2 Bärbel Bohley: Die Macht wird entzaubert
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Das Für und Wider der Akteneinsicht wird noch viele Jahre die Gemüter erregen, denn die Büchse der Pandora ist geöffnet worden. Sie läßt sich nicht mehr schließen, selbst wenn wir es wollten, ein Teil ihres Inhalts, wenn auch der winzigste, ist uns bekannt geworden. Gerade dieser Teil sieht in dem hellen Licht der Öffentlichkeit und des Januarmorgens, an dem ich zum erstenmal in meine Akten sehe, so schäbig aus, daß ich mich seitdem frage: Lohnen sich deshalb die heftigen Kontroversen, die uns erschüttern ?
Die Abgründe, die sich in der Debatte nach Einsicht in die Stasi-Akten aufgetan haben, die zerbrochenen Beziehungen, die bitteren Wahrheiten der Bespitzelten und die rohen Lügen der Spitzel, dazwischen diejenigen, die glaubten, sich jetzt für jahrelanges Wegsehen durch besonders hartes Urteilen rechtfertigen zu müssen und damit die Diskussion nur gnadenloser werden ließen, bis hin zum sinnlosen Freitod einiger für das Unrecht mitverantwortlicher Menschen — wodurch ist das alles gerechtfertigt?
Meine Zweifel wurden um so heftiger, je klarer ich all die anderen Probleme sah, die sich aus der überstürzten Wiedervereinigung zweier sich fremder Gesellschaften ergaben. Auf der Liste der lebenswichtigen Aufgaben steht die Bewältigung der Stasi-Problematik eigentlich ziemlich weit hinten. Wer heute keine Arbeit mehr hat, um das Dach über seinem Kopf zittert, sich in das neue unbekannte Leben hineinfinden muß, der hat oft kein ]> Verständnis für den Kraftaufwand, mit dem wir immer wieder das Stasi-Thema in die Öffentlichkeit zerren. Nicht um zu verdammen, sondern um zu klären, dürfen wir nicht schweigen. Was wir heute nicht sehen wollen, wird morgen für uns eine neue, unüberwindliche Mauer sein.
Die Stasi — was war sie wirklich in meinem Leben?
Sie hat mein Leben begleitet, solange ich denken kann. Damals hatte sie kein eigenes Gesicht. Ich kannte sie nur aus den ängstlichen, vorsorglich flüsternden Gesichtern meiner Eltern, als sie erörterten, ob sie in den Westen gehen sollten, weil mein Vater arbeitslos geworden war. Damals war ich acht Jahre alt, und mein Vater hatte seine geliebte Arbeit als Lehrer aufgeben müssen, weil er nicht in die SED eintreten wollte.
Sehr früh hatte ich begriffen, was politische Witze waren und daß man sie sich nicht laut erzählt, sondern nur in kleiner Runde unter Freunden. Schon als Kind lernte man die Spielregeln, mit denen man ein guter DDR-Bürger wurde. Und die wichtigste war, nicht aufzufallen, möglichst das zu machen, was von einem verlangt wurde, die Partei und ihre Entscheidungen öffentlich zu loben und heimlich zu kritisieren.
Sonst konnte es einem wie Horst gehen. Er war der Sohn einer Freundin meiner Mutter, der an der Humboldt-Universität studierte und dort 1956 seine Sympathie für die aufständischen Ungarn bekundete. Bei Nacht und Nebel mußte er in den Westen fliehen, weil seine Verhaftung drohte. — Oder wie meinem Bruder, der 1968 den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR kritisierte und zwei Jahre dafür absitzen mußte. — Oder wie meiner Schulfreundin Undine, die mit ihrer Schwester 1964 in den Westen flüchten wollte und von den Grenzpolizisten regelrecht in eine Falle gelockt worden war, aus der sie erst zweieinhalb Jahre später entlassen wurde.
Oder wie meiner Arbeitskollegin B. S., aus deren versuchter Republikflucht die Stasi einen Spionagefall konstruierte. Das Urteil lautete sechs Jahre Gefängnis, von denen sie vier in Hoheneck absitzen mußte, ehe sie in den Westen verkauft wurde.....
Viele solcher Geschichten könnte ich erzählen, und in allen kommt die Staatssicherheit vor. Jeder in diesem Land kann Geschichten erzählen, in denen die Staatssicherheit eine Haupt- oder Nebenrolle spielt. Sie war ein Teil unseres Lebens und gehörte einfach dazu. Damals allerdings hatte sie kein klares Gesicht. Das hat sehr viel später Konturen bekommen durch die ersten Festnahmen, Hausdurchsuchungen und Vernehmungen.
