8 Hans Joachim Schädlich: Jeder ist klug, der eine vorher, der andere nachher
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Am 21.1.1992 konnte ich zum erstenmal in der Akte lesen, die das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR über mich angelegt hat. Der Name, den die <Hauptabteilung XX / Abteilung 7> des MfS meiner Akte gegeben hat, lautet OV <Schädling>. Das Kürzel OV bedeutet: Operativer Vorgang.
In der <Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)> des MfS heißt es, eine der «politisch-operativen Zielstellungen der Bearbeitung Operativer Vorgänge» bestehe darin, «durch eine offensive, konzentrierte und tatbestandsbezogene Bearbeitung die erforderlichen Beweise für den Nachweis des dringenden Verdachtes eines oder mehrerer Staatsverbrechen bzw. einer Straftat der allgemeinen Kriminalität zu erbringen».
Das Kennwort «Schädling» ordnete mich dem Ungeziefer zu, das zu bekämpfen und — womöglich — zu vernichten war. Die «Bearbeitungskonzeption» des OV «Schädling» war bestätigt von Rudolf Mittig, Generalleutnant und Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke.
Die mit dem OV «Schädling» befaßte Hauptabteilung XX des MfS, die von Generalmajor P. Kienberg geleitet wurde,
«nahm eine Schlüsselstellung bei der flächendeckenden Bespitzelung der DDR-Bevölkerung ein. Sie hatte namentlich die staatlichen Einrichtungen, den Bereich der Justiz, des Gesundheitswesens, der Kultur und der Bildung, der Medien- und Jugendarbeit, der gesellschaftlichen Organisationen sowie der Kirchen und Religionsgemeinschaften mit geheimdienstlichen Mitteln zu <bearbeiten>. Vor allem sollten ihre Mitarbeiter alle Bestrebungen erkennen und bekämpfen, die auf eine Änderung der bestehenden politischen Verhältnisse gerichtet waren, mithin jede Form von organisierter Kritik und Opposition.»1
Innerhalb der Hauptabteilung XX war die Abteilung 7, die von Joachim Tischendorf geleitet wurde, speziell für den Bereich der Kultur zuständig. Außer Joachim Tischendorf beschäftigten sich vor allem Hans Schiller (Hauptmann), Willi Gentz, Brosche (Oberstleutnant), Stange (Oberstleutnant) und Pönig (Hauptmann) mit dem OV «Schädling». Auch Mitarbeiter anderer Abteilungen der Hauptabteilung XX waren mit dem OV «Schädling» befaßt, zum Beispiel der Leiter der für politische Emigranten aus der DDR zuständigen Abteilung 5, Buhl.
In der «Richtlinie Nr. 1/76» steht zu lesen:
«Die Hauptkräfte für die Bearbeitung Operativer Vorgänge sind die IM (Inoffiziellen Mitarbeiter), da sie am umfassendsten in die Konspiration des Feindes eindringen, diese weitgehend enttarnen, zielgerichtet auf die verdächtigen Personen einwirken und solche Informationen und Beweise gewinnen können, die eine offensive, tatbestandsbezogene Bearbeitung Operativer Vorgänge gewährleisten.»2
Mit anderen Worten: Der Einsatz von Spitzeln (Inoffiziellen Mitarbeitern) war das wichtigste Mittel des MfS bei der Erfassung und Bekämpfung von Andersdenkenden. Die <Richtlinie 1/76> nennt die Anforderungen, die an die Spitzel gestellt wurden:
«Die IM müssen
eine solche berufliche oder gesellschaftliche Position aufweisen und über solche spezifische Persönlichkeitsmerkmale verfügen, die für die zu bearbeitenden Personen von Interesse sind;
in der Lage sein, sich unauffällig ins Blickfeld der zu bearbeitenden Personen zu bringen, zu ihnen Kontakt herzustellen und ihr Vertrauen zu erwerben;
den zu bearbeitenden Personen möglichst geistig ebenbürtig oder überlegen sein;
mit den Grundregeln der Konspiration zur Bekämpfung des Feindes vertraut sein, die qualifizierte Arbeit mit operativen Legenden beherrschen und auf Überprüfungsmaßnahmen des Feindes richtig reagieren.»3
1) David Gill und Ulrich Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums. (Rowohlt) 1991, S.45
2) Gill und Schröter, a.a.O., S. 135 3) ebd., S. 378
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«Es sind vor allem die IM in die engere Auswahl einzubeziehen, die das Ausgangsmaterial erarbeitet haben, die bereits Kontakte oder Berührungspunkte zu den verdächtigen Personen besitzen...»2
Unter den Gesichtspunkten der «Unauffälligkeit», der «Vertrauenswürdigkeit», der «geistigen Ebenbürtigkeit» und der «beruflichen und gesellschaftlichen Position» lag es am nächsten, Berufskollegen, «Freunde» und Verwandte eines «Verdächtigen» als Spitzel zu benutzen.
