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Teil 1:  Die Gefängnisindustrie

  "In der Epoche der Diktatur, überall umgeben von Feinden,
  zeigten wir manchmal unnütze Milde, unnütze Weichherzigkeit."
Staatsanwalt Krylenko während des Prozesses gegen die Industriepartei, 1930

 

1  Die Verhaftung

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Wie gelangt man auf diesen geheimnisvollen Archipel? Stunde für Stunde machen sich Flugzeuge, Schiffe, Züge auf den Weg dorthin — doch es weist keine einzige Inschrift den Bestimmungsort aus. Beamte am Fahr­karten­schalter würden nicht weniger erstaunt sein als ihre Kollegen vom Sowtourist- oder Intourist-Reisebüro, wollte jemand eine Fahrt dorthin buchen. Sie kennen weder den Archipel als Ganzes noch eine seiner zahllosen Inseln, sie haben nie etwas davon gehört.

Wer hinfährt, um den Archipel zu regieren, der nimmt den Weg durch die Lehranstalten des MWD*.
Wer hinfährt, um den Archipel zu bewachen, der wird von der Militäreinberufungsstelle hinbeordert.
Und wer hinfährt, um dort zu sterben, wie wir beide, Sie, mein Leser, und ich, dem steht dazu unausweichlich und einzig der Weg über die Verhaftung offen.

Die Verhaftung! 

Soll ich es eine Wende in Ihrem Leben nennen? Einen direkten Blitzschlag, der Sie betrifft? Eine unfaßbare seelische Erschütterung, mit der nicht jeder fertig werden kann und oft in den Wahnsinn sich davor rettet?

Das Universum hat so viele Zentren, so viele Lebewesen darin wohnen. Jeder von uns ist ein Mittelpunkt des Alls, und die Schöpfung bricht in tausend Stücke, wenn Sie es zischen hören: «sie sind VERHAFTET!»

Wenn schon Sie verhaftet werden — wie soll dann etwas anderes vor diesem Erdbeben verschont bleiben?

Unfähig, diese Verschiebungen im Weltall mit benebeltem Gehirn zu erfassen, vermögen die Raffiniertesten und die Einfältigsten unter uns in diesem Augenblick aus der gesamten Erfahrung ihres Lebens nichts anderes herauspressen als dies:
«Ich?? Warum denn??» — Eine Frage, die schon zu Millionen und Abermillionen Malen gestellt wurde und niemals eine Antwort fand.

Die Verhaftung ist eine jähe, mit voller Wucht uns treffende Versetzung, Verlegung, Vertreibung aus einem Zustand in einen anderen.

* Hier und im folgenden werden bei Abkürzungen russischer Begriffe die kyrillischen Anfangsbuchstaben dem deutschen Gebrauch entsprechend in Lateinschrift transkribiert (GPU, GULAG, NKWD usw.).
Die Aufschlüsselung siehe im Verzeichnis der Abkürzungen, S. 581.


Da jagten wir glücklich oder trabten wir unglücklich durch die lange winkelige Straße unseres Lebens, an Zäunen, Zäunen, Zäunen entlang, vorbei an moderigen Holzplanken, an Lehmmauern und Eisengittern, vorbei an Umfriedungen aus Ziegel und Beton. Wir verloren keinen Gedanken daran, was wohl dahinter lag. Weder versuchten wir hinüberzublicken, noch uns hinüberzudenken — dahinter aber begann das Land GULAG, gleich nebenan, keine zwei Meter von uns entfernt. 

Auch hatten wir in diesen Zäunen die Unmenge von genau eingepaßten, gut getarnten Türen und Pförtchen nicht bemerkt. Alle, alle diese Pforten standen für uns bereit — und es öffnete sich rasch die schicksalhafte eine, und vier weiße Männerhände, an Arbeit nicht, dafür aber ans Zuschnappen gewöhnt, packen uns an Beinen, Armen, Haaren, am Ohr oder am Kragen, zerren uns wie ein Bündel hinein, und die Pforte hinter uns, die Tür zu unserem vergangenen Leben, die schlagen sie für immer zu.

Schluß. Sie sind — verhaftet!
Und keine andere Antwort finden Sie darauf als ein verängstigtes Blöken: «W-e-e-r? I-i-ch?? Warum denn??»

