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6   Freya Klier:  Aktion «Störenfried»  -  Die Januar-Ereignisse von 1988 im Spiegel der Staatssicherheit 

 

 

Vorbemerkungen

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1. Im Januar 1988, nach Jahren des lähmenden Ringens um jeden Zentimeter Demokratie, blitzt unvermittelt der Ansatz einer Bürgerrechtsbewegung auf. Was auf der Staatsdemonstration um Luxemburg und Liebknecht eher harmlos begann, weitet sich rasch zu einem Eklat aus, der den Widerstand bündelt, die SED-Führung erschüttert und die Kirche aus ihrem vertrauten Arrangement reißt.

Der Ausgang der sogenannten «Januar-Ereignisse» ist bekannt, ihre Hintergründe liegen noch immer im dunkeln. Hat die Leitung der Ev. Kirche Berlins mit der staatlichen Macht gekungelt oder nicht ? Hatte der Westen seine < Finger > drin - und wenn ja, wie weit? Gab es (wie ich Manfred Stolpe vorwerfe und dieser von sich weist) einen Deal zwischen ihm und Honecker, der die Inhaftierten letztlich zur Manövriermasse machte ?

Fragen, über deren Antworten sich das beteiligte Krisenmanagement bis heute ausschweigt.

Wohl nicht ohne Grund: Der Drang zu vertuschen, was hinter den Kulissen ablief, war offenbar so groß, daß der gesamte Vorgang aus den Akten betroffener Bürgerrechtler herausgesäubert wurde — in meinen eigenen ist er akribisch bereinigt.

Doch wieder bewährt sich die Gründlichkeit der einst auf <endlos> ausgerichteten «Firma»: Mehr als 300 Aktenseiten für die heißen drei Wochen haben sich zu Forschungs- und Dokumentationszwecken zusammentragen lassen - Tagesprotokolle, IM-Be-richte, Extrakte geheimer Gespräche. Die Gedächtnislücken der Verantwortlichen können aufgefüllt werden.

 

2.  Zweck der folgenden Chronologie ist nicht die Suche nach IM's. Oder ketzerischer: Mich interessierte beim Studium der Dokumente nicht, ob Stolpe nun der « Sekretär » war (wovon ich persönlich überzeugt bin) oder nicht. Wichtiger scheint mir die politische Dimension seines Wirkens bzw. das der anderen Juristen und Kir-chenoberen. Taktische Winkelzüge werden also nicht auf ihre unanfechtbare Moral hin abgeklopft (eine Kategorie, die ohnehin am Aussterben ist, auch in weniger geschlossenen Gesellschaften), sondern an der Frage gemessen: Was war bereits im Januar 88 an Demokratisierung in der DDR möglich ? Was haben Männer wie Stolpe letztlich bewirkt, was verhindert - in einem Winter, der unter klaren, auch für Geheimdienstler erkennbaren politischen Prämissen stand:

- Schon seit drei Jahren ringt die sowjetische Führung um einen Ausweg aus den Verkrustungen ihrer Gesellschaft.

- Nicht nur die SU, auch die DDR ist moralisch bankrott; das Bedürfnis, diesem Land den Rücken zu kehren, ist - vor allem in der jungen Generation - sprunghaft gestiegen.

- Ein Ende der DDR als Staat ist nicht in Sicht - und damit weder im Bewußtsein von Bürgerrechtlern noch Kirchenverantwortlichen noch Staatsorganen.

Was also war unter diesen Bedingungen möglich, was verantwortbar?

 

3. Nicht nur von selten des Kirchenapparates, auch unter Bürgerrechtlern werden die «Januar-Ereignisse» von 88 auffällig verdrängt. Doch auch für uns selbst bietet die umfangreiche Aktenlage die Chance, einen Kulminationspunkt der eigenen, nicht schmerzlosen Geschichte genauer zu beleuchten, das noch immer in den Köpfen wuchernde Gestrüpp von Mauerkrankheit und persönlicher Courage, Verletzung und politischer Fehlsicht zu entwirren.

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Ein Tip zur Gebrauchsanweisung:

Nun, da die Vorgänge aus Geheimdienstsicht erhellt werden, haben wir auch die Sprache seiner Informanten und Protokollanten hinzunehmen. Sie mag uns befremdlich anmuten — und was bei einem Mann wie Schnur pietistisch verquast daherkommt, faßt ein Hauptamtlicher vielleicht in tumben Klassenkampfjargon. Der Extrakt der obersten Kontrollgruppe wiederum liest sich schon beinahe sachlich.

Mögen also die Zitierten (einschließlich der Autorin) daran herummäkeln, es so nicht ausgedrückt zu haben — das Wesentliche der Aussagen dürfte einigermaßen präzise erfaßt sein... und nicht grundlos lobt beispielsweise ein Oberst Wiegand seinen Schützling Schnur (dessen Berichte er von Zeit zu Zeit mit seinen Abhörprotokollen vergleicht) für dessen Zuverlässigkeit.

 

SONNTAG, 17. JANUAR 1988

Am Morgen des alljährlichen Kampf- und Gedenktages wird das gefrorene Ritual um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in einem Maße aufgesprengt, das Staatsapparat und Kirche für Wochen in Atem hält. Die nun folgenden Tage werden als «Januar-Ereignisse von 88» in die DDR-Geschichte eingehen und in die Stasi-Akten als «Aktion Störenfried».

Klein scheint zunächst der Protest und überschaubar: Ein paar «Störenfriede» haben sich auf den Weg gemacht, um mit unerlaubten Transparenten öffentlich Menschenrechte einzuklagen. Auf den meisten der bepinselten Laken finden sich Worte von Rosa Luxemburg.

Die Stasi ist voll im Bild und hat schon im Vorfeld des 17. Januar ihre Mannschaften in Alarmbereitschaft versetzt. Die «Störenfriede» kommen also nicht weit: Sie werden — wie Stephan Krawczyk — entweder an der nächsten Ecke festgenommen oder — wie Vera Wollenberger und Herbert Mißlitz — in greifbarer Nähe eines Marschblockes. Wolfgang Templin und Ralf Hirsch gelangen gar nicht erst vor die Tür, sie stehen seit dem Vorabend unter Hausarrest.

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Einer Gruppe von etwa 30 Leuten gelingt es, am weitesten vorzudringen. Doch auch sie wird noch rechtzeitig umzingelt und so lange mit roten Fahnen zugewedelt, bis gestählte Kräfte die verhaßten «Kamerateams der BRD» aus dem Blickfeld gerempelt haben. Verladen und abtransportiert wird die Gruppe erst, nachdem die kampfliedsingende Führungsriege bereits die Gedenkstätte am Rande Berlins erreicht und Genosse Egon Krenz das Wort ergriffen hat.

 

Wer sind diese 30 Leute, deren Präsenz an diesem Januartag die Beteiligung anderer Bürgerrechtler an der Demo in so auffällig bescheidenen Grenzen hält (denn außer Wollenberger, Mißlitz und Krawczyk haben sich lediglich noch drei junge Mitarbeiter aus der Umweltbibliothek auf den Weg gemacht, und das offenbar nur aufgrund eines Übermittlungsfehlers)?

Auf den ersten Blick sind es DDR-Bürger «wie du und ich» - Angestellte, Arbeiter, Wissenschaftler. Auf den zweiten - den Staatsblick - Feinde «wie du und ich». Feinde wie alle Bürgerrechtler. Auf den dritten aber - und den werfen wir Bürgerrechtler - sind es Verräter, Egoisten, Schlaraffen. Ihnen haftet jenes Stigma an, das in der großen Schicksalsgemeinschaft DDR inzwischen als das übelriechendste gilt - das Stigma des Ausreiseantrags. Für die Kirche zu dieser Zeit ein Tabu mit Schulterschluß, treibt der «Ausreise-Verrat» zumindest eine säuerliche Miene auf das Gesicht jedes DDR-fixier-ten, tapfer kämpfenden Bürgerrechtlers. Als sich ein paar Ausreisewillige im Herbst 87 - unter Mithilfe der bleibewilligen Regina Templin - zur «AG Staatsbürgerschaftsrecht» zusammenschließen, scheint die staatliche Strategie ihrer gesellschaftlichen Isolation erstmals durchbrochen. Die Gruppe wird rasch zur Anlaufstelle für Gleichgesinnte und damit für die Staatsorgane zu einer bedrohlicheren Gefahr als die überschaubaren (und satt IM-besetzten) Gruppen der «operativ hinlänglich bekannten » Dissidenten. Die Stasi weiß bereits vor dem 17. Januar, was die Kirche in den folgenden Wochen nun schmerzhaft zu spüren bekommt: daß hier ein Tor geöffnet wurde, das sich geräuscharm nicht mehr schließen läßt. Daß bereits auf jeden tapferen, dem Staat zentimeterweise Demokratie abtrotzenden Bürgerrechtler etwa zwanzig Menschen kommen, die nur noch eines wollen - raus aus diesem erstarrten Land!

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Ohne deren Ansturm auf die Kirchen (der sie nun rasch zu <doppelten Störenfrieden> macht) sind die Januar-Ereignisse von 88 nicht vorstellbar, hätten sie zumindest einen anderen Verlauf genommen:

Die Gruppe der Ausreisewilligen entpuppt sich schon bald als Hydra, der anstelle jedes in den Westen entsorgten Kopfes zwei neue nachwachsen.

Ohne sie wäre alles anders gelaufen. Ich selbst hätte beispielsweise an der Demo teilgenommen - so, wie im Herbst zuvor von Krawczyk und mir geplant (und geplant ausschließlich für uns zwei). Im Herbst schon hatten wir aus unserem Lieblingsaufsatz «Zur russischen Revolution» jene Luxemburg-Zitate rausgesucht, die am 17. Januar dann unter anderen Pullovern verschwanden, um wenigstens für Sekunden zum Transparent zu werden.

Bereits im Dezember 87, als die «AG Staatsbürgerschaftsrecht» beschließt, ebenfalls an der Luxemburg-Demo teilzunehmen, wird mir mulmig. Ich akzeptiere diese Gruppe ohne Vorbehalt... doch gemeinsam mit ihr zu Rosa? Nein, das muß nicht sein. So frei im Kopf bin ich nicht wie die beiden Templins oder Krawczyk, der ihnen großzügig unsere Losungen aufbereitet. Ein bißchen heilig ist mir Rosa schon: Ich sage also sehr kurzfristig ab - und entgehe damit meiner Verhaftung am 17. Januar, die für die Stasi bereits fest eingeplant ist.

 

MONTAG, 18. JANUAR 1988

Der Beginn einer Woche kirchlicher Hilflosigkeit.

Gegen Mittag trifft Konsistorialpräsident Manfred Stolpe samt Propst, Oberkirchenrat, Superintendent und Stadtjugendpfarrer im Staatssekretariat für Kirchenfragen ein, um die staatliche Erwartungshaltung entgegenzunehmen. Stolpe bedauert die Aktionen vom 17. Januar, fordert jedoch Behutsamkeit von beiden Seiten - die staatliche Seite habe zu schnell reagiert, dadurch die Lage verschärft. Stolpe sichert zu, mit den Basisgruppen zu diskutieren. (Die anderen Würdenträger sind offenbar nur Beiwerk, über ihre Redebeiträge verliert die Stasi kein Wort.)

Gegen 18 Uhr versammeln sich die Basisgruppen in der Galerie der Umweltbibliothek, unter ihnen die Angehörigen der verhafteten Ausreiseleute. Nicht erwünscht sind die «Vertreter westlicher Massenmedien», sie werden vom verantwortlichen Pfarrer in den UB-Keller verbannt.

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Ratlosigkeit schwingt über den Köpfen, als Anwalt Wolfgang Schnur über die Zahl der Verhafteten informiert, über eingeleitete Ermittlungsverfahren und Möglichkeiten des rechtlichen Beistands für Angehörige. Daß er schon hier herausstellt, es werde insbesondere gegen Stephan Krawczyk ermittelt, da bei ihm noch ein zusätzlicher Verdacht auf strafbare Handlungen bestünde, erfahre ich im nachhinein — ich selbst bin nicht am Ort, ich wohne gerade meiner Hausdurchsuchung bei.

Also entnehme ich den Akten: Schnur warnt dringend vor unüberlegten Aktionen - gegenwärtig sei eine Situation eingetreten, wie er sie noch nicht kenne, er schätze die Entschlossenheit der Organe für sehr hoch ein.

