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1.  Zweifel und Gewißheit 

 

 

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Lebewesen unterscheiden sich auf so verblüffende Art von der unbelebten Welt um sie her, daß wir gar nicht umhin können, uns zu fragen, wie das Leben begann und zu seiner gegenwärtigen Form fand. War der Beginn des Lebens ein Zufall, das unvermeidliche Ergebnis von Naturgesetzen oder vielleicht das bewußte Werk eines mächtigen, übernatürlichen Wesens? Die Antwort auf diese Frage ist von weitreichender Bedeutung für uns, da sie nicht nur Einfluß darauf hat, wie wir unser eigenes Leben einschätzen, sondern auch den weiteren Sinn des Lebens an sich.

Die Frage nach dem Ursprung des Lebens ist daher so alt wie die Menschheit selbst, und jede Gesellschaft hat zu einer Antwort gefunden. Lange Zeit hatten diese Antworten in der Regel die Form einer Sage, einer Darstellung, die sich selbst bestätigte und nicht den Versuch unternahm, ihre Richtigkeit durch irgendeine objektive Methode zu belegen. Diese Sagen waren meistens eingebunden in einen größeren religiösen Rahmen, der Führung in vielen Fragen des menschlichen Daseins bot.

In neuerer Zeit hat eine andere Art des Umgangs mit der Wirklichkeit die Phantasie der Menschen beschäftigt: die Wissenschaft. Die Entwicklung des modernen Wissenschaftsbildes vom Universum war ein grandioses geistiges Unternehmen der menschlichen Rasse. Viele Ereignisse, die einmal komplex und unklar erschienen, sind uns verständlich geworden — von den Bewegungen der Sterne bis zu grundlegenden Vorgängen in unserem Körper. Darüber hinaus wurde dieses Wissen genutzt, im Alltag weite Gebiete der Natur unter Kontrolle zu bringen.


Unsere Vorfahren warteten geduldig auf die Morgendämmerung, aber wir können es mit einem Schalter Licht werden lassen. Sie litten unter chronischen Krankheiten, während wir oft nur eine Tablette zu schlucken brauchen, damit die Schmerzen verschwinden.

Diese Triumphe der Technologie sind ein Beweis für die Kraft des wissenschaftlichen Vorgehens. Sie wecken in uns die Erwartung, die Wissenschaft könne uns auch sagen, wie das Leben entstanden ist. Die Wissenschaftler, die sich am intensivsten mit der Erforschung des Ursprungs des Lebens befassen, haben uns tatsächlich eine solche Darstellung gegeben. In ihr wird von einer jungen Erde berichtet, die mit grollenden Vulkanen bedeckt war und auf der in einer Atmosphäre aus seltenen Gasen Gewitter tobten. Viele Chemikalien entstanden, die sich in den Meeren lösten und ein Gebräu schufen, die sogenannte Ursuppe. Dieses fruchtbare Gebräu enthielt fast alle für das Leben notwendigen Bestandteile. Irgendwann entstand durch Zufall eine Chemikalie, die die phantastische Fähigkeit besaß, sich zu vermehren. Das geschah auch. Sie durchsetzte das Gebräu mit ihren Abkömmlingen, und die Darwinsche Evolution begann.

Dieses Bild hat sich eine ganze Generation lang gehalten. Wir lernen es im Schulunterricht und begegnen ihm in Museen und den Medien. Und in populär­wissen­schaftlichen Artikeln und Presseveröffentlichungen erfahren wir, daß sich noch ein weiteres Stück des beinahe vollständigen Mosaiks gefunden habe. Bei genauerem Hinsehen merken wir jedoch, daß nicht alles auf diesem Gebiet so ganz im Lot ist. Es fehlt die letzte Sicherheit, wie bei unserem Wissen um die Bewegung der Planeten oder den Blutkreislauf.

Die Befürworter der herrschenden Theorie sind sich in einem wesentlichen Detail ganz und gar uneins: der chemischen Beschaffenheit des ersten sich selbst reproduzierenden Moleküls. Die Mehrheit ist für die Nukleinsäuren, die heute als Erbträger dienen. Eine vernehmlich widersprechende Minderheit gibt den Proteinen den Vorzug, einer anderen wichtigen Klasse von Biochemikalien. Und seit neuestem erklärt eine radikale Splittergruppe, daß Tonminerale, die uns eher an Töpferei als an die Fortpflanzung denken lassen, diese so bedeutende Anfangsrolle gespielt hätten.

Einige bekannte Wissenschaftler haben sich von all diesen Bemühungen, den Beginn des Lebens auf der Erde zu beschreiben, abgewandt und eine erstaunliche Alternative vorgeschlagen: Das Leben hat anderenorts begonnen und ist dann hierhergekommen.

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Einer von ihnen, Sir Fred Hoyle, hat darüber hinaus behauptet, eine höhere, chemisch nicht mit uns verwandte Intelligenz habe unsere Art von Leben geschaffen. Bei der Propagierung dieses Gedankens hat er gemeinsame Sache mit einer sehr viel größeren Gruppe gemacht, die sich mit dem gleichen Ziel auf den biblischen Schöpfer berufen will, nicht in Form einer religiösen Lehre, sondern unter dem Deckmantel der Wissenschaft.

Im Verlauf dieses Buchs werden wir, wenn auch auf breiterer Basis, die im Prolog vom Skeptiker vorgebrachte Bitte wiederholen: Wir möchten den bestmöglichen wissenschaftlichen Zustandsbericht über den Ursprung des Lebens. 

Wir werden sehen, daß die Anhänger der bekanntesten Theorie nicht in guter wissenschaftlicher Weise auf die immer häufigeren Gegenbeweise eingegangen sind und die Gültigkeit ihrer Überzeugung in Frage gestellt haben; sie haben sich vielmehr entschlossen, sie als über jeden Zweifel erhaben zu betrachten, und sie damit zur Mythologie gemacht. 

Viele alternative Erklärungen haben bei den Reaktionen noch mehr mythologische Elemente eingeführt, bis von Wissenschaft schließlich keine Rede mehr sein konnte, auch wenn es sich dem Namen nach immer noch um eine solche handelte.

Wenn wir den Zweck unserer Suche erfüllen wollen, müssen wir zur richtigen Praxis der Wissenschaft zurückkehren. Vor allem wollen wir den Wert des Zweifels bekräftigen. Dieses Wesenselement wird oft übersehen, wenn wissenschaftliche Ergebnisse der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Im Alltag bedeutet die Erklärung, etwas sei wissenschaftlich, daß es richtig ist, zweifelsfrei bewiesen. Wer würde es wagen, eine wissenschaftliche Tatsache anzugreifen? 

Die Erde ist rund und bewegt sich um die Sonne. Das Universum besteht aus Atomen, die sich zu Molekülen verbinden. Über diese Dinge brauchen wir uns nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Der Begriff Wissenschaft besitzt eine solche Autorität, daß er ganz profanen Vorgängen hinzugefügt wird, wenn man etwa von der »Wissenschaft des Polsterns« spricht oder umstrittene Forschungsgebiete aufwerten soll wie im Fall »übersinnlicher Wissenschaft«. Die Wissenschaft hat das letzte Wort.

Wenn es um den Ursprung des Lebens geht, stoßen wir auf eine Vielzahl widerstreitender Theorien, von denen sich jede als die einzige wissenschaftliche Antwort betrachtet. Wir werden sie im Verlauf dieses Buchs an den rigorosen Beweiskriterien messen, die in der heutigen Wissenschaft gelten. 

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Wir werden erfahren, was man über die Geschichte des Lebens bisher weiß und welche großen Probleme noch nicht gelöst, ja noch nicht einmal erforscht worden sind. Wir können danach einige denkbare Lösungen umreißen und vorschlagen, wie man eventuell zu den fehlenden Informationen kommen könnte.

Bevor wir uns jedoch an diese Aufgabe machen, müssen wir etwas vertrauter mit unseren Werkzeugen werden. Im Rest des Kapitels werden wir mehr über die besten wissenschaftlichen Vorgehensweisen und über die Philosophie erfahren, die dem zugrunde liegt.