Die Spitzel (Inoffiziellen Mitarbeiter) erscheinen in der Akte unter ihren Decknamen. Die «Festlegung eines Decknamens» war laut «Richtlinie Nr. 1/79 für die Arbeit von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit (GMS)» des MfS «Bestandteil der Verpflichtung» eines Spitzels. «Bestandteil der Verpflichtung» war auch «die Belehrung über die Geheimhaltung» der Spitzeltätigkeit. Ein Spitzel mit einem Decknamen hatte sich also bewußt zur Spitzeltätigkeit verpflichtet, war sich über die Pflicht zur Geheimhaltung im klaren und kannte seinen Decknamen. Schriftliche Spitzelberichte, die sich in der Akte finden, sind oft von der Hand des Spitzels mit dem Decknamen unterzeichnet.
Es ist in einigen Fällen leicht, den richtigen Namen einer Person festzustellen, die sich als Spitzel hinter einem Decknamen verbirgt. Ich bin über mein großes Interesse an der Identität der Spitzel erstaunt. Keinesfalls vergesse ich über den Spitzeln die MfS-Offiziere, die das System und den Betrieb der Überwachung und Verfolgung beherrscht und organisiert haben. Ihre richtigen Namen stehen in der Akte.
Das Interesse an der Identität der Spitzel erklärt sich mir aus psychologischen und moralischen Gründen. Ich möchte wissen, wie jemand beschaffen ist, der einen anderen hinreichend täuschen, dem Unterdrückungsapparat einer Diktatur verraten und ausliefern kann.
2) ebd., S. 379
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Ich möchte einen solchen Spitzel zur Rede stellen, um ihn zu einer Antwort zu bringen auf die Fragen: Warum hast du es getan? Was willst du tun, um dich aus der inneren Bindung an ein Verrats-System zu lösen? Wie willst du dich fernerhin verhalten? Was erwartest du von mir?
Ich möchte die Verletzung, die mir durch Verrat zugefügt wurde, kurieren. Es bedarf dazu der Antwort auf meine Fragen. — Leugnet der Spitzel, bleibt er die Antwort schuldig, weicht er aus oder lügt er, so bleibe ich verletzt, und aus der Enttäuschung über den Verrat entsteht erst eigentlich Zorn.
Ich weiß schon, daß ich zuviel erwarte, aber ich erwarte dennoch, daß ein MfS-Spitzel (von den MfS-Offizieren ganz zu schweigen), der der SED-Diktatur gedient hat, darauf verzichtet, in der demokratischen Gesellschaft Abgeordneter, Anwalt, Beamter, Bischof, Lehrer, Offizier, Pfarrer, Polizist, Professor, Psychiater, Richter usw. sein zu wollen.
Ich suche Antwort auf die Fragen: Wie soll ich mich zu Leuten verhalten, von denen ich weiß, daß sie mich an die Diktatur verraten haben, die aber keine Anstalten machen, sich mir zu öffnen? Kann ich sie entschuldigen?
Die Gespräche mit enttarnten Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des MfS gehören zu den unangenehmsten Gesprächen, die ich je gefühlt habe.
In zwei Fällen reagierten die IM verblüffend gleichartig auf die Eröffnung, sie tauchten in den Akten des MfS eindeutig als IM auf. Die IM erklärten, sie seien keine IM gewesen und hätten keine Verpflichtungserklärung unterschrieben. Natürlich drängte sich mir der Eindruck auf, die IM seien am Ende der DDR vom MfS instruiert worden, im Falle der Enttarnung derartig zu reagieren.
Der eine (ich nenne ihn H) wird in einer «Information» der zuständigen Hauptabteilung des MfS vom 25.11.1976 ausdrücklich als «zuverlässiger IM» bezeichnet.
Der andere (ich nenne ihn F) wird in einem «Vorschlag zur Realisierung einer operativen Maßnahme» der zuständigen Hauptabteilung des MfS vom 6.10.1977 ausdrücklich als «IM in der Abteilung XV der Bezirksverwaltung Potsdam» bezeichnet.
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Als ich diese Zeugnisse des MfS erwähnte und auf den eklatanten Widerspruch zu den Erklärungen der IM verwies, war die Reaktion der IM wiederum gleich.
H sagte: «Das weiß ich jetzt auch nicht.»
F sagte: «Ich kann mir das gar nicht denken.»
Die beiden IM wollten sich auch nicht daran erinnern, daß sie «in Verwirklichung eines ... Auftrages» des MfS bzw. gemäß einer «Instruierung» des MfS (wie es in der «Information vom 25.11.76 bzw. im «Vorschlag zur Realisierung einer operativen Maßnahme» vom 6.10.77 heißt) gehandelt hatten.
Bis zu diesem Punkt der Gespräche waren also zwei Tatsachen geleugnet: die Tätigkeit als verpflichtete IM und die Ausführung von Aufträgen.
Die beiden IM wollten mir aber nicht bestreiten, daß «Mitteilungen» von ihnen in den MfS-Akten enthalten sind.
Wie kamen diese «Mitteilungen» zum MfS?
