Festigung der proletarischen Klassensolidarität so sehr hemmt wie die nationale Ungerechtigkeit .....» 98)

 

Lenins letzte Tagebuchnotiz deutet auf die Dringlichkeit hin, Maßnahmen zu ergreifen, um eine Parteispaltung zu verhindern, welche sich als Folge eines Zusammenstoßes zweier so unvereinbarer Charaktere wie Trotzki und Stalin ergeben konnte. Es sieht aus, als ob die widerliche Grobheit des Generalsekretärs Lenin auf den Gedanken brachte, daß der Gerügte «eine unermeßliche Macht in seinen Händen» vereinigte und sie mißbrauchen konnte. Er riet, Stalin von seinem Posten zu entfernen und durch eine Person zu ersetzen, die zwar seine Fähigkeiten, aber nicht seine Fehler besäße, also «toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber weniger launenhaft und aufmerksamer» sei.99) 

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Lenin im Rollstuhl.

Eine der letzten Aufnahmen

 

So mäßig dieser Tadel auch klingen mag, so ist andererseits nicht zu vergessen, daß Lenin ihn erst aussprach, nachdem sich seine Gefährtin über Stalins beleidigendes Verhalten bei ihm beklagt hatte. Es kam aber nur zu einer Drohung, die Lenin dem Ungeschliffenen zustellen ließ: 

«... ich brauche hier wohl nicht zu betonen, daß ich alles als gegen mich gerichtet betrachte, was meiner Frau angetan wird. Ich ersuche Dich deshalb, sorgfältig zu prüfen, ob es Dir lieber ist, Deine Worte zurückzunehmen und Dich zu entschuldigen, oder ob Du den Abbruch der Beziehungen zwischen uns vorziehst.» 100) 

So konnte nur ein Mann schreiben, der zur letzten Einsicht gekommen war, daß der Weg zum Sozialismus über die Pflege der vom wohlerzogenen Bürgertum übernommenen Manieren führe.

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9  Der weitsichtige Erbe 

 

Vier Tage vor dem Tode des Begründers der «Partei neuen Typus» hielt Stalin eine Rede, in der er seine Rivalen über die wahre Natur dieser Partei belehrte: Niemals, nicht für eine Minute, dachten sich die Bolschewiki die Partei anders denn als Organisation aus einem Guß, geschmiedet aus einem Stück, die einen Willen hat, und in ihrer Arbeit alle Gedankenschattierungen in einem Strom praktischer Handlungen vereint. 

Die Freiheit für Gruppierungen innerhalb dieser Organisation, die Trotzki forderte, sei nichts als der ketzerische Versuch, die Fraktionen, vor allem die Fraktion Trotzki, zu legalisieren. Dies entspräche nicht dem Interesse der Bolschewiki, denn unter den Bedingungen der kapitalistischen Umkreisung brauchten sie nicht nur eine fest zusammengeschlossene, sondern eine wirklich stählerne Partei, die fähig ist, die Arbeiter in den entscheidenden Kampf zu führen. 101)

Lenin starb in der Überzeugung, daß Sowjetrußland noch einen langen Weg vor sich habe, um zum Sozialismus zu gelangen, und trug seinen Nachfolgern auf, das Aufbauwerk vor allem als zivilisierende Arbeit an sich selber, ja als allgemeine Selbsterziehung zu betrachten. Damit tat er zwar einen radikalen Schritt zu einem Umdenken der Aufgabe, die den Bolschewiken als Partei oblag; den Widerspruch zwischen Führungscharisma und Selbst­erziehungsarbeit nahm er aber nicht wahr. 

Um seine Machtposition zu festigen und seine Rivalen aus dem Wege zu räumen, ging Stalin sofort daran, aus den Schriften und Reden des Verstorbenen das Lehrgebäude des Leninismus als Rechtfertigung seines Führungs­anspruchs zu konstruieren. Lenins ursprüngliche Idee von der Auserwähltheit der Partei-Elite und von der Sendungsmission der russischen Volksmassen wurde zum ersten Glaubensartikel des neuen Aktionsprogramms. Der nun verwaiste, aber auch vom Vaterjoch befreite Jünger verlegte sich darauf, die geistige Erbschaft für sich zu beanspruchen, um seinerseits die Vaterrolle als Schöpfer des Leninismus auf sich zu nehmen.

Die Erneuerung der Machtideologie erhielt ihre Weihe durch eine feierliche Abschiedsrede zu Ehren des Toten. In sechs Schwurformeln proklamiert der Redner die «sechs Gebote der Neuen Kirche».102) Die Rede wird stellenweise durch Gelübde unterbrochen: 

Als Genosse Lenin von uns schied, 
hinterließ er uns das Vermächtnis, 
den erhabenen Namen eines Mitglieds der Partei hochzuhalten und in Reinheit zu bewahren. 
Wir schwören Dir, Genosse Lenin, 
daß wir dies Dein Gebot in Ehren erfüllen werden! 

Die Gelübde wiederholen sich sechsmal beim Aussprechen der heiligen Pflichten: die Einheit unserer Partei wie unseren Augapfel zu wahren — die Diktatur des Proletariats zu schützen und zu festigen — mit allen Kräften das Bündnis der Arbeiter und Bauern zu festigen — die Union der Republiken zu festigen und zu erweitern — und schließlich: den Grundsätzen der Kommunistischen Internationale die Treue zu bewahren. 

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Die letzte Schwurformel übersteigert sich zu einem messianischen Gelübde: Wir schwören Dir ... daß wir unser Leben nicht schonen werden, um den Bund der Werktätigen der ganzen Welt, die Kommunistische Internationale zu festigen und zu erweitern! 

Das Ganze bildet eine Hymne an Lenin für dessen Verdienste um die Befreiung der Werktätigen der ganzen Welt, um die Sowjetrepublik, um die unterdrückten Massen. Ihnen zeigte er, daß das Reich der Arbeit durch die Anstrengungen der Werktätigen selbst geschaffen werden kann, daß das Reich der Arbeit auf Erden und nicht im Himmel errichtet werden muß. 103) 

Vom Leninschen Zivilisierungsauftrag ist in Stalins Reden und Schriften aus der «Trauerperiode» keine Spur zu finden. Hingegen betrachtet der zielstrebige Kronerbe, getreu dem Vermächtnis, die Republik der Sowjets niemals als Selbstzweck: sie ist ihm ein notwendiges Kettenglied zur Verstärkung der revolutionären Bewegung in den Ländern des Ostens und Westens. 104) 

Manichäisches Geschichtsverständnis verbindet sich in Stalins Konstruktion des Leninismus mit der in der Deklaration des Gründung der UdSSR kodifizierten, mystischen Überzeugung, daß im Lager des Sozialismus .... gegenseitiges Vertrauen und Friede, nationale Freiheit und Gleichheit, friedliche Gemeinschaft und brüderliches Zusammenwirken der Völker herrschen, wogegen im Lager des Kapitalismus .... nationaler Haß und Ungleichheit, koloniale Sklaverei, Chauvinismus, nationale Unterdrückung und Pogrome, imperialistische Greueltaten und Kriege dominieren.105)

