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3  Offener Brief an Friedrich Schorlemmer 

Rolf Schneider 1992

 

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Lieber Friedrich Schorlemmer

die Lektüre Ihres Textes <Wir Fürstenberger> hat mich zu wiederholtem Kopfschütteln genötigt. Als alter Freund darf ich Ihnen das sagen, auch in dieser öffentlichen Form. Sie kommentieren die unglückseligen Geschehnisse in Fürstenberg, den Zwist um jenen Supermarkt, der in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Frauen­konzentrations­lagers Ravensbrück entstehen sollte und nun nicht entsteht. Sie tadeln die Demonstrationen der Fürstenberger zugunsten der Eröffnung einer Kaufhalle am ursprünglich vorgesehenen Ort. Als guter Christ aus dem Lande des Pietismus schließen Sie sich in den Tadel verbal mit ein. Wir Fürstenberger.

Was mich anlangt, so habe ich die Ereignisse verfolgt, wie Sie, und mir meine Gedanken gemacht. Die Empörung darüber geschah so prompt und allgemein, daß ich mißtrauisch wurde. 

Ich erinnerte mich meines letzten Besuches in der Gedenkstätte, vor ein paar Monaten. Von dem geplanten Bau ließ sich noch nichts wahrnehmen. Ich stellte meinen Wagen auf den vorgegebenen Parkplatz, von dem ich nun weiß, daß auch er zum Lagergelände gehörte. Die Kinder sowjetischer Soldaten spielten kreischend Fangen, angetan mit grellbunten amerikanischen T-Shirts, und als ich ausstieg, schnorrten sie mich um Geld an: dort, wo einst Blut floß, mit Ihren Worten.

In der Gedenkstätte entdeckte ich die unveränderten Propaganda-Sprüche der alten DDR. Im nahen Sachsenhausen, das ich an­schließend besuchte, war dies noch weit penetranter. In jener Landschaft verlief einst der Leidensweg der Häftlinge von Sachsen­hausen und Ravensbrück, Frühjahr 1945, und wo damals die dabei anfallenden Leichen verscharrt wurden, mögen heute Aus­flugs­lokale und Imbißbuden stehen. Niemand denkt daran. 

Erbarmen und nacheilendes Schuldbewußtsein lassen sich nicht an Erd­krumen festmachen. Wollten wir alle Regionen tabuisieren, wo je in der Geschichte der Menschheit unschuldiges Blut floß, wäre der Erdball unbewohnbar.

Ich erinnere mich eines der luxuriösesten Hotels, die ich bei meinen Reisen durch Südpolen angetroffen habe. Es steht in Oswiecim, einer Stadt, die wir besser unter dem Namen Auschwitz kennen, und zwar steht es unmittelbar am Zaun des dortigen Vernichtungslagers. Man kann in diesem Hotel tafeln und trinken, ruhen und lieben, immer mit Blick auf die Häftlingsbaracken und die Schornsteine des Krematoriums. Mir stockte das Blut, als ich das sah. Natürlich ist das Hotel auch vernünftig: Das Lager hat viele Besucher, der Weg zur eigentlichen Stadt ist weit, irgendwo müssen die Leute unterkommen, warum also nicht in unmittelbarer Nähe ihres Zieles? Wo einst Blut floß, sagen Sie, fließt nun Geld. Ich kann mich nicht erinnern, in irgendeinem Bericht über Auschwitz Worte des Tadels über die Existenz jenes Hotels gelesen zu haben.

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Ich bin dort nicht eingekehrt. Ich hätte es nicht fertiggebracht. Ich hätte auch den Supermarkt von Ravensbrück nicht betreten, wäre er in Betrieb gegangen. Gleichwohl begreife ich ein wenig die Reaktion der Fürstenberger, denen man jahrzehntelang den verlogenen Antifaschismus der SED aufgenötigt hat, bis sie die Gedenkstätte mit ihrer mittelmäßigen Skulptur bloß noch als die öde Kulisse eines völlig entleerten Geistes empfanden.

Die Insensibilität der Fürstenberger ist nicht deutsch, wie Sie meinen, sie ist ostdeutsch. Sie wurde den Leuten eingebleut durch Margot Honeckers Volksbildung und die zum plumpen Zeremoniell entarteten Gedenken von Leid und Befreiung. Daß, was den Polen in Auschwitz wie selbstverständlich zugestanden wird, in Deutschland zu nervösen Reaktionen führen kann, ist eine Dialektik, die zu beherrschen nicht so sehr das Geschäft von Supermarktkunden als das der politischen Klasse ist. Das Baugelände wurde irgendwann förmlich vergeben, der geplante Bau offiziell genehmigt: von Behörden, die der administrativen und politischen Verantwortung des Landes Brandenburg unterstehen.

