Ulrich Holbein über den Zeitgeist-Denker 
Peter Sloterdijk

Peterchens Mondfahrt 

         

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1993   im Spiegel

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R.Merkel 1983 

Sloterdijk (*1947), gilt international als buntester Sproß akademischer Zeitgeist-Philosophie aus Deutschland. Sein Zweibänder <Kritik der zynischen Vernunft> wurde 1983 zum Kultbuch der Intellektuellen. Soeben erschienen "Im selben Boot — Versuch über die Hyperpolitik" und "Weltfremdheit".

Zitatvirtuose Holbein (*1953) ist Autodidakt. Für seine Werke voll satirischem Stimmengestöber erhielt er 1992 einen Preis beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb. Jüngst erschienen sein Roman "Warum zeugst du mich nicht?" und das Robotermärchen "Knallmasse".

 

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Wer eine philosophische Ader hat und trotzdem bei Kamper, Gadamer, Derrida, Lübbe, Luhmann und anderer Dosenkost nicht aufblüht, liest seit 1983 Sloterdijk: Typologien, in denen Zyniker und Kyniker siamesisch auseinander hervorgehen, Meditationen, in denen Atombombe und Buddha plausibel ineinanderfließen, Denkbilder über Autostau am kinetischen Karfreitag, eine Metaphysik der Rolltreppe, Frankfurter Vorlesungen am Ganges, Gnosisdefinitionen, Actionfilm-Analysen, in toto fast 3000 Seiten, inklusive das neue Buch über Weltsucht, Weltflucht und Weltschlaf.

Statt trauriger oder trockener wird farbenfrohe Wissenschaft entfaltet, mit klangvollen Bausteinen: dilemmataisch, zelebrativ, Kostümkritik und yesbody, radikale Entspannungskur, teutonische Tiefenplumpheit, welthistorischer Schwellkörper.

Es hagelt Genitivmetaphern: Weltmeere der sozialen Entfremdung, Surfbrett des Begehrens, Leichengift der Normalität; es schneit Aphorismen, nach denen manch Primärkopf sich vergebens die Finger leckt: "Man hört Grundwerte und sieht Atompilze aufsteigen" (1983). "Heute kann jeder Prophet sein, der die Nerven hat, bis drei zu zählen" (1989). "Wieder sorgt ein Morgen dafür, daß es mich geben wird" (1993).

Peter Sloterdijk, kurz PS, sieht auch physiognomisch entschieden unbebrillter aus als seine intelligentesten Unterbieter, angenehm unvergeistigt, auf Tagungen die betont ungefönte, in die Stirn rutschende Glückssträhne zurückwerfend, ein freakiger Kyniker, frisch inkarniert: Neo-Diogenes, der — statt auf dem Marktplatz zu onanieren — sich in der Safranski-Sendung "Philosophieren mit Peter Sloterdijk" beim Gurkenschnippeln filmen läßt und, fernab jeder Bücherwand, im Yogasitz als rotgewandeter Obelix an südfranzösischen Canons.

Statt daß nun aber die Mitwelt froh wäre, endlich wieder einen Dichterphilosophen zu haben, vermißt die Zunft bei PS semantische Klarheit, unbeliebigere Analogie- und Kausalketten, also eingeklemmte Gedankenführung, stilistisches Maßhalten. Für alle, die erst recht keine Philosophen sind, ist er nur ein Modephilosoph.


Im Gegenzug sind Professoren laut PS Anhängsel ihrer Diskurse, gezeichnet von Energielosigkeit, die als Wissenschaft auftritt. Seriöse Forschung löse nur noch Probleme, die als solche niemand hat. Statt dessen lobt PS jene Lebenswachheit, die als Message aus seinen zehn Büchern resümierbar und positiv hervorleuchtet: helle Bereitschaft für alles Begegnende, ptolemäische Abrüstung, Nichtwiderstehen, Sichfallenlassenkönnen.

Doch sind sich Originalkopf und Fachbereich Phil, der in den alten Bundesländern 256 Professoren, 109 Dozenten, 392 wissenschaftliche Mitarbeiter und 130 Sonstige umfaßt, nicht restlos fremd. PS schleudert nicht Werke hervor, sondern legt Publikationen vor, bewegt sich, seiner Brillanz zum Trotz, in den Formeln akademischer Übereinkunft: "Freilich bleibt zu bedenken —", "kein Geringerer als Platon", "In unserem Kontext kommt es darauf an zu zeigen —", "Nietzsche war es wohl, der zuerst erkannte —", "Eines kann niemand leugnen:" Als hätte das jemals jemand geleugnet, daß Nietzsche gründlich war beim Abstieg in die Einsamkeit seiner neuen Präzision. "Hier ist dasselbe zu bemerken wie in der Fußnote zu S. 78" — obwohl laut Heraklit auch PS nicht zweimal in dieselbe Fußnote steigt.