 

  Wissenschaft: Das Reich des Zweifels  

 

Ich habe mich für diese Überschrift entschieden, um den Gegensatz zwischen der üblichen Sicht der Wissenschaft, wie sie oben beschrieben wurde, und ihrem eigentlichen Wesen so deutlich wie möglich zu machen. Wissenschaft ist kein vorgefertigtes Bündel mit Antworten, sondern ein System, Antworten zu erhalten. Die Methode, mit der eine Untersuchung durchgeführt wird, ist wichtiger als die eigentliche Lösung. Fragen brauchen überhaupt nicht beantwortet zu werden, oder Antworten werden möglicherweise gegeben, dann aber wieder geändert. Es ist egal, wie oft oder wie einschneidend sich unsere Sicht des Universums ändert, solange diese Änderungen in einer der Wissenschaft angemessenen Weise erfolgen. Denn die wissenschaftliche Praxis wird, wie ein Fußballspiel, durch ganz eindeutige Regeln bestimmt.

Weder Wissenschaft noch Fußball können erfolgreich betrieben werden, wenn die Akteure nicht bereit sind, die Regeln zu befolgen — oder sie zumindest nicht nach Belieben abzuändern. Beim Fußball wird der Ball nur mit den Beinen oder dem Körper ohne Einsatz der Arme gespielt. Die Regeln sind zum Teil auslegungsfähig; wird der Ball beispielsweise mit der Hand gespielt, dies aber unabsichtlich, so kommt der Spieler damit durch. Würde er den Ball jedoch in die Hände nehmen und damit loslaufen, würde er zurückgepfiffen. Bestände er auf seiner Spielweise, würde er vom Platz genommen. In diesem Buch begegnen wir Argumenten, die als Wissenschaft ausgegeben werden, doch diejenigen, die sie aufstellen, laufen gleichsam mit dem Ball in den Händen los. Sie suchen Antworten auf ihre Art, aber diese Art liegt nicht mehr innerhalb der Wissenschaft.

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Bei der Suche nach dem Ursprung des Lebens wird eine bestimmte Theorie oder Sichtweise oft in den Stand eines Mythos erhoben. Sie wird dann nur noch als eine Lehre betrachtet, die es zu bestätigen gilt, nicht als Lehre, die hinterfragt werden soll. Es ist wichtig, diese Fälle zu erkennen, und wir wollen daher kurz innehalten, um über den rechten Gebrauch der Mythen und ihren Beitrag zu den Gedanken der Menschen über den Ursprung des Lebens nachzudenken.

 

  Mythologie: Das Reich der Gewißheit  

 

In meinem Lexikon wird der Begriff »Mythos« zurückgeführt auf das alte griechische mythos, was »Wort« bedeutet, und zwar in dem Sinn, daß es das entscheidende, das letzte Wort in einer Sache ist. Ein Mythos präsentiert sich als ein maßgeblicher Bericht über Tatsachen, die nicht zu hinterfragen sind, so seltsam sie anmuten mögen. Die Kehrseite der Medaille ist logos, der griechische Begriff für eine Aussage, deren Wahrheit vorgezeigt und diskutiert werden kann. Der Mythos darf nicht mit Fiktion verwechselt werden. Eine fiktive Geschichte gibt nicht vor, wahr zu sein — sie hat vielmehr einen unterhaltenden oder anderen Wert.

Viele Mythen oder Sagen haben die Abenteuer übermenschlicher Wesen zum Inhalt. Im vorliegenden Fall soll der Begriff auch für Theorien und Schilderungen geologischer Ereignisse und chemischer Reaktionen gelten. Die Art und Weise, in der ein Bericht vorgelegt wird, wird darüber entscheiden, ob wir ihn als Wissenschaft oder als Mythologie betrachten. Derjenige, der einen Mythos vorbringt, unterstellt, daß er wahr ist, und zieht keine alternative Erklärung in Betracht. Er legt eventuell Beweise vor, die den Mythos stützen, aber er würde auch an ihn glauben, wenn es keine Beweise gäbe oder sie in eine andere Richtung wiesen. So kann beispielsweise jemand glauben, daß sein Geburtstag ihm Glück bringt. Fände er an diesem Tag Geld auf der Straße, würde er das als Beweis seines Glücks ansehen. Würde er sich dagegen an seinem Geburtstag den Knöchel verstauchen, würde er den Zusammenhang vielleicht übergehen oder annehmen, daß er sich sogar das Bein gebrochen hätte, wenn der Unfall sich an einem anderen Tag ereignet hätte.

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Ein Gedanke oder eine Darstellung müssen nicht falsch sein, nur weil sie in Gestalt einer Sage daherkommen. Im vorliegenden Buch suchen wir allerdings Antworten in der Wissenschaft, nicht in der Mythologie. Die bloße Aussage, daß etwas wahr sei, braucht nicht als Beweis zu ihren Gunsten betrachtet zu werden, gleichgültig wie viele Stimmen in den Chor mit einfallen.

Sagen werden erzählt, wo immer es Menschen gibt, und sie kommen vielen Bedürfnissen entgegen. Oft sind sie ein wesentlicher Bestandteil einer Religion, wenngleich Religionen viele zusätzliche Elemente aufweisen wie Rituale, Verhaltenskodizes und Wertsysteme. Sagen sind auch wichtige kulturelle Einrichtungen, die den Regeln und Traditionen einer Gesellschaft Bedeutung verleihen. Außerdem liefern sie dem Menschen notwendige psychologische Unterstützung.

Versetzen wir uns in die Lage eines primitiven Bauern. Er hat viele Stunden auf seinem Feld gearbeitet, sich fürsorglich der Bedürfnisse seiner Familie angenommen und die Traditionen seiner Gemeinschaft gepflegt. Und dann erlebt er, wie Hochwasser seine Ernte vernichtet, sein Haus von einem Blitz zerstört wird und seine Familie und Nachbarn einer Seuche zum Opfer fallen. Er könnte verzweifelt aufgeben, das Gefühl haben, daß alles Mühen sinnlos ist, daß er die Ereignisse nicht beherrschen kann und daß die Welt ein entsetzlicher und furchtbarer Ort ist. Wenn er dagegen das Gefühl haben kann, daß er in irgendeiner Form die Götter beleidigt hat und sie ihn gestraft haben, bleibt eine gewisse Würde gewahrt. Die äußeren Ereignisse waren die Folge seines Handelns, und vielleicht lernt er, es um einer besseren Wirkung willen zu beherrschen. Er kann den Zorn anderer Menschen verstehen und lernen, damit fertig zu werden. Falls die Natur menschliche Eigenschaften hat, kann er sich darauf ebenso einstellen.

Selbst in Fällen, wo sich ein Mensch vielleicht schuldlos fühlt und schreckliche Ereignisse keinen Sinn ergeben, können Mythen den Kummer mildern helfen und Hoffnung bieten. Viele von uns hatten Eltern, die allwissend und mächtig schienen, uns jedoch ohne jeden ersichtlichen Grund schmerzlichen Erfahrungen aussetzten. Wir vertrauten darauf, daß sich letztendlich doch alles noch einrenken würde. Naturereignisse sind, im gleichen Licht betrachtet, leichter zu ertragen. Die berühmte Bibelgeschichte über Hiob berichtet von einem aufrechten Mann mit sieben Söhnen, drei Töchtern und zahllosen Haustieren. Um Hiobs Glauben zu prüfen, erlaubt Gott dem Satan, Hiobs Familie

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und Herden zu vernichten und Hiob mit Aussatz heimzusuchen. Nach langer Selbsterforschung bleibt Hiob seinem Glauben treu und wird belohnt. Er gründet eine neue Familie, wieder mit sieben Söhnen und drei Töchtern, und kommt mit einer doppelt so großen Herde zu neuem Wohlstand.

Mythische Erzählungen und religiöse Überzeugungen spenden dem Menschen angesichts von Widrigkeiten sehr viel Trost. Um wirksam zu sein, müssen sie festgefügt und frei von Zweifeln sein. Ungelöste Fragen, unklare Antworten und sich ändernde Ansichten wirken in die entgegengesetzte Richtung. Sie erzeugen in uns Ungewißheit hinsichtlich unserer Sicherheit und unseres Schicksals. Für viele von uns ist eine eindeutige Antwort, die das Gefühl vermittelt, einen Sinn zu haben, besser als überhaupt keine Antwort.

 

Schöpfungsmythen

 

Seit Menschengedenken haben Mythen Antworten auf die zentralen Fragen unseres Daseins einschließlich des Ursprungs der Menschheit, des gesamten Lebens und des Universums geliefert. Grundsätzlich hängen diese Themen zusammen. Schöpfungsmythen gibt es in praktisch sämtlichen Kulturen, und Sammlungen wie die Sun Songs von Raymond van Over unterstreichen die vielen gemeinsamen Themen. Nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch Unterschiede bestehen zwischen den verschiedenen Mythen. Eine Variante ist besonders für dieses Buch von Belang, da sie sich über die Mythologie hinaus auch auf jene Konflikte erstreckt, die die Wissenschaft spalten und sie darüber hinaus von der Mythologie trennen. Im Grunde geht dieser Streit darum, ob die Schöpfung das Werk eines Einzelwesens oder des Universums insgesamt ist.