Ver-haf-tet-wer-den, das ist: ein Aufblitzen und ein Schlag, durch die das Gegenwärtige sofort in die Vergangenheit versetzt und das Unmögliche zur rechtmäßigen Gegenwart wird. Das ist alles. Mehr zu begreifen gelingt Ihnen weder in der ersten Stunde noch nach dem ersten Tag.

Noch blinkt Ihnen in Ihrer Verzweiflung wie aus der Zirkuskuppel ein künstlicher Mond zu: «Ein Irrtum! Das wird sich schon aufklären!»

Alles andere aber, was sich heute zur traditionellen und sogar literarischen Vorstellung über die Verhaftung zusammengefügt hat, entsteht und sammelt sich nicht mehr in Ihrem bestürzten Gedächtnis, sondern im Gedächtnis Ihrer Familie und der Wohnungsnachbarn.

Das ist: ein schrilles nächtliches Läuten oder ein grobes Hämmern an der Tür. Das ist: der ungenierte stramme Einbruch der an der Schwelle nicht abgeputzten Stiefel des Einsatzkommandos. Das ist:  der hinter ihrem Rücken sich versteckende eingeschüchterte Zeuge als Beistand. (Wozu der Beistand? - Das zu überlegen, wagen die Opfer nicht, und die Verhafter haben es vergessen, aber es ist halt Vorschrift; so muß er denn die Nacht über dabeisitzen und gegen Morgen das Protokoll unterschreiben. Auch für den aus dem Schlaf gerissenen Zeugen ist es eine Qual: Nacht für Nacht dabeisein und helfen zu müssen, wenn man seine Nachbarn und Bekannten verhaftet.)

Die traditionelle Verhaftung — das heißt auch noch: mit zitternden Händen zusammensuchen, was der Verhaftete dort brauchen könnte:  Wäsche zum Wechseln, ein Stück Seife und was an Essen da ist, und niemand weiß, was notwendig und was erlaubt ist und welche Kleidung am besten wäre, die Uniformierten aber drängen: «Wozu das alles? Dort gibt's Essen genug. Dort ist's warm.» (Alles Lüge. Und das Drängen dient nur zur Einschüchterung.)

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Die traditionelle Verhaftung hat noch eine stundenlange Fortsetzung, später, wenn der arme Sünder längst abgeführt ist und die brutale, fremde, erdrückende Gewalt sich der Wohnung bemächtigt. Das sieht so aus: Schlösser aufbrechen, Polster aufschlitzen, alles von den Wänden runter, alles aus den Schränken raus, ein Herumwühlen, Ausschütten, Aufschneiden, ein Reißen und Zerren — und Berge von Hausrat auf dem Boden, und Splitter unter den Stiefeln. Und nichts ist ihnen heilig während der Haussuchung! Während der Verhaftung des Lokführers Inoschin stand der kleine Sarg mit seinem eben verstorbenen Kind im Zimmer. Die Rechtshüter kippten das Kind aus dem Sarg heraus, sie suchten auch dort. Sie zerren Kranke aus ihren Betten und reißen Verbände von Wunden*.

Und was alles wird während der Haussuchung als verdächtig erkannt werden! Beim Antiquitätensammler Tschetweruchin beschlagnahmten sie «soundso viele Blätter mit zaristischen Verordnungen», konkret gesprochen: je einen Erlaß über die Beendigung des Krieges gegen Napoleon, über die Gründung der Heiligen Allianz und ein Bittgebet gegen die Choleraepidemie von 1830. Bei unserem besten Tibetkenner Wostrikow wurden wertvolle alte tibetische Handschriften konfisziert (und den Schülern des Verstorbenen gelang es erst dreißig Jahre später, dem KGB die Beute wieder zu entreißen!). Nach der Verhaftung des Orientalisten Newski wurden tangutische Handschriften beschlagnahmt (für deren Entschlüsselung der Verstorbene fünfundzwanzig Jahre später postum den Leninpreis bekam). 

