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4. Das Gruppenspektrum in Zwickau

1) Jugendarbeit     2) Domgruppen     3) Konziliarer Prozess 

 

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Die Betrachtung der staatlichen Kirchenpolitik in Zwickau in den 80er Jahren hat anhand von ganz verschied­enen Beispielen die Diskrepanz zwischen öffentlicher Version und interner Einschätzung vor Augen geführt. Zugleich wurden an den zwischen Staat und Kirche vielfältige Aktivitäten und Initiativen sichtbar, die aus dem kirchlichen Raum in Zwickau hervorgegangen sind. 

Niederschlag zumindestens in den staatlichen Verwaltungsakten fanden allerdings zumeist nur diejenigen Vorgänge, die im kirchlich-öffentlichen Raum stattfanden und in die kirchliche Amtsträger involviert waren, die dafür auch von den Staatsfunktionären im Rahmen der geordneten Gesprächsbeziehungen zur Rechenschaft wurden. Vielfach keinen oder nur einen geringen Niederschlag fanden die Initiativen auf die die Staatsvertreter nicht über einen Pfarrer direkten Zugriff hatten, auch wenn sie aus dem kirchlichen Umfeld hervorgingen. Das Bild, das aus den staatlichen Verwaltungsakten über Bestehen und Entwicklung eines kritisch engagierten Potentials an einem Ort entsteht, ist deshalb verzerrt und lückenhaft, weshalb noch ein gesonderter Blick auf Entstehungszusammenhänge und Entfaltung des Gruppenspektrums nötig ist.

 

 4.1  Sozialdiakonische Jugendarbeit 

Der erste, der in Zwickau eine alternative kirchliche Arbeit312) aufzubauen begann, war der Sozialfürsorger der Inneren Mission, Frank Kirschnek. Im Rahmen der sozialdiakonischen Jugendarbeit versuchte er seit dem Jahre 1979 Jugendliche, die kriminell gefährdet, alkoholanfällig, aus der Haft entlassen oder aus anderen sozialen Schwierigkeiten heraus an den Rand der Gesellschaft geraten waren, von der Straße zu holen und ihnen in einer offenen Jugendgruppe zunächst überhaupt wieder ein soziales Umfeld zu schaffen.  

Dabei ging es in erster Linie darum, diesen Menschen, die keine Perspektive für ihr Leben sahen, Aufmerksamkeit zu widmen, ihre Probleme anzuhören und ernstzunehmen, sie auch miteinander über ihre Situationen ins Gespräch zu bringen und auf diese Weise eine neue Form von Gemeinschaft zu erzeugen.

312)  Unter alternativer kirchlicher Arbeit werden hier Arbeitsbereiche verstanden, die bislang nicht zu dem gängigen kirchlichen Themenspektrum gehörten. 
313)  Vgl. dazu auch: Interview Käbisch, S. 3.


Die sogenannte <Kiste>,313) der zur Wohnung des Sozialfürsorgers gehörige Treffpunkt der Jugendlichen, sollte dabei ein Ort sein, an dem man sein konnte, wie man war, an dem man sich auch anders kleiden und geben durfte, als es der gesellschaftlichen Norm entsprach, wo man auch seinen Unmut äußern konnte und doch damit rechnen durfte, daß der kirchliche Mitarbeiter und seine ehrenamtlichen Helfer einem ohne die sonst in der Gesellschaft häufig erlebten Vorurteile und Vorhaltungen begegneten.314) 

Darüber hinaus sollte die <Kiste> ein Ort sein, an dem Kreativität und Lebensmut an die Stelle von Resignation und Ziellosigkeit treten sollten, entsprechend wurden die Räume von den Jugendlichen selbst gestaltet, die Wände nach ihrem Geschmack bemalt und beschriftet. Zunehmend entstand in der offenen Jugendarbeit eine ganze Reihe unterschiedlicher Freizeitangebote, die, zum Teil von den Jugendlichen selbst mit hervorgebracht, ihre Anziehungskraft auf diese Kreise nicht verfehlte. Dabei reichte die Palette der Veranstaltungen von Teestunden und Musikabenden über Keramikzirkel315) bis hin zu Diskussions­foren. 

In diesen wurden unter dem Motto <Interessanter Jugendkreis>316) mehrmals in der Woche genau die sonst in der DDR-Gesellschaft tabuisierten Probleme dieser Randgruppen thematisiert. Obwohl in der offenen Jugendarbeit der Inneren Mission in erster Linie Sozialarbeit geleistet wurde, deren erklärtes Ziel es war, die gefährdeten Jugendlichen wieder in die Gesellschaft zu integrieren, verhehlte sie ihr christliches Sinnangebot nicht, wenn es darum ging, in den Jugendlichen begründete Lebenshoffnung zu wecken. 

An Bibelabenden und mit originellen Initiativen, wie etwa der Plakettenaktion "Auf Jesus eingestellt",317) vermittelte der Fürsorger ein lebendiges Jesus-Bild und weckte damit bei den zumeist kirchenfernen Jugendlichen Glaubens- und Lebensfragen. Bei weitergehendem Interesse an diesen Fragen, verwies Kirschnek die Jugendlichen seit 1981 an den Dompfarrer Käbisch, der die Anfragen aufnahm und in einem ersten <Glaubenskurs>318) biblische Zusammenhänge und daraus resultierende christliche Werte vermittelte. Da Käbisch zudem für die Probleme und Anliegen dieser gesellschaftlichen Randgruppen immer ein offenes Ohr hatte, war bald eine Zusammenarbeit zwischen Dom und sozialdiakonischer Arbeit etabliert.