In vielen Schöpfungsmythen entstammt alle Existenz dem Handeln eines allmächtigen Schöpfers. In dieser Hinsicht ähnelt ein samoani-scher Schöpfungsmythos unserer Bibel. Er beginnt: »Der Gott Tagaloa lebte in der Weite des Alls. Er schuf alle Dinge, Er war allein, es gab keinen Himmel und keine Erde. Er war allein und zog durch das All.«

Der Ursprung dieses ersten mächtigen Wesens wird in Erzählungen dieser Art selten hinterfragt. Er selbst hat keinen Anfang und hat seit jeher bestanden. Oft hat es die Gestalt eines Menschen, doch es gibt Ausnahmen.

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In einer Sage der Sia-Indianer Neu-Mexikos heißt es zum Beispiel: »Im Anfang, vor langer, langer Zeit, gab es auf der Erde nur ein einziges Wesen. Das war die Spinne Sussistinako. Zu jener Zeit gab es keine anderen Insekten, weder Vögel noch Tiere noch sonst irgendein Lebewesen.« In dieser Geschichte erschafft die Spinne dann alle anderen Lebewesen.

Es gibt andere Mythen, in denen der Schöpfer weniger zielgerichtet und mächtig ist - etwa die Geschichte von Vater Rabe im ersten Kapitel. Diese Macht kann sogar noch weiter beschnitten werden und kaum die unsere übersteigen. Die Geschichte der Alten im ersten Kapitel wäre ein großartiger Mythos mit einem ziemlich eingeschränkten Schöpfer. Ein Schöpfer mit begrenzten Fähigkeiten, der außerdem jünger als das Universum ist, stellt für die Suche nach dem Ursprung eine Zwischenlösung und keine Endlösung dar. Wir würden weiter fragen, welche Kraft ursprünglich verantwortlich für den Beginn des Lebens war. Eine alternative Antwort hebt auf die Keimkraft des Universums als der Quelle des Lebens ab. Diese Antwort taucht in den Mythen verschiedener Kulturen auf. Van Over zitiert in seinem Buch Dr. Heinrich Brugsch, der die folgende Zusammenfassung ägyptischer Mythen gibt: »Am Anfang gab es weder Himmel noch Erde, und nichts war außer dem grenzenlosen Urmeer, das eingehüllt war in Finsternis und den Keim und Anfang all dessen enthielt, was es in der zukünftigen Welt einmal geben sollte, männlich und weiblich. Der göttliche Urgeist, der ein wesentlicher Teil der Urmaterie war, verspürte in sich das Verlangen, das Schöpfungswerk zu beginnen, und sein Wort erweckte die Welt zum Leben, die ihre Form und Gestalt schon in sich trug.«

Der indische Rgveda spricht ganz ähnlich von einem unergründlichen Chaos, aus dem sich die Gestalt der Dinge ergab. Der chinesische Philosoph Laotse spricht vom Tao, einer Stille ohne Form, die durch spontanes Handeln alle Dinge erschuf. Diese alte alternative Tradition der Mythologie ist in unseren Tagen im Kern des wissenschaftlichen Ansatzes zu diesem Thema wieder aufgetaucht: Das Leben entsteht aus bereits existierender Materie, die zwar nicht organisch ist, aber über die Kraft verfügt, die Formen zu schaffen, die wir kennen. Mit dieser Anmerkung wollen wir die Mythologie verlassen und die völlig anderen Bedeutungen betrachten, derer sich die Wissenschaft bedient hat, um zur gleichen Position zu kommen.

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Die Spielregeln

 

Die Wissenschaft leitet sich vom logos her, weniger vom mythos. Sie benutzt eine andere Vorgehensweise, um die Welt um uns zu verstehen. Wer eine schnelle, befriedigende Antwort sucht, wird von der Mythologie besser bedient. Der Skeptiker hätte, wäre er so veranlagt gewesen, seine Suche schon am ersten Tag aufgeben können und sich nicht weiter bemühen müssen. Viele Menschen entschließen sich zur Annahme eines einheitlichen Glaubenssystems, das Antworten auf die großen Fragen des Lebens gibt, und ersparen sich die Last weiteren Fragens. Ihren Bedürfnissen kommt die Mythologie entgegen. In der Wissenschaft dagegen ist die Methode, mit der eine Antwort gesucht wird, wichtiger als das Wesen der Lösung. Fragen brauchen überhaupt nicht beantwortet zu werden, oder Antworten können zwar gegeben, später aber verworfen, durch eine neue Theorie ersetzt werden.

Der einfache Bauer, dessen Leben durch Hochwasser, Blitz und Seuchen ruiniert worden ist, wird kaum Trost darin finden, diese Dinge wissenschaftlich zu erforschen. Irgendwann jedoch werden er oder seine Nachfahren lernen, Dämme zu bauen, Blitzableiter anzubringen und Impfstoffe zu entwickeln. Zukünftig werden Unglücke vermieden werden. Selbst wenn sich die von der Wissenschaft gebotenen Erklärungen ändern, werden die damit verbundenen technologischen Verbesserungen bestehen bleiben und sich verbessern.

Der sichtbare Fortschritt der Wissenschaft unterscheidet sie von vielen anderen Betätigungen des Menschen. Die Stücke des Euripides zum Beispiel werden noch immer gespielt. Die Philosophie Piatos wird noch immer gelehrt und diskutiert. Doch die wissenschaftlichen Theorien des Aristoteles sind so tot wie er selbst, außer für Historiker. Fortschritt ist in der Wissenschaft (wie auch beim Fußball) möglich, weil Theorien, wie Mannschaften, verlieren können. Ein Erkennungszeichen dafür, daß eine Theorie wissenschaftlich ist, ist das Vorhandensein eines Prozesses, durch den sie zugunsten einer anderen Theorie widerlegt werden kann. Das geschieht durch Beobachtungen und Experimente, die in der Welt um uns herum gemacht werden.

Das Universum, das wir bewohnen und beobachten, ist die letzte maßgebliche Quelle der Wissenschaft. Keine Aussage in irgendeinem Text und kein Wort eines einzelnen, wie berühmt er auch sein mag, läuft ihm den Rang ab. 

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Die Theorie der Urzeugung wurde aufgegeben, als sie durch Experimente nicht belegt werden konnte, trotz der langen Liste berühmter Personen, die sie im Lauf der Jahrhunderte unterstützt haben. Auseinandersetzungen werden in der Wissenschaft durch zusätzliche Beobachtungen geschlichtet, nicht durch Debatten oder Abstimmungen. Doch hier unterscheidet sich die Wissenschaft vom Sport dadurch, daß das Endergebnis nicht mit einem Schlag feststehen muß, wie bei einem Endspiel. Viel öfter ist es eine allmähliche Entwicklung. Ergebnisse im Sport sind endgültig; bis auf wenige Ausnahmen werden abgeschlossene Spiele nicht wiederholt. In der Wissenschaft dagegen können sich die Grunddaten verlagern und verändern, wenn Fehler entdeckt werden. Das Ausmaß an Fehlern, die sich in den Verlauf einfacher Beobachtungen einschleichen können, ist viel größer, als Nicht-wissenschaftler im allgemeinen annehmen.

 

Eine Fülle von Irrtümern

 

Ein beliebter Grundsatz lautet: »Ich glaube es erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe.« Als ich mit der Arbeit in meinem Labor begann, stellte ich sehr bald fest, daß ich nicht einmal meinen eigenen Augen rückhaltlos trauen konnte, geschweige denn denen anderer.

Wir täuschen uns bei unseren Wahrnehmungen auf viele Arten und neigen dazu, etwas zu sehen, was wir schon früher gesehen haben oder gern sehen möchten. In einer berühmten Versuchsreihe von J. S. Bruner und Leo Postman wurde Testpersonen ganz kurz eine Spielkarte gezeigt, und man bat sie dann zu bestimmen, was sie gesehen hatten. Sie machten ihre Sache ausgezeichnet, wenn man ihnen normale Karten zeigte, doch bei ungewöhnlichen Karten sah die Sache ganz anders aus. Eine schwarze Herz-Vier wurde fast immer als schwarze Pik-Vier oder rote Herz-Vier gesehen. Erst wenn die Karte mehrmals gezeigt wurde, änderten sich die Antworten. Manche Testpersonen kamen durcheinander; sie merkten, daß irgend etwas nicht stimmte. Andere wurden auch durch wiederholtes Zeigen nicht unsicher.