«Konsistorialpräsident Stolpe», so meldet dann der Stasi-Tagesbericht, «informierte über sein Gespräch beim Staatssekretär für Kirchenfragen und betonte, daß die Kirche sich mitjedem solidarisiere, der Menschenrechte vertritt. Jedoch wäre es ungeeignet, die Staatsmacht mit der Beteiligung von alternativen Gruppen an der Gedenkveranstaltung für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu provozieren. Stolpe orientierte die Anwesenden darauf, in geeigneten Formen von spontanen Bewegungen Abstand zu nehmen.» (i)

Seine Worte fallen auf fruchtbaren Boden. Doch in diesem offenen Raum beschränken sich die Gruppenvertreter lediglich auf Solidaritätserklärungen, den Frust redet man sich anschließend im internen ' Kreis vom Leibe:

«Nach anfänglichen Protesten von Regina Templin und Ralf Hirsch kam es zu einer fast einhelligen Ablehnung der Aktion am 17. i. 88, die eindeutig von der <AG Staatsbürgerschaftsrecht> initiiert und getragen wurde.» (2)

Die Stimmung von Kirchenleitung und Basisgruppen liegt dicht beieinander - selbst im internen Kreis entscheidet sich die Basis-Mehrheit für ein Nein in bezug auf Mahnwachen. Man tendiert zu längerfristigen Aktionen, zu Blumengängen ans Grab von Luxemburg und Liebknecht.

Meine eigene Temperatur überschreitet schon an diesem Abend den Grad der Besonnenheit, ich erlebe eine tiefschwarze Stunde:

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Während einer bis 19.15 Uhr dauernden Hausdurchsuchung wird ein großer Teil meines im Untergrund mühsam erarbeiteten Buchmanuskriptes beschlagnahmt. Später schreibe ich im «Abreiß-Kalen-der»: «Pedantisch blättert sich ein rotnasiger Staatsanwalt durch die Seiten, kommentiert ab und zu vernichtend, läßt einpacken. Kämpfe verzweifelt um jedes Blatt, versuche wenigstens Teile des <Drecks>, der (widerlichen Schmierereien) zu retten. Mit geringem Erfolg - der Staatsanwalt droht mir schon jetzt ein Ermittlungsverfahren an. Ich möchte schreien... das ist die Arbeit von anderthalb Jahren. Verliere die Nerven und renne ins Kinderzimmer, die Frau hinter mir her -scharf verbiete ich ihr, sich zu setzen...»

Ich schreie nicht, ich reiße mich zusammen: Genau 45 Minuten nach der Hausdurchsuchung beginnt meine Lesung «Kultur und Evangelium» — in jener Kirchgemeinde, in der zwei Stunden zuvor noch Schnur und Stolpe zur Besonnenheit gemahnt hatten. An der noch am gleichen Abend stattfindenden Hausdurch­suchung bei Stephan Krawczyk nimmt statt meiner der «operativ bekannte Reinhard Schult» teil.

Stephan wird nun wohl einen Verteidiger brauchen — völlig klar, daß dafür nur Wolfgang Schnur in Frage kommt, unser enger Vertrauter. Schnur verfügt bereits über unser gesamtes Vermögen, vom Lada bis zum Kinderstrumpf: Wir haben es ihm vor Wochen überschrieben, da wir mittlerweile mit 14.000 Mark Ordnungs­strafe für unsere Kirchenauftritte belastet sind und den Staatsorganen durchaus zutrauen, unser gesamtes Mobiliar zu pfänden.

Beinahe hätte Schnur ja auch zu unserer Familie gehört. Er hatte sich in Krawczyks geschiedene Frau verliebt - ein Pech, daß sie nicht wollte (wobei wir sie als Frau verstehen). Doch politisch sind wir herzeins: Vor Tagen erst bin ich mit dem Magdeburger Bürgerrechtler Jochen Tschiche zusammengetroffen - streng konspirativ, versteht sich! -, um erstmals über die Gründung einer Oppositionspartei in der DDR nachzudenken. Eingeweiht wurde ausschließlich RA Schnur, als juristischer Fuchs und Dritter im Bunde.

Gut, er ist etwas weich, etwas gebeutelt von der Sorge, die alltäglich auf ihm lastet. Doch das Wichtigste beim Verteidiger in einer Diktatur ist das Vertrauensverhältnis, und da fällt uns niemand anders ein als Wolfgang Schnur.

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Wer ahnt zu dieser Zeit, was tatsächlich auf ihm lastet ? Heute lese ich in seiner IM-Akte, daß wir für IMB «Torsten» alias IMB «Dr. Ralf Schirmer» (sein zweiter Deckname ab Januar 88) nichts als «Feinde», «fanatische Gegner» sind, «die behaupten, in der DDR gäbe es keinen Sozialismus». (3)

Als Krawczyk verhaftet wird, hat Schnur längst und sehr detailliert an Oberst Wiegand durchgegeben, was wir so mühsam zu verbergen suchen. Schnur eifert. Und gibt in pietistisch-klassenkämpferischem Stil kleine Tips, wie wir am besten auszuschalten sind — meine Untersuchungsergebnisse für das geplante Erziehungsbuch hat er natürlich längst verpetzt (3 u. 4), doch die dürfte der Stasi-Oberst längst kennen.

 

DIENSTAG, 19. JANUAR 1988

Draußen im Land probt die Staatssicherheit den Ausnahmezustand: Freunde rufen aus Sachsen und Thüringen an — ihre Solidaritätstelegramme werden von der Post zurückgewiesen, da hier der Verdacht auf «Fernrottung» vorliege. Mein Telefon schrillt unaufhörlich, viele wollen helfen, doch wie? Der Briefkasten füllt sich mit Sympathiebekundungen und Geldspenden.

Am Abend, in der UB-Galerie, dann wieder ein «Treffen feindlich negativer Kräfte». Diesmal zählt die Stasi schon 150 Personen, darunter viele Ausreisewillige, den Pfarrer des Hauses, Konsistorialpräsident Stolpe und RA Schnur. Auf leisen Sohlen die West-Journalisten, sie schleichen vergebens. IMB «Martin» meldet: «Die BRD-Journalisten mischten sich unter das Volk und hielten sich gedeckt.»

Ich arbeite mich an Schnur heran. Der raunt mir zu, er habe Krawczyk noch nicht sprechen können, wisse aber, daß die Inhaftierten der «AG Staatsbürgerschaftsrecht» ihn in ihren Verhören schwer belasteten. Das Gift wirkt: Von nun an hat die Ausreise-Gruppe eine Sympathisantin weniger, mich.

Schärfer als am Tag zuvor fallen die Bewertungen der Demo-Aktion aus. Stolpe betont, daß «der Staat die Vorkommnisse vom 17.1.1988 sehr ernsthaft verfolge» (5), und auch Schnur weiß, daß «die jetzige Situation ernster sei als die im November 1987» (6) — damals stürmten Staatsorgane die Umwelt-Bibliothek.

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Inzwischen sind auch die Ermittlungsverfahren eingeleitet: Sämtlichen «Störenfrieden» wurde der Paragraph 217 für «Zusammenrottung» verpaßt, für Krawczyk gibt es noch einen Paragraphen drauf. Ich habe dringenden Handlungsbedarf, die Solidaritätser-klärungen wirken auf mich wie eingeschlafene Füße. Froh kann IMB «Martin» seiner Firma melden: «Anträge zur Aufnahme von Mahnwachen wurden nicht gestellt und auch diesbezüglich keine Entschlüsse gefaßt. Insgesamt war eine allgemeine vorsichtige Zurückhaltung vorhanden, wobei auch Personen, die sich für Power aussprachen, zurückgehalten wurden.» (7)

Ich werde gleich doppelt zurückgehalten. Zunächst erspäht mich ein IM auf dem Hof der Zionskirche, im Gespräch mit Stolpe und einem Journalisten. Ich bitte Stolpe um eine Drehgenehmigung für den nächsten Abend in der Elias-Kirche: Ich möchte ein Statement fiir Krawczyk abgeben, der hier, da er keiner Gruppe angehört, zwar Sympathien, aber keine seiner Lage angemessene Fürsprache findet.

Die Drehgenehmigung für eine offene Veranstaltung wird abgelehnt, eine bescheidenere Variante jedoch hält Stolpe für durchaus möglich - falls sich die Lage zuspitzt.

Der zweite «Korb» kommt von unerwarteter Seite. IMB «Martin» : «Es kam in der UB-Galerie zu einer Auseinandersetzung zwischen Freya Klier und Bohley und Fischer. Klier hatte eine Erklärung zur Forderung der sofortigen Freilassung von Krawczyk vorbereitet, die sie jedoch auf Betreiben von Bohley und Fischer nicht verlesen durfte. Daraufhin verließ sie wütend und zornig die Veranstaltung. »(8)

Tatsächlich klaffen die « strategischen Überlegungen » bereits weit auseinander. Das Gros der Basis-Gruppen (vor allem die kirchlich nicht geschützte «Initiative für Frieden und Menschenrechte») will jede Eskalation vermeiden, man fürchtet weitere gezielte Festnahmen. Für mich dagegen ist die Eskalation bereits erfolgt - ich fürchte, daß die Staatsorgane nun Krawczyks Paragraphen-Latte genau in dem Maße hinaufschrauben, wie «Besonnenheit» geübt wird. So verständlich mir die andere Position ist, auf mich wirkt sie wie die Doktrin eines selbsternannten Zentralkomitees.

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Doch ich bin nicht die einzige, die gerüffelt wird: Im internen Gruppenzirkel wird Regina Templin in die Mangel genommen (wie gleich zwei IMs frohlocken). Man wirft den Templins vor, die «AG Staatsbürgerschaft» zur Demonstration aufgerufen und damit die eigene Gruppe gefährdet zu haben.

Was niemand ahnt: Die Anklageschriften für «Landesverräterei» sind schon seit dem frühen Dezember 87 gestrickt. Für die optimale Maschenkombination zeichnen (laut Aktenlage) die Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität sowie Verfassungsschutzüberläufer Hans-Joachim Tiedge verantwortlich.

Zur Nacht wenigstens noch ein Trostpflaster für die Basis-Gruppen: Die Chefs der «Kirche von unten» haben Stolpe für Donnerstag 15 Uhr eine Pressekonferenz abgetrotzt - in kirchlichen Räumen, unter Beteiligung von Vertretern der Basis-Gruppen.

MITTWOCH, 20. JANUAR 1988

Am Abend darauf rückt die Kirchenleitung bereits in größerer Besetzung an (zwar ohne Schnur heute, doch dafür mit Lothar de Maiziere).

Etwa 250 Menschen drängen sich im Saal der Elias-Gemeinde - den fremden Gesichtern nach wohl mehrheitlich Ausreisewillige. Die Gesichter «westlicher Diplomaten und Korrespondenten» (deren KFZ-Kennzeichen eine halbe Aktenseite füllen) sind beinahe schon vertraut; ihr <0utfit>, bei aller Dezenz, zieht den Späherblick an und lenkt ihn unweigerlich auf ihre leicht geblähten Manteltaschen.

Manch einer ist frecher. IMB «Wolf» berichtet: «Vor dem Eingang des Gemeindehauses stand ein VW-Bus der Westmedien, während der Zusammenkunft schnitt eine männliche Person (vermutlich Korrespondent, unterhielt sich oft mit Hirsch) die Diskussion mit einem Tonbandgerät mit.» (9)

Die Rollenverteilung ist unverändert, die Stimmung gereizter. Ein neuer Propst wird eingeführt, danach läßt einer der tapfersten Pfarrer die Solidargemeinde an seinem politischen Blackout teilhaben : Er schwärmt von seinem heutigen Gespräch mit Redakteuren der FDJ-Zeitung «Junge Welt». Deutlich habe er da Kooperationsbereitschaft verspürt - nun sei es an der eigenen Seite, einen Schritt entgegenzugehen...

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Die neue Nachricht für die erregten Gemüter: Die Inhaftierten hat man inzwischen aufgeteilt - die Bleibewilligen zu RA Schnur, die Ausreisewilligen zu RA Vogel bzw. Lothar de Maiziere.

Kurz muß man sich heute fassen, noch eine andere Veranstaltung steht auf dem Programm von <Elias>. Bei der «Kirche von unten» zeigen sich erste Anzeichen von Mißmut. Geradezu wuchtig dagegen die Signale derer, die ihren Blick einzig auf das Nadelöhr Ost/West richten - sie haben nichts zu verlieren als ihren verhaßten blauen Personalausweis.

Mit einem geschickten Manöver wird die ausufernde Stimmung vom Stadtjugendpfarrer kanalisiert: Jede Gruppe möge nunmehr zwei Vertreter ernennen, mit denen anschließend im Stadtjugendpfarramt weiterdiskutiert werde. Die Absicht liegt auf der Hand: Ist die amorphe Masse von Ausreisewilligen erst einmal auf zwei Sprecher reduziert, fallen die unter zwei Dutzend anderen Delegierten nicht mehr ins Gewicht.