 

Der Wille zum Dozieren scheut sich selten, ins Proseminarleiterhafte zu geraten, widerstandslos gehüllt in die Luft überfüllter Klassenräume: "Was haben wir mit diesen Überlegungen erreicht?" "Lesen wir noch einmal sehr langsam die allesentscheidenden ersten Kapitel." Der dank Adorno unverwendbar gewordene, unverdrossen überall gepflegte Wir-Ton infiziert immer größere Textareale. Nun sind schon Zwischentitel betroffen: "Wo sind wir, wenn wir Musik hören?" "Wie rühren wir an den Schlaf der Welt?" In der übernächsten oder nächsten Publikation wird das Wir im Buchtitel ankommen.

Uni-Rückstände und Erkenntnis stehen oft sogar in einem Satz, unverdaulich verklebt: "Es soll nicht verschwiegen werden, daß am Beginn der europäischen Strukturwissenschaften — bei den Pythagoräern — noch ein deutliches Bewußtsein von der notwendigen Verbindung zwischen Abstraktion und Ekstase, Theorie und Festlichkeit, Mathematik und Enthusiasmus —" Weshalb soll das nicht verschwiegen werden? Wie kann aus demselben Hirn zugleich Geist und Quark fließen? Warum kann dieses Amalgam nirgendwo in reiner Form auftreten, wenigstens drei unvermanschte Seiten lang?

Sowohl Leser wie Autor werden auf Dauer immun gegen die schönsten Formulierungen, weshalb auf beiden Seiten immer süperbere Reize nötig werden.

Dann werden serienmäßig Köder produziert, die — je nach Nase — nicht sofort nach Katzensilber riechen. Die häufigsten Wörter im Gesamtwerk sind — neben zynisch, kynisch, philosophisch und ontologisch — die Wörter Aufgabe, Risiko, seriös, groß (Großereignis, Großweltrisiko), neu, neubürgerliches Geschwätz, neo-mediumistische Ich-Verfassungen und vor allem: radikal, radikale imitation, atemberaubende Radikalität, radikalbiographisches Experiment des Neuanfangens, prophetischer Radikaldemokratismus , Stellvertreterradikalismus. 

Zeitweise versucht das Wort folgenschwer zu dominieren, verliert sich dann aber zugunsten von dramatisch, authentisch und kinetisch.

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Die "glitzernde Agonie", mit der 1983 alles anfing, wäre längst verglimmt, wenn es ihr nicht immer mandrillhafter zu glitzern gelänge. In der "Weltfremdheit" wimmeln Ontokinetik, Zwangskontinua, Psychofinalismen, Todeslaszivitäten und Uterodizeen.

 

Wem Edeltrödel wie präsuizidale Euphorie, toxikomanischer Fetischismus und weißglühende Metaphysiken als Einstiegsdroge nicht mehr genügt, der landet bei psychoperfektivistischen Endstrebungen und nichtfinalen Höhepunkthaftigkeiten, quasimusikalischen Weltentfernungstechniken und postpsychoanalytischem Neo-Autohypnotismus.

Auf Reformation spricht die übertäubte Zunge nicht mehr an, es muß — um der Breitenwirkung willen — mindestens Tiefenreformation sein, aufgeladen vom Alleskleber Behauptungspathos: "Dieses Ergebnis kann man gar nicht genug betonen." "Die Folgen dieser Einsichten für die Selbstdeutung der Philosophie sind außerordentlich." "All dies wird unvorstellbare Konsequenzen zeitigen." In summa: Ohne permanente Oktavierungen und Blechbläsertutti kein PS. Nirgendwo ein Nietzsche, der nicht dringend "der kühnste Denker der neueren Ära" gescholten werden müßte.

"Doch helfen könnte uns nur, was uns hilft, als Subjekte abzurüsten — auf jeder Ebene, in jedem Sinn." Auch auf sprachlicher Ebene? Bis dato wird eher weiter mobil gemacht: "Der Fundamentalpositivismus im Grundentwurf der westlichen <Welt> setzt sich in nachmetaphysischen Denkstilen pragmatischer und realistischer Art übermächtig fort." Ebensogut könnte sich der realistische Pragmatismus im Grundentwurf der nachmetaphysischen "Welt" in positivistischen Denkspielen fundamentaler Art fortsetzen, ohne daß das weniger übermächtig klänge.

Immerhin melden sich beim Jonglieren mit Scheingewichten immer wieder sympathische Unsicherheiten: "—sofern man im Diskurs der Gegenwart das Wort Menschheit noch ohne Erröten verwenden darf." Keine Bange, man darf und wird. "Darf man hier hoch von modernen Subjekten sprechen?" Man darf. "Wenn es erlaubt ist zu sagen, daß die Gesellschaften in ihren Medizinen ihr Lebensgefühl manifestieren." Nein! Es ist verboten, ständig um Erlaubnis zu fragen — das sah bereits bei Ziehvater Nietzsche kläglich genug aus!

Hoffentlich schreibt der Karlsruher Lehrstuhlinhaber nicht nur deshalb so gut, weil andere Denk-Tänzer noch schlechter schreiben. Andererseits: So schlecht schreiben die gar nicht in jedem Moment. Immerhin erlebt die Gegenwart "die erregendste Epoche des Denkens seit der Antike" — immer diese Waschzettellaudationes!