314)  Vgl. zu den Anliegen der offenen sozialdiakonischen Jugendarbeit: STAZ, Rat der Stadt Zwickau/OB, 3015, Bl. 129 f.
315)  Vgl. ebd.  
316)  STAZ, Rat der Stadt Zwickau/Inneres, 2587, Bl. 203.
317)  Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 1. 
318)  Vgl. Interview Käbisch, S.3..

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Seit seinem Entstehen Ende der 70er Jahre war dieser alternative Zweig der sozialdiakonischen Arbeit von den Staatsorganen mißtrauisch verfolgt worden. Obwohl für gewöhnlich die kirchliche diakonische Arbeit von den Staatsorganen nicht nur nicht in Frage gestellt,319) sondern gerade was ihre Arbeit mit "psychisch kranken, alten sowie behinderten Bürgern anging, entsprechend gewürdigt wurde" 320) — so wurde bei dieser neuen Form der offenen Jugendarbeit, vor allem was die Betreuung von haftentlassenen Jugendlichen betraf, wiederholt mit dem Hinweis auf die Trennung von Kirche und Staat auf der staatlichen Zuständigkeit bestanden und dieses Engagement zumindestens einzuschränken gesucht.321) 

In besonderer Deutlichkeit spiegelt eine Einschätzung von Hauptmann Nestler von der Zwickauer MfS-Kreisdienststelle aus dem Jahre 1984 das staatliche Mißtrauen gegenüber dem sozialdiakonischen Arbeitskreis wieder:

"Bei dem Sozialarbeitskreis der Kirche handelt es sich um eine Gruppierung staatsfeindlich eingestellter, negativ-dekadenter, vorbestrafter, teilweise asozialer, milieugeschädigter und suchtgefährdeter Jugendlicher, die durch mehrere haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter sowie Pfarrer betreut werden."322

Der Kern des staatlichen Argwohn dürfte sich dabei jedoch nicht primär dagegen gerichtet haben, daß sich die diakonische Arbeit gefährdeter junger Menschen annahm, sondern dagegen, daß sie unter diesen Jugendlichen Gruppen bildete.323

Eigentlich jedoch bildete sich in den 80er Jahren bei der Inneren Mission eine alternative Jugendkultur heraus, deren Träger primär unangepaßt waren in Lebensstil und Interessenshorizont und dem in vielfältigen Formen Ausdruck zu verleihen suchten. Aufwind bekam diese alternative Kultur noch einmal dadurch, daß nach jahrelangen wiederholten Anfragen der sozialdiakonischen Jugendarbeit 1985 von den staatlichen Stellen endlich genehmigt wurde, die Kellerräume der Lutherkirche in Eigenleistung zu einem Jugendtreffpunkt auszubauen. Fortan wurde im sogenannten <Lutherkeller> nicht nur eine Teestube eingerichtet, auch die regelmäßigen Treffen der <Offenen Jugendgruppe> fanden dort statt. 

Außerdem traten jeweils am 1. Sonnabend eines Monats im Rahmen der Veranstaltung <Liederbuch> alternative Künstler mit Konzerten, Lesungen und Liederabenden dort auf und erhöhten dadurch die Ausstrahlung der sozialdiakonischen Arbeit gerade auch auf kirchenferne Jugendliche beträchtlich.324) 

319) Vgl. zur Stellung der Diakonie in der DDR: Kleßmann, Christoph, Zur Sozialgeschichte des protestantischen Milieus in der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft, 19. Jg., 1/1993, S. 29-53, hier: S. 41-44.  
320)  STAZ, Rat der Stadt Zwickau/OB, 3018, Bl. 47.  
321)  STAZ, Rat der Stadt Zwickau/OB, 3015, Bl. 130. Vollständig unterbinden konnten die Staats Vertreter das kirchliche Engagement nicht, da zumindestens kirchlich gebundene Häftlinge und entsprechend auch Haftentlassene Anspruch auf seelsorgerliche Begleitung hatten.Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 102589 (nicht paginiert). 
322)  Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 1, Bl. 236. 
323)  Vgl. STAZ, Rat der Stadt Zwickau/Inneres, 2587, Bl. 63. 
324)  Der Auftritt von Stephan Krawczyk und Freya Klier kann hier als ein illusteres Beispiel dienen.

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Im Rahmen dieser <alternativen Szene> bildeten sich in den 80er Jahren verschiedene Interessens­gruppen mit fließenden Grenzen unter den Jugendlichen heraus, in denen zumeist gesellschaftliche Tabuthemen diskutiert wurden, von denen die Gruppenmitglieder direkt oder indirekt persönlich betroffen waren. So entstand etwa eine Gruppe von haftentlassenen Jugendlichen und unter Suchtgefährdeten, 1986/87 bildete sich eine weitere von Homosexuellen.325) In allen diesen Gruppen begleiteten Mitarbeiter der sozialdiakonischen Arbeit die Gespräche der Teilnehmer. Zu einem Streitpunkt mit den Staatsorganen wurde nach der staatlichen Amnestie vom 17. Juli 1987 die Frage, ob kirchlichen Einrichtungen die Betreuung der in ihren Kirchenbezirk entlassenen Amnestierten zukäme oder nicht. 