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Doch erst durch die Akteneinsicht wurden die geheimen und kranken Gedanken dieses Monsters offenbar, die Sucht nach Macht durch totale Überwachung. Aber wodurch hat die Staatssicherheit, trotz mangelnder Akzeptanz in der Bevölkerung, so viele Menschen zur Mitarbeit bewegen können?
Als ich die ersten Berichte der «Inoffiziellen Mitarbeiter» las, drängte sich mir das Bild der Beichte auf. Sie ist für den Katholiken die Voraussetzung, um von Schuld freigesprochen zu werden und am kirchlichen Leben teilnehmen zu können. Durch die Beichte soll die Unterwerfung des einzelnen gegenüber Gott und der Kirche gezeigt werden. Und er unterwirft sich, weil ihm nur so verziehen werden kann. Für viele «Inoffizielle Mitarbeiter» hatten ihre Berichte den Charakter einer Beichte.
Indem sie der Stasi Freunde und Bekannte verrieten, berichteten sie auch über sich selbst und teilten sie ihre eigenen Gedanken und Gefühle mit. Sie wurden zu Verrätern an anderen und dadurch vor eventueller Verfolgung geschützt. Eine Frau, die mich bespitzelt hat, sagte zu mir, daß sie mich immer bewundert hätte, weil ich «ohne die schützende Hand der Stasi in der Opposition gearbeitet» hätte. Erst jetzt begreife ich die ganze Absurdität dieses Satzes. Damals erschien er mir nur durch den Versuch der Frau begründet, sich selbst entschuldigen zu wollen. Heute weiß ich, daß ein ganzer Apparat diesen wahnsinnigen Gedanken in den unterschiedlichsten Varianten in Hunderttausende Köpfe gehämmert hat, von Monika Haeger bis Manfred Stolpe.
Als ich die Berichte las, wurden vergessene Ereignisse der letzten Jahre wieder lebendig. Ein großer Teil der Dokumente über die Arbeit der «Frauen für den Frieden», der «Initiative Frieden und Menschenrechte», persönliche Briefe, Aufzeichnungen und Fotos war bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt worden. Etliches fand sich in den Akten wieder. Dazu seitenlange Tonbandaufzeichnungen abgehörter Telefongespräche. Plötzlich begegnete ich meiner damaligen tiefen Sprachlosigkeit am Telefon, die ich auch jetzt noch überwinden muß. Ob es mir wohl noch einmal gelingen wird, mich mit meinem Namen zu melden? Auch heute noch habe ich im Hinterkopf den Gedanken, daß jemand mithört.
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Aber ich bin nicht die einzige, deren Mißtrauen gegen jede Art von Uniform groß ist, die nicht das geringste Vertrauen in Sicherheitsdienste und Machtapparate aufbringt. Wenn nur dieses Mißtrauen aus DDR-Zeiten bei uns allen übrigbleiben sollte, würden wir schon ein nicht zu unterschätzendes Stück Aufmerksamkeit in das neue politische Leben mitbringen. Die Diskussionen und Reaktionen im Fall Stolpe zeigen aber, daß dies wohl nur ein frommer Wunsch bleiben wird. Wie könnten sonst Ehrenerklärungen abgegeben werden, bevor der Untersuchungsausschuß seine Arbeit auch nur begonnen hat? Woher kommt die Bereitschaft, schon wieder blauäugig der Macht zu vertrauen ? War die Bereitschaft gar nicht zerstört? Ist vielleicht noch nicht klar, wer die neue Macht ist? Jetzt wird sie erkennbar. Aus dem Nebel kommen meist nur die alten Gesichter mit neuen Hüten, beschützt und verteidigt von denen, die schon immer bereit waren, für einen Blechorden oder ein Schmalzbrot die Macht zu schützen. Genehmigt wird das alles von denen, die die Fußtritte der alten Macht ertragen haben und die der neuen spüren werden. In den Diskussionen sind die alten Töne zu hören. Und wenn die vertrauten Drohungen kommen, weiß man, daß es kein wirklicher Aufbruch war.