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Von Baudrillard stammen nicht minder sammelnswerte Prägungen: aseptische Raserei, kristalline Deflektion, radikale Indifferenz — derweilen PS oft leergelutschte Duos á la ungeheure Zumutung und funkelnde Metapher in den Mund nimmt, ohne Brechreiz sogar die nüchterne Tatsache und die unauflösbare Einheit.

Die Unschuld gegenüber Ausdrücken wie gefährliches Spiel, tödlicher Ernst, furchtbare Wahrheit teilt PS nur noch mit Konsalik. In seiner Poetik des Anfangens nennt er sich einen "Liebhaber der Sprache", ohne daß solch ein Routine-Lapsus die "Sternstunde des Denkens" trüben könnte.

Auch das kantabelste PS-Bonmot "Die Macher haben die Welt nur verändert, es kommt darauf an, sie zu verschonen" stammt — laut Dietmar Kamper — von Odo Marquard, sowie von Günther Anders. Ohnedies leiden alle Denkfiguren am Dauerproblem: Wie verhülle ich, daß ich in längst abgehakten Denksystemen bereits vorhanden bin, meist besser formuliert als diesmal?

Die Entdeckung einer zweiten Fatalität, einer zweiten Philosophie, einer zweiten Sprache stammt genetisch aus dritter Hand, fußt auf Adornos zweiter Reflexion und der zweiten Religiosität Spenglers, von dem PS die administrative Gestik nahm; die katastrophile Tendenz von Erich Fromm, die Achsenzeit von Jaspers, den Exodus von Bloch; das Go slow von Oblomow, Momo, Nadolny, Handke und Bhagwan.

Die Beine derer, die dich hinaustragen werden, stehen schon vor der Tür: So läßt sich auch PS nicht hindern, seine prominentesten Vorgänger mit Schulterklopfen und Vatermorden zu behelligen. Serien-Schema: Hier irrte Kant.

Doch die ausgeweideten, gemaßregelten Philosophen schlagen zurück: Seit Adorno als "ein Opfer des neokynischen Impulses", das nicht zu "großen Überblicken" gelangte, entlarvt wurde, fließen die Sätze des PS nicht mehr ohne Anstrengung von der weitersprudelnden Lippe. Und seit PS — über seine großen Überblicke nicht hinausgelangend — Papa Heidegger hinter sich ließ, der sich in den "Krater des Faschismus" stürzte — "Er mißverstand den Tauchakt als Entschlossenheit zur Übernahme von Seinsgeschick" —, wird das spezifisch PSsche Synthetik-Ragout aus anderer Schmaus zunehmend von Heideggers Sein hinterfangen und überwölbt.

An der Verwendung des Wortes Ich läßt sich studieren, wie sich Peterchens Mondfahrt am ontologischen Herzklopfen transzendentaler Subjektwerdung hochrankt. Am Beginn des Zynikbuchs findet sich weit und breit kein Ich, statt dessen starke Sätze über die sterbende Fakultät und daß ihre großen Themen Ausflüchte und. halbe Wahrheiten gewesen seien: "Diese vergeblich schönen Höhenflüge — Gott, Universum, Theorie, Praxis, Subjekt, Objekt, Körper, Geist, Sinn, Nichts — das alles ist es nicht."

Dann kommt das Wir: "Wir sind aufgeklärt, wir sind apathisch." Einzig das Ich läßt bis Seite 12 auf sich warten: "Ich habe beim Schreiben an Leser gedacht, mir Leser gewünscht, die so empfinden; ihnen könnte das Buch, meine ich, etwas zu sagen haben."

Fortan steht dieses Ich kaum anderswo als an Satzanfängen: "Ich habe nicht die Ambition, dieses ehrwürdige Lazarett kritischer Theorien zu vergrößern." — "Ich bin sicher, daß dies auf lange Sicht die folgenreichere Umwertung der Werte sein wird." — "Ich komme in der fünften Vorüberlegung darauf zurück."

Dieses Kaum-Ich figuriert stummelhaft als die nach vorn gestülpte Hülse seiner Dekrete, es sitzt seit 1983 unterm toten Zauberbaum der Philosophie, sehnt sich, trotz Waldsterben, den Baum noch einmal blühen zu sehen, in der Hoffnung, selber dieser Baum zu sein. Doch siehe, all die stilechten Scheinblüten — das Zurweltkommen, das Dringlichkeitsapriori, der psychonautische Zirkel, das Gewahrsein des Gesamtumstands — sind selber bloß Ausflüchte und halbe Wahrheiten, alles vergeblich schöne Höhenflüge und Probleme, die als solche niemand hat.

PS warf dem Irrationalismus von Bergson bis Klages vor, sich selbst zu ernst genommen, sich mit seriösen Ansprüchen überschlagen zu haben, schwere Priestertöne angestimmt zu haben, wo eine große philosophische Clownerie gerade recht gewesen wäre. So hat PS sich selbst von Anfang an vorausgeahnt.  

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