Gemeinsam hatten sich Kirschnek und Käbisch für diese Menschen stark gemacht, begleiteten sie auf Behördengängen und leisteten ihnen praktische Lebenshilfe in Wohnungs- und Arbeitsfragen326) und initiierten am Dom eine Gruppe, "die den Kirchgemeinden Unterstützung bei [...] der Betreuung amnestierter Personen anbietet".327) 

Gerade die kirchlichen Bemühungen, die sich über Seelsorge und Kleiderspenden hinaus auf die gesellschaftliche Wiedereingliederung der Entlassenen bezogen, wurden als Einmischung in staatliche Angelegenheiten scharf kritisiert: "In den Gesprächen wurde ihnen [gemeint sind Kirschnek, Käbisch und auch Mieth] eindeutig die Unzulässigkeit ihrer Handlungsweise erläutert." 328) Da sich die Staatsorgane keinesfalls zu einer Zusammenarbeit mit den Kirchenmitarbeitern bereit finden konnten, letztere in ihrer Verantwortung für diese Menschen jedoch nicht zurückstecken konnten und wollten, blieb dieses Thema ein neuralgisches, dessen Schwerpunkt sich mit Kirschneks Wegzug von Zwickau 1988 vollends an den Dom verlagerte. 

Aber nicht nur in der Betreuung von Amnestierten werden die Bezüge zwischen Aktivitäten am Dom und der sozialdiakonischen Jugendarbeit sichtbar. Immer wieder hatte es gemeinsame Veranstaltungen zu ungewöhnlichen Themen am Dom gegeben, charakteristisch ist etwa 1987 der Gottesdienst "Weihnachten neu erlebt", zu dem explizit die Mitglieder von Homokreis, Ökokreis am Dom, Sozialarbeitskreis und Arbeitsgemeinschaft zur Abwehr von Alkohol und Suchtgefahr eingeladen waren.329)

Immer wieder wurde bei "Gottesdienst neu erlebt" oder auf "Offenen Abenden" am Dom mit Themen wie Gewalt an Kindern,330) Einsamkeit331) oder "Wer Sorgen hat, hat auch Alkohol" auf unpopuläre Probleme aufmerksam gemacht und Betroffenen die Gelegenheit gegeben, sich mit ihren Gedanken einzubringen. 

325)  Das ist für eine Stadt wie Zwickau durchaus erstaunlich, andere Arbeitskreise zu dem Thema gab es in Sachsen zu der Zeit sonst nur in Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt. Vgl. Der Sonntag vom 19. Juli 1987, S.3. Vgl. zur Zwickauer Gruppe Hinweise in: StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 122491 (nicht paginiert). 
326)  Vgl. StAC, SED-KL Zw./Std. 1709, Bl. 32.  
327)   StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 110494 (nicht paginiert).  
328)  StAC, SED-KL Zw./Std. 1709, Bl. 32.  
329)  Vgl. Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 4, Bl. 036.
330)  Veranstaltung im Dom am 29. September 1986 "Die Kinder an die Macht - Gottesdienst neu erlebt", vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 110488 (nicht paginiert).  
331)  Vgl. Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 3, Bl. 070.

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Die Gruppen, die in der sozialdiakonischen Jugendarbeit entstanden waren hatten alle, bis auf eine, Anliegen sozialer Randgruppen zum Gegenstand ihrer Beschäftigung. Zudem war zu Beginn der 80er Jahre ein Friedenskreis entstanden, indem 20-40 Jugendliche aus dem Umfeld der <Offenen Jugendarbeit> wöchentlich zusammen kamen und über Ausdrucksformen ihres Friedenswillens berieten. Kerzenaktionen am <Ehrenmal der Opfer des Faschismus> sollten "zur Mahnung dienen, daß so etwas wie Krieg nie wieder passiert", Handzettelverteilungen gegen Kriegsspielzeug sollten das Bewußtsein für die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft wecken.333) 

Daß es im Zusammenhang mit diesen Aktivitäten immer wieder auch zu volkspolizeilichen Registrierungen kam, nährte den Verdacht auf Spitzel innerhalb der Gruppe. Wiederholt wurde dieses Problem heftig und kontrovers diskutiert, zunächst suchte man die Räume auf Wanzen ab, in einer weiteren Maßnahme waren Neuzugänge nur noch über Vertrauenspersonen möglich, was natürlich die Überwachung der Gruppe nicht verhindern konnte.334) Obwohl diese Situation bedrückend auf den Gruppenmitgliedern lastete, verhinderte sie deren Engagement nicht und schränkte auch deren überregionale Kontakte etwa nach Königswalde oder zu anderen Friedensgruppen in Halle, Jena und Karl-Marx-Stadt nicht ein.

