Rolf Schneider 

Volk ohne Trauer

Notizen nach dem 
Untergang der DDR 

 

1992 im Steidl Verlag, Göttingen 

 

1992     233 Seiten 

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Pankowbuch

Mitscherlich 1967   Jens Reich  

F.Schorlemmer   Christoph.Hein 
Stefan.Heym  Hans Maaz  
Rolf.Henrich  Christa.Wolf

 

(d-2006:) Ich finde das Buch wunderbar und lese immer gerne darin. Mein Gott, sage ich mir, was haben doch die Deutschen für kluge Chronisten.


 

Mit diesem Buch setzt Rolf Schneider seine Notizen vom Untergang der DDR fort, jene persönliche Chronik des letzten Jahres der DDR, die Fritz J. Raddatz in der ZEIT als »das beste Buch zum Umbruch der DDR: genau, haarsträubend, trist und gelegent­lich sehr komisch«, gelobt hat.

Deutschland im ersten Jahr nach der Vereinigung, in den zurückliegenden Monaten der schwierigen Annäh­erung zwischen Ost und West.

Schneider verfolgt den schnellen Wandel der Verhältnisse in der ehemaligen DDR, und seinen Augen entgeht nicht, welche Eigenarten dieses Landes zu Recht mehr und mehr aus dem neuen Alltag verschwinden; und auch nicht, was die freibeuterische Marktwirtschaft an Zerstörung und wilder Konkurrenz mit sich bringt.

Er beschreibt aber auch die wohl unveränderliche Eigenschaft der Menschen – System hin oder her –, sich stets der Macht zu unterwerfen: Anpassung und Karrieredenken.

Den Schwerpunkt seiner Notate bildet die Auseinander­setzung mit der intellektuellen Linken in Ost und West, die zwischen schnellem Opportunismus und nostalgischer Larmoyanz laviert. Ihrer Problemlage widmet Schneider drei längere selbst­kritische Betrachtungen, die diesen Band beschließen. 

Inhalt

Statt eines Vorworts (9-16)

 

1 Das Jahr des Schafes a1  b2  c3  d4  e5  f6 

2 Grenzgebiet  (145) 

3 Offener Brief an Friedrich Schorlemmer (161)

4 Schriftsteller und Publikum (171)

5 Von linker Melancholie   (185) 

6 Volk ohne Trauer  (197) 

7 Sigmaringen   (207-233) 

    

Statt eines Vorwortes

9-16

Die Sache liegt noch nicht sehr lange zurück. Gleichwohl erhalten offizielle Erinnerungen daran mehr und mehr etwas Beiläufiges, weswegen es kaum noch als überflüssig erachtet werden kann, zu betonen, daß der Sturz des realsozialistischen Herrschafts­systems in der damaligen DDR etwas ganz und gar Außer­ordent­liches gewesen ist.

Denken wir zurück. Das Honecker-Regime machte bis zuletzt einen ziemlich festgefügten Eindruck. Die Sicherungen bestanden aus massenhafter Überwachung, aus Bürokratie, Furcht, Anpassung und einem bescheidenen internationalen Respekt. Selbst die vorhandene Opposition schien bloß geeignet, das System zu stabilisieren.

Es brach dann doch zusammen, und innerhalb kürzester Frist. Werkzeuge des Umsturzes waren politisier­ende Gottesdienste, ein vor aller Welt ausgebreitetes Emigrations­begehren und, schließlich, die öffentlichen Protest­bekundungen von Millionen, geschehen in fast allen Städten des Landes. Es gab die provozierenden Eingriffe der Ordnungsmacht. Gleichwohl blieben die Demonstranten friedlich.

In ihrer Taktik, deren sanftes Symbol die brennende Kerze war, lassen sich religionsferne Reflexe der Bergpredigt Jesu Christi erkennen, zu danken dem Umstand, daß dieser politische Widerstand sein Training vornehmlich in Einrichtungen des deutschen Protestantismus erfuhr. Die Zerstörung der alten Herrschafts­strukturen geschah so still wie nachdrücklich. 

Blut floß keines.

Denn dies war von der revolutionären Standgerichtsbarkeit anderswo zu erfahren gewesen: daß sie immer auch Unschuldige ereilte, wie umgekehrt viele der wahrhaft Schuldigen problemlos davonkamen. Als Ziel der aufständischen Mehrheit in der DDR erwies sich bald der staatliche Anschluß an die Bundesrepublik. Das war ökonomisch vernünftig und taktisch geschickt: Man nahm das westdeutsche Grundgesetz beim Wort seiner Präambel.