Bei Karger ergatterten sie ein Archiv über die Jenissej-Ostjaken und verboten das von ihm entwickelte Alphabet samt der dazugehörigen Fibel — so blieb denn das kleine Völkchen ohne eigene Schrift. In intellektueller Sprache dies alles zu beschreiben, würde zu lange dauern, das Volk aber sagt dazu:  Sie suchen, was sie nicht hingelegt.

Das Geraffte führen sie fort, bisweilen muß es der Verhaftete selber schleppen. Auch Nina Alexandrowna Paltschinskaja durfte den Sack mit den Papieren und Briefen ihres unermüdlich tätig gewesenen verstorbenen Gatten, des großen russischen Ingenieurs, schultern — und er verschwand im Rachen der GPU auf Nimmerwiedersehen.

* Als im Jahre 1937 das Institut des Dr. Kasakow aufs Korn genommen wurde, ließ die «Kommission» die Gefäße mit den von ihm entdeckten Lysaten zertrümmern, obwohl rundum die geheilten und noch zu heilenden Krüppel, auf Krücken hüpfend, darum bettelten, das Wunderpräparat zu erhalten. (Nach der amtlichen Version hatten die Lysate als Gift zu gelten — warum hat man sie dann nicht als Beweisstück aufbewahrt?)

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Für die aber, die nach der Verhaftung zurückbleiben, beginnen ab nun lange Monate eines zerrütteten, verwüsteten Lebens. Die Versuche, mit Paketen durchzukommen. Und überall nur bellende Antworten: «Den gibt es nicht!», «Nicht in den Listen!» Zuvor aber muß man an den Schalter gelangen, aus dem das Gebell schallt, und das bedeutete in den schlimmen Leningrader Zeiten fünf Tage Schlangestehen. Und erst nach Monaten oder nach einem Jahr läßt der Verhaftete selbst von sich hören, oder aber es wird einem das «Ohne Brieferlaubnis» an den Kopf geworfen. Das aber heißt - für immer. «Ohne Brieferlaubnis», das steht fast sicher für: erschossen*.

So stellen wir uns die Verhaftung vor.

Es stimmt auch. Die nächtliche Verhaftung von der beschriebenen Art erfreut sich bei uns gewisser Beliebtheit, weil sie wesentliche Vorzüge zu bieten hat. Alle Leute in der Wohnung sind nach den ersten Schlägen gegen die Tür vor Entsetzen gelähmt. Der zu Verhaftende wird aus der Wärme des Bettes gerissen, steht da in seiner halbwachen Hilflosigkeit, noch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Bei einer nächtlichen Verhaftung ist das Einsatzkommando in einer stärkeren Position: Sie kommen, ein halbes Dutzend bewaffneter Männer gegen einen, der erst die Hose zuknöpft; mit Sicherheit ist auszuschließen, daß sich während der Abführung und der Haussuchung am Hauseingang mögliche Anhänger des Opfers sammeln. Das gemächliche und systematische Aufsuchen von einer Wohnung hier, einer anderen dort, einer dritten und vierten in der darauffolgenden Nacht gewährt den bestmöglichen Einsatz des operativen Personals und die Inhaftierung einer vielfach größeren Zahl von Einwohnern, als der Personalstand ausmacht.

Einen weiteren Vorzug zeigen die nächtlichen Verhaftungen auch darin, daß weder die Nachbarhäuser noch die Straßen zu sehen bekommen, wie viele da nächtens abtransportiert werden. Erschreckend für die allernächsten Hausparteien, sind sie für die Entfernteren nicht existent. Sind wie nicht dagewesen. Über denselben Asphaltstreifen, über den zur nächtlichen Stunde Gefangenenwagen hin und her flitzen, marschieren am hellen Tage frohgemute Jugendscharen, mit Fahnen und Blumen und unbeschwerten Liedern.

Doch die Verhaftenden, deren Dienst ja einzig aus solchen Akten besteht, denen die Schrecken der Festzunehmenden längst etwas Vertrautes und Öde-Langweiliges geworden sind, betrachten den Inhaftnahmevorgang in einem viel weiteren Sinne.

