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I. Das Zeitalter des Menschen

detopia-2020:  im pdf vom Verlag lesen.

 

Eine künstliche Erde

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Im Jahr 1960 steigt ein Mann namens Jewgenij Schepeljew am Moskauer Institut für Flugmedizin in einen kleinen, luftdichten Metallcontainer. Als er die Tür hinter sich verriegelt, ist er nicht allein. Er teilt den engen Raum mit fünfundvierzig Litern Grünalgen der Gattung Chlorella.

Sein Plan ist es, dass die Algen ihm den Sauerstoff liefern, den er als Mensch zum Leben braucht. Theoretisch sollte das klappen. Vor ihm hat es aber noch kein Mensch gewagt, die biologischen Berechnungen am eigenen Leib auszuprobieren. Der zweiundvierzig Jahre alte Russe ist der erste Mensch, der seine Luftversorgung einem Bottich Aalgen überlässt, der erste, der sich komplett von einem halb natürlichen, halb künstlichen System abhängig macht, das er selbst entworfen hat.1,2

Schepeljew war mit acht Geschwistern in ärmlichsten Verhältnissen groß geworden. Er hatte früh seine Liebe zur Wissenschaft entdeckt. In Moskau gelang es ihm, in den wissenschaftlichen Jugendclub des Zoologischen Gartens aufgenommen zu werden. Dann studierte er Medizin und wandte sich einem großen Thema zu: wie das Leben in den Weltraum gelangen kann. Es ist die Zeit der groß angelegten Weltraum-Projekte. Der hagere Forscher hatte bei seinem Container­experiment vor allem ferne Sterne im Sinn. Seine Behälter, kleine, künstliche Ökosysteme, sollen in Zukunft zu ganzen Städten heranwachsen, die Pioniere auf anderen Planeten aufbauen. So würde es der Sowjetunion möglich, nach ihrem Sieg über den kapitalistischen Westen im Kalten Krieg auch das Weltall zu kolonisieren.

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Schepeljew konnte nicht ahnen, dass es diese Sowjetunion schon dreißig Jahre später nicht mehr geben und sie als Sinnbild für eine verbrecherische Diktatur verschwinden sollte. Ebenso wenig ahnte er aber, dass sein Versuch sich als absolut bahnbrechend erweisen würde – nicht für die Weltraumkolonien, sondern für die Erde der Zukunft.

Wir nehmen diese Erde immer noch als etwas Natürliches wahr, in das wir Menschen nur »eingreifen«. Vom Moment unserer Geburt an atmen wir die Luft, die einfach »da« ist, wir trinken Milch aus der Brust der Mutter, weil wir Säugetiere sind, wir trinken Wasser, weil es die am häufigsten vorkommende Flüssigkeit auf Erden ist. Wir essen Nahrung, die aus Tieren und Pflanzen entsteht, und leben in einem Klima, das sich aus der Wechselwirkung von Sonnenstrahlen, Meeren, Wäldern und Atmosphärengasen ergibt.

In unseren Städten atmen wir wie selbstverständlich die Luft, die ferne Wälder und Algen im Meer freisetzen. Auf unseren Feldern nehmen wir Dienste von Bodenorganismen in Anspruch, die noch kein Agrarwissenschaftler kennt. Und wenn wir krank sind, nehmen wir Medikamente ein, die oftmals aus Bakterien, Pilzen oder Wildpflanzen isoliert sind. In dieser Natürlichkeit, die uns umgibt, geschieht aber gerade etwas Großes. Über Jahrtausende haben sich die Menschen als Rebellen gegen die Supermacht Natur gefühlt und verhalten. Sie haben versucht, von ihr nicht getötet oder weggespült zu werden, sie haben sie nach Kräften ausgebeutet und manipuliert. Aber sie haben sich letztlich doch unterlegen gefühlt, so als wäre »die Natur« auf immer die größere Kraft. In jüngster Zeit verändert sich diese Konstellation aber auf erstaunliche Weise. Binnen eines erdgeschichtlichen Wimpernschlags ist der Mensch in eine zentrale Rolle im Stoffwechsel der Erde gerückt, bis zu dem kritischen Punkt, an dem er dominant wird.