In dem Maße wie am Dom ab 1983 erste Aktivitäten im Bereich des Umweltschutzes Gestalt gewannen, wandte sich auch das Interesse vieler Mitglieder des Friedenskreises dem neuen Thema zu, verstärkt wurde die Orientierung zum Dom noch dadurch, daß der als "Leiter" des Friedenskreises angesehene Jörg Banitz335) ein diakonisches Jahr als Kirchner am Dom antrat. Seit Mitte 1984 wurde eine Zusammenlegung von Friedens- und Umweltarbeit an den Dom erwogen; als sie ein dreiviertel Jahr später beschlossen wurde, hatten sich die Anliegen bei den Engagierten längst verwoben.336)

Die sozialdiakonische <Offene Jugendarbeit> hat in den 80er Jahren in Zwickau eine alternative Jugendkultur hervorgebracht, in der sich unangepaßter Lebensstil mit dem Freiraum zur Äußerung persönlicher, innergesellschaftlicher und globaler Probleme verband. Gleichzeitig hat die sozialdiakonische Arbeit einen Bezug zwischen dieser zunächst nicht christlich geprägten Jugendkultur und dem kirchlichen Sinn-, Wert- und Verantwortungsansatz hergestellt, woraus sich in den 80er Jahren eine enge Zusammenarbeit und Überschneidung mit dem kirchlichen sozialethischen Engagement in Zwickau ergab.

332)  Ebd. Bl. 242.
333)  Vgl. ebd., Bd. 1.
334)  Vgl. ebd.
335)  Vgl. ebd.
336)  Vgl. ebd., Bl. 240 sowie Bd. 2, Bl. 129.

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  4.2   Gruppen am Dom 

 

Im Jahre 1983 begannen sich erstmals 10-15 Jugendliche auf Initiative des Zwickauer Domkirchners Michael Paschold in dessen Wohnung zu treffen, die nicht nur zusammen rauchten, tranken und Musik hörten, sondern anfingen sich zu überlegen, welchen Beitrag sie leisten könnten, um etwas gegen die Verschmutzung ihrer Stadt zu unternehmen. Um es nicht nur bei Diskussionen zu belassen, begannen sie mit dem Unmittelbaren und fingen an, Papier und Abfall in den Straßen einzusammeln, Hinterhöfe aufzuräumen und durch Bemalen von Müllkübeln zu verschönern,337) schließlich weiteten sie ihre Aktivitäten auf Gewässer aus und begannen die Ufer der Mulde von Unrat zu reinigen.338) 

Aus dieser privaten Initiative wurde eine kirchliche, als Dompfarrer Käbisch von seinem Kirchner erfuhr, daß Polizisten wiederholt in dessen Wohnung eingedrungen waren und die Personalien der anwesenden Jugendlichen aufgenommen hatten. Der Pfarrer verwahrte sich daraufhin nicht nur mit einer Eingabe gegen das Vorgehen der Volkspolizei, er schloß auch einen kirchlichen Mietvertrag über einen Raum im Dom für die Gruppe mit Paschold ab und deklarierte damit die <Umweltgruppe> zur kirchlichen Veranstaltung.339)  

Die polizeilichen Maßnahmen hatten bei den Jugendlichen, die angetreten waren, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, den Nachgeschmack des Unerwünschten, gar Illegalen hinterlassen. Um sich also bewußt zu legalisieren, meldeten sie fortan Aktionen als kirchliche Umweltaktionen beim Rat der Stadt an, einige Gruppenmitglieder engagierten sich zudem im staatlichen Umweltschutz und erwarben hier einen "Naturschutzhelfer-Ausweis gegen Umweltsünder". 340) 

Hier wird deutlich, daß die Entwicklung von einer Privatinitiative zu einer kirchlichen Gruppe mit einem reflektierten Selbstverständnis und klaren Zielvor­stellungen gerade durch die staatlichen Einschüchterungs­maßnahmen ausgelöst wurde. Zudem problematisierten erst die staatlichen Maßnahmen das Verhältnis der Jugendlichen zum Staat. 

337)  Sie selbst nannten diesen Einsatz "Schöner unsere Hinterhöfe". Vgl. ebd., Bd. 1, Bl. 290. 
338)  Vgl. Interview Käbisch, S.1f., vgl. ebenfalls Archiv Bürgerbewegung Leipzig, Stasi-Akte Käbisch OV Kontrahent, Bd.1, Bl.290.
339)  Vgl. Interview Käbisch, S. 2.  
340)  Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 1, Bl. 258.

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Zum Selbstverständnis der Gruppe berichtete entsprechend ein <umweltbewegter> inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit: "Sie wollten mit ihrer Arbeit nur Impulse geben und betonten, daß die Organisierung in ihrer Truppe durchaus eine legale Sache sei, die angemeldet und auch genehmigt wurde."341) Wenig später zitiert er zu den Zielen der Gruppe eines ihrer Mitglieder: "Bewußtsein unter Bürgern schaffen, was der Staat bewußt vertuscht."342)

Dompfarrer Käbisch griff das Anliegen seiner kirchlichen Gruppe auf und untermauerte es mit der geistlichen Dimension der Schöpfungsverantwortung als Auftrag Gottes an den Menschen, indem er konkrete geistliche Rahmenveranstaltungen initiierte, in denen die Jugendlichen Raum hatten, ihr Anliegen gestalterisch umzusetzen, es zugleich aber auch als religiöses Thema zu begreifen. 

Solche Rahmenveranstaltungen waren im Zusammenhang mit der sozialdiakonischen Randgruppenarbeit die <Gottesdienste neu erlebt> gewesen, im Kontext der Umweltarbeit waren es Gemeindeabende wie etwa der zur Großstadtökologie,343) die <Umweltabende am Dom> und das Kabarett <Umwelt-Kabarett-Bibel-Meditation>. Auf diese Weise verbanden sich am Dom theologische Reflexion, fachliche Information und konkrete Aktion; in den ersten beiden Bereichen kamen wesentliche Impulse von Pfarrer Käbisch, im letzten ging die Initiative im wesentlichen von Gruppenmitgliedern aus. 