 

Mit dem Anspruch, als rechtmäßiger Erbe Lenins dazustehen, ließ Stalin bei der Erwähnung der bolschewistischen Partei als Instrument der Diktatur des Proletariats diese Diktatur in seiner Person zur sichtbaren Gestalt werden. Parteiführer müßten wohl die Meinung der Partei achten, doch weigerte er sich, zum Gefangenen der Mehrheit zu werden, besonders, wenn diese Mehrheit keine prinzipielle Basis hatte. 106) 

Er folgte treu seinem Meister, indem er die eigene Überzeugung zur Norm der Partei machte, aber seine machthaberische Natur trieb ihn dazu, die Leninschen Prinzipien bis zu ihren letzten Konsequenzen verwirklichen zu wollen. Auf ihn paßt ein wie im Wahn formuliertes Postulat Nietzsches: «Jene ungeheuere Energie der Größe zu gewinnen, um durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehn an dem Leid, das man schafft und dessengleichen noch nie da war!» 107)

Man kann Stalin kaum vorwerfen, gegen Lenins politisches Organisationskonzept verstoßen zu haben, wenn er behauptet: der Leninismus sei der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution, die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution im allgemeinen, die Theorie und Taktik der Diktatur des Proletariats im besonderen. 

Auf dieses Grundprinzip der bolschewistischen Partei gestützt, versteht er die Hebung des Kulturniveaus der werktätigen Massen rein techno-bürokratisch als die Heranbildung zahlreicher Kader von Leitern und Administratoren aus den Reihen der Arbeiter. 108)

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In seinen Grundlagen des Leninismus kodifiziert Stalin weiter den Leninschen Arbeitsstil, den er als die Vereinigung von zwei Besonderheiten definiert: dem russischen revolutionären Schwung und der amerikanischen Sachlichkeit. Für die Definition des ersten, weniger bekannten Begriffs sorgte er mit der Erklärung: Der russische revolutionäre Schwung ist das Gegengift gegen Trägheit, Routine, Konservatismus, Denkfaulheit, sklavisches Festhalten an den Traditionen der Großväter. 109) 

Es versteht sich, daß die Verabreichung dieses Gegengifts der Partei und insbesondere der Parteispitze vorbehalten blieb.

 

Wie tief der Führer- und Parteikult im Bewußtsein der führenden Kader verankert war, und wie geeignet Stalin zur Selbsterhaltung dieses politischen Körpers war, kann man daraus ersehen, daß kein Mitglied des ZK es wagte, nach Verlesung des Leninschen «Testaments» Stalins spontan angebotene Demission anzunehmen. Sogar sein Rivale Trotzki, der ihm fast vier Jahre lang das Recht auf das Leninsche Erbe streitig machen sollte, hatte nicht den Mut gehabt, die Harmonie der Eintracht zu stören. 110) 

 

Der Apparat der Parteiführung war gleichsam ein organisches Ganzes, das dem immanenten Lebensgesetz gehorchte; der Abgang des Generalsekretärs, der für das perfekte Funktionieren des Mechanismus verantwortlich war, konnte die riesige Maschine ins Stocken bringen. Stalin hat es jedoch verstanden, dem Leninschen Gebot, «den Staatsapparat einzuschränken und zu vereinfachen», gerecht zu werden, ohne seine eigene Machtposition zu gefährden. Am XIII. Parteitag (Mai 1924) legte er den Organisatorischen Bericht des ZK vor, ein beispielhaftes Dokument amerikanischer Sachlichkeit. Das Schlußwort zu diesem Referat bildet den ersten Frontalangriff auf Trotzki, den Wortführer einer kritischen Opposition, deren Forderungen darauf abzielten, die Entartung der Kader und die Bürokratisierung des Parteiapparats durch Methoden der Demokratisierung zu verhindern. Stalin beschimpfte sie als Sprachrohr der neuen Bourgeoisie, die auf die Schwächung der Diktatur .... und die Wiederherstellung der politischen Rechte der Ausbeuter bedacht war. 111)

 

Das Vertrauen der Parteikader hatte sich der Generalsekretär nicht weniger durch seine Leistungen auf dem Gebiet der Außenpolitik zu sichern gewußt. Wie üblich frönte er der politischen Demagogie, als er vom Wachstum Sowjetrußlands sprach und ihr materielles Gedeihen, ihre unbestreitbare Festigung als eine überaus ernstliche Propaganda unter den europäischen Arbeitern zugunsten der Sowjetmacht rühmte. Nach staatsmännischem Weltruhm haschend, versicherte der Redner: Jeder Arbeiter, der unser Sowjetland besucht und sich unsere proletarische Ordnung angesehen hat, konnte wahrnehmen, was die Sowjetmacht ist und wozu die Arbeiterklasse fähig ist, wenn sie an der Macht steht. 112)

Der proletarische Besucher aus Westeuropa soll im Sowjetland eine proletarische Ordnung bewundern, das heißt eine Sklavengesellschaft neuen Typus, die materiell und kulturell bestimmt nichts Besseres zu bieten hatte als die proletarische Ordnung im Westen.

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In so manchen Äußerungen zur internationalen Lage bediente sich Stalin einer Ausdrucksweise, die er zwar dem Wortschatz des geistigen Vaters entlehnte, womit er aber die eigene Stellungnahme zur westeuropäischen Arbeiterbewegung andeutete. So behauptete er zum Beispiel vom Faschismus, er sei nicht nur eine militär-technische Kategorie, sondern auch eine Kampforganisation der Bourgeoisie, die sich auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokratie stützt. 

Die Quelle seiner Überzeugung können wir schwer ermitteln, aber jedenfalls glaubte er zu wissen, daß das außerordentliche Ansehen und die außergewöhnliche Popularität, deren sich eine so «diktatorische» und revolutionäre Macht wie die Sowjetmacht unter den Volksmassen fremder Staaten erfreute, vielfache Gründe hatte, wie Haß der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus .... Haß der Volksmassen gegen den Krieg ..... Haß der unterdrückten Massen der abhängigen Länder und der Kolonien gegen das Joch des Imperialismus. 113)  

Darum bemühte sich Stalin, dem nichtsowjetischen Proletariat, das allen Grund hatte, die «kapitalistische» Ordnung in ihren Ländern zu hassen, die Liebe zu einem wahren «proletarischen» Vaterland einzuflößen.

 

Aus dem Exil beklagte sich Trotzki, daß man trotz seines Protests auf dem Roten Platz «das für einen Revolutionär unwürdige und beleidigende Mausoleum» aufstellte. «Mit der einbalsamierten Leiche kämpfte man gegen den lebendigen Lenin und — gegen Trotzki.»114) Und doch trägt nicht Stalin allein die Verantwortung für den Lenin-Kult nach pharaonischem Vorbild, ebensowenig wie er der alleinige Schöpfer des Leninismus war, der begrifflich eher von L. Martow stammt und sich im Leninschen Konzept der politischen Auserwähltheit kristallisierte. 