Am Spätabend kommen noch einmal knapp dreißig Vertreter «politisch feindlicher Gruppierungen» in der Wohnung von Bärbel Boh-ley zusammen. Nach Einspeisung aller Wanzen-Notate und Spitzelberichte bringt die Auswertungs- und Kontrollgruppe der Berliner Staatssicherheit dieses Treffen anschließend auf einen für mich noch heute nachvollziehbaren, realistischen Punkt:

«Durch die gegenwärtige Situation ist erneut zu verzeichnen, daß Widersprüche und Differenzen zwischen den Gruppen überspielt werden (Solidarisierungseffekt). Durch das von anderen Gruppen in der Republik entgegengebrachte Interesse, einschließlich der Teilnahme an Aktivitäten, fühlt man sich einem Erwartungsdruck ausgesetzt, ohne daß bisher Klarheit darüber herrscht, wie weiter vorgegangen werden soll.» (10)

An dieses halbnächtliche Treffen (ich habe es im «Abreiß-Kalen-der» bewußt ausgespart) erinnere ich mich in all seiner Bitterkeit. An diesen befremdlichen Ruch von ZK, der mich bisher wenig tangiert hatte. Ich kenne die meisten in dieser Runde, mit einigen bin ich befreundet. Doch zusammengearbeitet habe ich bisher mit Stephan Krawczyk, mit verschiedensten Einzelpersonen sowie den Gruppen «draußen in der Provinz», deren Vernetzung wir über unsere Kirchenauftritte seit einiger Zeit intensiv betreiben. Draußen begreift man nicht, was hier so stockt und bremst.

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An diesem Abend scheitere ich völlig:

«Freya Klier machte den Vorschlag, <linke> Künstler des Westens zu beeinflussen, die DDR zu boykottieren, um die DDR-Künstlerver-bände unter Druck zu setzen. Dazu will sie bis zum 22.1.1988 ein Papier entwerfen. Weiterhin will sie die SPD auffordern, das Abkommen mit der SED vom August 87 bis zur Freilassung der Inhaftierten nicht zu verwirklichen. Dieser Vorschlag fand kaum Zustimmung.» (10)

Ich bleibe, mühsam lächelnd, in der Runde sitzen und beschließe den absoluten Alleingang.

Die Abfuhr ist nicht persönlich gemeint, sie trifft auch andere:

Wolfgang Templin beispielsweise «setzte sich für die volle Einbeziehung der <AG Staatsbürgerschaftsrecht> in die <Initiative> ein, blieb aber mit seiner Meinung in der Minderheit und verließ deshalb vorzeitig die Versammlung.» (10)

Reinhard Lampe (ein Vikar, der sich am 13. August wie Christus ans Fensterkreuz seiner Wohnung gehängt hatte und der vom «Spiegel» anschließend unter Zusage völligen Stillschweigens aus dem Knast gedealt worden war) taucht mit einer gut durchdachten Idee auf, «... die aber von den Anwesenden abgelehnt wurde, da hiermit nur dem Staat eine erneute Handhabe geliefert werde.» (10)

Sorgfältig notiert Oberstleutnant Offenhaus (Leiter der Stasi-Auswertungs- und Kontrollgruppe) die an diesem Abend von der Mehrheit gesetzten Akzente:

«Der Vorschlag, ein Mahnwachen-Büro in einem Raum des Konsistoriums einzurichten, wurde abgelehnt. Man will lieber mit bescheideneren Mitteln improvisieren.

Die Durchführung einer < Pressekonferenz) wurde ebenfalls abgelehnt. Auch Stolpe sei dagegen. Lediglich Hirsch zeigte Interesse an einer stärkeren Einbeziehung der westlichen Medien.» (10)

Favorisiert wird alles, was zahm ist: «Durchführung eines Luxemburg-Seminars im Rahmen der Kirche; Anbringen von Luxemburg-Bildnissen in Kirchenräumen; regelmäßiges Blumenniederlegen am Karl-Liebknecht-Gedenkstein.» (10)

Doch wenigstens die erste Mahnwache wird festgelegt: Übermorgen, in der Auferstehungskirche, soll es losgehen — bis dahin aber der

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Beschluß möglichst geheimgehalten werden. (Ein frommer Wunsch bzw. Witz aus dem Unterbewußtsein: Von den an diesem Abend Anwesenden erweist sich vier Jahre später ein Drittel als Stasi-Mitarbeiter).

Ein paar Notizen am Rande des Tages:

«Zur Gesamtsituation vertrat Eppelmann die Ansicht, daß profi-lierungssüchtige Personen am Werk sind, die persönliche Vorteile erhoffen. So habe er z. B. Krawczyk von dem geplanten Vorhaben abgeraten, aber kein Gehör gefunden. Da er vorher nicht hörte, könne er ihm hinterher auch nicht helfen.

Eine Bitte des operativ bekannten Martin-Michael Passauer zur Unterstützung der Inhaftierten lehnte Eppelmann kategorisch

ab.» (10)

Was den mediensüchtigen Pfarrer allerdings nicht an einem Fern-seh-Interview hindert.

Ibrahim (Manfred) Böhme hat an diesem Tag seinen blutigen Auftritt. Er sei auf nächtlichem Heimweg von zwei unbekannten Männern zusammengeschlagen worden und sieht tatsächlich böse aus. Ein (wie wir alle) ahnungsloser IM notiert: « So war sein Gesicht stark entstellt und an mehreren Stellen war die geschwollene Haut geplatzt. Darüber hinaus habe er Schmerzen im Brustkorb und Unterleib.» (11)

Ich bezweifle bis heute, daß das ein «Martyrium um der Sachen willen» war-die Folgewirkungen widersprechen der gesamten Stasi-Strategie in diesen drei Wochen: Böhmes Anblick steigert lediglich die Wut auf diesen Staat und seine Organe, sonst nichts. Böhme ist nicht der Mann für die brodelnde, hochkochende Stunde - er ist zu leise, auch besitzt er in diesen Tagen noch keinerlei Autorität. Die Schürf- und Platzwunden in seinem Gesicht bleiben auch nach Akteneinsicht rätselhaft.

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DONNERSTAG, 21. JANUAR 1988

Während ich meinen (in der Nacht verfaßten und unter der Bettdecke abgetippten) «Künstler-Appell» deponiere und Gruppen-Vertreter sich auf den Weg zu couragierten Berliner Gemeinden machen, um sie für <umlaufende> Mahnwachen zu gewinnen, führt Konsistorial-präsident Stolpe ein Gespräch mit Genossen Heinrich vom Amt für Kirchenfragen. Diesmal ganz ohne «Kirchenschleppe», redet er eher Fraktur. Genösse Heinrich (inzwischen als Stasi-Offizier im besonderen Einsatz enttarnt) an seine Firma:

« Nach Stolpes Meinung ist es offensichtlich, daß die abgelaufenen Aktionen generalstabsmäßig geplant, von außen gesteuert und mit logistischen Mitteln geführt wurden. »(12) Stolpes «ganzes Bemühen sei darauf gerichtet, für Beruhigung zu sorgen und ganz im Sinne der Linie vom 6. März 1978, an der er unbedingt festhalten wolle, weder weitere Störungen noch Belastungen zuzulassen. Das mache teilweise ungewohnte Maßnahmen gegenüber den Gruppen notwendig, die mancherorts Irritationen hervorrufen könnten.» (12)

Schon im vorhinein also bittet der Konsistorialpräsident um Verständnis, «wenn jetzt mit ungewohnter Rede auf diese Gruppen eingewirkt wird. Nicht alles lasse sich hier mit rationalen Mitteln erklären und klären. Krawczyk z. B. sei völlig außer Kontrolle geraten und wolle unbedingt und um jeden Preis zum Märtyrer werden» (12), (wobei Stolpe sich auf mich beruft).

Mahnwachen und Fasten werde er auf jeden Fall verhindern, doch ganz ohne staatliche Hilfe geht es nicht. Genösse Heinrich: «Für ihn seien die Westmedien das größte Problem. Es sei sein Wunsch, daß wir ihm wenigstens die elektronischen Medien vom Hals halten. Die Presse sei ja sowieso überall drin. Um sie draußen zu halten, müßte man Ausweiskontrollen einführen.» Und damit nichts im Raum stehenbleibt, «erklärte Stolpe, er habe in den Morgenstunden dem Deutschlandfunk ein kurzes Interview gewährt, das sei aber so gehalten, daß es unbedingt zur Beruhigung beitragen könne.» (12)

Alles, was der Konsistorialpräsident unternimmt, trägt zur «Beruhigung» bei. So ist die für heute nachmittag anberaumte Pressekonferenz beispielsweise zu einem Insiderplausch zusammengestutzt worden, in dem sich Reinhard Schult, Bärbel Bohley, Uwe Kulisch

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und Freya Klier über ihre derzeitigen <Bauchschmerzen> austauschen — nicht vor einer West-Kamera, versteht sich, sondern vor der Videolinse eines befreundeten Amateurs. Im Konsistorium, unter Aufsicht eines von Stolpe bestimmten Juristen.

Aus dem gefürchteten Strom ist ein Bächlein geworden.

Als ich jedoch anschließend meinen Appell aus der Tasche ziehe, wird der Jurist nervös, er holt Stolpe. Der entscheidet, der Appell darf aufgezeichnet werden - er entscheidet es freilich, ohne ihn durchgelesen zu haben.

Als er den Raum verlassen hat, presse ich die Wut der ganzen letzten Tage in meinen nun ausschließlich auf Krawczyk zugeschnittenen «Appell an bundesdeutsche Künstler und Schriftsteller». Obwohl ich weiß, daß der Text ans <Eingemachte> geht — immerhin rufe ich zum vorübergehenden Kulturboykott der DDR auf —, ist die Aufzeichnung für mich wie ein Befreiungsschlag. Unten, im Schatten des Konsistoriums, wartet Ralf Hirsch: Er leitet die Videokassette dorthin weiter, wo eine öffentliche Wirkung in Aussicht steht - an einen Korrespondenten der ARD. (Für Hirsch, wie die Akten zeigen, ein weiterer Baustein zur Besiegelung seines DDR-Daseins).

Abends, auf dem Gottesdienst der im Grenzgebiet liegenden Andreas-Markus-Gemeinde, zeichnet sich eine neue Qualität des Widerstandes ab. Geradezu unkontrolliert hoch geht es her, und diesmal auch von Seiten der Bleibewilligen. Nach einer religiösen Einleitung verliest « eine weibliche Person eine gemeinsame Eingabe feindlicher Zusammenschlüsse an den Staatsrat der DDR, in der gegen das Vorgehen der Sicherheitsorgane am 17. l. 88 protestiert sowie die Freilassung der Inhaftierten, die Einstellung der Ermittlungsverfahren und die Einstellung sämtlicher Repressalien gegen gesellschaftlich Engagierte gefordert wird.» (13)

Der Applaus ist gewaltig, die Reaktion von Wolfgang Schnur zumindest geistesgegenwärtig: Er habe ja mit all seinen Mandanten gesprochen. «... Wenn sie die Auswirkungen vorher erahnt hätten, wären sie nicht zur Demonstration gegangen. Laut Aussage von Schnur soll selbst Krawczyk geäußert haben, auf keinen Fall Mahnwachen durchzuführen, da diese alles kaputt machen würden. Aus seinen Gesprächen mit der Staatsanwaltschaft schätzte Schnur ein, daß von selten des Staates keinerlei Repressivmaßnahmen geduldet

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werden würden. Sollten derartige Festlegungen für Aktionen getroffen werden, sehe er sich gezwungen, die Mandate niederzulegen.» (14)

Pfiffe, manche rufen «Erpressung» -doch niemand mißtraut dem Anwalt, man findet ihn allenfalls zu weich. Ich gehe, da ich Stephans Verhalten merkwürdig finde, davon aus, man habe ihm «etwas in den Kaffee» geschüttet.

Und wie läuft Stolpes Taktik an diesem Abend ?

Mahnwachen und ähnliche Aktionen müsse er in seiner Position selbstverständlich ablehnen (er tut dies der Aktenlage nach ziemlich rigoros). Doch zugleich äußert er überzeugend sein Verständnis für die Erregtheit und versichert die Solidargemeinde erneut der Unterstützung der Kirchenleitung. Um diesen Willen zu unterstreichen, verliest er einen ermutigenden Brief von Bischof Forck, der seinen Urlaub abgebrochen hat und auf dem Weg nach Berlin ist.

In dieser Erklärung wird nun auch das geforderte Kontaktbüro zugebilligt - in den Räumen von Generalsuperintendent Krusche (der inzwischen seine «Nähe» zur Staatssicherheit eingestanden hat).

Während so der Konsistorialpräsident das Gefühl vermittelt, es ginge voran, bindet er zugleich mit einem geschickten Schachzug noch seine < Pappenheimer > ein: «Bezüglich der Besetzung des Kontaktbüros sprach Stolpe die <Initiative> direkt an, mit der Bemerkung, daß sie hierbei ihre Standhaftigkeit beweisen könne.» (14)

FREITAG, 22. JANUAR 1988

Der erste «Störenfried» sieht sich plötzlich auf freiem Fuß, sein Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.