Fehler bei Beobachtungen sind nicht auf ungeübte Beobachter und sehr kurze Beobachtungszeiträume beschränkt. Der bekannte Astronom Percival Lowell war um die Jahrhundertwende viele Jahre davon

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überzeugt, daß ein ausgedehntes Kanalnetz die Oberfläche des Mars überziehe. Er erfand kunstvolle Phantasiegeschichten über die Bewohner, die diese Kanäle erbaut hätten. Lowell benannte die verschiedenen Kanäle und entwarf detaillierte Landkarten, die miteinander verbundene gerade Linien zeigten, die sich über Tausende von Kilometern erstreckten. Jahrzehnte später, als die Oberfläche des Mars in allen Einzelheiten von vorbeifliegenden Raumsonden Photographien wurde, waren keine derartigen Kanäle zu sehen und auch keine Merkmale, die ihnen in Form und Lage auch nur entfernt entsprochen hätten. Lowell war das Opfer einer optischen Täuschung geworden, die entsteht, wenn getrennte, unregelmäßige Merkmale im Grenzbereich menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit beobachtet werden. 

Unter diesen Bedingungen werden solche Muster als gerade Linien wahrgenommen. Wenn wir den Wahrnehmungen unserer Sinne nicht trauen können, wie sollen wir uns dann verhalten? Selbst Photographien, Maßangaben und elektronische Digitalanzeigen müssen wir schließlich mit den Augen deuten. Wir müssen auf jeden Fall weitermachen und daran denken, daß jede Einzelbeobachtung oder Beobachtungsserie falsch sein kann. Je überraschender ein Ergebnis ist, desto eher besteht Grund, ihm zu mißtrauen. Wenn ich die Temperatur bestimme, bei der eine neue chemische Substanz schmilzt, und der festgestellte Wert im Bereich des Normalen liegt, neige ich dazu, ihn zu akzeptieren. Wenn ich dagegen gesehen hätte, wie die Substanz langsam aus dem Reagenzglas aufsteigt und in der Luft schwebt, würde ich nicht daraus schließen, daß sie fliegen gelernt hat. Ich würde den Beweis meiner fünf Sinne entweder anzweifeln oder eine andere, herkömmlichere Erklärung für das suchen, was ich gesehen habe. Ich würde die Beobachtung nicht ignorieren, doch ich würde eine Bestätigung aus weiteren Beobachtungen haben wollen. Ein weiser Philosoph hat vor ein paar Jahrhunderten gesagt, daß es, sollte er ein Wunder erkennen, notwendig wäre, daß die dafür sprechenden Beweise derart überwältigend sein müßten, daß die Unrichtigkeit dieser Beweise ein noch größeres Wunder wäre.

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Veröffentliche, um zu überzeugen

 

Das Rückgrat wissenschaftlichen Fortschritts ist die Veröffentlichung, die Vorlage eines vollständigen Berichts über die Experimente, der so detailliert ist, daß ein anderer Forscher sie notfalls wiederholen kann. Im Idealfall sollte die Veröffentlichung in einer angesehenen Fachzeitschrift erfolgen, die mit Sachverständigen zusammenarbeitet. Diese Personen sind erfahrene Wissenschaftler, die mit dem betreffenden Gebiet vertraut sind und vielleicht Fehler in der Art entdecken, in der das Experiment durchgeführt worden ist, oder erkennen, daß sich der Schluß nicht aus den Daten ergibt.

Meine Frau Sandy erzählte mir einmal von einer ungewöhnlichen Gelegenheit, bei der ein Sachverständiger direkt am Ort des Experiments in Aktion trat, nicht später, als die Daten mitgeteilt wurden. Sandy ist studierte Psychologin. Eine ältere Kollegin, die auf sowjetische Psychologie spezialisiert war, hatte ihr von neuen, erstaunlichen Entwicklungen in diesem Land berichtet. Die Russen hatten erklärt, einige begabte Personen hätten die Fähigkeit, Farben mit den Fingerspitzen wahrzunehmen. Man hatte schließlich eine dieser Personen im Raum New York ausfindig gemacht. Sandys Kollegin erzählte ihr von dem Trauerspiel, zu dem es gekommen war, als diese Person getestet wurde. Man hatte der Frau die Augen verbunden und sie an einen Tisch gesetzt. Dann hatte man ihr Karten in die Hand gegeben. Sie war mit den Fingern darüber gefahren und hatte nach einiger Zeit die richtige Farbe jeder Karte genannt. Die Demonstration überzeugte alle Anwesenden bis auf einen. Dieser wollte einen Sachverständigen hinzuziehen und holte einen Berufszauberer. Der Zauberer kam sehr schnell zu einem Urteil: »Sie spickt.«

Es war eine anständige Frau, und niemand hatte damit gerechnet, daß sie mogeln würde. Tatsächlich schien sie sich selbst nicht dessen bewußt zu sein, was sie tat. Sie hatte sich ganz auf ihre Fingerspitzen konzentriert und dabei ihre Gesichtsmuskeln verzogen. Schließlich erspähte sie ganz kurz eine Farbe. Vielleicht hatte sie sich eingebildet, die Wahrnehmung erfolge in ihrem Gehirn. Tatsächlich war etwas Licht unten durch die Augenbinde gedrungen. Als das Experiment unter Bedingungen wiederholt wurde, unter denen ein Sehen wirklich unmöglich war, verschwand der Effekt.

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Hin und wieder erscheinen in den Zeitungen Berichte über Forscher, die in betrügerischer Absicht manipulierte wissenschaftliche Ergebnisse veröffentlichen. In einem solchen Fall ging es um einen Wissenschaftler, der Mäusen Flecke auf den Rücken malte, um das erwartete Ergebnis zu simulieren. Auch Wissenschaftler sind Menschen, und so etwas kommt vor. Die drohende Entdeckung scheint jedoch auszureichen, derartige Vorkommnisse in erträglichen Grenzen zu halten. 

Viel häufiger sind unbeabsichtigte Fehler, in denen ein Forscher das Ergebnis sieht, daß er sich erhofft, und er greift es nur zu gerne auf, ohne innezuhalten und ausreichende Vorsichtsmaßnahmen gegen mögliche Fehler zu treffen. Im Idealfall sollte ein Wissenschaftler, der eine aufregende Entdeckung macht, den Advocatus Diaboli spielen. Er selbst sollte das Ergebnis mit größter Skepsis betrachten und alle Anstrengungen unternehmen, eine weniger aufregende Erklärung dafür zu finden. Erst wenn diese Bemühungen fehlschlagen, sollte er das Ergebnis veröffentlichen. Ich zögere, diese Regel als wesentlich zu bezeichnen, denn sie wird ebenso befolgt wie die Geschwindigkeitsbegrenzungen auf unseren Straßen. Wenn ich jedoch sehe, daß eine Untersuchung auf diese Weise durchgeführt worden ist, halte ich das für ein Merkmal großer Qualität. Das Fehlen dieser Eigenschaft bewirkt das Gegenteil, es läßt ein Warnlicht aufblinken: Der Leser sollte sehr vorsichtig sein, denn diese Ergebnisse können wertlos sein.

 

Veröffentlichungen können untergehen

 

Nicht alle Fehler können vor einer Veröffentlichung ausgemerzt werden — wie beim Experiment des Sehens der Farben mit den Fingerspitzen. Viele Fehler entgehen den Argusaugen der Sachverständigen versehentlich, oder weil das Manuskript unzureichende oder unkorrekte Informationen enthielt. Ich erinnere mich lebhaft an einen Fall, den ich selbst erlebt habe.

Ich hatte mich über einen äußerst angesehenen Professor vom California Institute of Technology geärgert. Er hatte in der renommiertesten chemischen Fachzeitschrift zwei Artikel veröffentlicht, die für mein Gebiet von großer Bedeutung waren. Die Artikel waren beachtlich und strotzten vor Tabellen, Graphiken und endlosen Berechnungen. 

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Dennoch gab es eine Schwierigkeit. Andere Wissenschaftler hatten vorher den gleichen Komplex mit anderen Methoden untersucht und waren zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen gekommen. Die früheren Arbeiten waren sehr sorgfältig gemacht worden und schienen keine schwache Stelle zu haben. Bei der Veröffentlichung seiner Theorie hatte der Professor des California Institute diese früheren Untersuchungen mit keinem Wort erwähnt.