Noch bevor Stalin seine Konstruktion des Leninismus unternahm, hatte bereits Trotzki den «Leninismus» als «System revolutionärer Aktion» definiert, als die Moral der revolutionären Massenaktion und Massenpartei. «Der Leninismus ist orthodox, hartnäckig, unreduzierbar, aber er impliziert weder Formalismus noch Glaubenssätze, noch Bürokratismus.»115) 

 

Stalin war nicht der Mann, sich von Trotzki belehren zu lassen. Nachdem er die Grundlagen des Leninismus entworfen hatte, ohne den Protest des schon als Leiche im Mausoleum verklärten Lenin zu riskieren, erfand er den Trotzkismus, um die antileninsche Häresie auszumerzen. Er bestritt die besondere Rolle Trotzkis beim Oktoberaufstand, indem er behauptete, daß der Oberbefehlshaber der Roten Armee, dessen wichtige Rolle er nicht bestreiten wollte, wie alle anderen verantwortlichen Funktionäre .... lediglich den Willen des ZK und seiner Organe ausgeführt habe. 

Er bewies seinem Rivalen gewichtige Fehler und Entstellungen bei der Schilderung der Revolutions­ereignisse und bezichtigte ihn der Absicht, den Leninismus durch Trotzkismus ersetzen zu wollen. Als ausgezeichneter Kenner der Trotzkischen Hetzkampagne gegen Lenin in den Jahren 1904 bis 1917 erinnerte er den Gegner an Äußerungen wie die folgende: «Das gesamte Gebäude des Leninismus ist gegenwärtig auf Lüge und Fälschung aufgebaut und trägt den Giftkeim seiner eigenen Zersetzung in sich.» Aus Trotzkis Charakteristik ersteht nicht der Riese Lenin, sondern ein zwerghafter Blanquist, der der Partei in den Oktobertagen rät, «die Macht mit eigener Hand zu ergreifen, unabhängig vom Sowjet und hinter seinem Rücken». 116)

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Stalins Angriff auf Trotzki ist ganz im Geiste seiner bereits 1921 entwickelten Gesamtauffassung der politischen Strategie und Taktik der russischen Kommunisten gehalten. Bei näherem Zusehen ist aber feststellbar, daß die meisten gegen Trotzki vorgebrachten Argumente schließlich darauf hinauslaufen, ad hoc Thesen zu bekämpfen, die sich später, zu geeigneten Zeitpunkten, in das Stalinsche Strategiekonzept der Industrialisierung Sowjetrußlands einreihen werden. Im passenden Moment wird sich Stalin als der konsequenteste Schüler Trotzkis erweisen, um sich dessen Organisations-Schemata auf dem Gebiet der Sowjetwirtschaft anzueignen. Vorläufig aber beschränkte sich die Debatte auf den zentralen Streitpunkt, der bereits in Lenins letzten Meditationen hervorgehoben wurde: die Zukunft des sozialistischen Aufbaus «im Lande des Oktober». 

Sich auf einen von Lenin als «Gesetz des Kapitalismus» fixierten Entwicklungsprozeß berufend, folgerte Stalin, daß der Sieg des Sozialismus in einem Lande, selbst wenn dieses Land kapitalistisch weniger entwickelt ist, bei Fortbestehen des Kapitalismus in den anderen Ländern, selbst wenn diese Länder kapitalistisch entwickelter sind, durchaus möglich und wahrscheinlich ist. 117)

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Ein Hohepriester der Führung 

 

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Ich wünsche den Arbeitern der Dynamo-Werke und ebenso den Arbeitern ganz Rußlands .... daß die Zahl der Proletarier Rußlands in der nächste Periode auf 20 bis 30 Millionen ansteige, daß der kollektive Wirtschaftsbetrieb im Dorf aufblühe und die private Wirtschaft seinem Einfluß unterordne, daß die hochentwickelte Industrie und der kollektive Wirtschaftsbetrieb im Dorf die Proletarier der Fabriken und die Werktätigen auf dem Land endgültig zu einer sozialistischen Armee zusammenschweiße.... 118) 

Binnen weniger Jahre sollte dieser Wunsch in eine staatsökonomische Zwangsmaßnahme verwandelt werden. Es schien Stalin und den bolschewistischen Wirtschaftstheoretikern geboten, die staatskapitalistische Akkumulation von Produktionsmitteln zu Industrialisierungszwecken sozialistisch zu nennen. Gleichzeitig wurde die Mehrwert erzeugende, also von Staats wegen exploitierte und darum stets wachsende Arbeiterklasse weiterhin unter den realistischen Begriff Proletariat subsumiert, wodurch das schlecht verborgene Geheimnis ans Licht kam.

In der Industrialisierungsdebatte der zwanziger Jahre war Stalin eher der stille Zuhörer, der erst zur Tat schritt, als er das Fazit aus den theoretischen Auseinandersetzungen ziehen konnte. Doch bevor er sich zu diesem Schritt entschloß, mußte er sich jeglicher innerparteilichen Opposition entledigen. Für sein ambitiöses Vorhaben brauchte er die größtmögliche, ja die totale Machtkonzentration. Den gefährlichsten, weil populärsten Gegner schaffte er sofort aus dem Weg: im Januar 1925 wurde Leo Trotzki seines Amtes des Kriegskommissars enthoben, nachdem er einen umfassenden Wirtschaftsplan entworfen hatte, der die beschleunigte Industrialisierung und verstärkte Militarisierung vorsah. Vom «Stalinschen Apparat» überwacht, bekleidete er mehrere Ämter auf dem Gebiet der elektrotechnischen und wissenschaftlich-technischen Verwaltung der Industrie und «ruhte bei den Fragen der Naturwissenschaft und Technologie gleichsam von der Politik aus.».119) 

Es fiel ihm leicht, vor Stalin politisch zu kapitulieren, in der tiefen Überzeugung, daß die Partei schließlich immer recht habe.120) Er zögerte, sich der «neuen Opposition» anzuschließen, an deren Spitze Sinowjew, Kamenew und Nadeshda Krupskaja standen. Stalin hatte es nicht schwer, diese gegnerische Gruppe zu Fall zu bringen, wobei er sich ihre belehrende Kritik zunutze machte: sie hatten ihm vorgeworfen, durch seine bauernfreundliche Politik und die Unterschätzung der Klassendifferenzierung im Dorf die Vormachtstellung der Kulaken zu fördern. 