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Das passiert jetzt. Die alten Naturkräfte treten sukzessive hinter das zurück, was Menschen tun, was sie gestalten und zerstören. im Jahr 1800 lebte eine Milliarde Menschen auf der erde, 1930 waren es zwei Milliarden. im Oktober 2011 wurde bereits Mensch Nr. 7.000.000.000 geboren. Und bis zur Mitte des Jahrhunderts sollen laut Uno-Prognosen weitere zwei Milliarden Menschen hinzukommen, so viele, wie in der Zeit zwischen dem ersten und dem Zweiten Weltkrieg die ganze Menschheit ausgemacht haben. Das bedeutet, dass bis dahin jeden Tag durchschnittlich 150.000 Menschen mehr zur Welt kommen als sterben. Es bedeutet, dass sich dann 66 Menschen rechnerisch einen Quadratkilometer landfläche teilen müssen. Würden die zusätzlichen Menschen alle in Deutschland geboren, wäre das jeden tag eine stadt von der größe Potsdams. Sie kommen aber hauptsächlich in schwellen- und entwicklungsländern zur welt. So wächst die Menschheit jeden tag um einen indischen slum, eine hochhaussiedlung von Peking, einen Vorort von Jakarta oder eine Mittelstadt im Kongo.3

Das ist aber nur die offensichtlichste Weise, auf die Menschen die erde durchdringen und das verändern, was bisher natur hieß. Fruchtbar und vermehrungsfreudig sind nicht nur sie selbst, sondern auch ihre häuser, waldplantagen, Bergwerke, straßen, abfälle, Maschinen, nutztiere, Computernetzwerke und seit neuestem auch die gentechnischen Organismen, die sie erdacht haben. Synthetische Chemikalien sind vom nord- bis zum südpol, von der tiefsee bis zu Bergspitzen, überall auf der erde zu finden. Die Bevölkerung hat seit 1860 um den Faktor 5,4 zugenommen, aber der energieverbrauch um den Faktor 41. Durchschnittlich verbraucht heute jeder Mensch zwei liter erdöl am tag.4 nach heutigem trend wird die Menschheit bis etwa zum Jahr 2025 zusätzlich 700 Milliarden tonnen Kohlenstoff als CO2 in die atmosphäre und die Ozeane

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eingebracht haben, indem sie unterirdische lagerstätten von Kohle, erdgas und erdöl ausbeutet und verbrennt.

Das ist so viel Kohlenstoff, wie alle heutigen lebewesen zusammen enthalten.5 aus einigen wenigen hektar agrarland im nahen Osten ist ein globales netzwerk von weiden und äckern geworden, das zusammengenommen eine Fläche von 7000 mal 7000 Kilometern einnimmt. Das entspricht der fünffachen Fläche der USA. Die menschlichen siedlungen erstrecken sich bereits über ein areal, das halb so groß ist wie der australische Kontinent.6,7 wildnis im echten sinn gibt es kaum noch auf der erde. was übrig ist, ist häufig das ergebnis menschlicher entscheidungen: der lokalen Bevölkerung, die einem gebiet dauerhaften wert zuspricht; von Umweltorganisationen, die sich für ihren schutz einsetzen; oder von Firmenvorständen, die zu dem ergebnis kommen, dass sich eine ausbeutung noch nicht lohnt.