Über Jörg Banitz etwa, der aus dem sozialdiakonischen Friedenskreis kommend Michael Paschold nach dessen Einberufung zur NVA nicht nur als Kirchner am Dom folgte, sondern auch dessen leitende Rolle in der Umweltgruppe übernahm, schrieb einer der Spitzel: "Zu Jörg Banitz möchte ich einschätzen, daß es sich bei ihm in Sachen Umweltschutz um einen Enthusiasten handelt, der ständig neue Ideen über mögliche Aktivitäten und Aktionen entwickelt und als Motor des Umweltkreises eingeschätzt werden muß." 344)

Hinter den konkreten Aktivitäten der Gruppe stand zumeist die Frage: Was kann der Einzelne tun? Auf diese Frage versuchten die Jugendlichen beispiels­weise mit Fahrradtagen unter dem Motto <Mobil ohne Auto>345) oder mit der Erarbeitung einer Informationsbroschüre <Heftchen über umweltgerechtes Verhalten>346) eigene Antworten, die zugleich andere zur Nachahmung inspirieren sollten. Ähnliches galt für Altpapiersammlungen in Neubaugebieten und Säuberungs- und Begrünungsaktionen in örtlichen Naherholungs­gebieten. 

341)  Ebd., Bd. 1. 
342)  Ebd. 
343)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 102597 (nicht paginiert). 
344)  Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 1.
345)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 102597 (nicht paginiert). Die Anlehnung an die Leipziger "Mobil ohne Auto"-Aktion war bewußt gewählt worden, gelegentlich hießen Radwanderungen aber auch schlicht "ohne Mobil".

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Deutlicher wurde der Anspruch auf aufklärerische Außenwirkung noch an den wiederholten Ausstellungs­projekten, innerhalb derer Bild- und Texttafeln erstellt wurden, die sodann im Dom zu sehen waren. Einmal war <Der kranke Wald> das Thema;347 hier wurden Daten zur Luft- und Wasserbelastung <veröffentlicht>. Ein anderes Mal lag der Schwerpunkt auf dem Umweltbeitrag des Einzelnen "Umwelt-Schöpfung — Was kann jeder zu ihrem Schutz beitragen?"; hier wurde etwa über alternative Lebensweise informiert, über Schädlingsbekämpfung in Kleingärten und den Bau von Öko-Nistkästen oder über Sekundärrohstoffe.348

Unabhängig von dem konkreten Thema einer Ausstellung ging es darum, im Dom eine Öffentlichkeit herzustellen, in der Engagierte verschiedener alternativer Gruppen eine Solidargemeinschaft bilden konnten. "Die einen haben sich eben damit identifiziert, was die anderen gerade getan oder gemacht hatten",349 umschrieb beispielsweise Pfarrer Käbisch diesen themenübergreifenden Gemeinschaftssinn. 

Darüber hinaus sollten auch thematisch Außenstehende aus den Kirchgemeinden und thematisch interessierte Kirchenferne neu zu dieser Solidargemeinschaft hinzugewonnen werden. Neben der Umweltgruppe nutzte auch der Zweig der Friedensarbeit am Dom diese <Öffentlichkeit>, um mit einer Ausstellung zum Thema "Krieg-Erziehung-Spiel-Realität — Eine Dokumentation von 1900-1945"350 an die Schrecken des Krieges zu erinnern und um etwa in einer anderen zum Thema "Krieg-Spiel-Macht­demonstration-Wirklichkeit" auf die Gefahren der Aufrüstung und gesellschaftlichen Militarisierung zu verweisen. 

Eine weitere Gruppe, die im Dom ihre Anliegen in einer eigenen Ausstellung in den Blick brachte, war der sogenannte <Femi-Kreis>. 1986 hatte die Gemeindediakonin für Jugendarbeit Ute Böhme in ihrer Wohnung eine Frauengruppe gegründet, in der sich "etwa 10 Frauen zwischen 20 und 30, mit und ohne Kinder, ledig, verheiratet, geschieden, von unterschiedlicher sozialer Herkunft"352 wöchentlich trafen, um über die Rolle der Frau in Kirche und Gesellschaft zu diskutieren. 

Gemeinsam dachten sie, ausgehend von ihren eigenen Lebenserfahrungen über die spezifischen Bedürfnisse von Frauen nach und benannten Konfliktpunkte, an denen dieser Wille zu selbstbestimmter Lebensgestaltung auf Widerstände durch gesellschaftliche Normen stieß. Ermutigt und argumentativ geschult durch die gemeinsame Lektüre von feministischer und feministisch-theologischer Literatur begannen sie, eine neue Position in der Gesellschaft, besonders aber auch innerhalb der Kirche einzufordern. 

 

346)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 110500 (nicht paginiert).  

347)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 110487 (nicht paginiert).  

348)  Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 2, Bl. 082.  

349)  Interview Käbisch, S. 2.  

350)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 102597 (nicht paginiert). 

351)  Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 2, Bl. 313.