Im Frühjahr 1926 entschloß sich Trotzki, gemeinsam mit Sinowjew und dessen Petrograder Organisation einen «Block» zu bilden, um Stalins Macht zu brechen. Ihre «Erklärung der 13» enthielt so manche Anregung für Stalins spätere großangelegte Politik und Wirtschaftsstrategie. Sie umfaßte ein wohlausgestattetes Arsenal von Argumenten, um die ursprüngliche Strategie der Moderation auf dem Gebiet der Industrialisierung und der sozialistischen Entwicklung der Bauernwirtschaft von Grund auf zu revidieren und unter dem Stichwort der sozialistischen Akkumulation die von Marx angeprangerten Ausbeutungs- und Herrschaftsmethoden der einfachen und erweiterten Reproduktion und Anhäufung von Kapital zum staatspolitischen System zu erheben.

 

Stalins «geistige Originalität» bestand darin, sich in Ermangelung eigener Theorien der Gedanken anderer für seine politische Praxis zu bemächtigen. Was er in den <Grundlagen des Leninismus> begonnen hatte, konnte er schon deshalb weiterentwickeln und sogar revidieren, weil er durch seine Prinzipienfestigkeit die kritischen Analysen seiner Gegner auf ihren Wahrheitsgehalt zu reduzieren verstand, ohne sich durch ihre ideologisch-verkappten Anklagen einschüchtern zu lassen. Seine Schrift <Zu den Fragen des Leninismus> (1926) ist wie die erste ein Kompilat von kommentierten Lenin-Zitaten, zeichnet sich aber durch die grob-ironische Argumentationsweise aus, mit der es dem Verfasser gelingt, die Probleme der Diktatur, der Bauernschaft und des sozialistischen Aufbaus in Einklang mit den Leninschen Thesen zu bringen. In pseudo-kantischem Stil rechtfertigt Stalin seine späteren Widerrufe, wie zum Beispiel bei der Behandlung des von Lenin in seinen letzten lichten Stunden überdachten Themas des genossenschaftlichen Sozialismus. 

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Sinowjew und Kamenew

 

 

Die neue Opposition, ironisiert er, geht an die Genossenschaftsfrage nicht marxistisch, sondern metaphysisch heran. Sie betrachtet die Genossenschaften nicht als historische Erscheinung, die in Gemeinschaft mit anderen Erscheinungen genommen wird, sagen wir in Gemeinschaft mit dem Staatskapitalismus (im fahre 1921) oder mit der sozialistischen Industrie (im fahre 1923), sondern als etwas feststehendes und ein für allemal Gegebenes, als «Ding an sich». 121)

Nachdem sich Stalin für die zuvor verurteilte Politik des Absägens entschieden hatte, wurde die Opposition schrittweise ausgeschaltet: Sollte jemand von uns über die Stränge hauen, so wird er zur Ordnung gerufen werden 122, eine Warnung, die sich Trotzki und Sinowjew zu Herzen nahmen, indem sie zeitweilig ihre Sünden bekannten und Selbstkritik übten. Doch wurden sie schließlich aus dem ZK (August 1927) und nachher aus der Partei (November 1927) ausgestoßen, weil sie anläßlich der zehntägigen Jahresfeier des Oktober-Umsturzes Straßendemonstrationen in Leningrad und Moskau organisiert hatten.

Bei den erbitterten Wortkämpfen und Zitatfehden, die sowohl auf Kosten der «Klassiker» Marx und Engels als auch unter ständiger Berufung auf Lenin geführt wurden, erwies sich Stalin als ein überlegener Diskussionspartner. Sein trockener, phantasieloser Stil beeinträchtigte durchaus nicht seine Grundkonzeption vom Sozialismus in einem Lande.

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Die Hauptstärke seiner Beweisführung lag in der von der Partei und ihrer gesamten Führung als bewiesen angenommenen Voraussetzung, daß die große Mehrheit der sowjetischen Volksmassen bereit war, sich zu jedem von der bolschewistischen Herrschaftselite beschlossenen Aufbauexperiment herzugeben. Es ging im Grunde genommen nur um eines: die Machtposition in Partei und Staat zu erobern und mit allen Mitteln zu bewahren, um dieses Experiment zu unternehmen, dessen realer Inhalt mittels Etiketten wie sozialistisch, proletarisch/revolutionär usw. bemäntelt wurde. 

Zum Unterschied von seinen Rivalen äußerte Stalin seine Absichten klar und direkt, wobei er die Zweckrationalität seines Wirtschafts- und Herrschaftsprogramms viel deutlicher formulierte als seine Gegner. Er war von der Vorstellung durchdrungen, im Kampf gegen den Oppositionsblock einen Hebel geschmiedet zu haben, nämlich eine Partei, die sich auf der Grundlage der sozialistischen Perspektiven der wirtschaftlichen Organisation zusammengeschlossen hatte, um den sozialistischen Aufbau in Sowjetrußland voranbringen zu können.^     

Mit dem Zugeständnis an die Opposition, selbst kein fehlerfreier Mensch zu sein - hatte er sich doch einst in bezug auf das Außenhandelsmonopol geirrt -, erging sich Stalin unermüdlich in der Aufzählung der Sünden Trotzkis, Sinowjews und Kamenews, ohne seinen zeitweiligen Verbündeten Bucharin zu verschonen, der einmal gesagt hat: «Bereichert euch!», weil er die Wichtigkeit der Privatakkumulation auf dem Lande überschätzte.

Es gibt aber verschiedene Fehler, meinte Stalin und brandmarkte besonders jene, auf denen ihre Urheber beharren und aus denen Traktionen, Plattformen und der Kampf innerhalb der Partei erwachsen12*. Selbst die Regierung kann irren und dadurch die Diktatur des Proletariats gefährden, aber das würde noch nicht bedeuten, daß die proletarische Diktatur als Prinzip des Staatsaufbaus in der Übergangsperiode falsch oder fehlerhaft sei12*. 

Im Einklang mit der Opposition hielt Stalin am Leninschen Glaubenssatz der Ein-Partei-Herrschaft fest. Im Hinblick auf den Kern des ZK, der aus 10 bis 15 Personen bestand, bemerkte er ironisch, diese hätten sich in Sachen der Führung der politischen und wirtschaftlichen Arbeit unserer Organe dermaßen eingefuchst, daß sie Gefahr laufen, sich in eine Art Hohepriester der Führung zu verwandeln I26. Dies war kein lapsus calami. Hier haben wir einen Schlüssel zu Stalins geduldigem und hartnäckigem Aufstieg aus der silhouettenlosen Existenz eines obskuren Parteifunktionärs zum Rang eines politischen Großinquisitors, dessen Format nur einem Dostojevskij zugänglich war: «Sie werden sich über uns wundern und uns für Götter halten, weil wir, die wir uns an ihre Spitze stellen, bereit sind, die Freiheit zu ertragen, diese Freiheit, vor der sie zurückschrecken ...»127)

 

 

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 Sozialistische Kapitalakkumulation 

 

 

«Solange wir in einem kleinbäuerlichen Lande leben, besteht für den Kapitalismus in Rußland eine festere ökonomische Basis als für den Kommunismus ... Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.» 

