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Vorwort 

 

von Wladimir Solowjew

 

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Die Vernunft und das Gewissen beweisen uns die Häßlichkeit und Unfähigkeit unseres gewöhnlichen, sterblichen Lebens und verlangen seine Besserung. Der Mensch, der in dieses häßliche Leben herabsinkt, muß, wenn er es verbessern will, einen außerhalb dieses Lebens liegenden Stützpunkt finden. 

Der Gläubige findet einen solchen Stützpunkt in der Religion. Es ist die Aufgabe der Religion, unser Leben zu erneuern und zu heiligen und es mit dem göttlichen Leben zu verbinden. 

Das ist vor allem das Werk Gottes, das jedoch ohne uns nicht geschehen kann, denn die Erneuerung unseres Lebens ist ohne unsere eigene Mithilfe nicht möglich. Die Religion ist ein göttlich-menschliches Werk, ein Werk, an das auch wir Hand anlegen müssen. Für jedes Werk ist aber anfangs die Aneignung gewisser grundlegender Handgriffe und Handlungen notwendig, ohne die ein Vorwärtskommen unmöglich ist. 

Auch in der Religion sind solche grundlegenden Handlungen unumgänglich notwendig. Ihre Wahl ist von uns nicht durch Zufall oder Willkür, sondern durch den religiösen Wesenskern selbst bestimmt worden. Die Aufgabe der Religion ist, unser verderbtes Leben wieder gut zu machen. 

Denn unser Leben ist überhaupt gottlos, alles Menschentums bar, eine Sklaverei im Dienste unserer niederen Natur. Wir lehnen uns gegen Gott auf, halten uns fern von unserem Nächsten und sind unserem Fleische Untertan. 

Das wahre Leben, wie es sein soll, verlangt aber gerade das Gegenteil, nämlich die freiwillige Unterordnung unter Gott, Einigkeit untereinander und Herrschaft über die Natur. 

Der Anfang zu diesem wahren Leben liegt uns nahe und ist nicht schwer.

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Der Anfang zur freiwilligen Unterwerfung oder zur Einigkeit mit Gott ist das Gebet — der Anfang zur Eintracht der Menschen untereinander ist Wohltun — der Anfang der Herrschaft über die Natur ist die Selbstbefreiung von ihrer Herrschaft durch Enthaltsamkeit von niederen Begierden und Leidenschaften.

Wollen wir also unser Leben bessern, so müssen wir zu Gott beten — einander helfen — und unsere sinnlichen Triebe beherrschen. Beten, Wohltun und Fasten — aus diesen drei Handlungen besteht jede persönliche oder jede einzelne Religion für sich.

Der Mensch lebt jedoch nicht nur sein persönliches, sondern auch ein allgemeines Leben, denn er lebt in der Welt. Wenn er aber in der Welt lebt, muß er auch im Frieden leben. Wie ist es aber möglich im Frieden zu leben, wenn in der Welt Unfrieden herrscht, wenn die ganze Welt im argen liegt?

Vor allen Dingen dürfen wir an dieses Arge nicht glauben, als sei es etwas Unwandelbares. Es ist im Gegenteil unwahr und wandelbar. Nicht in ihm liegt der Sinn der Welt. Der Sinn der Welt ist Frieden, Harmonie und Eintracht aller. Es ist das höchste Heil, wenn alle vereint sind in einem, alles um» fassenden Willen, wenn alle einig sind in einem gemeinsamen Ziele. Dies ist das höchste Heil und in ihm liegt alle Wahrheit der Welt. In der Zwietracht, in der Trennung — ist keine Wahrheit. Die Welt steht, hält sich und ist da nur durch den bewußten oder unbewußten Willen zur Einheit aller. Wo ist ein solches Wesen, wo ist ein solches Ding in der Welt, das in seiner Sonderheit bestehen kann? 

Wenn aber nichts in seiner Sonderheit bestehen kann, dann ist die Sonderheit kraftlos, dann ist sie nicht die Wahrheit, dann ist die Wahrheit in ihrem Gegenbild — in der friedvollen Einigkeit der ganzen Welt. Diese Einigkeit wird, auf diese oder jene Weise freiwillig oder unfreiwillig, von allen Wahrheitssuchern anerkannt. Fragen Sie den Naturforscher, auch er wird Ihnen sagen, daß die Wahrheit der Welt in der Einheit des kosmischen Mechanismus liegt; fragen Sie den abstrakten Philosophen — auch er wird versichern, daß die Wahrheit der Welt in einer einheitlichen, logischen, das ganze Weltall umfassenden Verbindung zu finden sei.

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Die vollständige Wahrheit dieser Welt liegt in ihrer lebendigen Einheit als dem geisterfüllten Leibe Gottes. Hierin liegt die Wahrheit der Welt und ihre Schönheit. Wenn die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erscheinungen sich zu einer Einheit ordnet, so empfinden wir diese sichtbare Harmonie als Schönheit. XYZ (griech. Wort = Welt, Harmonie, Schönheit.) So hat denn in einem höheren Sinne die Welt als eine Welt des Friedens alles in sich vereinigt, was wir suchen — das Heil und die Wahrheit und die Schönheit.

Es ist unmöglich, daß der alles umfassende Sinn der Welt nur in unseren Gedanken vorhanden sein sollte. Diese Einheit, durch die alles im Weltganzen zusammengehalten und miteinander verbunden ist, sie kann nicht nur eine abstrakte Idee sein. Sie ist eine lebendige, persönliche Kraft Gottes, und das alles in sich vereinigende Wesen dieser Kraft enthüllt sich uns in der gottmenschlichen Person des Christus, denn in Ihm lebt die ganze Fülle der Gottheit im Fleische. Außer im Christus stellt Gott für uns keine lebendige Wirklichkeit dar. Zum Christus als zu seinem Schwerpunkte strebt unser persönliches religiöses Gefühl, und auf Ihm ist gegründet die allgemeine Weltreligion.

Gott ist für uns keine Wirklichkeit außer im Gottmenschen Christus. Aber auch der Christus kann für uns keine Wirklichkeit sein, wenn Er nur eine historische Erinnerung bleibt. Er muß sich uns nicht nur aus der Vergangenheit heraus, sondern auch in der Gegenwart offenbaren. Und diese Offenbarung in der Gegenwart muß unabhängig sein von der Begrenztheit unserer Persönlichkeit. Diese von unserer eigenen Beschränktheit unabhängige Wirklichkeit des Christus und seines Lebens ist uns durch die Kirche gegeben.

Diejenigen, welche glauben, daß sie persönlich und unmittelbar die volle und ganze Offenbarung des Christus haben, die sind sicherlich nicht reif für eine solche Offenbarung und halten die Phantastereien ihrer eigenen Einbildung für den Christus. Die Fülle der Christuswesenheit dürfen wir nicht in unserer persönlichen Sphäre suchen, sondern in seiner eigenen kosmischen Sphäre, und das ist die Kirche.

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