Der Herbstaufstand 1989 in der DDR wurde die erste wirklich geglückte Emeute dieses Umfangs in der deutschen Geschichte. Sie wirkte weit über die nationalen Grenzen hinaus, denn die sogenannte samtene Revolution in der CSSR war ihre Kopie ebenso, wie es die antistalinistischen Aufstände in Bulgarien und Rumänien waren. Der endgültige Zerfall des sowjetischen Imperiums und der Sowjetunion selbst wurde befördert. Das kleine Volk zwischen Elbe und Oder erwies sich als Subjekt epochaler Ereignisse. Alle Welt, die westdeutschen Nachbarn voran, bezeugten ihm dafür Bewunderung und Respekt.

Hochgefühle sind kein Dauerzustand, und auf Zeiten des Rauschs folgt der Katzenjammer. Die Ostdeutschen brachten für ihre neuen Zustände außer der Tatsache und dem frohgemuten Bewußtsein ihres Sieges nicht viel mehr als ihre Arglosigkeit mit.

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Die beträchtlichen Defizite des von ihnen bewohnten Landes entdeckten sie mit den Westdeutschen gemeinsam. Wenn sie je gemeint haben sollten, der wiederentstehende Nationalstaat sei auch etwas wie eine Solidargemeinschaft, mußten sie jetzt begreifen, daß er vor allem das Gefäß einer hochentwickelten Warenwirtschaft war. Von der hatten sie bislang bloß die Schaufenster gekannt. Jetzt sahen sie sich in erbitterte Verteilungskämpfe geworfen, für die sie schlecht gerüstet und gänzlich ungeübt waren.

So wurde aus ihnen der bläßliche häßliche Ossi. Faul, unbeholfen, dumm, verschlagen, habgierig, opportunistisch, wehleidig und primitiv. Unfähig zu begreifen, daß dies nur von der Gegenseite eingesetzte psychologische Waffen in einer ökonomisch bestimmten Auseinandersetzung waren, fragten sie sich, ob solche Urteile womöglich berechtigt seien. 

Die Frage so zu stellen bedeutete schon, das Urteil zu verinnerlichen und sich ihm entsprechend zu verhalten.

Das westdeutsche Interesse für die ostdeutschen Geschehnisse vom Herbst '89 bleibt unzweifelhaft. Es war so stark und so flüchtig wie im Falle, sagen wir, des Gladbecker Geiseldramas: Es war aus dem gleichen Stoff. 

Die Mehrheit der Westdeutschen hatte bis dahin weder innere Beziehungen zur DDR besessen noch Kenntnisse von ihr. Vierzig Jahre einer hermetischer werdenden Teilung wirkten sich aus. 

Um ein weniges, und die offizielle DDR-Vorstellung von den zwei deutschen Nationen wäre politische Wirklichkeit geworden.

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Zur selbstverschuldeten Tragödie der Ostdeutschen gehört es, daß sie die wenigen Waffen, die sie in der Abwehr der westdeutschen Übermacht zur Verfügung hatten, immer viel zu früh einsetzten und deswegen zu rasch verschlissen. 

Die staatliche Einheit war noch nicht vollzogen, da hub ein lautes ostdeutsches Nachdenken an über jene Identitäten, die man angeblich einzubringen habe. Die Vokabel wurde derart inflationiert, daß bald niemand sie mehr hören mochte, und was sich hauptsächlich dahinter verbarg, waren bloß die Privilegien der einstigen Herrschafts­schicht.

Vergleichbares geschah, als die Erzählung einer sehr bekannten ostdeutschen Autorin in einigen westdeutschen Blättern böse Verrisse erfuhr. Das Negativurteil war gar nicht einhellig gewesen, doch der ostdeutsche Literaturbetrieb begann alsbald zu zetern, derart wolle man ihm die Existenz­berechtigung rauben. Das war zwar falsch, aber die Idee stand im Raum. Sie mußte bloß noch materialisiert werden. Eben das geschieht gegenwärtig, und wieder hat der mögliche Protest durch voreiligen Verschleiß sich selbst entwertet.

Die von einigen mächtigen westdeutschen Feuilletons vorgetragene Behauptung, der gesamte DDR-Kulturbetrieb sei von der Stasi manipuliert, ist so gut wie ein Todesurteil. Etwas von so ekelhafter Herkunft faßt ein Mensch mit Geschmack nicht an. Der Vorwurf selber stützt sich bloß auf die eher dürftigen Belege von Kontakten zweier Ostberliner Avantgarde-Poeten zu Erich Mielkes Behörde.

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Die spätestens seither tobende Stasi-Paranoia trägt alle Züge jener Krankheit, die zu heilen sie vorgibt. Die Ostdeutschen halten sich dabei deutlich zurück, was weniger mit ihrer möglichen Involvierung zu tun hat als mit ihrer sehr viel besseren Kenntnis der Wirklichkeit.