Unsere Fähigkeiten und Bedürfnisse, unser Wissen und unsere Emotionen beginnen, den künftigen Verlauf der Evolution zu steuern. Einerseits verringern wir die Bestände vieler tier- und Pflanzenarten bis zu einem Punkt, an dem sie erlöschen. andererseits erschaffen wir neue lebensformen durch Zucht, gentechnik oder künftig durch biotechnisches Design. lebewesen der Zukunft können reine gedankenprodukte des Menschen sein, ein anregender waldspaziergang eines Forschers kann einige Monate später eine neue lebensform hervorbringen. eine neue welt ist am wachsen, eine Menschenwelt. Doch das technische und ökonomische Können eilt dem Verstehen weit voraus. Die Veränderungen treten schneller auf, als wir sie durchdringen und analysieren können. Die neue Erde, die entsteht, ist eine Art Mega-Version des Moskauer Versuchscontainers von Jewgenij Schepeljew, nur nicht so still, ordentlich, überschaubar.

Der Versuch von damals war deshalb so wegweisend, weil er für kurze Zeit die gewachsenen Ver

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bindungen zur normalen atmosphäre kappte und sie durch eine künstliche Umwelt ersetzte.

Ungefähr zur selben Zeit, als schepeljew in den Container stieg, flog sein Genosse Juri Gagarin als erster ins weltall, um die erde von außen zu sehen. gagarin wurde weltberühmt, weil er als erster Mensch mit eigenen augen die erde von außen sehen konnte. schepeljew wurde nicht berühmt, aber er hat eine neue innensicht auf die erde erschlossen – auf jene erde, die Milliarden künftiger Menschen bewohnen werden. gagarin erblickte die erde des Jahres 1961. schepeljew erkundete die erde zukünftiger Jahre, ob 2061, 2161 oder sogar 2461. Das soll nicht heißen, dass die Menschen allein von der Grünalge Chlorella leben werden. Wir werden weiterhin in einer hyperkomplexen welt leben, aber eben in einer welt, deren inneneinrichtung wir Menschen weitgehend gestalten.

Die von Religionsführern und Philosophen errichteten grenzen zwischen dem, was natur an uns ist, was Kultur, was natur an der Kultur und Kultur an der natur, lösen sich vor unseren augen auf. Das gewebe des lebens wird ein gewebe des gedachten – vom Molekül bis zur Biosphäre. Nur 24 stunden lief schepeljews erster Versuch. als ein Kollege des Forschers die tür wieder öffnete, beklagte er sich über den fauligen geruch, der dem Container entströmte. Der eingeschlossene fühlte sich benommen, sein Denken war von den gasen vernebelt, die er selbst ausgeatmet hatte. aber schepeljew hatte in der tat vom sauerstoff gelebt, den seine algen erzeugt hatten. Über einen längeren Zeitraum hinweg hätte der Forscher mit dem ausatmen die Pflanzen mit zusätzlichem Kohlendioxid versorgt, also quasi gedüngt. Die Symbiose von Mensch und Alge war zumindest ansatzweise gelungen.8

Im westsibirischen Krasnoyarsk setzten andere Wissenschaftler die streng geheimen Forschungsarbeiten fort. 1972 schafften sie es, drei Menschen für ein halbes Jahr im künstlichen system »Bios-3«

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leben zu lassen, ohne wasser und sauerstoff zuzuführen. Bis ende der achtziger Jahre gelang es ihnen, drei Viertel ihrer nahrung selbst zu erzeugen.

Allein algen zu essen hatte sich nämlich auf Dauer als Stimmungskiller erwiesen. gurken, tomaten, Kartoffeln, erbsen und andere Pflanzen bauten die eingeschlossenen selbst an, es entstand sogar so etwas wie ein eigener Bodentyp, das »bodenartige substrat«. immer experimentierfreudiger wurden die sowjetischen Forscher mit der Zeit. als sich in der sowjetunion die politische Öffnung abzeichnete, begannen sie, schadstoffe in den Container zu pumpen und die auswirkungen zu untersuchen. »Die Fähigkeit, solche stoffe zu puffern und umzuwandeln, ist begrenzt«, heißt es im Forschungsbericht knapp. was sie damit sagen wollten, ist einfach: Ökosysteme können eine ganze weile mit stress umgehen, dann kollabieren sie.9

In den 1960ern, als schepeljew seinen Versuch durchführte, standen sich der westen und der Ostblock als Todfeinde mit riesigen Atomwaffenarsenalen gegenüber. Ständig war damit zu rechnen, dass diese waffen eingesetzt würden. Funkenschläge, die einen atomkrieg auslösen konnten, gab es genug: den Fehlalarm in einer grönländischen Frühwarnstation, den Bau der Berliner Mauer, die amerikanische invasion in der schweinebucht. Tausende Atombombenexplosionen hätte es binnen weniger Stunden gegeben. sie hätten die Zivilisation beenden können, vielleicht sogar, nach drei Milliarden Jahren evolution, das leben an sich.