Diesen Ausspruch Lenins zitierte einmal Stalin, um nachzuweisen, daß die Sowjetrepublik das Recht habe, sich als sozialistisch auszugeben. Damit wollte er die Entschlossenheit und die Bereitschaft ausdrücken, den Sozialismus zu verwirklichen, die Klassen zu beseitigen, usw.

Was Marx einst Bakunin (und Wera Sassulitsch) klarmachen wollte, nämlich daß der Sozialismus weder auf Wunsch noch auf Befehl einer Staatsmacht verwirklicht werden könne, wollten Lenin und Stalin in der Praxis widerlegen. «Sozialistische Sowjetrepublik» bedeutete nach Lenin nicht, «daß die neuen ökonomischen Zustände als sozialistisch anerkannt werden», sondern «daß die Sowjetmacht entschlossen ist, den Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen».128)

In Sowjetrußland faßten zwar die «Marxisten» ihre Machtstellung als einen Auftrag im Namen einer wesentlich bäuerlichen Gesamtbevölkerung auf, beanspruchten aber gleichzeitig, die Hegemonie der proletarischen Minderheit zu sichern. Im «Kommunistischen Manifest» findet man eine Reihe von Systemen des «kritisch-utopischen Sozialismus und Kommunismus» aufgezählt, deren Erfinder überzeugt waren, «hauptsächlich das Interesse der arbeitenden Klasse als der leidendsten Klasse zu vertreten»12?. Da diese Träumer in der noch unentwickelten Industrie die «materiellen Bedingungen zur Befreiung des Proletariats» nicht vorfinden, suchen sie nach einer sozialen Wissenschaft, nach sozialen Gesetzen, um diese Bedingungen zu schaffen».

Die Bolschewiki brauchten diese soziale Wissenschaft nicht mehr zu suchen, weil sie im «Marxismus» über den «wissenschaftlichen Sozialismus» verfügen konnten. Ab 1917 zwangen die sozialökonomischen Bedingungen Rußlands die Verschwörer- und Funktionärspartei, sich in eine Partei von pragmatischen Staatsmännern und Managern zu verwandeln. Marx und Engels errieten den Hauptcharakterzug dieser Kategorie von «Erfindern», als sie von jenen «reaktionären und konservativen Sozialisten» sprachen, die sich «durch mehr systematische Pedanterie, durch den fanatischen Aberglauben an die Wunderwirkungen ihrer sozialen Wissenschaft» auszeichnen.1^0 Aber zum Unterschied von jenen Literaten waren die Bolschewiki Praktiker einer Utopie, die keine war; sie verfügten vielmehr über das wissenschaftliche Rezept der Kapitalakkumulation durch die Entmenschung von immer zahlreicheren Arbeitermassen, durch die «Verwandlung der Bauern in Proletarier», wie Marx einst einem gelehrten russischen Volkssozialisten das russische Schicksal vorausgesagt hatte.1}1

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Titelseite der ersten russischen Ausgabe des «Kommunistischen Manifests» von Marx und Engels, 1882

 

Auf Grund der von der Staatlichen Plankommission gelieferten Zahlen konnte Stalin im Dezember 1927 behaupten, daß dank der NEP die gesamte industrielle und landwirtschaftliche Produktion, die im Jahre 1921 im Vergleich zu 1913 einen katastrophalen Rückgang aufwies, das Niveau der Vorkriegsproduktion bereits erreicht, ja sogar teilweise überschritten hat. Er kam zum folgenden Schluß: Unser Land wird zu einem Industrieland. Die Aufgabe der Partei: mit allen Mitteln die Industrialisierung unseres Landes voranzutreiben. Er sprach vom beispiellosen Entwicklungstempo der Sowjetindustrie, die die Industrie der kapitalistischen Länder einholt, ja sie überholt. Dagegen könne das Entwicklungstempo der Landwirtschaft nicht als hinlänglich zufriedenstellend bezeichnet werden. Der Zuwachs an Arbeitskräften in der Großindustrie betrug in den zwei letzten Jahren 33 Prozent. Stalin erwähnte auch die neue Bourgeoisie - gemeint waren die städtischen Mittelschichten -, die keinen Grund hat, mit der Sowjetmacht zufrieden zu sein. Aus der Leninschen Losung der Kulturrevolution ergebe sich für die Partei die Aufgabe, den Kampf für den kulturellen Aufschwung der Arbeiterklasse und der werktätigen Schichten der Bauernschaft zu verstärken. Bei diesem ambitiösen Vorhaben bedurfte es der Erneuerung der Partei, die ein lebendiger Organismus sei, in dem ein Stoffwechsel stattfinde: Altes, Absterbendes fällt ab, Neues, Wachsendes lebt und entwickelt sich.'1?'2- Nachdem die linke Opposition mundtot gemacht war, galt es, sich der Rechtsopposition zu entledigen. Diese war noch für die NEP eingetreten, während Stalin sich das Programm der Linksopposition für seine radikalen Industrialisierungspläne angeeignet hatte.

 

Trotzki erfuhr eine Sonderbehandlung: nachdem er bereits nach Alma-Ata deportiert worden war, wurde er im Januar 1929 nach der Türkei abgeschoben. Die nun mit Bucharin, dem Führer der Rechtsopposition, begonnene Auseinandersetzung nahm Stalin zum Anlaß, einen Richtungskampf in der Kommunistischen Internationale zu entzünden. Bucharin, dessen Entmachtung in der Komintern bald erfolgte, erlitt zusammen mit anderen rechtsoppositionellen Führern (Tomskij, Rykow) zwar noch nicht das Los von Sinowjew und Kamenew, da er noch in der Partei bleiben konnte, aber er sollte wie jene ein schlimmeres Schicksal erleiden.

 

Zur Verwirklichung von Stalins Industrialisierungsprojekt war in Marx' «Kapital» ein Weg vorgezeichnet, nämlich der «historisch epochemachende» Prozeß der «sogenannten ursprünglichen Akkumulation», von dem es heißt: «Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozeßes.»I33 Den modus operandi jener «Expropriation» der Bauern in Rußland lieferten die bolschewistischen Ökonomen dem ehemaligen Spezialisten des «Exes». Expropriation der ländlichen Bevölkerung war die Voraussetzung zur Schaffung der größtmöglichen Masse von «unmittelbaren Produzenten», das heißt von Lohnarbeitern, modernen Proletariern. Ohne sich der tragisch-ironischen Bedeutung ihrer Worte bewußt zu werden, nannten die Sowjetökonomen diesen Prozeß «ursprüngliche sozialistische Akkumulation».134)

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Auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums in Moskau, 1927; Bucharin (mit Mütze), Kalinin (mit Pelzmütze), Stalin

 