Kurz darauf hatte ich Gelegenheit, ihn mir vorzunehmen. Der Rahmen war phantastisch: der Campus einer der berühmtesten Universitäten im Osten der USA Anfang Mai. Die Sonne stand strahlend über den blühenden Bäumen und bildete den idealen Hintergrund für zwanglose Gespräche in den Pausen. Die Wissenschaftler hatten jedoch nichts von all dem. Der Organisator der Veranstaltung, ein aggressiver, stämmiger junger Mann, ließ die Redner anstandslos ihre Zeit überschreiten. Das Treffen dauerte vom frühen Vormittag bis spät in den Abend, und das alles in einem schummrigen, fensterlosen Raum. Am zweiten Tag sprach schließlich der Professor vom California Institute.

Er legte seine veröffentlichten Daten vor, was mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. »Das ist das Aufregendste, was wir bei diesem Treffen gehört haben«, posaunte der Organisator. Endlich bekam ich das Wort. »Was ist mit all den früheren Arbeiten, die der Ihren widersprechen?« fragte ich und führte sie kurz auf. Er sah mich an, als hätte ich ihn nach dem Namen des Bürgermeisters von Schanghai gefragt. Er zuckte die Schultern, sagte, er habe sich damit nicht befaßt, und wandte sich einem anderen Fragesteller zu.

»Aber dann sind Ihre Daten womöglich alle falsch!« platzte ich heraus. Niemand beachtete mich. Ratlos sah ich mich nach Unterstützung um. Es war jemand bei dem Treffen, den ich sehr schätzte und der die alten Arbeiten ebenso kannte wie ich. Es war ein gescheiter Schotte, der mitgeholfen hatte, dieses Forschungsgebiet zu begründen. Aber er war nirgendwo zu sehen.

Fünf Minuten später entdeckte ich ihn. »Warum bist du mir nicht beigesprungen, Dan?«

»Oh«, erwiderte er, »ich komme gerade von der Toilette. Hat sich was Interessantes getan?«

Das Buch Der Pate und der Film haben gezeigt, daß Rache süß sein kann, auch wenn sie unerwartet kommt, das heißt, Monate oder Jahre später. So war es in diesem Fall. Ein Jahr danach kam ein Widerruf vom California Institute of Technology.

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Eine Wiederholung der Ergebnisse in anderen Labors und am Institute selbst war fehlgeschlagen. Der Bericht, der Datenwust, alles war Unsinn, das Produkt eines kindischen Versuchsfehlers, der im Bericht unterschlagen worden war. Der Professor entschuldigte sich bei der wissenschaftlichen Gemeinde für das Durcheinander, das er angerichtet hatte. Die Teilnehmer waren sowohl um die Wahrheit wie auch um die Schönheit des Campus an diesem Frühlingsnachmittag gebracht worden.

Man muß wissenschaftliche Artikel ebenso angehen wie ein, neues Wort in einem Kreuzworträtsel. Wenn es gut zu den bereits vorhandenen Wörtern paßt, ist es wahrscheinlich richtig. Widerspricht es früheren Eintragungen, können wir nicht einfach über diese hinwegschreiben. Wir müssen sie vielmehr ausradieren und Alternativen finden, die zu dem neuen Wort passen, das wir bevorzugen. Diese Probleme haben wir nicht, wenn das neue Wort noch ganz für sich allein in dem Rätsel steht. Es empfiehlt sich, auch hier vorsichtig zu sein und es ganz leicht mit Bleistift zu schreiben. Wenn wir zu fest annehmen, daß neue Ergebnisse richtig sind, kann unsere Annahme weitere Fortschritte auf diesem Gebiet blockieren — bei einem Kreuzworträtsel wie in der Wissenschaft.

Die Behandlung der Wissenschaft in den Medien und der Öffentlichkeit läßt diese Vorsicht oft vermissen. Unveröffentlichte Ergebnisse, über die bei Tagungen berichtet wird, werden als Tatsachen betrachtet. Veröffentlichungen werden behandelt, als wären sie in Steintafeln gemeißelt. Aussagen wie »eine erwiesene wissenschaftliche Tatsache« sind zur gängigen Münze in der Werbung wie in allgemeinen Diskussionen geworden. Diese Formulierung spiegelt nicht das Wesen der Wissenschaft wider, sondern deutet eher auf eine ungestillte Sehnsucht nach Mythologie. Wir Wissenschaftler teilen diese Sehnsucht, vor allem wenn unsere eigenen Bemühungen verantwortlich für das Entstehen des Mythos sind. Wir geraten aus dem Häuschen und freuen uns, wenn uns ein Gedankenblitz kommt oder sich im Labor irgendein neuer Erfolg einstellt. Wenn ein oder zwei sich bestätigende Bruchstücke zusammenpassen, steigt unser Selbstvertrauen: Jetzt sind wir im Besitz der Wahrheit. Und dieses Gefühl präjudiziert dann unsere weiteren Bemühungen. Wir können dieser menschlichen Neigung nicht ausweichen; wir können uns ihrer jedoch bewußt sein und uns vor ihr hüten, sobald sie sich zeigt.

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Die Kunst, eine Theorie aufzustellen

 

Die Gefahr, daß unsere Daten vielleicht falsch sind, ist nur eines der Risiken wissenschaftlicher Arbeit. Ein anderes gefürchtetes Risiko besteht darin, daß unsere Beobachtungen unter Umständen nichtssagend sind, wie ich an einem Beispiel zeigen möchte: Während ich dies schreibe, blicke ich aus dem Fenster meines Arbeitszimmers auf die dichtbelaubten Bäume, die mein Haus umgeben. Sie bieten reichlich Gelegenheit, Daten zu sammeln. Ich könnte die Zahl der Bäume auf dem Grundstück zählen oder die Zahl der Blätter jedes Baums. Das wäre mühsam, zeitaufwendig und fehleranfällig, wenn es nicht äußerst sorgfältig gemacht würde. Derartige Merkmale würden einige Wissenschaftler sogar dazu veranlassen, das alles wohlwollend zu betrachten. Leider wäre es uninteressant, aus den Zahlen ergäbe sich keine Theorie. Würde ich die Blätter dagegen täglich zählen und die Zahlen in einer zeitlichen Darstellung erfassen, würde ich die Reaktion der Bäume auf den Ablauf der Jahreszeiten »entdecken«. Diesmal hätte ich ein wichtiges Ergebnis erzielt. Leider ist es bereits bekannt. Auch hier wäre meine Mühe vergebens.

Die kreativen Wissenschaftler sind diejenigen, die Daten von Belang sammeln, wichtige Zusammenhänge erkennen und richtige Schlußfolgerungen ziehen. Für dieses Vorgehen gibt es keine systematischen Richtlinien, dafür aber reichlich Fallgruben. Betrachten wir beispielsweise den Mann, der sich am Montag mit Gin und Tonic betrinkt, am Dienstag mit Wodka und Tonic und am Mittwoch mit Rum und Tonic. Was hat seine Trunkenheit hervorgerufen?

Wenn wir nichts über alkoholische Getränke wüßten, läge unsere erste Schlußfolgerung auf der Hand: Der gemeinsame Faktor Tonic war die Ursache für den Rausch. Der Schluß kann falsch sein, aber er ist wissenschaftlich. Wir können ihn zu Voraussagen benutzen, die getestet werden können. Unser Experiment drängt sich fast von selbst auf. Man muß den Mann nur Tonic trinken lassen. Wenn er das macht und nüchtern bleibt, würden wir feststellen, daß unser erster Gedanke falsch war.

Falsche Theorien werden in der Wirklichkeit selten sofort aufgegeben. Zuerst bemüht man sich, sie dadurch zu retten, daß man sie abändert. Im obigen Fall könnten wir jetzt vermuten, daß Tonic nur dann

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betrunken macht, wenn es mit irgendeiner anderen Flüssigkeit verdünnt wird. Tonic mit Ginger-Ale könnte man als nächstes testen. Wenn sich jetzt noch nichts ergäbe, ließen sich weitere Merkmale hinzufügen. Schließlich könnte ein neuer Ansatzpunkt auftauchen. Aufgrund einer plötzlichen Eingebung könnten wir zu dem Schluß kommen, daß jeweils Rum, Gin und Wodka betrunken machen und Tonic bei dem Vorgang überhaupt keine Rolle spielt. Wir würden alles für ein kritisches Experiment vorbereiten. Unsere kooperationsbereite Testperson würde versuchen, sich an jedem dieser Getränke ohne Tonic zu betrinken. Diesmal hätte er Erfolg.