Im Kampf der Supermächte überwog aber der Überlebenswille. Auf gewisse weise ist alles leben seither ein artefakt des Kalten Kriegs. Menschen entschieden sich dafür, die Biosphäre nicht mit atombombenexplosionen zu zerstören. Das ist ein guter ausgangspunkt für alles, was kommt. es ist deshalb auch heute sinnvoll, nicht auf eine Katastrophe zuzuleben, sondern für eine lange Zukunft zu planen, in der die multiplen Krisen der gegenwart – die Krisen

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von Umwelt, wirtschaft, entwicklung und gesundheit – lösbar werden.

Die russischen Containerexperimente haben gezeigt, dass symbiose in einer von Knappheiten geprägten Umwelt möglich ist. später sollte ein ähnliches, aber viel größer angelegtes experiment vor allem zeigen, wie wenig wir noch über das Überlebenssystem erde wissen und wie primitiv wir im Moment darangehen, eine dominante rolle auszuüben.

Zwischen 1991 und 1994 zogen insgesamt fünfzehn Menschen in eine riesige, hermetisch isolierte glaskuppel in der wüste von arizona. Das Projekt war eine Mischung aus Ökoidealismus, Forschung und Kunstinszenierung. es wurde von Edward Bass finanziert, einem Milliardär und grünen Philanthropisten, der untersuchen lassen wollte, ob Menschen in künstlichen Ökosystemen überleben können. wie bei den russischen Containern ging es auch hier um künftige weltraumsiedlungen, aber auch darum zu untersuchen, ob Menschen auf der erde komplexe biologische systeme erschaffen und betreiben können10.

Das Projekt »Biosphere 2«, erdacht von einem amerikaner namens John Allen, fand unter den augen der weltöffentlichkeit statt. Für erhebliches eintrittsgeld durften Besucher sogar auf das gelände. einen regenwald, ein Meer, ein Korallenriff, einen Mangrovengürtel, eine nebelwüste und eine savanne, jeweils in Miniaturausführung, beherbergte das abgeriegelte gebilde. Zweieinhalbtausend Quadratmeter agrarfläche hatten die »Bionauten« zur Verfügung, dazu eine bunte tierauswahl, von Bienen bis zu Zwergziegen. Die Crew ging durch hoch- und tiefphasen. Zeitweise sank der sauerstoffanteil auf einen wert wie von gebirgsluft auf viertausend Metern höhe, weil die Bodenbakterien überaktiv waren und weil sauerstoff sich im Beton der wände einlagerte. extreme Müdigkeit machte sich breit.

Die Kollegen draußen mussten frische luft in das

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system injizieren. Zuerst durchlebten die Bewohner eine Phase von hunger. sie brachen notrationen an, weil Bestäuberinsekten ausstarben und zu wenige Früchte da waren. Dann stand streckenweise ausreichend essen für eine schmale Kost zur Verfügung.