Stalin handelte so, als seien die von Marx beschriebenen barbarischen Methoden zum Zweck der «ursprünglichen» Kapitalakkumulation in Westeuropa und in den Kolonien die geeignetsten, um die Sowjetrepublik zu «zivilisieren», das heißt ein Agrarland in ein Industrieland zu verwandeln. Marx, der die Genesis des «Kapitalismus» erforscht hatte, nahm er beim Wort, dekretierte aber den Aufbau des Sozialismus, der eigentlich nichts anderes war als ein ideologisch bemäntelter Staatskapitalismus. Bei Marx erfuhr er, daß die Methoden der Kapitalakkumulation «zum Teil auf brutalster Gewalt» beruhen und daß alle «die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft [benutzten], um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen». Was bei Marx historisch-kritische Erkenntnis war, wurde bei Stalin zur Aktionsnorm: «Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz. »W

«Im Oktober 1917 ergriffen wir die Macht zusammen mit der Bauernschaft als Ganzem. Das war eine bürgerliche Revolution, insofern sich der Klassenkampf im Dorf nicht entfaltet hatte. Wie ich schon sagte, begann erst im Sommer 1918 die wirkliche proletarische Revolution im Dorf.»1}6 Lenin meinte den Kampf «gegen die Bourgeoisie im Dorf», «gegen die Kulaken». Aber gegen die «Mittel-

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bauernschaft» sollte auf keinen Fall Gewalt angewandt werden; eher seien Zugeständnisse «in der Wahl der Methoden zur Durchführung sozialistischer Umgestaltungen» zu gewähren.x37 Während der Periode der NEP war Lenin bereit, mehr für die Bauernschaft als für die Arbeiterschaft zu tun und zunächst für die «Hebung der Produktivkräfte der Bauernschaft» zu sorgen. So wurde die Ablieferungspflicht durch Naturalsteuern ersetzt und der freie Handel wieder zugelassen, was notgedrungen zum «Wiederaufleben des Kleinbürgertums und des Kapitalismus» führen mußte. «Ein Übel gegenüber dem Sozialismus», ist der Kapitalismus dennoch «das Heil ... gegenüber der Kleinproduktion, gegenüber dem mit der Zersplitterung der Kleinproduzenten zusammenhängenden Bürokratismus». Schließlich meinte Lenin, daß der «privatkapitalistische Kapitalismus» die «Rolle eines Helfers des Sozialismus» spielte, was «keineswegs ein Paradoxon, sondern eine ökonomisch völlig unbestreitbare Tatsache» sei. Letzten Endes würden sich alle Paradoxa und Widersprüche auflösen, sofern die «proletarische Macht» gesichert sei.138

Noch waren keine sechs Jahre nach Lenins letztem Auftrag verstrichen, als Stalin das Jahr des großen Umschwungs verkündete, womit er unter anderem die Offensive des Sozialismus gegen die kapitalistischen Elemente in Stadt und Land im Sinn hatte.1» Was er unter Offensive verstand, hatte er zwar definiert, aber noch nicht praktisch verdeutlicht, nämlich von der Politik der Einschränkung der Ausbeutertendenzen des Kulakentums ... zur Politik der Liquidierung des Kulakentums als Klasse überzugehen.2*0 Ebensowenig hatte er den Begriff Liquidierung durch Beispiele konkretisiert. «Zwangskollektivi-sierung» dagegen existierte zwar als Tat, entbehrte jedoch der terminologischen Fixierung, da im Prinzip vorausgesetzt wurde, daß der Übergang der werktätigen Bauern zur Kollektivwirtschaft unbedingt freiwillig sein müsse.1*1

In jenem Jahr, das die erste große Weltkrise des kapitalistischen Wirtschaftssystems einleitete, hatte Stalins Partei die «optimale» Variante des i. Fünfjahrplans übernommen, um das Fundament der sozialistischen Wirtschaft zu errichten und die kapitalistischen Elemente in der Stadt und auf dem Lande zu verdrängen.1*2 Stalin feierte seinen 50. Geburtstag, und die Sowjetpresse akklamierte den «Führer des Weltproletariats», den «Diktator des sechsten Teils der Welt», den «mysteriösen Gast» im Kreml, das «Rätsel Stalin». Nunmehr «Sieger über alle Oppositionen», nahm er es auf sich, das von Lenin begonnene Werk zu vollenden. Da sich in der zweiten Hälfte des Jubiläumsjahres die Mitglieder von ca. 2,4 Millionen Bauernhöfen «freiwillig» zu Kollektivwirtschaften zusammenschlössen, mußte Stalin noch etwa 22 Millionen Bauern wirtschaften von der sozialnotwendigen Wohltat der Kollektivisierung überzeugen.

Der von Lenin verkündete Bürgerkrieg, der mit dem Verschwinden des Kulakentums enden sollte, entstand allerdings nicht zwischen der «Dorfarmut» und den wohlhabenden Bauern, sondern - wie es bereits

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Trotzki verläßt Rußland: 

am 11. Februar 192p auf dem Dampfer «Iljitsch» in Odessa

 

bei Marx steht - zwischen dem «Stand ... der Mitglieder der Regierungsgewalt» und dem «der unmittelbaren, der konkreten Arbeit»1«. In Marx' «Kritik der Hegeischen Staatsphilosophie» stehen sich zwei Armeen gegenüber: der «politische Staat» und die «bürgerliche Gesellschaft». Angesichts dieser sozialen Antagonismen betrachtete Marx die «politische Emanzipation» als einen «großen Fortschritt», weil sie mittels der Menschenrechte, die die «zügellose Bewegung der geistigen und materiellen Elemente» des bürgerlichen Lebens gestatten, die eigentliche - unpolitische und menschliche - Emanzipation vorbereitet.1^ Aber sämtliche politischen Einrichtungen Sowjetrußlands waren von vornherein Schöpfungen des von Marx kritisierten «politischen Verstands», dessen Prinzip der «Wille» ist: «Je einseitiger, das heißt also, je vollendeter der politische Verstand ist, umsomehr glaubt er an die Allmacht des Willens, umso blinder ist er gegen die natürlichen und geistigen Schranken des Willens, umso unfähiger ist er also, die Quelle sozialer Gebrechen zu entdecken. »^5

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Die «primitive sozialistische Akkumulation», Produkt des Willens und der Planung der Sowjetökonomen, hat zum methodischen Modell den siebenten und letzten Abschnitt des «Kapitals», der vom «Akkumulationsprozeß des Kapitals» handelt. Sämtliche Kapitel von der «einfachen Reproduktion» bis zur «Modernen Kolonisationstheorie» können zu einer gründlichen Analyse der Geschichte des Sowjetwirtschaftssystems herangezogen werden. Die Schilderung der «Expropriation des Landvolks von Grund und Boden» ließe sich methodologisch wie inhaltlich durch so manche sowjetische Greuel aktualisieren: Stalin hat seine Theorie der Sozialistischen Akkumulation, die er mit Recht innere Akkumulation nannte, nach manchen Umwegen und Umschreibungen in eine Formel zusammengepreßt, die sein völliges Unverständnis des Sozialismus enthüllt: Man muß endlich begreifen, daß von allen wertvollen Kapitalien, die es in der Welt gibt, das wertvollste und das entscheidendste Kapital die Menschen, die Kader sind.1*6 Man ermißt die Verkehrtheit des Stalinschen Marx-Verständnisses, wenn man sich erinnert, daß es in «Misere de la philosophie» heißt: «Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst. Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schöße der alten Gesellschaft entfalten konnten.»147