War alle Befürchtung umsonst ? Mit starkem Beifall wird der Exinhaftierte Mißlitz am Abend unter den <Freien> begrüßt. Noch vehementer allerdings applaudieren die 350 Frierenden in der kalten Auferstehungskirche dem Überbringer der frohen Botschaft: RA Schnur, dessen hartnäckige Sanftmut nun offenbar doch den ersten Gefangenen aus der Haft gebrochen hat. Er, der stille Kämpfer, will es auch bei den anderen schaffen:

«Für den 25.1.1988, 9.00 Uhr, habe Schnur einen weiteren Gesprächstermin mit dem Generalstaatsanwalt. Ferner erhielt Schnur

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die Zusage, Gespräche mit den noch in Haft befindlichen Personen Wollenberger, Krawczyk und Schlegel zu führen» (15), notiert die Hauptabteilung XX in ihrem Tagesbericht zur «Aktion Störenfried».

Gedämpfte Euphorie breitet sich über die Gemeinde - eine Stimmung immerhin zum Überhören von Nebensätzen: «In seinen Ausführungen betonte Schnur, ohne jedoch näher darauf einzugehen, daß Krawczyk Schwierigkeiten hätte.» (15)

Die hat Krawczyk allerdings, denn bevor Schnur an diesem Abend zur Kirche eilt, hat er bereits ein strammes Zersetzungspensum hinter sich. Zunächst den «Sprecher» mit seinem Mandanten, bei dem Schnur volle Konzentration brauchte, um diesen auszuhorchen und geschickt zu desorientieren. Der Inhaftierte hat in aller Ahnungslo-sigkeit das Messer für den eigenen Rücken geschliffen: Um den Stasi-Wanzen kein Futter zu geben, schrieb Krawczyk dem befreundeten Anwalt politisch heikle Interna auf ein Blatt Papier, das Schnur schlußsicher in seinem Aktenkoffer verschwinden ließ. Mit diesem Aktenkoffer setzt er sich nun nach dem «Sprecher» in seinen Wagen und fährt weit hinaus nach Königs Wusterhausen. Unterwegs verwandelt er sich in «Torsten» bzw. «Dr. Ralf Schirmer», denn am Bahnhof Königs Wusterhausen erwartet ihn - wie schon am Tag zuvor - sein Führungsoffizier, Stasi-Oberst Wiegand. Schnur kann handfestes schriftliches Material liefern: Für Krawczyk bedeutet das den § 100 (Landesverräterische Agententätigkeit), den Wiegand sogleich mit einem dicken Ausrufezeichen versieht. (16)

Abends, in der Kirche, bricht die überraschende Entlassung des ersten Inhaftierten der für heute vorgesehenen Aktion die Spitze ab -die erste Mahnwache wird dem Prinzip Hoffnung geopfert.

Der Konsistorialpräsident ist optimistisch - «seiner Auffassung nach versuche der Staat ebenso wie 1987 einzulenken.» (15)

Stolpe informiert noch über ein Gespräch zwischen Bischof Werner Leich und dem Staatssekretariat für Kirchenfragen. Leichs Gesprächspartner nennt uns der Tagesbericht: Es ist wiederum der Genösse Heinrich. Doch was der als Essenz des Gesprächs herausstreicht, weicht deutlich von der Stolpeschen Interpretation ab. Für die Solidargemeinde faßt der Konsistorialpräsident zusammen:

«Dabei seien zwei neue Aspekte sichtbar geworden - humanerer Umgang mit Ausreisewilligen

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- neue Kultur des Streits werde im Land gebraucht.» (15) Für seine «Firma» aber faßt Genösse Heinrich zusammen:

«Dabei wurde staatlicherseits die Erwartungshaltung deutlich zum Ausdruck gebracht, zu der Bischof Leich volles Verständnis zeigte und die Zusicherung tätigte, daß seitens des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR keine Eskalation auf andere Landeskirchen zugelassen werde.» (15)

Die geplanten Initiativen des Abends lesen sich, als sei die «Firma» bereits die aktivste Kraft:

- Ein Bürgerrechtler (inzwischen als IM enttarnt), fordert zu weiteren Blumengaben am Liebknecht-Gedenkstein auf.

- Ein Pfarrer (inzwischen als IM enttarnt) meldet sich für die erste Soli-Andacht am Montag.

- Die «Initiative für Frieden und Menschenrechte » wird morgen ihr Gespräch mit der Kirchenleitung vorbereiten - in der Wohnung eines (inzwischen als IM enttarnten) Mitgliedes der Gruppe. 

Außerhalb Berlins sporadische Versuche von Solidarität - eine Veranstaltung in einer Leipziger Kirche, eine Aktion von Freunden in Dresden.

 

SAMSTAG, 23. JANUAR 1988

• Unter dem Motto «Gott ist treu» wohne ich (ohne dies zu wissen)

meinem letzten DDR-Gottesdienst bei. Ein entmutigendes Finalerlebnis : 300 Menschen, immerhin, zählt die Stasi - in der 2000 fassenden Gethsemane-Kirche verlieren sie sich wie ein tapferes Häuflein.

Der Tagesbericht bündelt die Stimmung: «Während der Diskussion, die insgesamt zwar ruhig, aber internen Hinweisen zufolge teilweise von Interessenlosigkeit gekennzeichnet war und <trostlos> verlief, wurde auf das Nutzen der Möglichkeit verwiesen, auch weiterhin Blumen in der Gedenkstätte für Rosa Luxemburg in der Prenz-lauer Allee niederzulegen... Es war die Tendenz erkennbar, die Andachten auf wöchentlich eine zu reduzieren.» (17)

Wenigstens Ordnung ist in die Solidarität gekommen. Inzwischen existiert ein «Aktionsstab» mit vier Untergruppen, man stellt sich auf Langfristigkeit ein. Die Ausreiseleute nicht, von ihnen geht noch immer die größte Motorik aus:

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« Der vorgesehene Auftritt eines Mitglieds der Gruppe < Staatsbür-gerschaftsrecht> wurde insbesondere durch das Eingreifen von Pfarrer ... und weiteren Personen verhindert (gewaltsames Wegziehen von Mikrofonen und Aufforderung, derartige Propaganda zu unterlassen).» (17)

Dabei geht es der Gruppe weniger um Action - die Leute sind kopflos nach dem sogenannten « Enthauptungsschlag» (all ihre an der Luxemburg-Demo beteiligten Gruppenmitglieder sind inzwischen nach Gießen abgeschoben); sie brauchen neue Kontaktadressen, brauchen die Hilfe der Kirche für den ersehnten Landeswechsel.

Ich selbst verlasse Gethsemane an diesem Samstag restlos niedergeschlagen.

Aus der Sicht der führenden Genossen dürfte die Woche einigermaßen überstanden sein. Aus der Sicht der Kirchenleitung auch: Sie hatte - im engen Verbund mit Schnur und RA Vogel - zur Wochenmitte schon einmal versucht, Krawczyk zu einem < sanften Abtritt) in Richtung Westen zu bewegen (18). Noch hat es nicht geklappt, doch man wird sehen. Ekklesia geht nach all den Strapazen erst mal ins Wochenende.

Die Stasi nicht. Langsam zieht sie ein Netz um mich zusammen, vor allem aber konzentriert sie sich auf den Feind hinter der Mauer:

«Die Feindperson Roland Jahn/WB setzte auch im Berichtszeitraum ihre umfangreiche Wühl- und Zersetzungstätigkeit gegen die DDR fort und stimmte diese mit Vertretern westlicher Massenmedien und weiteren Kräften politischer Parteien ab.» (17)

Zu deutsch: Unser Freund (ein Bürgerrechtler aus Jena, der 1984 mit Handschellen in den Westen expediert wurde) versucht, wenigstens von West-Berlin aus ein paar Solidaritätsraketen steigen zu lassen. Gerade ihn aber hat die « Firma» scharf im Visier - in der großen Agenten-Farce, die ab kommenden Montag steigen soll, hat man ihm die Rolle des logistischen Führers, die Rolle eines westlichen Geheimdienstlers zugedacht.

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MONTAG, 25. JANUAR 1988

Überraschend setzt in den frühen Morgenstunden eine zweite Verhaftungswelle ein: Aus den Betten geholt werden fünf Mitglieder der «Initiative für Frieden und Menschenrechte» und ich.

Die erste aus den Akten erkennbare Reaktion kommt aus der Kirche : Zwischen 13 und 14 Uhr tagt im Zimmer von Propst Hans-Otto Furian ein Krisenstab - mit Bischof Forck, RA Schnur, Konsistorial-präsident Stolpe, Präses Manfred Becker, dem Propst und dem Stadtjugendpfarrer.

Es geht darum, «wie die neue Situation zu beurteilen ist und wie abgesichert werden kann, daß auf keinen Fall in der gegenwärtigen Phase Mahnwachen oder andere Aktionen beginnen.» (19)

Der Bischof schlägt einen Bittgottesdienst vor - für nächsten Samstag, die Abendandachten bis dahin sollen verkürzt laufen. Stolpe wird seine Kontaktfäden ziehen, um kirchlicherseits «die Truppe» in Atem zu halten, staatlicherseits aber «vernünftige Entscheidungen» zu erreichen. Klar ist, die Runde will sich zu den Inhaftierten bekennen, nicht aber zu deren Inhalten, Aktionen und Handlungen.

Fein säuberlich werden bereits an diesem Mittag die Inhaftierten vom Konsistorialpräsidenten sortiert. Schnur meldet seinem Füh,-rungsoffizier, Stolpe persönlich «hat mit der Inhaftierung von Freya Klier die Bestätigung dafür bekommen, daß hier ein Stachel gesetzt worden ist, der möglicherweise beim Unterlassen doch zu anderen Ergebnissen geführt hätte...» (gemeint ist mein Künstler-Appell) «... und betonte auch nochmals, daß das Kernproblem bei der Lösung der Gesamtsache bei den Leuten Krawczyk stehe und deshalb der Hauptschwerpunkt auf diesen beiden Personen liege, weil er persönlich dann davon ausgeht, daß unterschiedliche Möglichkeiten der Lösung des Konfliktes für die anderen Personen bestehen.» (19)

Im Vieraugengespräch teilt Stolpe dem Rechtsanwalt dann mit, wie er sich die Chancen der anderen Inhaftierten wünscht:

«Bei Ralf Hirsch betonte er, wird das nicht eine inhaltliche Frage sein. Dort wird es durch das bestehende Arbeitsrechtsverhältnis dokumentiert. » (19) Übersetzt: Bei Hirsch besteht eine gewisse Engagementpflicht, denn Hirsch ist bei der Kirche angestellt.

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Zu Werner Fischer, Regina und Wolfgang Templin hat der Konsi-storialpräsident noch keine konkrete Meinung, wohl aber zu Bärbel Bohley: «Bei Bärbel Bohley betonte er jedoch, daß diese in einer besonderen Schutzposition der Kirche stehen wird, weil sie ausdrücklich beauftragt worden sei, nachdem das Mahnwachenbüro ausgesetzt worden ist, bestimmte funktionelle Kontakte für Kirchenleitung, Kirchgemeinden mit abzusichern. Außerdem geht er auch davon aus, daß Bärbel Bohley die Person gewesen ist, die in all den letzten Zeiträumen in keiner Weise die Sache angeheizt hat und aggressiv aufgetreten ist, vielmehr sie zur Besonnenheit und zum vernünftigen Denken die oft erregten Gemüter ermahnt habe. Er geht deshalb davon aus, daß die Kirchenleitung sich voll zur Person von Bärbel Bohley bekennen wird.» (19)

Nachdem also die Betragenszensuren verteilt sind (und Schnur damit die Handlungslinie gesteckt ist), ergreift der Krisenstab die Initiative : Bischof Forck setzt ein Schreiben an den Generalstaatsanwalt auf, mit der Bitte um eine Besuchserlaubnis bei den Inhaftierten, um diese seelsorgerisch zu betreuen.

Stolpe widmet sich zunächst dem < Kernproblem bei der Lösung der Gesamtsache), den < Leuten Krawczyk>: Er datiert ein längst vorhandenes Schreiben auf den 25. l. 88 um, das er nun «Persönlich und Vertraulich!» an Herrn Rechtsanwalt Schnur adressiert. Hierbei handelt es sich um die gleiche Offerte, die uns bereits am 15. November 87 ans Herz gelegt wurde - ein Zweijahresvisum für die Bundesrepublik.