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Dies umfaßte nicht nur eine Umverteilung der Lasten von Beruf, Haushalt und Kindererziehung in Partnerschaft und Familie, es umfaßte genauso eine Infragestellung des gesellschaftlich vermittelten weiblichen Schönheitsideals oder ebenso den Aufruf weder orale Kontrazeptiva noch Abtreibung als Mittel der Verhütung einfach hinzunehmen, sondern ein neues Körperbewußtsein zu entwickeln.353) Natürlich mußten die Frauen der Femi-Gruppe, wenn sie eine Veränderung des Frauenverständnisses in Kirche und Gesellschaft anstoßen wollten, Wege finden, ihre Anliegen zu verbreiten. Dies gestaltete sich doppelt problematisch, da sie in ihrer kritischen Haltung sowohl von staatlichen Stellen als auch von vielen Kirchenmitgliedern als Quertreiber betrachtet wurden. 

Das es gerade auf Gemeindeebene auch starke Vorbehalte gegen diese weltanschauliche Strömung gab, verdeutlichen die Auseinandersetzungen, die es im Domvorstand um die Ausstellung zum Thema <Frauen> gab, die Susanne Trauer, eine der Trägerinnen der Arbeit, wie folgt beschrieb: "Wir hatten also schon unglaubliche Kämpfe zu bestehen in diesem Kirchenvorstand bis die [gemeint ist die Ausstellung] überhaupt durchkam. Für den [Kirchenvorstand] waren die also wirklich nur Frauen, die die Kirche benutzen wollten, um ihre feministischen Ideen da loszuwerden. Also daß wir da überhaupt einen Anspruch als Christinnen hatten, dort in der Kirche irgend etwas zu wollen, das war für die also ständig in Frage gestellt."354) Solche innerkirchlichen Auseinandersetzungen gab es auch über andere alternative Arbeitsbereiche am Dom immer wieder.

Einer der heftigsten Konflikte entzündete sich am Dom, als ab Januar 1988 Ausreiseantragsteller begannen, den am Dom traditionellen Sonntagabendgottesdienst zu besuchen. Zunächst waren es einzelne, bald sprach sich jedoch herum, daß der Gottesdienst ein Ort war, an dem auch sie ihre Sorgen vor Gott und die Abendgottesdienstbesucher bringen konnten. Dort erlebten sie Zuspruch und Gemeinschaft, und so wuchs die Zahl der Ausreisewilligen in diesen Gottesdienst binnen weniger Wochen und Monate auf mehrere hundert an. Obwohl Käbisch selbst die Ausreise nicht für die geeignete Art hielt auf die Probleme im Land zu reagieren und in den Gottesdiensten auch immer vor den Konsequenzen eines solchen Schrittes warnte ("Wenn ihr zu Inneres geht und Antrag stellt, steht ihr von diesem Tag an außerhalb der Gesellschaft"355) — so nahm er dennoch die Menschen ernst, die sich zu diesem folgenschweren Schritt entschlossen hatten. 

352)  So stellte sich der Femi-Kreis selbst in einem Faltblatt vor. Hier zit. nach: Müssen Frauen befreit werden?, in: Der Sonntag vom 5. Juli 1987.
353)  Vgl. dazu: Interview Trauer, S. 2 f.
354)  Ebd.  
355)  Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 4, Bl. 282.

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In dieser Situation der gesellschaftlichen Isolierung, die eine Ausreiseantragstellung mit sich brachte, bot Käbisch den Menschen im Dom geistliche Hilfe und zwischenmenschliche Gemeinschaft. Für ihn "ist das nicht eine politische Aktion gewesen, sondern eine menschliche, um sie mit Gottes Wort oder dem Angebot der heiligen Schrift in Verbindung zu bringen und die Chance darin zu erkennen, was Glaube in dieser schwierigen Situation bedeutet".356

Diese Haltung gegenüber den Antragstellern war innerhalb der alternativen Gruppen durchaus umstritten: Einzelne hatten selber Anträge gestellt, identifizierten sich also mit dem Anliegen und nutzten die Zeit bis zur Ausreise, um sich in die <Arbeit mit Antragstellern> einzubringen.357) Andere teilten das Ausreise-Anliegen nicht, sahen aber eine gewisse Berechtigung in Käbischs im weiteren Sinne seelsorgerlicher Betreuung der Antragsteller. Wieder andere lehnten mit dem Ausreise-Anliegen auch jede Beschäftigung mit den Antragstellern ab.358) 

Im Grunde wurden die Antragsteller, obwohl auch sie vom Staat diskriminiert wurden, nicht in die Solidar­gemeinschaft der alternativen Gruppen aufgenommen, da sie ihre Protestpriorität mit dem Ausreiseantrag auf die Veränderung ihrer persönlichen Lebensumstände gesetzt hatten und eben nicht auf ein Engagement zur Gesellschaftsveränderung. Eher noch wurde die, im sozialen Veränderungswillen begründete Solidargemeinschaft der Gruppen durch die Alternative, die die Ausreiser aufzeigten, gestärkt. Letztere bestanden also eher als eine Art von kirchlich betreuter Selbsthilfegruppe parallel zum alternativen Spektrum.