Sie wissen nämlich, daß ihre Existenz in Erich Honeckers DDR insgesamt ein gläsernes Dasein war. Die Bewachung ihres Denkens und Tuns geschah nicht nur durch die Staatssicherheit, sondern außerdem: durch die SED, durch die Gewerkschaft, durch die Polizei, durch den Zoll, durch die Schule, durch den Jugendverband, durch die Politruks, durch die Justiz, durch die Ämter, durch die Kader oder die Personalabteilungen der Betriebe, durch den Klatsch

Denunziation setzte nicht die Verpflichtungserklärung als IM voraus, Neid genügte. Das Entsetzen der Ostdeutschen nach dem Sturm auf die Stasi-Zentralen erklärt sich nicht so sehr aus der Entdeckung des Observierungsumfangs, der bekannt war, wie aus den Riesenmengen von Geld, Materialien und sinnlos Beschäftigten, von denen man jetzt erfuhr.

Die inzwischen getroffene Übereinkunft, Mielkes Stasi zur einzigen und ausschließlichen Schuldadresse der alten DDR zu erklären, ist so bequem wie falsch und gefährlich. Sie operiert mit Vermutung und Heimtücke. Sie hat den unterhaltsamen Effekt von Hexenjagd, Schlüssel­lochenthüllung und Geheim­dienst­roman.

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Sie exkulpiert völlig die Spitzbuben aus den anderen Offizial­bereichen, die auf solche Weise unangefochten in den höchsten Behörden und Parlamenten wirken dürfen, während ein einst bei der Stasi angestellter Handwerker es nicht einmal zum Straßenkehrer im öffentlichen Dienst bringen kann.

Die Manager in diesem sonderbaren Geschäft sitzen westlich der Elbe. Ihre Schaltstellen sind zum Beispiel die vielfältigen Kommando­stäbe der Bewußtseins­industrie. Sie haben zahlreiche Zuträger und ein dankbares Publikum. 

Zum Phänomen der DDR-Staatssicherheit unterhalten sie alle miteinander die Beziehung des lustvoll erschauernden Voyeurs, und außer diesem Kitzel bieten sich ihnen zusätzlich drei Vorteile.

Der erste ist ein Akt nachholender Geschichtsklärung. Jene Depurgation, welche die Gründergeneration der alten Bundes­republik bei ihren Verstrickungen in die Verbrechen der Hitlerei aus vielerlei Gründen nicht vornahm, wird nun, durch die Generation der Kinder, bei den Ostdeutschen exekutiert. Das Verfahren ist ideal. Man weiß ganz gewiß, daß man selbst nicht betroffen ist, und zeigt doch gegenüber dem eigenen Volk die gnadenloseste Härte. Endlich einmal die Chance, vor den Augen der Welt Deutschlands schmutzige Hände demonstrativ zu säubern.

Der zweite ist die mit dieser Kampagne verbundene und bereits erwähnte Marktbereinigung. Verstörte und verunsicherte Konkurrenten sind bequem. Der letzte Vorteil hat dann noch­mals mit Historie zu tun.

Die politisch-wirtschaftlichen Ursprünge der Westdeutschen, Grundlage ihres beträchtlichen Erfolgs, waren nichts weniger denn selbstbestimmt, vielmehr wurden sie von den Besatzungsmächten aufgenötigt. Hingegen war der Aufstand der Ostdeutschen ein Akt der souveränen Selbstbefreiung. Aus der eigenen Geschichte ließ sich dem nichts annähernd Gleichwertiges zur Seite stellen, und das drückte mit der Zeit aufs Gemüt.

Da entdeckt man, glücklicherweise, daß viele wichtige Akteure des Herbst 1989 in der DDR Agenten der Stasi gewesen sind. Schnur, Böhme, de Maiziere, so manches Mitglied der von ihm geleiteten Regierung und so manches Mitglied des protest­antischen Klerus. Muß da nicht gesagt werden, bei dem Aufstand habe es sich überhaupt bloß um ein manipulatives Unternehmen der Stasi gehandelt? Mit Krenz, Schalck-Golodkowski und Markus Wolf als Schlüsselfiguren? Einer, der es wissen muß, Hans Modrow, hat es jüngst genau so gesagt.

Die friedliche Revolution in der DDR wäre demnach ein so unappetitliches Ding wie die dortige Kultur, und die Ostdeutschen wären nicht nur nicht verdienstvoller, sondern noch viel mieser als man selbst.

Außerdem wären sie um das gebracht, was sie infolge inflationärer Verwendung nun auch nicht mehr guten Gewissens in den Mund nehmen dürfen: ihre Identität, ihre besondere Geschichte und ihre Würde. Als politische Krüppel gingen sie hinfort noch gehorsamer an der Leine der Westdeutschen, ohne Eigensinn, ohne Erinnerung und ohne Widerstand. Noch rascher würden sie die Regeln jener erlernen und noch williger deren Verhalten kopieren. Ein weiteres Mal von der Geschichte betrogen, würden sie schließlich erkennen, daß ihre einstige Empörung ein Possenspiel war und politischer Aufstand alles in allem eben doch nicht lohnt.

15-16

 

 

 

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 Rolf Schneider 1992