Die Situation im vergangenen Herbst: Wir sind für die Kirche zu einer extremen Belastung geworden. Nachdem die Staatsorgane dazu übergegangen sind, nicht nur uns, sondern demonstrativ auch Kirchgemeinden für unsere Auftritte mit Ordnungsstrafen zu belegen, kippen die Auftrittszusagen nach dem Domino-Prinzip. Im gleichen Maß aber, wie die Kirche ihre schützende Hand von uns abzieht, ziehen die Staats- und Sicherheitsorgane die Daumenschrauben an. So beschließen wir, eines der letzten Konzerte Krawczyks in einer Berliner Kirche zu nutzen, um eine scharfe Kritik an die Verursacher der gesellschaftlichen Lähmung zu richten:

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In einem vierseitigen <Offenen Brief> an Kurt Hager fordern wir für die DDR den Kurs Gorbatschows, fordern wir zudem eine der leerstehenden Fabriketagen im Prenzlauer Berg, um «unsere Vorstellungen von sozialistischer Kunst umsetzen zu können.» Das Original des Briefes tragen wir am Nachmittag des 9. November zum ZK der SED. Den vollen Textlaut aber verliest Stephan Krawczyk dann am gleichen Abend öffentlich nach seinem Konzert in der Samariterkirche — anschließend zieht er zig Exemplare aus seinem Bandoneon-Koffer und verteilt sie unter den Zuhörern. Pfarrer Eppelmann ist stinksauer.

Stolpe wird kurz darauf zum stellvertretenden Oberbürgermeister für Inneres bestellt - der Staat fordert nun den kompromißlosen Rausschmiß von Krawczyk aus der Kirche. (20) Der Krisenstab tagt.

Am 15. November 87 dann kommt Bischof Forck in meine Hinterhofküche und bietet uns im Namen der Kirchenleitung einen zweijährigen Studienaufenthalt in der West-Kirche an. Wir lehnen ab, wollen uns statt dessen zum Arbeiten in die eigenen vier Wände zurückziehen.

Der Vorschlag an diesem 25. Januar 88 nun ist verlockender gehalten - ohne materielle Probleme sollen wir «unsere künstlerischen Gaben entwickeln» können, bei Wiedereinreisemöglichkeit nach zwei Jahren. (21) Nachdem er Schnur also mit besagtem Papier ausgestattet hat, fährt Konsistorialpräsident Stolpe selbst (wie letzte Woche verabredet) zum Genossen Heinrich. Der faßt zunächst noch einmal sein Gespräch mit Bischof Leich zusammen und erinnert an dessen Zusage, den Solidaritätsfunken nicht auf die Sprengel außerhalb Berlins überspringen zu lassen.

Danach beschwert sich Genösse Heinrich «über die am Wochenende von Bischof Forck den Westmedien zugespielte Stellungnahme. Das stünde in völligem Gegensatz zu dem, was er, Heinrich, mit ihm, Stolpe, abgesprochen habe. Stolpe zeigte sich außerordentlich betroffen und kleinlaut über die inzwischen entstandene Lage sowie die aktuellen Entscheidungen des heutigen Tages. Er zeigte sich voll informiert über die Inhaftierungen und betonte, daß damit eine neue Qualität entstanden sei.» (22)

Nach dem Rüffel allerdings versucht der Konsistorialpräsident geschickt, das Management aus der Achse ZK-Hardliner/Justiz in die

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eigenen Hände zu lenken: Er zeigt völlige Einsicht in die Verhaftungsmaßnahmen («Wer so etwas durchlasse, würde seine Autorität verspielen» [22]) und wiederholt seine «Erklärung aus dem letzten Gespräch, daß er seinen ganzen Einfluß geltend machen wolle, um eine Eskalation zu verhindern und das Ganze im begrenzten Rahmen zu halten.» (22) Doch dann äußert er «unverbindliche» persönliche Gedanken, «ob es denn nicht nützlich sein könnte, wenn Vertreter der Kirchen mit jenen Inhaftierten sprechen könnten, die eng mit der Kirche verbunden sind, ob man nicht den Staatsanwalt sprechen könne...»(22)

Genösse Heinrich läßt Stolpe abblitzen - das Ganze habe nichts mit Kirche zu tun, «hier handele es sich um Fragen, die in der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft liegen und nach den Gesetzen der DDR behandelt werden.»(22)

Dennoch: Diplomat Stolpe läßt beim Abgang seinen <weichen> Vorschlag der Flurbereinigung zurück - eine Kopie seiner Künstler-Lösung für Krawczyk/ Klier. Er weiß: Genösse Heinrich wird für ihn wie eine Streudose funktionieren (und so hat auch Honecker das Papier bereits am nächsten Tag auf dem Tisch). Zudem hat Stolpe noch andere Trumpfkarten in der Hand: Morgen wird er sich mit Egon Bahr treffen (der eigens der «Krise» wegen kommen will), darüber hinaus über seine ökumenischen Stränge «die Staatsführung an ihr Außengesicht erinnern». (19) Und - ein Gespräch mit Generalstaatsanwalt Wendland ist bereits avisiert, für diese Woche noch.

Nur zu den « Störenfrieden » vermag er selbst nicht vorzudringen - das bleibt allein Schnur vorbehalten.

Der nun macht sich zügig ans Werk. In den nächsten Tagen widmet er sich fast ausschließlich den «Leuten Krawczyk» - die Paare Templin und Bohley/Fischer sehen eine Woche lang keinen Rechtsanwalt. Lediglich Ralf Hirsch wird noch in Schnurs Abschußprogramm aufgenommen (wofür er nicht das grüne Licht von Stolpe hat).

Seinen Duzfreund Stephan nimmt er sich zuerst vor: «Bisher führte ich ein Gespräch mit Stephan Krawczyk und teilte ihm mit, daß seine Ehefrau inhaftiert worden sei. Es war deutlich zu spüren, daß diese Mitteilung eine starke Reaktion bei ihm auslöste. (19)

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Als Stephan bei der Nachricht meiner Verhaftung ganz unrevolutionär in Tränen ausbricht, weint Schnur plötzlich mit — die beiden liegen sich in den Armen. Doch der Anwalt bleibt wach:

«Aufgrund des verkündeten Appells von Freya, welchen ich ihm zu lesen gab, machte ich ihn aufmerksam, daß dies die Reaktion sei und daß damit wohl deutlich die Frage der Zukunft seinerseits und damit auch Freya Kliers mitbedacht werden muß.» (19) Nun holt er das Stolpe-Papier hervor, doch der Mandant beißt nicht an: «Er hatte es zunächst mehrfach gelesen und seine erste Reaktion war nein.» (19) Also setzt Schnur den Seelenbohrer an - und zwar präzise dort, wo er Krawczyks neuralgischen Punkt vermutet: bei meinem psychischen Zustand, der seit den Treibjagden der Stasi im Herbst nicht eben der beste ist. Trotz seiner Mittränen beobachtet der Anwalt scharf: «Bei einer sorgfältigen Analyse seiner psychischen Struktur ist hier deutlich zu beobachten, daß eine äußerst starke Abhängigkeit zu Freya Klier besteht und er jede Entscheidung sofort umstoßen wird, wenn sie von ihm fordert, so und so zu gehen. Er hat dann noch einen Brief mit einem kurzen Text geschrieben, der ausschließlich ein Bekenntnis seiner Liebe zu Freya sein soll.» (19)

Es bleibt nicht der einzige Kassiber, den Schnur seinem Führungsoffizier vorlegen kann - am Ende des «Sprechers» schlägt mir Stephan, um mich zu schonen, vor, auf das Angebot der Kirche einzugehen. .

Das Manipulieren läßt sich also optimal an, und so eilt Schnur noch am Spätnachmittag zum «Sprecher» mit Klier:

«Freya Klier habe ich dann als letzte gesprochen. Zunächst weinte sie auch und wollte persönlich doch nicht begreifen, daß ihre Hoffnung auf eine Freilassung von Stephan sich nicht erfüllt hat.» (19) Also versucht er es mit der soeben bewährten Methode: «Zunächst versuchte ich, ihr die besondere Belastungs­situation für Stephan darzustellen, daß er doch aufgrund ihrer Inhaftierung sehr in Sorge ist und er über Wege der Zukunft nachdenkt.» (19)

Schnur zeigt mir die beiden Kassiber und legt das Stolpe-Papier dazu: «In diesem Zusammenhang gab ich ihr die schriftliche Erklärung und es war deutlich spürbar, die erste Reaktion war ein totales Nein und wird als Verrat an der Sache angesehen. Sie wolle sich nicht in den Reigen einreihen und hier sichtbar machen, daß sie zu den Künstlern gehört, die jetzt die Flucht in den Westen suchen.» (19)

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Wütend über die erneute Eilfertigkeit der Kirche schreibe ich Stephan zurück, daß er sich um meinen Gesundheitszustand keine Sorgen machen muß (ein Kassiber, den er nicht erhält). Und nun beginnt Schnur mit seiner Knetarbeit - die Tochter, die eigenen «Gaben», mein Egoismus. Doch während er bei Krawczyk auf Anhieb die Stelle erwischt hat, wo das Lindenblatt lag, wird er meine erst beim nächsten «Sprecher» herausfinden (Schnur «vergißt» nämlich, mir mitzuteilen, daß heute morgen nicht nur ich verhaftet wurde — genau jene Nachricht also, die mich später keineswegs stärken, sondern Schuldgefühle auslösen wird).

Es ist eine Frage der Zeit, und Schnurs Chancen sind einzigartig -er ist unser ausschließlicher Kontakt zur Außenwelt und zueinander. Und er liegt richtig mit seiner Selbsteinschätzung: «Wichtig scheint mir zu sein, daß davon ausgegangen werden kann, daß beide Krawczyks eine Vertrauensperson in ihrem Anwalt sehen.» (19)

Am Abend, während der Solidaritätsandacht, warnt Schnur erneut vor «spektakulären Aktionen», hält Stolpe «eine scharf akzentuierte Rede, in der er darauf verwies, daß der Staat mit der Aktion vom 17.1.1988 stark überfordert wäre. In dieser Situation sei ein besonnenes Handeln unvermeidlich, was auch die Vermeidung von Forderungen beinhalte.» (23) Später wird gruppenweise die Lage diskutiert. Sechs Vertreter der «Initiative für Frieden und Menschenrechte» (drei davon inzwischen als IM enttarnt) sitzen mit der Kirchenleitung zusammen, sie entschuldigen sich vor allem für «die Aktivitäten des Templin». (23)

In der Prenzlauer Allee werden die ersten zwei Schilder mit der Forderung nach unserer Freilassung gesichtet: «Die Tatverdächtigen wurden zugeführt», meldet der Stasi-Tagesbericht. (23)

Nachts, als alles zur Ruhe kommt, ist nur noch Schnur auf den Beinen. Die Fröstelstunden zwischen Mitternacht und 3 Uhr morgens verbringt er mit Stasi-Oberst Wiegand im Bahnhof Königs Wusterhausen - «Torsten» bzw. «Dr. Ralf Schirmer» hat viel zu erzählen.

Diese letzten drei Treffen mit seinem Werkzeug faßt Wiegand handschriftlich zusammen:

« Es erfolgte der Einsatz des IM zu den festgenommenen Personen,

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zur Einflußnahme/Beruhigung durch die Kirche sowie zur Erarbeitung von Info. Der Einsatz des IM war operativ sehr wertvoll. Er brachte interne, bisher nicht bekannte Info

• zu einer Verbindung von Krawc. (§ioo!)

• zu Videoaufn. d. Klier sowie

• zum Sprecher bei « K.»

sowie Info zu den Veranst. in den Kirchen u. Verhalten kirchenleit. Personen. Der IM hat seinen Auftrag gut erfüllt. Die konsp. Überprüfung beim «Sprecher» ergab Ehrlichkeit des IM.» (24)

DIENSTAG, 26. JANUAR 1988

Im Potsdamer Schloßtheater begießen Funktionäre aus Ost und West eine neue Städtepartnerschaft. Dabei fällt der Bonner Oberbürgermeister Daniels unvermittelt aus der Rolle. Laut Stasi-Tagesbericht bezeichnet er «... abweichend vom vorbereiteten Text die Inhaftierungen als < schmerzlich > und forderte die anwesenden Abgeordneten dazu auf, sich für die Freilassung der inhaftierten Personen einzusetzen.» (25)

Denen entgleisen die Gesichtszüge. Die «Firma» aber macht sofort den Anstifter des Eklats aus - ARD-Korrespondent Börner, der ohnehin verdächtig eng mit der Opposition zusammenhängt: «Börner machte gegenüber Daniels deutlich, daß er (Daniels) aufgrund seiner CDU-Mitgliedschaft zu einem derartigen Schritt verpflichtet sei und gab zu bedenken, wie Daniels eine Zurückhaltung bzw. unklare Position gegenüber seiner Partei begründen wolle. Des weiteren äußerte Börner, daß die Bonner Delegation eigentlich abreisen könne, da die von der DDR durchgeführten Maßnahmen nicht mit einer Städtepartnerschaft zu vereinbaren seien.» (25)

Potsdam bleibt die einzige diplomatische Panne während der «Januar-Ereignisse» - die CDU wird sich später im Außenministerium der DDR für diesen Ausrutscher entschuldigen.

In der Haftanstalt legen mittlerweile sämtliche am Montag Inhaftierten Haftbeschwerde ein und fordern ihre Freilassung.