 

Im Grunde brauchte Stalin sich keine «Theorie der sozialistischen Akkumulation» auszudenken, da ihm das Geheimnis zuerst von Marx und dann von Bucharin verraten wurde. Dieser sprach von der Notwendigkeit, «zuerst eine Periode der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation durch[zu]machen»148. Er hatte sich aber gehütet, vom Träger oder Subjekt dieser Akkumulation zu reden. Spricht man von «kapitalistischer Akkumulation», so meint man Akkumulation des Mehrwerts oder - konkreter - Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zum Zwecke der Vermehrung des Kapitals. Bucharin wagte es nicht, den Gesamtbegriff zu formulieren, der logisch «sozialistische Akkumulation des Kapitals» gewesen wäre, was die ganze Verbohrtheit dieser «Theorie» durchsichtig gemacht hätte. Bucharin weiß, wie das Kapital «durch Ausplünderung, Klassenvergewaltigung und Räuberei die Produktivkräfte» mobilisiert. Unbedenklich zieht er eine vom Standpunkt der Marxschen Theorie sinnlose, wenn auch ideologisch wirksame Parallele: 

«Aber auch der Sozialismus, der auf einem Trümmerhaufen aufwächst, muß unvermeidlich mit der Mobilisierung der lebendigen Produktivkraft beginnen. Diese Arbeitsmobilisierung bildet das grundlegende Moment der sozialistischen ursprünglichen Akkumulation, die die dialektische Negation der kapitalistischen ist. Ihr Klassensinn besteht... nicht in der Vergewaltigung einer Handvoll Kapitalisten, sondern in der Selbstorganisierung der werktätigen Massen.»1^

Das von Lenin in Kurs gebrachte Aushängeschild der Freiwilligkeit hatte auch Stalin anfangs verwendet. Sobald er aber der Zwangskollek-tivisierung die staatliche Weihe gegeben hatte, verzichtete er auf diese Fiktion. Ungleich den kapitalistischen Methoden - Ausplünderung

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Stalin, 50 Jahre alt

von Kolonien, militärische Eroberungen und knechtende Auslandsanleihen - wählte Stalin für Sowjetrußland die «sozialistische Akkumulation», da doch Lenin darauf wiederholt als auf den einzigen Weg der Industrialisierung unseres Landes hingewiesen hat 15°. Als Weg eigener Ersparnisse für die Industrie hat dieser Akkumulationsprozeß den «Konsumationsprozeß der Arbeitskraft» zur Basis, bei dem der Produzent, Proletarier genannt, zu einem mehrarbeitliefernden Objekt herabgewürdigt wird. Zur «Freiwilligkeit» eines solchen Prozesses bemerkte Marx ironisch: «...die Masse der Menschheit expropriierte sich selbst zu Ehren der <Akkumulation des Kapitals^»1?1

Weil wir - Stalin meint den in seiner Person verkörperten Sowjetstaat - kein Privateigentum an Grund und Boden haben, das den Bauern an seine individuelle Wirtschaft fesselt .. . weil bei uns der Boden nationalisiert ist, ist der Übergang des Einzelbauern auf die Bahnen des Kollektivismus erleichterte Mit Marx zu reden, der die Härte des preußischen Staates gegen den darbenden Moselwinzer denunzierte: «Unter dem Übergang ist unter diesen Umständen aber der allmähliche Untergang zu verstehen. »*53

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Nikolaj I. Bucharin

Über Stalin: «Ein Dschingis-Khan, der Marx zwar gelesen, aber nicht verstanden hat.»

 

Stalin warnte die Partei- und Staatsfunktionäre davor, seine Politik der Liquidierung des Kulakentums als Klasse falsch zu verstehen und sie etwa mit Einschränkung oder Verdrängung der kapitalistischen Elemente zu verwechseln. Seine souveräne Instruktion lautete klar: Um das Kulakentum als Klasse zu verdrängen, muß man den Widerstand dieser Klasse in offenem Kampf brechen und ihr die Quellen ihrer Existenz und Entwicklung in der Produktion (freie Bodennutzung, Produktionsinstrumente, Pacht, Recht auf Anwendung von Lohnarbeit usw.) entziehe n.1^ Der Auftrag ließ keine Zweifel zu, weder in bezug auf das erstrebte Ziel noch auf die dahinter verborgenen Instrumente, mit denen das verwirklicht werden sollte.

Wenige Monate nach der Proklamierung des großen Umschwungs kam die unerwartet hohe Rechnung für die Verwirklichung dieses Projekts. Sogar die Parteileitung geriet in Unruhe, was ihren Chef zwang, aufklärende Anweisungen über die Kunst der Führung zu liefern. Sein durch die Grauenhaftigkeit der Ereignisse veranlaßter Artikel läßt schon im Titel ahnen, mit welchen Mitteln der Übergang vollzogen wurde: Vor Erfolgen von Schwindel befallen, stellt er zunächst fest, daß am 20. Februar 1930 bereits 50 Prozent der Bauernwirtschaften in der UdSSR kollektiviert waren, was einer mehr als zweihundertprozentigen Erfüllung des Fünfjahrplans entspreche.

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Dies bedeute, daß die grundlegende Wendung des Dorfes zum Sozialismus schon als gesichert betrachtet werden kann und daß es nun die Aufgabe der Partei sei, die erzielten Erfolge z u verankern und sie planmäßig für den weiteren Vormasch auszuwerten. Leider aber hätten Erfolge auch ihre Schattenseite, indem sie Menschen trunken machen, sie zu abenteuerlichen Versuchen verleiten, alle Fragen des sozialistischen Aufbaus «im Handumdrehen» zu lösen. Stalin hütete sich davor, Näheres über den Klassenkampf auf dem Lande zu berichten; er erwähnte bloß Beispiele von bürokratischer Dekretierung der kollektivwirtschaftlichen Bewegung, von Drohungen ... Militärgewalt anzuwenden und jenen Bauern, die vorläufig noch nicht in die Kollektivwirtschaften eintreten wollen, das zur Bewässerung nötige Wasser zu entziehen und ihnen keine Industriewaren zu liefern. Solche Verzerrungen hätten nichts mit der von der Partei gewollten Politik gemein, die sich auf die Freiwilligkeit und die Berücksichtigung der örtlichen Besonderheiten bei dem kollektivwirtschaftlichen Aufbau stützt. Stalin sprach von vorzeitigen Maßnahmen, um die landwirtschaftlichen Arteis (Genossenschaften) zu vergesellschaften, wobei diese «Vergesellschaftung» in bürokratisch-papiernes Dekretieren ausartet. Wem anders nützten solche Methoden als unseren geschworenen Feinden, eine Politik, die nicht die Leitung, sondern die Zersetzung und Diskreditierung der Kollektivwirtschaft bezwecke. Ich rede schon gar nicht von den, mit Verlaub zu sagen, «Revolutionären», die die Organisierung des Arteis mit dem Herunterholen der Kirchenglocken beginnen. Die Kirchenglocken herunterholen — man denke nur, was für eine rrre-volutionäre Tat! Alle diese lächerlichen Versuche hätten das Ziel, die Klassen und den Klassenkampf zu umgehen; in Wirklichkeit leiten sie aber Wasser auf die Mühle unserer Klassenfeinde.^