»Biosphere 2« war als naturkundliches Projekt konzipiert – am ende war es eher ein menschenkundliches. im Jahr 1994 scheiterte das Vorhaben auch an der Ökologie, aber mehr noch an der Psyche. schon unter der ersten Crew hatte es streit gegeben, ob die reine wissenschaft im Vordergrund stehen sollte oder die ganzheitliche Betrachtung dieser künstlichen welt. Die zweite Crew musste ihre Mission dann vorzeitig wegen eines Konflikts abbrechen. es sei um die Finanzierung des Projekts gegangen, hieß es offiziell. Zurück blieben Dutzende wissenschaftliche Veröffentlichungen, ein Forschungszentrum, das heute die University of arizona nutzt – aber vor allem die einsicht, dass nicht einmal zweihundert Millionen Dollar reichen, um auf 1,2 hektar ein künstliches Ökosystem für acht gebildete Vertreter des Homo sapiens zu unterhalten.11-13

Trotz vieler schwächen war das Projekt kein Fehlschlag. es brachte eine beeindruckende Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen hervor, aber mehr noch eine wichtige einsicht: wenn etwas getrennt von den kostenlosen Dienstleistungen des erdsystems funktionieren soll, getrennt vom wasser, von der luft und von Ökosystemen, geht der aufwand offenbar ins Unendliche. wenn Menschen auf engstem raum zusammenleben sollen, steigen die ansprüche an sie gewaltig.

Das ist eine lehre für die gesamte Menschheit: Bisher haben wir weitgehend von den schätzen der erde gelebt, die kostenlos und überreich zur Verfügung standen. Die erde von morgen gleicht eher einem gigantischen Biosphären-experiment. es ist ein experiment, für das es keinen Kontrollversuch gibt.


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Paul Crutzens große Idee

 

Von einem Zeitalter »des Menschen« zu sprechen ist angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts eine erhebliche Verallgemeinerung. Die Menschheit besteht aus sieben Milliarden Individuen, die in tausenden von Kulturen, Sprachräumen und Traditionen leben. Die »Neuro-Diversität« von Gefühlen, Verhalten, Gedanken, Musik, Geschichten, Träumen, Körpersprache, Sexualpraktiken, Gesten und Taten kann es mit der Biodiversität des Regenwalds längst aufnehmen.

Alle Menschen sind vor dem kollektiven Bewusstsein gleich, was ihre rechte und ihre Menschenwürde betrifft. Die Unterschiede zwischen dem selbstlosen und dem Planer des Völkermords, die lebensstildifferenz zwischen einem Facebooknutzer in new York und einem Ureinwohner auf Papua oder der ökonomische abstand zwischen einem hungerkind im sudan und einem Multimilliardär in russland sind aber gigantisch.

Doch es gibt eine Signatur »des Menschen« auf der erde. es ist eine welle massiver physischer Veränderungen, eine neue landschaft, die aus den träumen und albträumen, der unsichtbaren welt psychischer Zustände, ökonomischer regeln und wissenschaftlicher Kenntnisse heraus gestalt annimmt. Die neue anthropo-erde entsteht aus dem Kollektiv der Unterschiede. Homo sapiens ist tief in der geschichte des Kosmos, des sonnensystems, des Planeten und des lebens auf ihm verwurzelt. Die atome, aus denen jeder Menschenkörper besteht, wandern schon seit der Zeit des frühen Kosmos umher. Die energie der sonne spielte eine entscheidende rolle bei der evolution des lebens. Die Zusammensetzung der erde aus wasser, Mineralien und Metallen spiegelt sich in der molekularen Zusammensetzung von lebewesen wider. Körper und geist des Menschen sind das ergebnis einer evo

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lution über viele hundert Millionen Jahre hinweg, in der einzeller begannen, miteinander zu kooperieren, und sich zu Vielzeller entwickelten, die komplexe Organe wie unser gehirn aufzubauen lernten.

Jeder Mensch trägt die ganze geschichte des lebens und sogar des Universums in sich. als spezies sind wir aber neuankömmlinge. Unsere art in ihrer heutigen Form existiert erst für relativ kurze Zeit. rund 150 000 bis 200 000 Jahre sind auf der geologischen Zeitskala nicht viel. Das leben selbst ist mehr als drei Milliarden Jahre alt, und vor Homo sapiens hat es schon über viele Millionen Jahre hinweg andere arten von Menschenaffen gegeben. Das macht es noch erstaunlicher, mit welcher wucht die neue erdepoche des anthropozäns hereinbricht, mit welchem tempo der Mensch die erde zu dominieren beginnt.