H sagte: «Ich weiß nicht, in welche Hände mein Bericht gekommen ist. Daß der dann da gelandet ist, würde ich für möglich halten.»
F sagte: «Ich überlege, wie das dort hineingekommen ist.»
Irgendwie mußte «das» in irgend «welche Hände» gelangt sein, und das geschah so:
H sagte: «Ich bin damals über dich befragt worden, das ist schon richtig... Ich weiß nicht mal, ob ich einen Bericht geschrieben habe; ich würde es aber zumindest nicht ausschließen.» Und: «Ich bin natürlich verpflichtet worden, darüber zu schweigen.»
Wer konnte wen zum Schweigen verpflichten?
H sagte: «Das war dieser Mann, der damals mit mir gesprochen hat.»
Ein Offizier des MfS?
H sagte: «Das würde ich nach allem, was ich heute weiß, vermuten, ja... Wie dieser Mann hieß, das weiß ich nicht. Ich nehme an, daß er sich mit Namen vorgestellt, mindestens aber den Ausweis vorgezeigt hat... Öfter habe ich den nicht getroffen; das war später ein anderer.»
Und F? Jaa, gesprochen habe er «mit einem dieser Leute» schooon. öfter. Der Mann habe Soundso geheißen.
So also kamen diese «Mitteilungen» zum MfS.
Von besonderem Reiz ist die Erklärung, die H für seinen Decknamen <XYZ> lieferte.
Auf der unteren Erklärungs-Stufe hieß es: «Notizen, die der MfS-Offizier angefertigt hat, wurden offenbar mit dem Decknamen <XYZ> in Verbindung gebracht.»
Auf der mittleren Stufe hieß es: «Ich habe über mehrere Jahre hinweg Dinge gesagt, von denen Notizen gemacht wurden - die der MfS-Offizier mit dem Decknamen <XYZ> unterzeichnet hat.»
Die höchste Stufe der Erklärung hieß: «Es ist denkbar, daß ich einen Durchschlag hatte und den auf Geheiß des MfS-Offiziers mit dem Decknamen <XYZ> unterzeichnet habe.»
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Spitzelberichte des verpflichteten IM, die in der Handschrift des IM mit dem Decknamen <XYZ> unterzeichnet sind — und der IM weiß nicht, wie seine Decknamen-Unterschrift unter die Spitzelberichte geraten konnte, es sei denn, man habe ihn zur Decknamen-Unterschrift gezwungen.
Wie gesagt: Die Festlegung eines Decknamens war Bestandteil der Verpflichtung des IM, und der IM kannte seinen Decknamen.
Glaubte H, ich wüßte nicht, wie es sich mit IM-Decknamen verhielt? Nun ja - immerhin hat er auf seiner höchsten Erklärungs-Stufe nichts anderes gesagt, als daß er Berichte (ob Durchschläge oder Originale) mit seinem Decknamen unterzeichnet habe.
Die letzte Ausflucht hieß: «... auf Geheiß des MfS-Offiziers...». Das kann einfach bedeuten, der MfS-Offizier habe gesagt: «Na, dann unterschreiben Sie mal.» Wie? Mit dem Decknamen natürlich.
H lieferte mir in einem zweiten Gespräch eine Erklärung für seine Ausflüchte. H sagte unvermittelt — und dieser Satz war für mich das eigentliche Bekenntnis seiner IM-Tätigkeit —: «Du kannst mein Leben zerstören, wenn du darüber mit anderen sprichst!»
Ich gestehe, daß mich dieser Satz verblüffte. Es verging einige Zeit, ehe ich begriff, was dieser Satz bedeutete. H schien wirklich «Leben» zu meinen. Es liegt mir fern, Hs Leben zu zerstören, aber es kam mir eine Zeile von Wolf Biermann in den Sinn: «Leben steht nicht auf dem Spiele, euer Wohlleben ja nur.»
Hs Satz stellt eine aggressive Umkehrung des Verhältnisses dar, das zwischen ihm und mir bestand und besteht.
Heute bekommt man in Deutschland schon eingeredet, die Inoffiziellen Mitarbeiter seien vom Staatssicherheitsdienst mißbrauchte arme Kerlchen, denen jetzt auch noch ein Strick daraus gedreht werde, daß sie mißbraucht worden seien. Die Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS sagten zu mir, sie hätten doch niemandem geschadet mit ihren kleinen Berichten. Abgesehen von der Tatsache des persönlichen Verrats, den diese Leute begangen haben — sie konnten und können gar nicht beurteilen, welchen Schaden ihre «kleinen» Berichte anrichteten.
Sie dienten sich dem großen Stasi-Apparat an und verrichteten ihre kleine Arbeit. Viele kleine Berichte fügten sich im MfS zu einem Mosaik: zu dem Bild von einer «feindlich-negativen» Person, zu dem Bild von einem «Staatsverbrecher». Die Inoffiziellen Mitarbeiter lieferten die Bespitzelten dem großen Stasi-Apparat Stückchen für Stückchen aus.
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