Von den Staatsfunktionären wurden die Aktivitäten am Dom im Zusammenhang mit den Ausreisewilligen erwartungsgemäß als "flagranter Eingriff in die staatliche Verantwortung" heftig attackiert. Kritik ernteten sie aber durchaus auch in Kirchenkreisen: "Innerkirchlich gibt es im Kirchenvorstand der St. Marien-Domgemeinde Widerstand gegen diese auf Konfrontation abzielenden Aktivitäten des Pfarrers Dr. Käbisch. Besonders der 1. Dompfarrer [...] bemüht sich um Verhinderung spektakulärer Aktivitäten. Diese Haltungen werden staatlich gefördert." Hier wird deutlich wie innerkirchliche Spannungen den Staatsorganen als willkommener Hebel dienten, ihre Strategie der innerkirchlichen Differenzierung anzusetzen.

Daß alternative Kirchenränder und traditionsgeprägte Gemeindestrukturen in Zwickau über lange Jahre, wenn auch in Spannung koexistierten, wird wohl damit zu begründen sein, daß Pfarrer Käbisch die geistliche und soziale Brücke zu diesen Rändern schlug und daß Superintendent Mieth ihn als Amtsbruder sowohl vor staatlichen Angriffen als auch vor innerkirchlicher Kritik weitgehend deckte. Immer wieder vermittelte er zwischen den Positionen, um die Vielgesichtigkeit der kirchlichen Gestalt in seiner Ephorie zu fördern und zu erhalten.

 

356)  Interview Käbisch, S. 6.

357)  Vgl. dazu: Interview Trauer, S. 5.

358)  Vgl. zu der kontroversen Auseinandersetzung mit dem Thema: Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Stasi-Akte Käbisch "OV Kontrahent", Bd. 4, S. 067.

359)  Bericht vom Bezirksratsvorsitzenden Fichtner an Klaus Gysi, StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 122491 (nicht paginiert).

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  4.3   Arbeitsgruppen des <Konziliaren Prozesses> 

 

Im Rahmen von Erwin Killats Initiative, dem Anliegen des weltweiten konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung auch in Zwickau Gestalt zu verleihen, hatten sich schließlich fünf Arbeitsgruppen neu konfiguriert. Für jede dieser Gruppen war von der Vorbereitungs­gruppe im Vorfeld ein verantwortlicher Gruppenleiter bestimmt worden. Dieser hatte ein Vetorecht gegenüber Aktionsvorschlägen aus seiner Gruppe und trug letzten Endes die Verantwortung in seinem Arbeitsbereich.360

Monatlich trafen sich die Leiter der einzelnen Arbeitsbereiche zusammen mit dem Superintendenten und dem Direktor der Inneren Mission in einer <Koordinierungsgruppe>, berichteten aus ihren Arbeitszweigen und versuchten zusammen, einen konzeptionellen und perspektivischen Gesamtrahmen zu erarbeiten, der den Bezug zwischen den Einzelinitiativen und dem konziliaren Weltanliegen herstellen sollte. Diese große Linie wurde sodann in 8-wöchentlichen Treffen aller Gruppen in einem großen <Koordinierungsrat> an die Basis weitergegeben, gleichzeitig wurde natürlich über alle anstehenden Veranstaltungen informiert. Um die Gesamtarbeit und ihre Mitarbeiter nicht durch unüberlegte Einzelaktionen zu gefährden, mußten zudem die Aktionen aller Gruppen im Vorfeld mit Kirchenamtsrat Richter juristisch abgestimmt werden.362) Außerdem wurden die Gruppen, ihre Mitglieder und ihre Leiter zur weiteren kirchlichen Absicherung dem Landeskirchenamt und dem Bischof zu Kenntnis gebracht.363)

360)  Vgl. Privatarchiv Trauer / Hartzsch, Stasi-Akte OV "Konzil", Bandabschrift vom 6. April 1988.
361)  Vgl. Privatarchiv Killat, Stasi-Akte OV "Konzil", Bericht über die Sitzung der Koordinierungsgruppe vom 29. Juli 1988.  
362)  Vgl. Privatarchiv Trauer/Hartzsch, Stasi-Akte OV "Konzil", Bandabschrift vom 6. April 1988. Kirchenamtsrat Richter wurde hier auch als der "Notarzt" der Gruppen bezeichnet.

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Entsprechend der Arbeitsschwerpunkte 'Gerechtigkeit', 'Frieden', 'Umwelt', 'Bibliothek' und 'Theologische Reflexion' war das Spektrum der Aktivitäten breit gefächert. Im Umweltbereich kam es beispielsweise zu zahlreichen Aktivitäten wie Baumpflanzaktionen, Uferbereinigung von Bächen, Waldeinsätzen, Informations­veranstaltungen und "Grünen Abenden" zu Themen wie umweltgerechtes Bauen oder Chemikaliengebrauch im Haushalt.364) Zu diesen örtlichen Initiativen kamen solche, in denen man sich Anliegen anderer Orten unterstützte, etwa im "Zweiten Tag für Espenhain" oder in Eingaben gegen der Bau des Reinstsiliziumwerkes in Dresden Gittersee.365)

Im Rahmen des Arbeitsschwerpunkts 'Frieden' wurde zum Beispiel in eine Friedenswerkstatt veranstaltet, in der Diskussionsforen zu Themen wie "Gewaltfrei leben", "Mensch und Natur", "Frau und Mann", "Wehrerziehung und Friedenserziehung", oder "Kultur des Streits" auf dem Programm standen.366) Auch in diesem Bereich wurden Initiativen anderer Städte zur Kenntnis genommen und für die eigene Arbeit fruchtbar gemacht. 