Bereits im Mai 1990 habe ich zum erstenmal Akteneinsicht beantragt. Ich wollte damals so schnell wie möglich für mich das Kapitel «Staatssicherheit» abschließen und deshalb einige Fragen, die mich beschäftigten, mit Hilfe der Akten klären. Fast zwei Jahre danach, am Morgen des 2. Januar 1992, habe ich mit einigen anderen in der Berliner Behrenstraße in die Akten sehen können. Diesen Termin hatte ich drei Wochen vorher erfahren. Erst in diesen drei Wochen merkte ich, daß ich mir während der letzten Jahre nachts das Träumen verboten hatte. Plötzlich träumte ich hundert Träume, wirr und bedrückend. Viele längst vergessene und verdrängte Erlebnisse und Ängste suchten mich heim. Menschengesichter, die ich einmal gesehen hatte, tauchten in den Träumen auf. Morgens wachte ich mit neuen Fragen auf: Wie war das damals, wer wußte eigentlich noch davon, wann war der oder die zum erstenmal aufgetaucht, und warum läßt sich der oder die seit dem Herbst '89 nicht mehr sehen?
An diesem grauen Januarmorgen bekam ich meine erste Lektion zum Thema: Wie macht man sich einen Staatsfeind? Als die Staatssicherheit 1982 beschlossen hat, über mich einen «Operativen Vorgang» anzulegen, hatte sie bereits entschieden, daß ich schuldig sei.
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Die fünfundzwanzig Aktenordner sind nicht angelegt worden, um meine Schuld oder Unschuld festzustellen, sondern sie enthalten Beobachtungen und Beurteilungen, die von vornherein davon ausgehen, daß ich ein Staatsfeind der DDR sei. Über Jahre sind für diese Feststellungen Beweise gesucht worden, und wenn es keine gab, hat sich die Stasi in langen Maßnahmeplänen Gedanken gemacht, wie sie zu schaffen sind.
Die Berichte der «Inoffiziellen Mitarbeiter » sind lang und ausführlich. Manch einer könnte auch ein Brief an Freunde sein, aber wenn ich an den Adressaten denke, weiß ich, daß es Dokumente des Verrates sind, in denen ich blättere. Mit großer Genauigkeit wird über Zusammenkünfte und Gespräche berichtet. Oft haben jene Frauen lange Berichte geliefert, die immer recht unauffällig und schweigsam in der Ecke gesessen haben. Damals dachte ich, daß sie Angst hätten vor ihrer eigenen Courage, in einer unabhängigen Frauengruppe mitzuarbeiten. Wenn ich jetzt die Berichte lese, weiß ich, daß sie Angst hatten, etwas Berichtenswertes zu verpassen.
Zwischen den Zeilen schimmert die Vertrautheit von Verschworenen. Der Spitzel und sein Führungsoffizier, zwei Komplizen waren sie fast immer, denn widerwillig hat auf Dauer niemand berichtet, der sich zu diesen konspirativen Treffen bereit erklärt hat. Sicher hat es auch die Erpreßten gegeben. In meiner Akte aber hat mich die Freiwilligkeit der Zusammenarbeit überrascht. Der hauptamtliche Mitarbeiter war der Vertreter der Macht, und der inoffizielle wollte an der Macht partizipieren. Indem er zur Informationsfülle des MfS beitrug, stärkte er dessen Macht. Wissen ist Macht, das hatten wir in der Schule gelernt. Im Ministerium für Staatssicherheit wurde diese Losung konspirativ in die Tat umgesetzt. Der Führungsoffizier wußte oft als einziger von den Kontakten des «Geführten» zur Staatssicherheit. Auch das bedeutete Macht über den anderen. Dieses Zwielichtige in der Beziehung zwischen zwei Menschen, dokumentiert in hellblauen Aktenordnern, erzeugt einen tiefen Ekel. Hier fand eine Verschwörung der engen Köpfe gegen das Leben statt. Auf Dauer konnte das nicht gutgehen, denn das Lebendige erstickt unter Mißtrauen, Macht, Lügen, Feindbildern. Es braucht vor allem vertrauensvolle Beziehungen, Mut und einen klaren Kopf, den Dingen auf den Grund zu sehen und sich ihnen zu stellen.
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Das war auch der Antrieb für uns, auf der Akteneinsicht zu bestehen. Allein die Tatsache, daß die Menschen, die bespitzelt wurden, die Berichte lesen können, die über sie angelegt wurden, zerstört den bösen Zauber der Stasi. Der Kaiser ist nackt, die Macht der Staatssicherheit gebrochen, ihre Pläne vereitelt. Licht dringt in das Dunkel gestörter menschlicher Beziehungen. Die Akteneinsicht hilft uns, alte Fragen neu zu stellen und vielleicht auch einmal neu zu beantworten.
In den Ordnern ist auch über die Methoden und Arbeitsweisen des MfS zu lesen. Wieviel Kraft und Geld ist dort verschleudert worden, wie vielen Menschen ist der Stempel des MfS in die Seele gedrückt worden? Wie viele sind über dem Doppelleben, das sie als Spitzel führten, wirklich schizophren geworden ?