Ein entscheidendes, kritisches Experiment dieser Art hat etwas von einem Preisboxkampf. Aus einer Debatte zwischen widersprüchlichen Mythologien geht kein Sieger hervor, aber wenn in der Wissenschaft eine Theorie getestet wird, erwartet man einen Sieger. Selbstverständlich wird der Sieger nicht der Meister aller Zeiten sein. Neue Wettbewerber können jederzeit in den Ring steigen. Die neue Theorie, daß der Genuß der drei Flüssigkeiten Gin, Rum oder Wodka betrunken macht, käme schon am Donnerstagabend in Schwierigkeiten, wenn derselbe Mann sich mit Whiskey und Soda vollaufen ließe.

Schließlich käme vielleicht eine abgeänderte Theorie auf, die eine umfassende Aufzählung berauschender Getränke enthielte. Neue Getränke würden, sobald man sie entdeckt, einfach in diese Liste aufgenommen. Irgendwann könnte ein Chemiker herausfinden, daß all diese Getränke Äthylalkohol enthalten, und eine einfachere Aussage machen: Getränke, die Äthylalkohol enthalten, wirken berauschend. Diese und die frühere Zusammenfassung würde alle Daten richtig darstellen. Welche von beiden sollte man nehmen? Für diesen Fall gibt es eine wissenschaftliche Regel. Die einfachere der beiden Aussagen wird übernommen. Wer diesen Grundsatz anwendet, hat sich, wie man sagt, auf das Wesentliche beschränkt.

Alle oben angeführten Theorien, ob richtig oder falsch, einfach oder kompliziert, fallen in den Bereich der Wissenschaft, da sie widerlegt werden können. Betrachten wir zum Vergleich folgende Aussage. »Trunkenheit tritt immer dann auf, wenn der Gott Bacchus sich entschließt, mit einem Pfeil auf jemanden zu schießen. Der Zustand hält so lange an, bis der Pfeil herausfällt. Weder Bacchus noch seine Pfeile können auf irgendeine andere Weise nachgewiesen werden.« Ich kann mir einige wunderschöne Bilder vorstellen, da ich dies lese. 

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Würde ich daran glauben, könnte ich mit weniger Schuldgefühlen leben. Bacchus träfe alle Schuld, wenn ich betrunken wäre, nicht mich. Aber schade, denn die Aussage gehört der Mythologie an, nicht der Wissenschaft. Es gibt keine Möglichkeit, sie zu verwerfen, sie als falsch zu beweisen. Bacchus bewirkt die Trunkenheit. Die Trunkenheit ist das Werk des Bacchus. Der Kreis ist undurchdringlich. Wer so etwas in die Wissenschaft einführen wollte, wäre fraglos mit jemandem zu vergleichen, der beim Baseball vom Schlagmal zum dritten Mal liefe.

 

Semmelweis und das Kindbettfieber

 

Die oben angeführten Beispiele sind lustig verschroben. Ich möchte einen etwas deutlicheren Bericht vom wissenschaftlichen Fortschritt geben und von Ignaz Semmelweis erzählen, der wichtige Vorsorgemaßnahmen zur Eindämmung des Kindbettfiebers einleitete.

Semmelweis war ein ungarischer Arzt, der in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts an einem Krankenhaus in Wien arbeitete. In zwei Entbindungsabteilungen dieses Krankenhauses differierten die Sterblichkeitsziffern bei der Entbindung aufgrund der obigen Krankheit ganz erheblich. Es gab keine spezielle Theorie über die Ursache der Krankheit oder die unterschiedlichen Raten, nur nichtssagende Allgemeinplätze etwa der Art, daß sie auf »atmosphärisch-kosmisch-tellurische« Einflüsse zurückgehe. Diese Beschreibung, die Himmel, Universum und Erde umfaßte, war so vage, daß sie an keinerlei Tests denken ließ, und im übrigen unwissenschaftlich und nutzlos. Semmelweis beschloß, die beiden Abteilungen eingehend zu beobachten.

In der ersten Abteilung erhielten Medizinstudenten ihre geburtshilfliche Ausbildung; es war die Abteilung mit der höheren Sterblichkeitsziffer. In der anderen Abteilung arbeiteten Hebammen. Waren die Studenten vielleicht ungeschickter und brachten den Wöchnerinnen durch Fahrlässigkeit bei den Untersuchungen Verletzungen bei? Untersuchungen der Patientinnen auf solche Verletzungen ergaben keine erkennbaren Unterschiede. Dann tauchte eine andere Möglichkeit auf. Die Frauen in der zweiten Abteilung entbanden in Seitenlage, die in der ersten Abteilung in Rückenlage. Unter einigen Mühen wurden die Studenten in der ersten Abteilung dazu gebracht, die Entbindung in Seitenlage zu übernehmen. An der Sterblichkeitsrate änderte das allerdings nichts.

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Man zog eine psychologische Erklärung in Betracht. Die erste Abteilung lag neben einer Krankenstation, in die oft ein Priester gerufen wurde, um die Sterbesakramente zu spenden. Ein Meßdiener ging dem Priester ein Glöckchen läutend voran. Die beiden kamen auf ihrem Weg durch die erste Abteilung, nicht durch die zweite. Ängstigte und erschütterte dieses düstere, laute Schauspiel die werdenden Mütter und setzte ihre Widerstandsfähigkeit herab? Der Priester wurde umgeleitet, doch die Sterblichkeitsziffer blieb unverändert. Viele andere Umstände wurden überprüft, ohne Ergebnis.

Durch Zufall wurde eine entscheidende Beobachtung gemacht. Jakob Kolletschka, ein Kollege, verletzte sich bei einer Autopsie am Finger. Er starb, wobei seine Symptome denen des Kindbettfiebers ähnelten. Semmelweis kam zu dem Schluß, daß »Leichenpartikel«, die in den Blutkreislauf seines Kollegen eingedrungen seien, die Erkrankung verursacht hätten, und schloß so darauf, daß die Frauen auf der Entbindungsstation ein ähnliches Schicksal erlitten hätten. Medizinstudenten nahmen Autopsien vor, wuschen sich nur flüchtig die Hände, kamen dann in die erste Station, um die Patientinnen zu untersuchen, und infizierten sie. Die Hebammen auf der zweiten Station nahmen keine Sektionen vor und verursachten keine Erkrankung.

Semmelweis verlangte daraufhin, daß alle Studenten sich die Hände in einer Chlorkalklösung wuschen, bevor sie die Entbindungsstation betraten. Diese Substanz entfernte den Leichengeruch von ihren Händen und vernichtete vermutlich auch die Partikel. Innerhalb von zwei Monaten sank die Sterblichkeitsziffer in der ersten Station auf einen Bruchteil ihres früheren Standes.

Diese zufriedenstellende Leistung erklärte jedoch nicht alle Einzelheiten der neuen Theorie. Einige unglückliche Ereignisse führten zu ihrer Abänderung. Zur gleichen Zeit starben elf andere Patienten an Kindbettfieber. Es war keine Leiche im Spiel, und die Epidemie wurde bis zu einem anderen Ursprung zurückverfolgt. Eine Patientin derselben Abteilung hatte an einem »eiternden Gebärmutterkrebs« gelitten. Das Krankenpersonal, das sie untersucht hatte, hatte anschließend andere Patienten auf derselben Station untersucht, ohne sich vorher die Hände in Chlorkalk zu waschen. Man erkannte, daß nicht nur Leichenpartikel die Krankheit hervorrufen konnten, sondern auch »faulende Materie aus lebenden Organismen«.

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 Man ging zu weiter verbesserten Maßnahmen über, so daß zweifellos weitere Menschenleben gerettet werden konnten. Trotz dieses Erfolgs wußte man noch nichts über die eigentliche Ursache der Krankheit, eine Infektion durch Mikroorganismen.

Die Mängel der Theorie und auch letztlich politische Widerstände verzögerten die Übernahme der Semmelweisschen Desinfektionsmaßnahmen. Ironie des Schicksals, daß er selbst, wie sein Kollege Kol-letschka, an einer infizierten Wunde starb, hoch bevor er seinen Triumph erleben konnte.

 

  Der Aufmarsch der Paradigmen  

 

Die Geschichte von Semmelweis macht deutlich, wie bestimmte Ideen, deren Erfolge voraussagbar sind, später zugunsten effektiverer abgetan werden können. Dieses Schicksal widerfährt nicht nur einzelnen Theorien, sondern sehr viel breiter angelegten erklärenden Konzepten, die ein ganzes Gebiet zusammenhalten. Der Philosoph Thomas Kuhn hat diese Konzepte in seinem grundlegenden Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen »Paradigmen« genannt.