Der biblische Auftrag, »seid fruchtbar und vermehret euch, bevölkert die erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des himmels und über die tiere, die sich auf dem land regen«, war auf dem weg zur heutigen welt sehr einflussreich. neuerdings wird darüber diskutiert, ob es nicht eine korrektere Übersetzung aus der sprache der Bibel wäre, von Fürsorge und nutzung statt von Unterwerfung und herrschaft zu sprechen. Doch bisher hat der biblische auftrag wie eine Vollmacht gewirkt, die erde nach menschlichen Bedürfnissen zu verändern. Bis vor kurzem erschien es allerdings reichlich weit hergeholt, dass der klassische schöpfungsauftrag eines tages erfüllt sein könnte. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hieß es, die natur sei quasi unendlich groß und nicht erschöpfbar. Vielen Bereichen der wirtschaft, von der Fischerei bis zum erdölverbrauch, liegt diese annahme bis heute zugrunde. grenzenloses wachstum ist noch immer das vorherrschende Dogma unserer tage. allerdings gab es schon vor Jahrhunderten kluge Menschen, die diese annahmen hinterfragt haben.

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Dazu zählte zum Beispiel hans Carl von Carlowitz, der im frühen 18. Jahrhundert in Freiberg als Oberberghauptmann des kursächsischen hofs wirkte. nachdem er sich ausgiebig damit befasst hatte, wie der Bergbau in ganz europa zum niedergang von wäldern führte, entwickelte er 1713 das Konzept der »nachhaltigkeit«.14

Am Beginn des 19. Jahrhunderts beschrieb der Universalgelehrte alexander von humboldt die erde als »weltorganismus« und forderte, man müsse die natur tiefgründig verstehen, um sie sinnvoll nutzen zu können.15

Noch vor diesen beiden Vordenkern hat ein französischer Künstler namens Jean de gourmont ein symbol der Verletzlichkeit und der tücken menschlicher herrschaft geschaffen. er zeichnete die aktuellste erdkarte seiner Zeit als menschliches gesicht und setzte es einem narren mit schellenmütze und Zepter ein.16

Die »narrenkappe« ist um 1575 inmitten des Zeitalters der entdecker und Kolonisten entstanden. es war die Zeit, als weltweit ein run auf rohstoffe und ländereien einsetzte, auf silberminen in Peru und die gewürzpflanzen der Molukken. Britische Bergleute förderten bereits zweihunderttausend tonnen Kohle pro Jahr.

Kaiser Karl V. brach mit dem christlichen Zinsverbot und erlaubte es niederländischen Kaufleuten, geld gegen geld zu verleihen. Zwei wellen von globalisierung hatte die Menschheit zu diesem Zeitpunkt schon durchlaufen: ihre globale ausbreitung von afrika aus, die sie schon vor rund 70000 Jahren bis nach australien brachte. Und die herrschaft von griechen und römern, die ein menschliches netzwerk vom atlantik bis fast nach China schuf. Zu gourmonts Zeit setzte eine dritte globalisierungswelle ein. Mitte des 16. Jahrhunderts kaufte die mexikanische elite bereits chinesische stoffe ein. Die ingenieurkunst erlebte eine Blüte, was sich in Meisterleistungen wie dem komplexen wasserspeicher für den Bergbau im Oberharz zeigte.

De gourmonts narrenkopf kam in diese Zeit als eine vieldeutige

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warnung – vor irdischen Machtfantasien, irdischer Überheblichkeit und irdischem irrsinn zugleich. auf die stirn ist dem narren tätowiert, wie absurd es ist, dass die Menschheit um die erde mit schwert und Flamme kämpft. »weltpunkt« nennt de gourmont die erde. Das war ein revolutionärer Begriff zu einer Zeit, als es noch kein telefon und kein internet gab und noch niemand sonst vom »global village« sprach. er gehörte damit zu den ersten, die erkannten, dass die erde in wahrheit unendlich klein ist, nicht unendlich groß, wie es den welt eroberern von damals erschien. auf dem Zepter seines weltherrschers ist von der unendlichen eitelkeit des Menschen die rede.