Der Schock kommt mittags mit dem « Neuen Deutschland » in die Zelle. Ich halte diesen Moment später in meinem «Abreiß-Kalender» fest: «Ahnungslos schlage ich die Zeitung auf. Plötzlich sticht mir

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mein eigener Name ins Auge! Und der von Stephan. Von Ralf, Bärbel, Wolfgang Templin. Was steht da? < Ermittlungsverfahren wegen landesverräterischer Beziehungen) schreit mir eine dicke Überschrift entgegen... Was ? Begreife zunächst überhaupt nichts, dann, daß das Ermittlungsverfahren gegen Stephan erweitert wurde... Was denn für geheimdienstliche Kreise ?

Nur schubweise dringt mir der Inhalt ins Bewußtsein. Was mit Bärbel, Ralf und Wolfgang passiert ist, begreife ich überhaupt nicht. Die Buchstaben tanzen vor meinen Augen, setzen sich immer wieder neu zusammen zu < Landesverräterisch) und <Geheimdienst>. In meinem Kopf herrscht Chaos, ich durchmesse die Zelle wie ein Läufer. Sehe in alter deutscher Schrift meinen Namen an der Litfaßsäule prangen: Landesverräter.

Und Nadja, was ist mit ihr? Wie soll sie sich wehren gegen diese Rufmordkampagne ?

Mir brennt die Sicherung durch. Am Nachmittag lehne ich das Gespräch mit dem Vernehmer rundheraus ab, raste dann aber aus und schreie. Auf so etwas war ich nicht vorbereitet, wußte nicht, daß es so etwas noch gibt in diesem Land.»

RA Schnur knöpft sich am Nachmittag beim «Sprecher» seinen Freund Ralf Hirsch vor. Sorgfältig wägt er zwischen Trost und Belastung, schiebt Hirsch aber schon mal vorsichtig den Hauptpart der «Landesverräterei» zu. In bezug auf ihn, der als <Koordinator der Westmedien> gilt, hat «Torsten» einen klaren Wiegand-Auftrag.

Auf dem abendlichen Gottesdienst herrscht noch immer schmerzliche Bravheit, desgleichen in den von der Stasi erlauschten privaten Debatten. Die Decke < Besonnenheit) erstickt noch jeden Funkenschlag. Lutz Rathenow, der zu einer Postkartensendung an DDR-Schriftsteller aufrufen will, wird heftig abgemahnt.

Hinter der Mauer kommt allmählich Solidarität auf, auch außerhalb Berlins rühren sich die ersten Geister - Cottbus, Schwedt, Zwickau. Alles im kirchlichen Rahmen, doch immerhin.

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MITTWOCH, 27. JANUAR 1988

Unter Ausschluß der Öffentlichkeit beginnt das Verfahren gegen Vera Wollenberger, die sich am 17. i. 88 «zusammengerottet» hatte. Lediglich Knud Wollenberger und Bischof Forck dürfen an der Prozeßfarce teilnehmen. Ich lasse mir das Strafgesetzbuch in die Zelle reichen: Wir «Landesverräter» haben den §100 (wofür 1-10 Jahre in Aussicht stehen), Stephan Krawczyk hat man den noch schärferen § 99 verpaßt (für den es 2-12 Jahre gibt).

In der abendlichen Galiläa-Gemeinde 500 Menschen. Schnur berichtet über die «korrekte Verhandlungsführung» im Wollenber-ger-Prozeß. Er habe Freispruch beantragt - werde das abgelehnt, will er sich für eine Bewährungsstrafe stark machen. Alle lieben Schnur.

Heute hat der Anwalt mit dem Konsistorialpräsidenten noch einmal die Lage besprochen. Er meldet, Stolpe beklage die ungünstige Konstellation; er befürchte, daß der Gesamtprozeß bei spontanen Aktionen «auch der Kirche aus der Hand gleitet und es dann überhaupt nicht möglich ist, irgendwelche Gespräche mit dem staatlichen Gegenüber zu führen.» (26)

Was den Prozeß gegen Wollenberger betrifft, wollen auch Stolpe und Bischof Forck sich für eine Verurteilung auf Bewährung verwenden.

Deutlich in diesem Gespräch wird, daß Stolpe nicht an einer unwiderruflichen Abschiebung von Oppositionellen, die in der DDR bleiben wollen, interessiert ist. Stolpe ist flexibler: Für ihn ist die Gruppe der Inhaftierten eine Art politischer Manövriermasse, bei der ihm nach wie vor die gestaffelte Lösung vorschwebt. Noch einmal weist er Schnur die Linie, noch einmal auch warnt er den Anwalt:

«Ein Kernproblem der Gesamtlösung sieht Stolpe für den Fall, daß es vielleicht doch gelingt, die Eheleute Krawczyk davon zu überzeugen, einen anderen Weg zu gehen. Hierbei hat er jedoch zur Vorsicht gemahnt, daß es nicht nachher im Nachgang heißen könne, die Eheleute Krawczyk seien durch kirchliche Manipulationen und den Verteidiger im Interesse des Staates in die Bundesrepublik abgeschoben worden. Er lege deshalb unbedingt Wert darauf, daß eine

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solche Lösung gefunden werden müsse, die deutlich macht, daß Krawczyks DDR-Bürger bleiben, daß sie jedoch mindestens für zwei Jahre einen Aufenthalt außerhalb der DDR nehmen. Hierbei beschränkte er sich nicht nur auf die Bundesrepublik. Hier sieht er dann auch eine Möglichkeit, ein Einlenken für den weiteren Personenkreis zu erlangen. Auch hier müsse differenziert geprüft werden, ob es Möglichkeiten für Personen gibt, die doch woanders bessere Chancen hätten.» (26)

Froh ist der Konsistorialpräsident auf jeden Fall, daß gestern Petra Kelly und Gert Bastian nicht einreisen durften, «weil sie hier nur eine Eskalation der Sache hervorbringen können.» (26)

Auch in Dresden, Weimar, Jena und Potsdam finden nun Andachten statt - in Leipzig hat sich eine Koordinierungsgruppe gebildet, die bereits kühner denkt als die silencium-involvierten Berliner.

DONNERSTAG, 28. JANUAR 1988

Dieser Tag wird sich mir später, nach der Enttarnung von Schnur, als ein Tag der geschickten Inszenierung neu entschlüsseln (auch das ein Irrtum, wie sich erst jetzt herausstellt).

Alles an diesem Tag paßt zueinander. Zunächst, auf dem Weg zum Verhör, werden von einer Stasi-Beamtin die Schuhe und leere Mantelhülle von Vera Wollenberger vorbeigetragen - ein derart makabres Bild auf dem menschenleeren Traktflur, daß ich den Konstrukten meiner «Geheimkontakte» zu Roland Jahn und Jürgen Fuchs diesmal nur schwer zu folgen vermag. Das mittägliche «Neue Deutschland» dann mit dem 8-monatigen Haftantrag des Staatsanwaltes für Wol-lenbergers «Rowdytum» verstärkt die Ahnung, daß das ZK nicht blufft, sondern tatsächlich durchgeknallt ist. Seinen Höhepunkt erreicht der Tagesschock jedoch am Spätnachmittag, nach mysteriösem Warten mit Zwischenbescheid in einer Zelle der Magdalenenstraße:

Die «Sprecher» mit meinem Anwalt werden von nun an zu dritt stattfinden. Ich zitiere aus «Abreiß-Kalender» :

« Elegant, im Sessel neben ihm - ein Kontrolleur! Was ist passiert ? Darf Schnur jetzt nicht mehr allein mit seinen Mandanten sprechen? Er ist hochgradig erregt, hat hektisch rote Flecken im Gesicht, die Begrüßung fällt hilflos aus. Etwas Drohendes lastet über allem...

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Einen Satz wiederholt er mehrere Male, unter großer Anspannung, dabei sieht er mich eindringlich an: <Es ist jetzt wichtig, daß Sie gut verteidigt werden.. .> Begreife nicht, was er damit ausdrücken will. Herrscht draußen der Ausnahmezustand ?

Wir sitzen voreinander, Schnur eingefallen, der Stasi-Typ glatt und adrett, ich wie benebelt. Tippe vorsichtig die Frage nach der Solidarität draußen an. Schnur schaut zu Boden, antwortet nicht. Nun will ich es wissen. Sind überhaupt noch Gottesdienste, und wenn ja, wie viele Leute ? Wieder Schweigen, dann leise: fünfzig.

Das ist ein Hieb. Der Stasi-Kontrolleur wippt mit dem Fuß, ich setze eine lockere Miene auf meine entgleisenden Gesichtszüge-dem gönne ich den Triumph nicht.

Fünfzig ist unmöglich, fünfzig kann nicht sein...

In der Nacht dann frißt sich die Hoffnungslosigkeit wie eine scharfe Lauge in mein Gemüt. Unerbittlich schiebe ich ins Bewußtsein, was ich bisher nicht an mich heranließ. Es ist aus.»

Was ich jedoch im Tagebuch - um Schnur für seine Weiterarbeit zu schonen - unerwähnt lasse: Der Anwalt kappt nicht nur die Solidarität draußen, er stochert auch geschickt in offenen Wunden. Und erwischt wie nebenbei den Punkt, an dem ich am empfindlichsten reagiere - das Schuldgefühl, mit meinem Appell die zweite Verhaf-' tungsrunde eingeläutet und andere mit in den Knast gezogen zu haben. Nur zweimal sanft angedeutet, um den Vorwurf sogleich in einen Trost für mich münden zu lassen. Doch der Stachel sitzt - weil die Wunde schon da ist. Ich habe mich verkalkuliert mit meinem Appell, herausgekommen ist eine Geiselnahme.

Ich rechne nun klar mit einem Schauprozeß. Und beschließe in dieser Nacht, Stephan zur Kapitulation zu überreden - noch vor Prozeßbeginn. So hat die Machtzentrale ihren Triumph und kann die anderen ohne Gesichtsverlust freilassen.

Die Strategie, die ich am folgenden Morgen beim Marmeladenbrot meiner verblüfften Zellengefährtin offenbare, ähnelt absurderweise der von Stolpe. Nur hat sie einen Haken - die Realität, von der ich ausgehe, existiert nicht. Meine Realität ist eine von Schnur geschaffene Fiktion. Von nun an wird alles, was ich tue, wie eine Keule auf Krawczyk und mich zurückschlagen.

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Die wohl absurdeste Episode an diesem Tag ist die mit der verhängnisvollsten Wirkung — der «Sprecher zu dritt». Die Akten weisen aus: Schnur wird tatsächlich von seinesgleichen bewacht. Denn die zuständige Staatsanwältin weiß im Januar 88 noch nicht, daß nicht nur sie, sondern auch Schnur der Stasi zuarbeitet. Sie aber ist es, die ihm an diesem Nachmittag einen Kontrolleur verpaßt — einiger Liebeszeilen wegen, die mir der Anwalt vor einer Woche zugesteckt hat, und zwar an jenem Tag, als Krawczyk in die erste Falle laufen sollte, Schnur also jedes Mißtrauen meinerseits ausschalten mußte.

An diesem Donnerstag nachmittag zwischen 15 und 16 Uhr wird Schnur von Staatsanwältin Richter in die Zange genommen. Er klagt seinem Führungsoffizier:

«Es wurde mir unterstellt, daß ich einen sogenannten Kassiber aus der Haftanstalt geschmuggelt hätte, um diesen an die Ehefrau von Stephan Krawczyk weiterzuleiten. Im Rahmen des eingeleiteten Ermittlungsverfahrens ist dieser persönliche Brief in der Wohnung von Freya Klier gefunden worden. Meinerseits soll gegen die Ordnung des Briefverkehrs verstoßen worden sein.» (27)

Schnur hat wohl Angst vor Minuspunkten bei seinem Führer:

«Ich habe ausdrücklich betont, daß der mitgenommene Brief dazu diente, in der gegenwärtigen Verfahrensphase gegen Stephan Krawczyk jede radikale Einflußnahme auch von Frau Klier zu verhindern. Ich sah es als meine Pflicht an, diesen Brief mitzunehmen.» (27)

Aus dieser Episode vermag der Anwalt enormes Kapital zu schlagen — daß ich mit diesem (bei meiner Verhaftung auf dem Nachttisch gefundenen) Liebeskassiber unser aller tapferen Anwalt derart in Gefahr gebracht habe, wird mir nach der Ausbürgerung kein DDR-Pfarrer verzeihen, kein Kirchenbonze, kein Friedenskämpfer.

 

Und was passiert noch an diesem Tag?