Am meisten erschüttert die Zerstörung und der Verschleiß menschlicher Gefühle. Hier sind Verrat, Lüge, Untreue, Heimlichkeit, Hochmut, Überheblichkeit, die Lust auf Macht und die Kriecherei, die Angst und die Feigheit belohnt worden. Die Staatssicherheit zeigte sich für die gute Zusammenarbeit zwischen offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern erkenntlich. Buchpreise für die Intellektuellen, kurze Urlaubsreisen für die Reiselustigen, geringe Geldbeträge für die Habgierigen, einen Schlag auf die Schulter für die Zweifelnden, ein Glas Champagner für die Karrieresüchtigen und ein vertrauliches Gespräch mit Handschlag unter «Gleichen» für die Machtgierigen. Die Staatssicherheit war der große, volkseigene Zauberer und machte aus Unrecht Recht, aus Verrat Liebe, aus Untreue Treue, aus Kriecherei Mitarbeit, aus Angst Mut, aus Lüge Wahrheit, aus Betrug Verantwortung, aus Egoismus Nächstenliebe.
Wer gibt schon gern seine Schwächen zu? Ist es nicht besser, wir decken über alles den Mantel der Amnestie? Und weiter geht's, genauso, nur diesmal heißt das Spiel: Soziale Marktwirtschaft und Kapitalismus ... Oder sollten wir nicht doch aus dem Ende der DDR lernen, daß nichts so sicher zum Untergang führt wie der Selbstbetrug ? Wir hatten uns fast alle auf Lebenszeit im real existierenden Sozialismus eingerichtet. Wer hat schon geglaubt, daß seine Berichte jemals von denen gelesen werden, über die er schrieb ? Ist es Feigheit, wenn wir den alten Irrtümern nicht ins Gesicht sehen wollen, oder haben wir keine Zeit dazu, weil wir schon wieder neuen Irrtümern hinterherrennen?
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Als Entschuldigung dient die angebliche Hexenjagd auf die ehemaligen Täter und ihre Zuträger. Doch wer heute noch von Hexenjagd spricht, ist nicht an Aufklärung interessiert. Wer Gaucks Recherchen als voreingenommen und inquisitorisch ablehnt und lieber ehemalige Führungsoffiziere zu Kronzeugen macht, weil er sie für unvoreingenommen hält, der ist nicht an der Wahrheit interessiert. Wer mitlügt, obwohl er es besser weiß, beteiligt sich an den neuen Machtstrukturen, die nicht besser sind als die alten. — Wem nützt es? Immer wieder wird diese abgedroschene Frage gestellt, wenn es darum geht, die Lügner, Heuchler und Mächtigen von gestern bloßzustellen, als hätten wir nicht vierzig Jahre Zeit gehabt, um zu lernen, daß es uns meistens nicht genutzt hat, wenn wir uns den Kopf der Regierenden zerbrochen und ihre Herrschaft unwidersprochen hingenommen haben.
Bisher hat noch kein Opfer gesagt, daß in den Akten nur Lügen stehen. Diese Behauptung ins Feld zu führen ist der letzte Schachzug derjenigen, die der Stasi-Mitarbeit beschuldigt werden. Damit wollen sie von ihrer Mitverantwortung ablenken. Wenn keine unehrlichen Verteidigungsreden mehr über die offenen Fragen hinwegschummeln können, werden die früheren Führungsoffiziere aus der Versenkung geholt. Die bezeugen dann unter Eid, daß sie ein Leben lang ihre Vorgesetzten betrogen haben, indem sie das Blaue vom Himmel herunterlogen. In den Akten sind angeblich nur zusammengetragene Ammenmärchen, die sich die Führungsoffiziere aus den Fingern gesogen haben. Diese Lügenbarone werden plötzlich zu den glaubwürdigsten Zeugen hochstilisiert. Wer wird sie wohl für ihren Lug und Trug belohnen?
Weder Gauck lügt, noch lügen die Akten. Sie waren die Arbeitsgrundlage von hunderttausend Mitarbeitern des MfS. Sicher sind die Berichte subjektiv gefärbt, sicher sind sie stellenweise vom vorauseilenden Gehorsam und den Wünschen des MfS-Mitarbeiters diktiert, denn auch er ist vom Lob seiner Vorgesetzten abhängig gewesen, wenn es um Gehaltserhöhung und Beförderung ging. Sicher gibt es punktuelle Unwahrheiten, doch nicht über einen längeren Zeitraum. In meiner Akte findet sich niemand, der gegen sein Wissen als IM geführt wurde.