Über dem narrenkopf schwebt die aufforderung: »erkenne dich selbst.« lange Zeit wurde de gourmonts werk in landkartensammlungen in der rubrik »humor« verwahrt. Dabei zählt dieses werk zu den scharfsinnigen und ernsten reflexionen über das Verhältnis des Menschen zur welt. wie treffend de gourmont sein Motiv gewählt hatte, sollte sich gut vierhundert Jahre später vollends zeigen. wissenschaftler kehrten aus der antarktis mit der beunruhigenden nachricht zurück, dass die schutzhülle der erde schrumpft und nun gefährliche strahlen ungehindert zur lebenswelt durchdringen – aufgrund eines kleinen Details, das Chemiker übersehen hatten. ein Mann wusste sofort, was das bedeutet: der atmosphärenchemiker Paul Crutzen. er hatte zu den ersten Menschen gezählt, die diese gefahr voraussahen. schon in den sechziger Jahren beschäftigte er sich damit, was passiert, wenn luftschadstoffe die Ozonschicht erreichen, die den erdball gegen die aggressive UV-strahlung aus dem all schützt. im Jahr 1970 fand der niederländer heraus, dass stickoxide, die aus der landwirtschaft ausdünsten und im Feuer fossiler Brennstoffe entstehen, Ozonmoleküle zerstören können.17

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Diese Forschung inspirierte andere wissenschaftler, nach weiteren Chemikalien zu suchen, die eine solche wirkung haben. Mario Molina und sherwood rowland fanden dann heraus, dass bestimmte Kühlgase, fluorierte Chlorkohlenwasserstoffe, ebenfalls die schützende Ozonschicht auflösen können. Passiert das, trifft aggressive strahlung aus dem weltall ungehindert auf die erde. Ohne Ozonschicht wäre leben an land kaum möglich gewesen. als die nachricht aus der antarktis eintraf, bestätigte sie die hypothese der drei wissenschaftler, dass der Mensch fahrlässig damit begonnen hat, den abwehrmantel der erde aufzulösen.

Crutzen begann, sich für einen schutz der Ozonschicht vor den gefährlichen substanzen einzusetzen. er erinnert sich gut daran, wie massiv die industrie sich gegen einschnitte in ihre Produktion wehrte. in einem bisher einzigartigen aufbäumen globalisierter Vernunft unterlag sie aber. Dass der schutz vor dem lebensfeindlichen all, durch das der rotierende weltpunkt auf seiner Bahn um die sonne fliegt, verschwinden könnte, löste einen schock aus. 1987 wurde der bisher wirksamste internationale Umweltvertrag abgeschlossen, das Montreal-Protokoll, das eine stufenweise reduktion der schädlichen Kühlgase vorschreibt. Zehn Jahre später kam das Kyoto-Protokoll dazu, das den ausstoß des stickoxids lachgas drosseln soll.18

Paul Crutzen hat als einzelner Mann den Prozess ausgelöst, der die Menschheit vor der evolutionsbiologischen Blamage rettete, wegen Deodorantsprays und leckender Kühlschränke den wichtigsten schutz gegen UV-strahlen zu verlieren. Ohne seine arbeit wäre die wissenschaft vielleicht zu spät auf den gedanken gekommen, die Ozonverluste genau zu vermessen. Dann wäre das Ozonloch vielleicht so spät entdeckt worden, dass der schaden irreparabel geworden wäre. Man hätte dankbar dafür sein müssen, dass es keine nachbarplaneten mit intelligenten lebewesen gibt, die uns verspotten können.