Dieser Tage las ich im amerikanischen Nachrichtenmagazin Newsweek eine Geschichte, wo die Ereignisse in Fürstenberg und die Rückführung der Leiche König Friedrich II. nach Potsdam als deutliche Signale für die Heraufkunft eines »Vierten Reiches« gedeutet wurden, mithin eines Großdeutschland aus ungebrochen reaktionär-chauvinistischer Überlieferung.

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Das ist wohl ein falscher Analogie-Schluß. Daß er angestellt werden würde, war gleichwohl voraussehbar. Daß es dazu kommen konnte, hat die gegenwärtige Regierung in Potsdam mitzuverantworten.

Ich bin ein Bürger des Landes Brandenburg. Der Sozialdemokrat Stolpe wurde letztes Jahr auch mit meiner Stimme gewählt. Die Peinlichkeiten um Fridericus und Ravensbrück nehme ich ihm persönlich übel, so wie, lieber Schorlemmer, Sie Ihren in Stolpes Kabinett amtierenden Freunden aus der Bürgerbewegung das dröhnende Schweigen zu jenen Vorgängen verübeln sollten.

Das tun Sie offensichtlich nicht. Lieber schlagen Sie auf das Volk ein, das statt »Brot der Freiheit« eher »27 Brotsorten« haben wolle. Wie, wenn es sich die Freiheit in der Existenz dieser 27 Sorten definiert? Wollen wir so hochmütig sein, ihm vorzuschreiben, welchen Inhalt seine Freiheit habe und wie davon Gebrauch zu machen sei? Sie aber behaupten von den Leuten und dem multiplen Brot: »Hätte die kommunistische Herrschaft das zu bieten gehabt, sie wären wohl noch in der Sklaverei geblieben.«

Lieber Freund. Wäre die kommunistische Herrschaft befähigt gewesen, solchen Überfluß herzustellen, hätte sie ihren Verheißungen genügt und auf alle jene Restriktionen verzichten können, welche die materiell konditionierte Unzufriedenheit im Volk niederhielten. Der Kommunismus scheint aber prinzipiell unfähig, eine erfolgreiche Wirtschaft zu betreiben. Er bringt keine 27 Brotsorten hervor. Ihre dies betreffende Behauptung ist Unsinn.

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Sie kommen von Brot auf Kaffee, von da auf die Boulevardpresse, die Trivialliteratur, die Automobile, und Sie schließen mit einem Satz, den ich Ihnen nicht durchgehen lasse: »Sie sind aber nichts weiter als wieder das geworden, was sie stets waren: Privatpöbel.«

Bei jedem anderen würde ich jetzt sagen, er sei ein intellektueller Faschist. Der Satz enthält genau jene elitäre Erhebung über den gemeinen Mann, in welcher sich die arroganten Rechten mit den frustrierten Linken treffen. Da ich Sie zu letzteren rechne, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß aus jener verächtlichen Gesinnung einst die Bombenwürfe der Rote Armee Fraktion erfolgten. Die selbst mögen diesen Satz bloß als Ihre persönliche Enttäuschung über den Verlauf der jüngsten ostdeutschen Geschichte erklären. Die Wahrheit ist, daß die ostdeutsche Geschichte derart verlief, weil Ihresgleichen so zu denken vermögen und die Leute dies wahrnehmen.

 

So auch ist die Empörung über Fürstenberg, sieht man genau hin, nur ein vorgefaßtes Ritual. Sie bestätigt und verfestigt bestehende Vorurteile. Sie ist so weitgehend formalisiert und entleert wie der einstige SED-Antifaschismus. Ich glaube ihr nicht. Sie glaubt sich selbst nicht.

Heute morgen hörte ich im Radio eine Nachricht. Ein Arzt aus Westberlin wurde gestern bei einem Besuch der Gedenkstätte Ravensbrück Zeuge, wie einige Skinheads sich dort in Schmierereien versuchten. Als der Mann eingreifen wollte, wurde er zusammengeschlagen. Die herbeigerufene Polizei kam zu spät. Die Sprecherin des brandenburgischen Innenministers entschuldigte dies mit Verkehrsstau und Personalmangel. Ich bin sicher, der Vorgang wird keine bedeutenden Schlagzeilen machen. Ravensbrück ist medienpolitisch ausgereizt. Daß Neonazis schmieren und prügeln, weiß man doch. 

Für mich ist dieses Geschehen alarmierender als jede Straßenblockade von Fürstenbergern in Sachen Kaufhalle, und der Lärm deswegen schuf auch eine Schutzzone für die Skins.

Ich bitte Sie, lieber Freund, über alles das ein wenig nachzudenken: um jener Überzeugungen willen, die uns einst, zu Zeiten der Diktatur, zusammengebracht haben.

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