Die Arbeitsgruppe 'Gerechtigkeit' hatte es sich 1989 vornehmlich zur Aufgabe gemacht, sich mit den Kommunalwahlen im Mai auseinanderzusetzen. Anders als es die Berliner Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung gefordert hatte, versuchte man hier nicht auf komplizierten Wege einen unabhängigen Kandidaten zur Aufstellung auf die Einheitsliste wenigstens vorzuschlagen, man konzentrierte sich vielmehr darauf, den Ablauf der Wahlveranstaltung genauestens zu begleiten.367) 

Gruppenmitglieder kontrollierten daraufhin die Stimmauszählungen und verliehen ihrem Unmut über beobachtete Unregelmäßigkeiten sofort in Eingaben an die Kreiswahlkommission Ausdruck.368) Zu einem weiteren Schwerpunkt der Gruppe 'Gerechtigkeit' entwickelte sich der Protest gegen die Berichterstattung der DDR-Medien, die das Massaker in Peking als Niederschlagung eines konterrevolutionären Putschversuchs dargestellt hatte. Hier erstellte die Gruppe zusammen mit der Bibliotheksgruppe Wandzeitungen, auf denen vornehmlich anhand von Zeitungsartikeln aus westlichen Zeitungen über die Ereignisse informiert und auf Protesterklärungen von Gruppierungen anderer Städte aufmerksam gemacht wurde.369)

363)  Vgl. ebd.  
364)  Vgl. dazu: Archiv der Friedensbibliothek, Stasi-Akte "Information über das weitere Betreiben der sogenannten Friedens­bibliothek...", hier: Inform. vom 5.9.1989; vgl. ebenfalls: Privatarchiv Killat, Stasi-Akte OV "Konzil", Bericht vom 4.3.1988.
365)   Vgl. dazu: Archiv der Friedensbibliothek, Stasi-Akte "Information über das weitere Betreiben der sogenannten Friedensbibliothek...", hier: Information vom 1.9.1989.  
366)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 143954 (nicht paginiert).
367)  Vgl. zu dem Berliner Aufruf "Brief an Christen in der DDR und ihre Gemeindevertreter zu den Kommunalwahlen 1989" und den Zwickauer Aktivitäten des 'Konziliaren Prozesses' auch: Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition, S. 810 f. 
368)  Vgl. dazu: Archiv der Friedensbibliothek, Stasi-Akte "Information über das weitere Betreiben der sogenannten Friedensbibliothek...", hier: Information vom 18.7.1989 und 25.7.1989.  
369)  Vgl. Archiv der Friedensbibliothek, Stasi-Akte "Information über das weitere Betreiben der sogenannten Friedensbibliothek...", hier: Information vom 1.8.1989.

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Gemeinsam luden die Gruppen am 27.07.1989 zu einer "China-Andacht" in die Versöhnungskirche ein, während der nicht nur das Verhalten der chinesischen Regierung verurteilt wurde, sondern auch massive Kritik am Schulterschluß der DDR-Regierung mit Peking geübt wurde.370

Zum Zentrum der vielfältigen beschriebenen Aktivitäten entwickelte sich die Bibliothek. Hier war in etwa 500 Büchern und 80 Ormigabzügen Hintergrund­informationen zu allen Themenbereichen zu bekommen, hier liefen aus und über Berlin die neuesten Initiativen anderer Gruppierungen ein, hier wurde auch ständig aktuell über alle Zwickauer Aktionen und Pläne informiert.371

Jeweils Dienstags zwischen 16.30 und 21.00 Uhr wurde die Bibliothek zum sozialen und kommunikativen Zentrum, auch wenn keine besonderen Ereignisse wie Lesungen oder Spieleabende anberaumt waren, konnte man sicher sein, dort auf anregende Neuigkeiten und diskussionsfreudige Gesprächspartner zu treffen.372

Anfang 1989 konstatierte Dompfarrer Hübler gegenüber dem Referenten für Kirchenfragen, daß sich der Schwerpunkt der Gruppen vom Domgemeindehaus in die Friedensbibliothek verlagert habe.373 Doch hier hatte nicht nur eine Verlagerung stattgefunden: Die alternativen Arbeitskreise hatten sich unter der Federführung Erwin Killats von einzelnen Initiativgruppen zu einer Organisation <Konziliarer Prozeß> gewandelt. 

Aus der Solidargemeinschaft war ein strukturiertes Netzwerk geworden, daß rechtlich an die Kirche angebunden war. Dieses Netzwerk war in Zwickau auch der Träger des Aufbruchs zu Friedensgebeten und Demonstrationen im Herbst 1989 und Ausgangspunkt der Sammelbewegung des Neuen Forums im Bezirk Karl-Marx-Stadt.

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370)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 143954 (nicht paginiert).  
371)  Vgl. Archiv der Friedensbibliothek, Stasi-Akte "Information über das weitere Betreiben der sogenannten Friedensbibliothek...", hier: Information vom 12.9.1989.  
372)  Vgl. Privatarchiv Killat, Stasi-Akte OV "Konzil", Bericht vom 29. Juli 1989.
373)  Vgl. StAC, RdB KMSt, Ber. Inneres/Sektor Kirchenfragen, 143942 (nicht paginiert).

 

 

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 Katja Schlichtenbrede (1999) Alternative Gruppen in Zwickau  in den 80er Jahren im Spannungsfeld  von Staat und Kirche