Während Vera Wollenberger an ihrem Urteil - die restlichen Inhaftierten in den Zellen am Vorwurf «Landesverrat» knabbern, sitzt die halbe Kirchenobrigkeit im Kino. Gemeinsam mit ZK-Sekretär Kurt Hager schaut man sich den DEFA-Film «Einer trage des Anderen Last» an. Da aber nur erlesene Christen am Ereignis selbst teilhaben dürfen, muß sich die abendliche Solidaritätsgemeinde (diesmal in der Paul-Gerhard-Kirche) mit einem Bericht aus zweiter Hand begnügen:

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« Präses Becker berichtete von der Veranstaltung im Filmtheater < International) in der Zeit von 17.00 Uhr bis 19.05 Uhr anläßlich der Premiere des DEFA-Films <Jeder trage des Anderen Last>. Dort habe er auch mit Genossen Hager sprechen können. Von diesem Gespräch zeigte er sich sehr beeindruckt.» (28)

Beeindruckender jedoch als der eitle Präses gestaltet sich im Stasi-Tagesbericht die Zunahme an Kraft und Widerstand - die Basisgruppen scheinen endlich Tritt gefaßt zu haben. Als kluger Schachzug erweisen sich nun die wechselnden Andachten, sie erzeugen auch unter Pfarrern eine zunehmende Solidarisierung. Ganz im Gegensatz zu Schnurs getröpfelten «50» wächst die Gemeinde an diesem Abend auf 800 Menschen an.

Erstmals zeigen sich Anzeichen einer Bürgerrechtsbewegung:

Zwar befinden sich die IMs im pausenlosen Einsatz, um < Öffentliche Erklärungen) nicht öffentlich werden zu lassen, doch die erste «Information an alle Basisgruppen der DDR» ist bereits in 500 Exemplaren abgezogen, und Spenden für die Inhaftierten wachsen ebenso an wie die Kontaktbüros draußen in der Provinz.

Auch die Wut nimmt zu, die Stimmung im Land wird gereizter. Unkontrollierte Aktionen und Drohungen bringen die Sicherheitsorgane auf Trab: «Die in Form von Losungen, Plakaten oder Hetzzetteln verfaßten Schriften richten sich vor allem gegen die Inhaftierung von Krawczyk und Klier. Ein als (Offener Brief > deklariertes anonymes Schreiben an das Stadtbezirksgericht Berlin-Lichtenberg bringt die Solidarität mit Krawczyk und den anderen Inhaftierten zum Ausdruck und droht Sprengstoffanschläge auf dem Hauptbahnhof in Magdeburg sowie in den Städten Dresden und Jena an.» (28)

Die Organe sind rundum im Einsatz. Sie melden Störungen aus:

«Karl-Marx-Stadt (4 Delikte), Berlin (2 Delikte), Magdeburg, Potsdam und Halle (je ein Delikt).» (28)

An der DDR-Grenze wird eifrig sortiert - Stänkerin Jutta Ditfurth muß draußen bleiben, EKD-Präses Jürgen Schmude darf hinein, er trifft sich am Abend im Konsistorium mit einer Kirchenleitungsrunde.

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Schnur (alias «Torsten» bzw. «Dr. Ralf Schirmer») faßt das Gespräch für die «Firma» zusammen:

Die Verstimmung über die SED-Führung ist beidseitig. Zwar beklagt Stolpe nach wie vor, daß «durch die Verzerrungen in den Medien der BRD die gesamte Situation angeheizt werde» (29), doch andererseits könne die Kirche auch nicht hinnehmen, daß gerade für diejenigen Nachteile entstehen, die in der DDR bleiben wollen.

Schmude sieht das SED-SPD-Papier gefährdet. Sowohl in der West-Kirche als auch im SPD-Vorstand mehren sich die Stimmen, «daß man sich nicht auf ein Dialogpapier verständigen kann und im wesentlichen die SPD eine Zurückhaltung zu den Ereignissen im Interesse des Dialogs genommen hat und dann doch von der SED-Führung kein Signal bestimmter Lösungen erfolgt.» (29)

Konsequenzen hat diese Erkenntnis keine, der Präses wird auf jeden Fall wieder einreisen dürfen: « Schmude hat in seinen Ausführungen in keiner Weise versucht, eine Anheizung der Situation vorzunehmen » (29), lobt Schnur.

Nachdem der Präses gegangen ist, erwägt die KL eine Reduktion der Andachten auf Dienstag und Freitag. Das jedoch dürfte schwierig werden, durch den täglichen Kirchenwechsel hat man - wie Stolpe zutreffend registriert - die Sache nicht mehr recht im Griff. Man erwägt, die Gerichtsverfahren abzuwarten, um dem Staat danach Bewährungsangebote für die Inhaftierten zu unterbreiten - eine Entlassung von Vera Wollenberger könnte schon jetzt dem «Abklingen der ganzen Sache dienen», da - wie Schnur weiß - «die Untersuchungshaft deutliche Spuren bei ihr hinterlassen hat und sie selbst keine Konfrontation suchen wird.» (29)

Am Tagungsort Hirschluch, an den sich die Kirchenleitung zum Wochenende zurückziehen wird, will man weitere Überlegungen anstellen.

 

FREITAG, 29. JANUAR 1988

Am Vormittag wird nun auch das Schnellverfahren gegen die Jungs von der Umweltbibliothek durchgezogen - bereits am Nachmittag beantragt der Staatsanwalt für sie 7 bzw. 8 Monate Haft.

Ich lasse mir, wie geplant, vom Vernehmer ein Blatt Papier reichen und beantrage beim Generalstaatsanwalt der DDR eine Sprecherlaubnis mit meinem Mann. Ich schreibe:

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«Ich trage mich aus Gründen persönlicher Diffamierung und der Entwicklung der Ereignisse mit der Absicht, die DDR-Staatsbürgerschaft abzulegen und auszureisen. Da es sich hierbei um eine schwerwiegende Entscheidung handelt, die ich nicht ohne meinen Mann treffen kann, bitte ich um einen baldmöglichen Sprechtermin mit meinem Mann. Freya Krawczyk.» (30)

Der Antrag schlägt ein wie eine Granate - Kopien davon werden gefertigt, sie kreisen in den Machtzentralen von Staat und Kirche -selbst im DDR-Schriftstellerverband wird später ein Exemplar gesichtet.

Stephan Krawczyk wird das Original gezeigt — er ist entsetzt, hält mich nach Schnurs gestriger Schwarzmalerei bezüglich meiner Psyche für derzeit nicht voll zurechnungsfähig. Also schreibt er zurück, wir sollten doch warten, uns erst einmal miteinander besprechen. Das nun ist eine Antwort, die niemandem ins Konzept paßt - sie verschwindet auf Nimmerwiedersehen - in der Tasche von Schnur, in den Akten der Vernehmer. Der Anwalt triumphiert: Schon am Nachmittag teilt er Ralf Hirsch mit, Krawczyk und Klier würden ausreisen, das sei bereits definitiv. Hirsch ist sprachlos.

Stolpe erwischt er erst später, denn der sitzt wieder beim Genossen Heinrich - es sieht nun ganz danach aus, als sei der Staat an einer Abschwächung des Konfliktes interessiert. Stolpe bereiten die in die Kirchen flutenden Ausreisewilligen Sorge. Spätabends deutet er Schnur an, «daß er eine Chance sieht, auch an dem Büro Dr. Vogel vorbeizukommen. Er nannte eine Zahl von 100 Problemfällen und diese sollten erfaßt werden und er wird dann versuchen, den Lösungsweg zu betreiben. Er brauche nur vollständig den Namen und die Geburtsdaten, mehr würde zunächst nicht erforderlich sein.» (31)

Ausreise-Anwalt Vogel ist zwar ebenfalls dick im Geschäft, doch bei Tagesausklang hat er plötzlich einen «komplizierten Fall übertragen» bekommen - Pfarrer Eppelmann schlußfolgert gegenüber Schnur, «daß Vogel extra eingeschaltet werden soll, um das Problem Krawczyk zu lösen» (31), Eppelmann vermutet Stolpe dahinter.

Während hinter den Kulissen geräuscharm rotiert wird, geht in der Erlöserkirche ein Benefiz-Konzert über die Bühne. Die Menge an diesem Abend ist auf 1000 Menschen angewachsen. Schautafeln mit den Biographien der inhaftierten «Initiative »-Leute sind aufgestellt, Krawczyks Lieder werden gespielt, die Schauspielerin Heidemarie

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Wenzel verliest unter starkem Applaus Brechts «Lob des Zweifelns». Der Beifall ebbt für kurze Zeit ab, als der «operativ bekannte Ibrahim Böhme » drei harmlosere Jazzgedichte vorträgt, um bei einem Redner wieder aufzubranden, der IM «Martin» besonders im Magen liegt:

«Der auffälligste Redner war Lutz Rathenow, der eine politisch scharfmacherische und aufwieglerische Erklärung von 10 jungen DDR-Literaten verlas. Diese fordern die Abschaffung der Zensur und die Freiheit des Wortes sowie die Freilassung der Künstler.» (32) Als die Punk-Band spielt, flattern Flugblätter von der Empore — «6o Stück... Form A4» zählt und mißt die Stasi.

Die Kirchenleitung erwischt an diesem Abend nicht die richtige Temperatur - weder Stolpe mit seinen Grüßen noch Schnur, der um Besonnenheit bittet und zum gemeinsamen Beten aufruft.

Die Stärke des Anwalts kommt heute eindeutig im Schatten des Konzertes zum Tragen, und IM «Martin» ist dabei:

«In der Zeit von ca. 21.00 Uhr bis 21.25 Uhr fand in der General-superintendentur der Erlöserkirche eine konspirative Zusammenkunft der <Initiative> statt, an der auch Rechtsanwalt Schnur teilnahm. Stolpe, der noch etwas mit Schnur zu besprechen hatte, hielt sich zum < Schmiere stehen> (eigene Worte) im Vorraum der Kirche auf. Schnur brachte zum Ausdruck, daß die Klier unter den Verhafteten der größte Schwachpunkt ist, daß sie die Nerven verlieren und sich in den Westen abschieben lassen könnte. Generell sei die Lage ernst und schwierig, mit schnellen Erfolgen ist nicht zu rechnen. Die Äußerungen des Rathenow hielt Schnur für unklug, da sie nur dazu geeignet sind, die noch kommenden Strafmaße zu erhöhen. Danach sind Schnur und Stolpe gegangen.» (32)

Die Staatssicherheit notiert für den 29. i. 88 insgesamt 19 Delikte der «staatsfeindlichen Hetze», davon 5 allein in Schwerin.

 

SAMSTAG, 30. JANUAR 1988

Die Fürbittandachten überziehen bereits das ganze Land. Hinzugekommen sind Protestformen, die in der DDR kaum noch möglich schienen. Den Akten entnehme ich, es sind vor allem junge Leute, die nun zu Aktionen übergehen — Jugendliche aus Stephans Konzerten, aus unseren Theaterauftritten, meinen heimlichen Interviewgruppen. Sie besprühen Fußgängertunnel und Häuserwände, drucken Flugblätter und Plakate.

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Aus den Provinzen meldet die Staatssicherheit: «Durch die terre-torialen Diensteinheiten wurden entsprechende Maßnahmen zur Täteridentifizierung eingeleitet.» (33)

In der Zelle ist es still, nichts läßt ahnen, was draußen hinter den Mauern vor sich geht. Der Verhaftungsschock ist vorüber, das Zellendasein hat erste Momente von Gewohnheit angenommen. Das Wachpersonal (im Gegensatz zu 1968, da ich mit Tausenden von Häftlingen den <Schikanen der Anonymität> ausgeliefert war) verhält sich diesmal auffallend korrekt. Dennoch ist dieser Samstag ein schwarzer - irgendwo hinter den Mauern hat meine Tochter Geburtstag. Es wird am Ende keinen Tag in diesem kurzen Zellendasein gegeben haben, in dem die Wirklichkeit und meine Vorstellung von ihr derart auseinanderklaffen.

Ich sehe leergefegte Straßen und Kindertränen hinter einer verriegelten Tür, bin mir nicht einmal sicher, ob meine Mutter noch nach Berlin gelassen wird. Ich denke den Ausnahmezustand als eine Verschärfung jenes Sonntags vor meiner Verhaftung, an dem die Organe mir bereits eine Kostprobe von <Ausnahmezustand> verabreicht hatten.

Das, wie gesagt, ist Zellenrealität. Draußen herrscht eine andere:

Die Gethsemane-Kirche platzt an diesem Abend fast aus den Nähten, 1500 Menschen sind zusammengeströmt. Darunter auch meine Mutter, meine Tochter, die von einer Welle der Sympathie, des Trostes getragen wird - ein Lied für sie zum Geburtstag, Geschenke, Gerd Poppe überreicht ihr einen Stapel Telegramme. Zur Seite des Geburtstagskindes, mit glänzenden Augen, Rechtsanwalt Schnur: Er wird mit Applaus überschüttet, ist längst zum Symbol geworden für einen zähen, aufopferungsvollen Kampf.

Noch in den biederen Stasi-Akten strahlt aus dieser Veranstaltung eine Kraft, wie sie erst anderthalb Jahre später wiederkehren wird, und dann schon im ganzen Land.