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Einen heutigen Jean de Gourmont hätte der Umstand wohl zu einer neuen weltdarstellung inspiriert. Doppeldeutigkeiten zum »lachgas« wären auf einer modernen narrenkappe sicherlich zu lesen gewesen. Crutzens schlussfolgerung fällt so kurz wie brutal aus: »ich kann nur feststellen, dass wir ziemliches glück hatten.« im Jahr 1995 erhielt Crutzen zusammen mit den beiden anderen Ozonlochforschern den Chemienobelpreis. seine arbeit zum Ozon hat ihn seither auf ein neues Denkgleis gebracht: er glaubt, dass kein weg mehr daran vorbeiführt, das wirken des Menschen als wichtige, ja vielleicht schon wichtigste Kraft in der natur anzuerkennen.

Und so kam es, dass Crutzen im Februar 2000 bei einer Zusammenkunft von wissenschaftlern des internationalen Geosphären-Biosphären-Programms der Vereinten nationen in Mexiko plötzlich aufstand und sagte, die teilnehmer sollten doch bitte aufhören, ständig vom »holozän« als der aktuellen erdepoche zu reden. es sei viel treffender, vom anthropozän zu sprechen, von der epoche des Menschen. Diesen Begriff hatten Crutzen und der amerikanische wissenschaftler eugene F. stoermer zuvor schon in ihren Diskussionen benutzt. Kurz nach der Zusammenkunft in Mexiko schrieben sie ein Memo, in dem sie vorschlugen, unsere erdepoche in »anthropozän« umzutaufen.19 Zwei Jahre später, am 3. Januar 2002, forderte Crutzen die Umbenennung in einem Beitrag für die einflussreiche wissenschaftliche Zeitschrift Nature unter der Überschrift »Die geologie der Menschheit«: »wenn nicht gerade eine globale Katastrophe passiert – ein Meteoriteneinschlag, weltkrieg oder eine Pandemie –, wird die Menschheit auf Jahrtausende die vorherrschende Kraft in der Umwelt werden.

Eine große herausforderung liegt vor

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wissenschaftlern und ingenieuren, die gesellschaft in der ära des anthropozäns zu einem nachhaltigen wirtschaften und Management zu navigieren. Dies erfordert angemessenes menschliches Verhalten auf allen ebenen und kann sogar international akzeptierte, groß angelegte Projekte des geoengineering mit sich bringen, um zum Beispiel das Klima zu ›optimieren‹. Momentan dagegen bewegen wir uns noch weitgehend in einer terra incognita.«20

Mit diesem Artikel forderte Crutzen den Zirkel von geologen heraus, der die offizielle Zeitrechnung der erde kontrolliert. Das sind wissenschaftler, die es gewohnt sind, in schritten von Millionen von Jahren zu denken und zu forschen. Kleinteilige Variationen, etwa ein intelligentes säugetier, das an der erdoberfläche herumkratzt, interessieren sie in professioneller hinsicht nur bedingt. eine geologische epoche ist für die Chronisten der erde keine kleine angelegenheit. Die Periode des Jura ist zum Beispiel durch die massiven Kalksteinablagerungen in aller welt charakterisiert, das Karbon durch riesige Überreste fossiler Brennstoffe. Das Pliozän begann vor 5,3 Millionen Jahren und umfasst die Zeit, als mit dem Australopithecus ein Urahn des Menschen entstand. Das Pleistozän, die epoche, in der bis zu einem Drittel der erdoberfläche vereiste, begann vor 2,6 Millionen Jahren. es ist die Zeit der entstehung erster wesen, die wissenschaftler heute zur gattung homo rechnen.

Die aktuelle Epoche, das Holozän, ist also eine sehr junge Erdepoche. Ihren Beginn datieren die Ggeologen vor rund 11.700 Jahren. Aus dem griechischen übersetzt bedeutet das Wort das »völlig Neue«. Es ist eine Zeit, in der sich das Weltklima nach der letzten Eiszeit sukzessive auf natürliche Weise erwärmte, die Zeit des Beginns menschlicher Zivilisation.

An der Abgrenzung des Holozäns zum Pleistozän feilten Geologen von 1833 bis 1968 – diese Zunft ....


 

 

 

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