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In der Initiative «Frieden und Menschenrechte» gab es zwei Auffassungen darüber, ob man bei Festnahmen mit der Staatssicherheit spricht oder nicht. Die einen lehnten alle Gespräche mit dem MfS ab. Andere meinten, daß diese Gespräche eine Chance wären, die eigenen Gedanken selbst darzulegen und so vielleicht den Vorwurf der Staatsfeindlichkeit auszuräumen. Aber auch sie sind nicht als IM geführt worden, sondern waren für das MfS «operative Vorgänge», denn ihre «staatsfeindliche» Meinung war im Ministerium für Staatssicherheit nicht gefragt.
Im Herbst '89 glaubten wir, trotz jahrelanger Sprachlosigkeit untereinander, endlich eine gemeinsame Sprache gefunden zu haben. Wir dachten, daß genug gelogen worden ist. Wir wollten, wie Vaclav Havel, endlich in der Wahrheit leben. Aber die Wahrheit ist immer noch abwesend.
Lange habe ich geglaubt, daß die DDR zu reformieren gewesen wäre. Erst die Akteneinsicht hat mich endgültig von diesen Träumen befreit. Ein Staat, der in immer größerem Maße die schlechten Eigenschaften der Menschen als Grundlage seines Bestehens braucht, sie über Jahre züchtet und belohnt, kann sich nicht aus sich selbst heraus erneuern. Das trifft auf jeden Staat zu. Er ist zum Untergang verurteilt.
Jetzt werden unsere Verkrüppelungen sichtbar. Die uns regiert haben, waren vielleicht in ihrer Jugend Menschenfreunde, aber sie wurden zu Menschenverächtern. Auch unter den Masken der biederen DDR-Bürger kommen die wahren Gesichter zum Vorschein. Jetzt müssen wir endlich den Mut haben, mit uns selbst ins Gericht zu gehen. Was haben wir versäumt? Warum beginnt meine Akte erst 1982? Was habe ich bis dahin getan? Mich selbst belogen, mit Halbwahrheiten zufriedengegeben, meine Meinung nicht laut genug und öffentlich gesagt, geglaubt, daß die Herrschenden zur Einsicht fähig sind, gehofft auf Veränderungen von oben. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, daß es mit halbem Herzen keinen Ausweg aus der Sackgasse geben wird, in der wir uns befinden, bis ich begriffen habe, daß überall die oben sich nur bewegen, wenn wir sie von unten drängen.
Vielleicht werden wir auch erfahren, wer die wirklichen Realisten sind angesichts der ausweglosen Lage, in der wir am Ende des Jahrhunderts sind.
Angeblich sind es die Pragmatiker, die versuchen, das aktuell Mögliche zu verwirklichen, auch wenn die Misere der bestehenden Kräfteverhältnisse dadurch stabilisiert wird — das ist der Preis, der durch das Ergebnis meist nicht gerechtfertigt wird. Vielleicht aber sind inzwischen diejenigen die Realisten, die die bisherigen Verhaltensmuster der gestalterischen Kräfte in der Gesellschaft grundsätzlich in Frage stellen, weil sie den Abgrund sehen, an den wir durch sie gebracht wurden.
Die Akteneinsicht ist der Super-GAU in der Politik, sagte neulich ein Journalist zu mir. Und er hat recht, denn kein Geheimdienst dieser Welt hat es bis dahin für möglich gehalten, daß seine mühsam gesammelten Informationen in allen Zeitungen zu lesen sind. Kein Politiker des Ostens oder des Westens hat bei seinen diplomatischen Spielchen daran gedacht, daß sie eines Tages in aller Öffentlichkeit bloßgestellt werden könnten. Durch die Akteneinsicht konnte endlich der Filz der Mächtigen etwas gelüftet und durchschaut werden.
Noch lange wird ihnen der Schrecken in den Gliedern sitzen, weil wir uns die Akten zurückerobert haben. Die dadurch erworbenen Erkenntnisse über Zusammenhänge und Zusammenarbeit von politischer und ökonomischer Macht jenseits aller Ideologien werden mehr Spuren in der Politik hinterlassen, als wir heute glauben. Auch aus diesen Befürchtungen heraus gibt es starke Bestrebungen, die Akten zu schließen. Aber die dicksten Betondeckel werden die Ausstrahlung des gesamten Materials auf unser Zusammenleben nicht verhindern. Deshalb müssen die Akten geöffnet bleiben und schnell gelesen werden.
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Aktenkundig # Schädlich # 1992