 

Stalins Unmut läßt kaum erraten, mit welchem Ausmaß an Unmenschlichkeit die ersten Erfolge der Zwangskollektivierung erzielt wurden, und zwar nicht nur bei der Jagd auf die Kulaken, sondern auch bei der Vergesellschaftung der Klein- und Mittelbauern. Eine Ahnung des Geschehenen vermittelt die 1971 erschienene «Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion», der das Kunststück gelingt, die stalinistischen Errungenschaften zu preisen, ohne den Namen Stalin zu erwähnen. «Die Kulaken entfesselten eine wüste Hetze gegen die Kollektivwirtschaften, verbreiteten allerlei provokatorische Gerüchte, steckten Gebäude der Kollektivwirtschaften in Brand, vergifteten Vieh, zerstörten Traktoren und Maschinen, ermordeten in den Dörfern heimtückisch Kommunisten, Vorsitzende der Kollektivwirtschaften, Dorfkorrespondenten und Aktivisten der Landwirtschaft. Sie taten alles mögliche, um die Kollektivierung zu hintertreiben. Der Übergang der Bauern zur durchgängigen Kollektivierung mußte deshalb von einem schonungslosen Kampf gegen das Kulakentum begleitet sein. Die Bauern forderten von den Organen der Sowjetmacht, die Kulaken restlos zu enteignen und sie aus den Siedlungen und Dörfern zu verjagen.»^

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Mit Maxim Gorki vor dem Lenin-Mausoleum in Moskau, 1931

«Gleich nach dem Tode des großen Schriftstellers tauchte der Verdacht auf, daß Stalin den zerstörerischen Kräften der Natur Vorschub geleistet habe » 

Leo Trotzki 

 

 

Als sich die Parteiführung zur «Korrektur der Fehler und Überspitzungen im kollektivwirtschaftlichen Aufbau»1?/ entschloß und den Kollektivierungsfunktionären (von denen viele der Staatspolizei angehörten) Mäßigung befahl, traten die Bauern massenweise aus den Kollektivwirtschaften aus. Im Juli 1930 war deren Zahl auf weniger als die Hälfte (23,6 °/o) gesunken. Was den Kollektivbauern anbelangt, so konnte man auch mit ihm nicht gut rechnen, denn er hatte eine individualistische Mentalität, die es umzuformen galt, um aus ihm ein wirkliches, schaffendes Mitglied der sozialistischen Gesellschaft zu machend Inzwischen aber wurde die Kollektivwirtschaftsbewegung, das heißt die staatlich angeordnete Bauernhetze, fortgesetzt, so daß im Sommer 1931 wiederum über 50 Prozent der Bauernhöfe kollektiviert waren. Drei Jahre später werden es ca. 75 Prozent sein und am Ende des zweiten Planjahrfünfts (April 1937) wird es nicht mehr als anderthalb Millionen Einzelbauernhöfe geben.

 

Stalin warnte vor der für einen Leninisten unzulässigen Übereilung und tadelte den Eigendünkel und die Überheblichkeit, die kommunistische Hoffart von Bolschewiken, die eine Partei vertreten, deren Stärke und Autorität schier unermeßlich sind.1^ Diese Sprache erweckt den Eindruck, daß der mächtige Sachwalter des Parteiapparats doch nicht allmächtig war und daß die politische Maschine Gesetzen gehorchte, denen der einzelne noch so wichtige Kader zwangsläufig unterworfen war. Gerade diese Eigengesetzlichkeit des Partei- und Staatsorganismus erlaubte es Stalin, sowohl in der landwirtschaftlichen Kollektivierung wie in der Entwicklung der Großindustrie Resultate zu erzielen, vor denen ihn selbst jener Schwindel befiel, den er bei seinen übereiligen Parteigenossen bedauert hatte. 

Zehn Jahre später kam er in einem Gespräch in Moskau mit Winston Churchill auf jene Ereignisse zu sprechen. Als der britische Premierminister den Widerstand der Kleinbauern erwähnte und dabei die mutmaßliche Ziffer von fünf Millionen angab, berichtigte der Sowjetmarschall, indem er die Hände hochhob: Zehn Millionen. Der Besucher fragte sich, ob Stalin mit dieser Geste «die staunenerregende Höhe der Zahl oder nur die Ziffer <Zehn> demonstrieren wollte». 

Zum Beichten geneigt, bot er seinem Gast ergänzende Aufklärung, als ob er Absolution erwartete: Es war furchtbar. Vier Jahre lang dauerte es. Aber es war für Rußland unbedingt erforderlich, mit Traktoren zu pflügen, wenn wir periodisch wiederkehrende Hungersnöte vermeiden wollten. Wir mußten unsere Landwirtschaft mechanisieren ... wir haben uns die größte Mühe gegeben, dies den Bauern klarzumachen. Aber es war nicht mit ihnen zu reden .... Vom Kulaken sprach Stalin kaum, gestand aber, daß alles sehr traurig und schwierig war - aber notwendig. Als Churchill sich erkundigte, was weiterhin geschah, bekam er zur Antwort: Nun, viele schlössen sich uns an. Anderen wurden in den Provinzen Tomsk oder Irkutsk oder noch weiter im Norden eigenes Land gegeben, aber der größte Teil war so unbeliebt, daß sie von ihren Arbeitern beseitigt wurden .. .l6°

Von Marx' Theorie der «ursprünglichen Akkumulation» wußte Churchill wohl herzlich wenig, als er sich gestand, daß ihm der «Gedanke an die Liquidierung oder Umsiedlung von Millionen» einen «starken Eindruck» bereitet hatte. Sonst hätte er erfahren, daß es gerade die von Marx geschilderte Genesis der kapitalistischen Wirtschaft in Großbritannien war, die den bolschewistischen Akkumulationsmanagern das Vorbild für ihre geplante gewaltsame Ummodelung des «Sowjetmenschen» geliefert hatte. 

Nur schien es dem gesitteten Briten «sinnlos», dem bolschewistischen Woshd (Führer) mit «Moral» aufzuwarten, zu einer Zeit, wo nicht nur die sowjetische Bevölkerung hungerte, sondern auch die Rote Armee an vielen Fronten verblutete. 

Man darf sich wohl fragen, ob zwischen der Kriegs- und Geschäftsmoral des westeuropäischen Aristokraten einerseits und der Parteimoral des asiatischen Plebejers andererseits ein wesentlicher Unterschied besteht.

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