Semmelweis versuchte in einer Zeit Krankheiten zu bekämpfen, als die maßgebliche Wissenschaft sich noch in einem vorparadigmatischen Zustand befand. Viele wesentliche Daten waren über Sterblichkeit zusammengetragen worden, aber man verfügte über kein einheitliches Konzept, sie zu erklären. Wissenschaft, der es an einem Paradigma mangelt, kann eine planlose Angelegenheit sein. Daten werden im wesentlichen willkürlich gesammelt. Verschiedene konkurrierende Schulen entstehen, die die Informationen jeweils nach eigenem Gutdünken auslegen. Die Anhänger einer Schule nehmen die Ergebnisse der anderen Schulen im allgemeinen nicht zur Kenntnis. Ständig tauchen neue Spekulationen auf. (Eine Spekulation ist eine wissenschaftliche Erklärrung, die weit über die vorhandenen Daten hinausgeht. Sie kann zwar grundsätzlich überprüft werden, doch ist das normalerweise im Augenblick nicht möglich. Cricks Gedanke, daß das Leben auf der Erde begann, indem Bakterien an Bord von Raumschiffen hierhergelangten, ist ein gutes Beispiel für eine Spekulation.)

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Vorparadigmatische Wissenschaftsbereiche begeistern für gewöhnlich die breite Öffentlichkeit, enttäuschen jedoch die Wissenschaftler, die in ihnen arbeiten. Die Fragen nach der molekularen Grundlage des Alterns und Bewußtseins oder der Existenz und Art des Lebens anderswo im Universum sind solche Bereiche.

Wenn ein Gebiet zur Reife gelangt, triumphiert schließlich eine Gedankenschule. Ihre Art der Auslegung der Daten erweist sich als wirksamer und läßt bessere Voraussagen zu als die der anderen Schulen. Der Sieger etabliert sich als das herrschende Paradigma. Die Atomtheorie der Materie, die Darwinsche Evolutionslehre und die molekulare Grundlage der Vererbung fallen unter anderem in diese Kategorie. Ein Paradigma beherrscht, sobald es sich durchgesetzt hat, das Denken in seinem Bereich. Neue Schüler werden dadurch in das Gebiet eingeführt, daß sie eben dieses Paradigma studieren. Bücher und Artikel über diesen Bereich, die zuvor für den Laien verständlich waren, setzen jetzt detaillierte Kenntnisse des Paradigmas voraus und werden für die Allgemeinheit unverständlich. Vor allem kommt es zu einer explosionsartigen neuen wissenschaftlichen Betätigung.

Ein neues Paradigma bietet nur den groben Umriß eines Bereichs. Einzelheiten müssen eingesetzt werden. Die Folgen des Paradigmas müssen gründlich erforscht werden. Ergebnisse, die nicht in das Bild passen, müssen überprüft und wenn möglich in die Struktur eingebracht werden. Mögliche Erweiterungen des Paradigmas auf benachbarte Gebiete müssen versucht werden. Diese Tätigkeit, die das bestehende Bild bestätigt, wird von Kuhn die »normale Wissenschaft« genannt. Die meisten Ergebnisse enthalten vielleicht wenig Interessantes für die Allgemeinheit, doch befriedigt diese Art von Arbeit die Wissenschaftler. Experimente bringen, wenn sie mit Geschick durchgeführt werden, Ergebnisse, die sinnvoll sind. Ein weiteres Teil kommt zu einem Puzzle hinzu, dessen Gesamtinhalt klar ist. Die besten Ergebnisse gewinnen die Anerkennung fast aller, die in diesem Bereich arbeiten.

Gelegentlich fördert das intensive Studium eines Bereichs neue Anomalien zutage, neue Teile, die nicht passen. Viele davon erklären sich durch Fehler der Art, über die wir gesprochen haben. Jeder gesunde Wissenschaftsbereich bietet solche Anomalien. (Sie liefern geeignete Probleme für Doktorarbeiten.) Nach und nach werden sie gelöst, und neue treten an ihre Stelle. Aber gelegentlich geben die Anomalien nicht nach. Wenn Versuche unternommen werden, sie aufzulösen, vermehren sie sich und werden noch offenkundiger. Am Ende bedrohen sie das Paradigma selbst.

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An diesem Punkt schleicht sich ein Gefühl der Krise und Unsicherheit ein; die Spezialisten empfinden Unbehagen. Diese Angst entspringt der emotionalen Natur der betroffenen Wissenschaftler, weniger einer Bedrohung der technischen Ausführung des Gebiets. Unberechenbarkeit und Unsicherheit sind in die ordentliche Welt des Paradigmas eingedrungen, das in seiner Sicherheit viele Funktionen eines Mythos erfüllt hat. Wie der Ketzer, der nicht gern in der Kirche gesehen wird, wird der Wissenschaftler, der das herrschende Paradigma herausfordert, von seinen Kollegen nicht gerade in die Arme geschlossen.

In einigen Fällen wachsen die Probleme, bis das Paradigma selbst stürzt und von einem anderen ersetzt wird. Eine wissenschaftliche Revolution hat stattgefunden. Ein solcher Fall war die Verdrängung des ptolemäischen astronomischen Weltbilds, das die Erde als Mittelpunkt des Universums sah, durch die Ansicht des Kopernikus, nach der sich die Erde zusammen mit den anderen Planeten um die Sonne bewegt. In anderen Fällen kann ein Paradigma unter der Last inhärenter Probleme zusammenbrechen — ohne einen direkten Nachfolger zu haben, und für einige Zeit tritt wieder eine vorparadigmatische Situation ein. In bezug auf die Urzeugung haben wir es mit einem solchen Fall zu tun.

Die Berichte über die Entwicklung der Wissenschaft nehmen ein allmähliches Anhäufen von Wissen an, ein langsames Erklimmen der Leiter der Erkenntnis im Verlauf der Geschichte. Kuhn sieht den Prozeß als eine Reihe zusammenhangsloser Ereignisse, ein Auf und Ab von Paradigmen. Die Geschichte der Frage nach dem Ursprung des Lebens wird am besten in diesem Zusammenhang gesehen. Die Vorstellung von der Urzeugung beherrschte jahrtausendelang das Feld. Im 18. Jahrhundert verlor sie an Einfluß, brach jedoch erst in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts gänzlich zusammen, als Louis Pasteur einige wichtige Experimente durchführte. 

Es folgte eine Zeit der Verwirrung, bis in den Jahren zwischen 1922 und 1953 ein neues Paradigma aufkam. Es wurde nach seinen Begründern, Alexander I. Oparin und J. B. S. Haidane, die Oparin-Haldane-Hypothese genannt. Diese Theorie herrscht heute vor, doch hat sie an Nachdruck eingebüßt. Anomalien sind aufgetreten und bedrohen jetzt das Grundgefüge. Neue Spekulationen, Kandidaten für die Rolle eines zukünftigen Paradigmas, sind aufgetaucht. 

Wie die Sache ausgeht, ist nicht sicher, doch werden wir die gegenwärtigen Schwierigkeiten besser einschätzen können, wenn wir verstanden haben, was die Vergangenheit lehrt.

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  Urzeugung: Das verlorene Paradigma  

 

Der Begriff »Urzeugung« ist auf verschiedene Weise angewandt worden. Wir wollen uns hier an die Definition halten, die der Historiker John Farley gegeben hat. Es wird die Überzeugung vertreten, daß »einige Lebenwesen unvermittelt und durch Zufall aus Materie entstehen, unabhängig von irgendwelchen Eltern«. Dieser Gedanke gibt die Erfahrung vieler Beobachter wieder und reicht zurück bis ins alte China, Griechenland und Babylon.