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SONNTAG, 31. JANUAR 1988

Noch immer ringt die «Kirche von Unten» um Mahnwachen, noch immer vergebens. Den Kurs Stolpes hat man inzwischen als « Hinhaltetaktik» durchschaut. Nach nunmehr «14-tägiger Besonnenheit» kündigen ihre «Vertreter aus zwölf Städten» der christlichen Obrigkeit die Spielregeln auf:

Nicht mehr nur im geschlossenen Andachtsrahmen, sondern frech nun auch über dpa fordert ihre Erklärung, «daß die Kirchenleitung ihre Räume und ihre Zeit für eine Mahnwache zur Verfügung stellt.» (34)

Nichts ist von der Kirchenleitung weniger beabsichtigt als das.

Durch Bischof Forck haben die mutigeren Kirchen des Landes seit gestern einen Fahrplan: Forck tritt für die Freilassung der Inhaftierten ein, distanziert sich jedoch von den Aktivitäten des 17. Januar. Er bittet «die besonders Betroffenen zu bedenken, ob ihr Vorgehen geeignet war, die Situation im Lande zu verbessern», die Staatsführung aber um «Vertrauen schaffende Entscheidungen». (35)

Diese (in Hirschluch gefertigte) Stellungnahme des Bischofs gilt als couragiertestes Papier dieser Wochen - doch es bleibt nicht nur hinter dem persönlichen Engagement des Bischofs selbst zurück, es verfehlt auch das «Gebot der Stunde». Wenn formuliert wird: «Die bestehende Rechtsordnung bietet nach Überzeugung der Kirchenleitung die Möglichkeit, zu gerechten und humanen Entscheidungen zu kommen» (35), so erhebt sich die Frage, wieso die «Rechtsordnung» der DDR nach 40 Jahren praktizierten Unrechts nicht endlich in Frage gestellt wird. Wer könnte das Anfang 88 leisten, wenn nicht die Evangelische Kirche der DDR: Sie verfügt zu dieser Zeit bereits über eine breite europäische Rückendeckung; auch gehören ihre Mitarbeiter ab «Pfarrer aufwärts» inzwischen zur «Kaste der Unberührba-ren» (laut Auskunft von RA Vogel achtet Honecker seit Jahren peinlich darauf, daß nicht aus Versehen ein Pfarrer in Haft genommen wird).

Doch nicht ein einziger Grundpfeiler wird während der «Januar-Ereignisse» von 88 ernsthaft in Frage gestellt. Die Evangelische Kirche verfügt über kluge und standhafte Mitstreiter, wie Tschiche in Magdeburg oder Propst Faicke in Erfurt. Doch es fehlt ihr (obwohl stets mit Chuzpe dementiert) an scharfen Analytikern - die Naivität beim Olof-Palme-Marsch im Herbst 87 bot dafür ein trauriges Zeugnis.

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MONTAG, 1. FEBRUAR 1988

Das «Kernproblem» steht vor einer überstürzten Lösung. Während weder Krawczyk noch ich wissen, daß heute wieder «Anwaltstag» ist, laufen die Telefone zwischen Ost und West heiß, wird zwischen Kirche und Staat schon seit gestern eruiert, wie unser «Abtritt» aussehen könnte und wer welchen Preis dafür zu zahlen hat.

Im nun schon vertraut-verquasten Schreibstil hält Schnur alias «Torsten» seinen Führungsoffizier auf dem laufenden:

« So wie zu erfahren war, hat Bischof Dr. Forck und Stolpe insbesondere, einen engen Kontakt zu dem Staatssekretär Rehlinger im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, indem dieser Stolpe mitgeteilt haben soll, daß man dem Generalsekretär der SED erhebliche finanzielle Angebote gemacht hat und daß zusätzlich in den Bemühungen die Bereitschaft mitgegeben ist, alle Personen aufzunehmen, die in die Bundesrepublik übersiedeln wollen. Es kam im Zusammenhang nun durch Forck und Stolpe eine Bemerkung darüber, daß es sich auf alle Personen bezieht, die derzeit in Haft mit den Berlin-Ereignissen sitzen.» (36)

So ganz scheinen die West-Partner den Krisenmanagern Ost jedoch nicht zu trauen, denn Stolpe ergänzt, «daß er von Rehlinger erklärt bekommen hat, daß Bonn genau prüfen wird, welche Personen tatsächlich durch eigene freiwillige Willensentscheidung in die BRD übersiedeln wollten. Nur bei einem Anzeichen von Erpressung oder des Feststellens des Abschiebens würde dies zu Konsequenzen führen.» (36) Am 4. 2. 88 werden sich Stolpe und Rehlinger diesbezüglich treffen (bis dahin allerdings dürfte schon einiges gelaufen sein).

Auf DDR-Seite hat der Konsistorialpräsident Erich Honecker an der Angel, dem er nun in einem Schreiben vom 1.2.88 einen kühnen Deal vorschlägt: Eine Ladung Ausreisewilliger (dazu als Morgengabe die Störenfriede Krawczyk und Klier) in den Westen (gegen gutes Geld, versteht sich) - die anderen Störenfriede dafür sang- und klanglos rauslassen, in die DDR.

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Es könnte ein perfektes Management werden - die Frage ist nur, ob Honecker, «der sich der Sache bereits persönlich angenommen hat» (36), überhaupt noch über die Macht verfügt, eigene Entscheidungen zu fällen. Stolpe ist darüber informiert, «daß erhebliche Gegensätze im Politbüro sind, die zu verschärften Auseinandersetzungen führen. Man wisse nicht, ob in der kommenden Woche Honecker noch Generalsekretär sei.» (36)

Stolpe sieht sich aber gerade dadurch in der Vorhand, daß «die SED-Führung in einer komplizierten schweren Lage ist und er deshalb auch so massiv seine Forderungen geltend machen kann, denn die DDR verkraftet den durch ihre eingeleiteten Maßnahmen, die sich als Schaden auswirken, nicht» (36), holpert Schnur.

Der Konsistorialpräsident ist also ganz optimistisch, er hält eine Entlassung der restlichen Inhaftierten bis zum Wochenende für wahrscheinlich und fordert Schnur noch einmal ausdrücklich auf, nichts zu unternehmen, «was den Personenkreis stimuliert, die DDR zu verlassen». (36) Um innenpolitische Spannungen zu vermeiden, werde man einigen jedoch möglicherweise einen kurzfristigen Auslandsaufenthalt nahelegen müssen.

Auch RA Vogel und sein Gehilfe Stakulla sind heiß im Wirbeln. Vogel hat ebenfalls beste Kontakte zu Honecker und zieht mit Stolpe an einem Strang. Außerdem hat er Bruder Forck an der Leine, der von nun an als «Marionette fürs Gute» im Spiel gebraucht wird. Ein ahnungsloser Bischof zwischen drei ausgebufften Juristen: «Ausdrücklich betonte Forck, daß er durch Prof. Vogel und Stakulla die Information erhalten habe, daß ja die Personen in den Westen gehen, die ihre Bereitschaft erklären und dann innerhalb dieser Woche die anderen Personen in die DDR entlassen würden.» (36)

Er ist es auch, der nun Pfarrer Braune, einen alten Studienfreund, vorschlägt, um den Transport von Krawczyk und Klier zu übernehmen. Braunes Bruder leitet eine kirchliche Stiftung bei Bielefeld -dort könnte man uns so lange versteckt halten, bis die anderen entlassen sind.

Braune will helfen, doch nachdem die Sache später nicht so glatt gelaufen ist wie geplant, fürchtet er um seinen Ruf und betont, «daß er in der Tat nur als ein Helfer in dieser Sache in Betracht komme, denn er sei bereits am Nachmittag des i. 2.1988 durch Stakulla ange-

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rufen worden, ob er bereit sei, eine Fahrt zu machen, ohne daß sie näher beschrieben worden ist. Forck habe dann am Abend mit ihm gesprochen. Und da sich beide aus der Studienzeit kennen, sei dies dann auch erfolgt, und er hätte die Reise entsprechend der Festlegung vorgenommen». (37)

Noch vor den « Sprechern » am Spätnachmittag ist also alles eingefädelt, sind die Weichen gestellt. Die entscheidende Präzisionsarbeit allerdings hat Schnur nun allein zu leisten: Während nur einer Begegnung pro Kopf muß ihm das Kunststück gelingen, und - er muß jede Hast vermeiden, um bei den Mandanten kein Mißtrauen aufkommen zu lassen.

Zunächst konzentriert sich der Anwalt auf Klier: Ausführlich erzählt er mir von meiner Tochter - sie habe extra ein Päckchen für mich zusammengestellt, ich werde es in den nächsten Tagen erhalten. Durch die düstere Situation draußen ist Schnur völlig zerknüllt.

Deutlicher nun rührt er an meine Belastung, die anderen durch meinen «Künstler-Appell» mit in den Strudel gerissen zu haben. Doch dann kommt der Hoffnungsschimmer, nach dem ja auch ich seit Donnerstag greife: Bei einem deutlichen Kapitulationszeichen (sprich: Ausreiseantrag) sind die Freunde bis zum Wochenende frei. Dafür - so Schnur ausnahmsweise wahrheitsgemäß - liege die Zusage von <ganz oben> vor.

Was aber wird mit uns passieren? Überschaubares zumindest:

Zwar habe sich der Staat auf Krawczyk eingeschossen und werde den Prozeß - schon, um das Gesicht nicht zu verlieren - auf jeden Fall durchziehen. Doch länger als ein Jahr wird die Sache für uns kaum dauern - ist die Schuld erst einmal abgetragen, wird wohl endlich eine Solidaritätswelle für uns einsetzen.

Ich zögere keine Minute. Ein Jahr ist auch das Maximum, und danach will ich auf keinen Fall in dieses Land zurück - ich hadere mit den lahmen Basisgruppen, hasse die Bonzen mit ihrem « Landesverrat» und dem Zerstören meiner Manuskripte, vor allem aber möchte ich meiner Tochter die DDR nicht länger zumuten. Ich beschreibe also verschiedene Blätter. Das erste ist top secret: Schnur solle heimlich auf meinen Dachboden schleichen. Dort, hinter Brett soundso und Karton soundso müßten noch Manuskriptteile liegen, die so gut versteckt sind, daß man sie trotz zweimaliger Hausdurchsuchung

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nicht gefunden haben dürfte. Er soll die Seiten an sich nehmen, mir übers Jahr in den Westen nachschmuggeln.

Das zweite Blatt ist offiziell und gilt dem Generalstaatsanwalt: Ich teile ihm mit, an diesem Prozeßtheater nicht mitzuwirken. Zwar kann ich mich körperlich nicht sträuben (ich bin feig und will vermeiden, daß sie mich mit Gewalt hinzerren), doch werde ich stumm und taub sein. Das dritte ist das entscheidende Papier, der Ausreiseantrag. Den kann ich nicht stellen, ohne mit meinem Mann gesprochen zu haben. Auf ihn aber bin ich wütend, weil er auf meinen Notruf vom Freitag noch immer nicht reagiert hat. Ich verdächtige ihn, sinnlos den Helden zu spielen, während ich das Schicksal der Freunde auf dem Buckel habe. Bereits am Vormittag habe ich den Vernehmer gefragt, wo denn die Antwort meines Mannes bliebe, und erneut um ein dringendes Gespräch mit ihm gebeten. Es könnte immerhin sein, er hat die Nachricht nicht erhalten.

Schnur nun belehrt mich eines Besseren: Stephan habe mein Papier erhalten, am Freitag schon. Nein, geantwortet hat er bisher nicht, bedauert Schnur. Und wieder sitzt der Stich: Nun bin ich derart wütend, daß ich die Entscheidung ausschließlich für mich allein treffe - ich stelle einen vollendeten Ausreiseantrag.

Der «Sprecher» ist damit beendet, aus mir unerklärlichen Gründen werde ich jedoch nicht in die Haftanstalt zurückgebracht.

Danach ist Krawczyk dran: Ohne große Schnörkel zeigt ihm der Anwalt meinen Ausreiseantrag. Mein Mann ist entsetzt - um so mehr, als er mir doch am Freitag erst geschrieben hat, wir sollten noch warten und erst miteinander sprechen. Hat seine Frau die Antwort nicht erhalten ?

Schnur ist niedergeschlagen: Erhalten hat sie die Antwort. Doch sie ist derart am Ende, daß sie keinen anderen Ausweg sieht (vom Deal erzählt er kein Wort).

Krawczyk ist nun in höchster Sorge um mich, fühlt sich aber vom Ausreiseantrag überrumpelt. Er erinnert den Anwalt an das Angebot der Kirche, die Paß-Variante. Schnur wird noch trauriger: Vorige Woche stand das Angebot - nun aber, nach Zuspitzung der Lage, kann davon keine Rede mehr sein.

Stephan schreibt und formuliert noch immer nichts, er will nun persönlich mit mir sprechen. Schnur verspricht, die Justizorgane

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