Ich kann diese Beobachtungen durch eigene Erfahrungen ergänzen. Ich war vor einiger Zeit auf den Galapagosinseln, um mir die Stätten anzusehen, die Charles Darwin angeregt und so viele Daten für seine spätere Theorie geliefert haben. Meine Begleiter und ich erkundeten eine Insel, Fernandina, die von riesigen Lavafeldern bedeckt ist, den Überresten unregelmäßiger Vulkanausbrüche aus mehreren Jahrhunderten. Leben war kaum zu entdecken auf dieser riesigen Fläche aus bizarrem, zerklüftetem schwarzem Stein, die sich von den Bergen bis zum Meer erstreckte. Die besonders bemerkenswerten Ausnahmen ließen sich erst aus der Nähe erkennen, weil sie in Farbe und Form mit dem Gestein verschmolzen: winzige, grauschwarze Lavaechsen huschten an vielen Stellen über die Steine. Größere, stachelige, schwarze Reptilien, die Meeresleguane, aalten sich in der Nähe des Wassers. Sie waren ihrer Umgebung so gut angepaßt, daß die Vorstellung nahe lag, sie wären aus der Lava hervorgegangen, wären das Produkt einer Urzeugung. Alexander Oparin hat diesen Zusammenhang schon früher in Worte gefaßt: »Wann immer der Mensch auf unerwartete und üppige Lebensformen gestoßen ist, hat er sie als ein Beispiel für die Urzeugung des Lebens gehalten.«

Der Zusammenbruch des Paradigmas der Urzeugung begann, als der Mensch an die Stelle der passiven Beobachtung das aktive Experiment setzte. Francesco Redi, ein italienischer Arzt, war einer der ersten, der im 17. Jahrhundert Grund zum Zweifel lieferte. 

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Redi lagerte das Fleisch einer frisch getöteten Schlange in einem der Luft zugänglichen Gefäß. Wie schon viele andere vor ihm beobachtet hatten, kamen nach ein paar Tagen kleine, weiße Würmer, Maden, aus dem Fleisch. Redi entnahm einige Maden und gab sie in ein anderes Gefäß. Nachdem weitere Zeit verstrichen war, entwickelten sich die Maden zu Fliegen. Es waren keine Würmer gewesen, sondern Insektenlarven.

Er wiederholte das Experiment, bedeckte das Gefäß, in dem sich das Fleisch befand, jetzt jedoch mit Gaze. Sie war so feinmaschig, daß keine Fliegen an das Fleisch gelangen konnten. Im Gefäß entwickelten sich keine Maden, aber auf der Gaze tauchten Insekteneier auf. Nun wurde die schützende Gaze entfernt, und zur erwarteten Zeit erschienen Maden auf dem Fleisch. Damit war nachgewiesen, daß sie von Fliegen herstammten und nicht auf eine Urzeugung zurückzuführen waren. Der Gedanke der Urzeugung wurde in diesem speziellen Fall zwar verworfen, doch das Prinzip hatte Bestand. Redi selbst glaubte, daß eine Urzeugung unter anderen Umständen erfolgen könne.

Ein besonderer Fall, der von vielen Wissenschaftlern anerkannt wurde, war die Urzeugung von Mikroben. Diese mikroskopisch kleinen Tierchen waren von Antony van Leeuwenhoek entdeckt worden, der ein Zeitgenosse Redis war und bahnbrechende Untersuchungen mit dem Mikroskop durchführte. John Tuberville Needham, ein Naturforscher und Jesuitenpriester aus Wales, beharrte im 18. Jahrhundert darauf, in verschiedenen Nährflüssigkeiten, die er zubereitet hatte, die Urzeugung dieser winzigen Lebewesen beobachtet zu haben. Needham kochte die Flüssigkeiten, um bereits vorhandene Mikroorganismen abzutöten und versiegelte dann die Kolbenflaschen, einige Male sogar luftdicht. Nach dem Versiegeln erhitzte er die Kolben in heißer Asche, um die Luft in ihnen zu sterilisieren. Wie er behauptete, wurden keinerlei Vorkehrungen übersehen. In allen Fällen tauchten in den Kolben nach ein paar Tagen mikroskopisch kleine Tierchen auf.

Den Ansichten Needhams widersprach ein anderer Wissenschaftler und Priester, der Italiener Lazzaro Spallanzani, der die gleichen Experimente mit größerer Sorgfalt durchführte. Spallanzani versiegelte zuerst alle Gefäße luftdicht und erhitzte sie dann länger, um die Sterilisation sicherer zu machen. Bei mehreren hundert Experimenten, für die er verschiedene Nährflüssigkeiten verwendete, erschienen keine Mikroben. Er kam zu dem Schluß, daß Needham seine Gefäße entweder nicht sorgsam genug versiegelt oder sie nicht lange genug erhitzt hatte.

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Needham war Spallanzani für die elegante Widerlegung seiner Theorie keineswegs dankbar. Vielleicht war er aufgrund seines Standes nicht auf die Rolle des Advocatus Diaboli vorbereitet. Vielmehr änderte er seine Theorie ab, um sie den neuen Umständen anzupassen. Er blieb bei der Meinung, daß seine Flüssigkeiten, die er Infusionen nannte, die Kraft hätten, Leben zu erzeugen, meinte jedoch, daß diese Lebenskraft durch rauhen Umgang ä la Spallanzani zerstört werden könne. Zitieren wir Needham selbst: »Aber aufgrund der Behandlungsmethode, mit der er [Spallanzani] seine neunzehn pflanzlichen Infusionen malträtiert hatte, ist klar ersichtlich, daß er die Wachstumskraft der gebrauten Flüssigkeiten aufs höchste geschwächt oder vielleicht sogar völlig vernichtet hat.« Es war damals nicht klar, wie ein entscheidender kritischer Versuch durchgeführt werden konnte, und der Streit dauerte bis zur Zeit Louis Pasteurs an. Pasteur erhielt 1862 von der französischen Akademie der Wissenschaften einen Preis für seine Versuche im Zusammenhang mit der Theorie der Urzeugung. J. B. Dumas, ein Kollege, hatte ihn noch bei Beginn seiner Untersuchungen über den Ursprung des Lebens gewarnt: »Ich rate niemandem, sich allzu lang bei diesem Thema aufzuhalten.« Pasteur nutzte die Zeit gut, die er investierte, und mehr als ein Jahrhundert danach habe ich selbst einen ähnlichen Rat bekommen.

Pasteur wies nach, daß die angeblichen Fälle von Urzeugung auf eine Verunreinigung der Flüssigkeiten mit Mikroorganismen zurückgingen, die auf Staubpartikeln in der Luft saßen. In Schlüsselexperimenten verwendete er Schwanenhalskolben, so benannt, weil ein langer, S-förmiger Hals sie mit der umgebenden Luft verbindet. Die Flüssigkeiten in den Kolben wurden durch Hitze sterilisiert und blieben steril. Staubpartikel, auf denen Bakterien saßen, wurden im Hals festgehalten und konnten die Flüssigkeit nicht erreichen. Entfernte man den Hals jedoch, wimmelte es innerhalb von achtundvierzig Stunden in der Flüssigkeit von Mikroben. Das anfängliche Fehlen von Bakterien in der sterilisierten Flüssigkeit ging nicht auf den Verlust der Wachstumskraft zurück, sondern auf den Ausschluß der Mikroben aus der Luft.

Pasteur faßte seine Arbeit 1864 in einer triumphalen Vorlesung an der Sorbonne zusammen und schloß mit der Bemerkung: »Niemals wird sich die Lehre von der Urzeugung von dem Todesstoß erholen, den ihr dieses einfache Experiment beigebracht hat.«

Der Stoß war vielleicht tödlich, doch es dauerte einige Zeit, bis das Opfer tatsächlich verschied. In Mißkredit gebrachte wissenschaftliche Theorien verschwinden nicht durch die schnelle Bekehrung ihrer Anhänger von der Bildfläche, sondern erst, wenn ihre letzten Getreuen gestorben sind. 

Der letzte Überlebende aus jener Zeit, der die Urzeugung verteidigte, war Henry C. Bastian, ein englischer Wissenschaftler. Er hatte herausgefunden, daß Heuaufgüsse ungewöhnlich hitzeresistente Sporen enthalten. Man mußte sie sehr viel länger erhitzen, um alles abzutöten. Er interpretierte seine Ergebnisse jedoch nicht so, sondern sah in ihnen den Beweis für die Urzeugung. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts lieferte er sich erbitterte Debatten mit Mitgliedern der Academie Franchise. Ganz allein auf sich gestellt, verteidigte er seine Position bis zu seinem Tod 1915.

Das Beispiel Bastians zeigt, wie sehr ein Paradigma oder eine Theorie sich im Geist eines Menschen einnisten kann. Die skeptische Haltung, die wissen­schaft­licher Arbeit eher entspricht, wird aufgegeben, und die Idee nimmt die Eigenschaften eines Mythos an. Wir werden immer wieder auf dieses Verhalten treffen, wenn wir nach dem Ursprung des Lebens suchen. 

Bevor wir uns jedoch mit moderneren Theorien als der Urzeugung beschäftigen können, müssen wir innehalten, um einige der grundlegenden Erkenntnisse zu betrachten, die die Wissenschaft über das Wesen des Lebens und seine Geschichte auf diesem Planeten gewonnen hat.

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