* Mit einem Wort: «Wir leben unter verfluchten Bedingungen, wo ein Mensch spurlos verschwindet und auch seine Allernächsten, Frau und Mutter ..., jahrelang nichts über sein Schicksal erfahren.» Stimmt's? Nein? Dies schrieb Lenin im Jahre 1910 in seinem Nachruf auf Babuschkin. Doch sei hier geradeheraus festgehalten: Babuschkin leitete einen Waffentransport für den Aufstand, dabei wurde er auch erschossen. Er wußte, was er in Kauf nahm. Anders wir, die Karnickel.

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Die haben eine große Theorie; man glaube nur ja nicht naiv, es gäbe sie nicht. Die Inhaftnahme, das ist ein wichtiger Abschnitt im Lehrplan der allgemeinen Gefängniskunde, in der eine grundlegende gesellschaftliche Theorie als Basis nicht fehlt. Die Verhaftungen werden nach bestimmten Merkmalen klassifiziert: Verhaftungen am Tag und in der Nacht; zu Hause, im Dienst und unterwegs; erstmalige und wiederholte; Einzel- und Gruppenverhaftungen. Die Verhaftungen werden nach dem Grad der erforderlichen Überrumpelung eingestuft und nach der Stärke des zu erwartenden Widerstandes (doch in Dutzenden Millionen von Fällen wurde kein Widerstand erwartet und auch keiner geleistet). Die Verhaftungen unterscheiden sich nach der Gewichtigkeit der geplanten Haussuchung*; nach der Notwendigkeit, bei der Beschlagnahme Protokolle zu führen, das Zimmer oder die Wohnung zu versiegeln, welche Notwendigkeit nicht immer gegeben ist; je nach Bedarf im weiteren Verlaufe auch die Frau des Abgeführten zu verhaften, die Kinder aber ins Kinderheim zu bringen, bzw. den Rest der Familie in die Verbannung, bzw. auch noch die greisen Eltern ins Lager.

O nein, die Formen der Verhaftung sind mitnichten eintönig. Frau Irma Mendel, eine Ungarin, erhielt einmal (im Jahre 1926) in der Komintern zwei Karten für das Bolschoitheater, die Plätze ganz vorn. Der Untersuchungsrichter Klegel machte ihr den Hof, so lud sie ihn ein, mit ihr zu gehen. Sie verbrachten einen trauten Abend, danach fuhr er sie direkt ... auf die Lubjanka**. Und wenn 1927 auf dem Kusnezki-Most die rundwangige, blondzöpfige Schönheit Anna Skripnikowa, die sich eben blauen Stoff für ein Kleid gekauft hatte, von einem jungen Gecken in eine Droschke verfrachtet wird (und der Kutscher, der hat schon begriffen und schaut finster drein: um den Fuhrlohn ist er bei den Organen betrogen) — dann sollten Sie wissen, daß dies kein romantisches Rendezvous ist, sondern auch eine Verhaftung:

* Dazu gibt es auch noch eine komplette Wissenschaft der Haussuchung. Ich hatte Gelegenheit, eine Broschüre für Fernstudenten der Juristischen Hochschule von Alma-Ata zu lesen. Dort wird speziell jenen Juristen Lob zuteil, die die Mühe nicht scheuten, 2 Tonnen Dünger, 6 Kubikmeter Holz und 2 Fuhren Heu zu durchwühlen, einen Bauernhof vom Schnee zu räumen, Ziegel aus dem Ofen herauszubrechen, die Senkgrube zu leeren, Klosettschüsseln zu untersuchen, in Hundehütten, Hühnerställen und Vogelhäusern zu suchen, Matratzen aufzuschneiden, Pflaster von der Haut zu reißen und Metallzähne auszubrechen, um sich zu vergewissern, daß darunter keine Mikrofilme verborgen lagen. Den Studenten wird wärmstens empfohlen, mit der Leibesvisitation zu beginnen und damit auch wieder abzuschließen (könnte doch sein, daß der Betreffende während der Aktion noch etwas unterschlagen hat) und nochmals an den gleichen Ort zurückzukehren, zu anderer Tageszeit — und die Durchsuchung zu wiederholen.

** Die hochgestellten Ziffern beziehen sich auf die entsprechenden Nummern der Anmerkungen, S. 557.

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Gleich biegen sie zur Lubjanka ein und fahren in den schwarzen Rachen des Tores. Und wenn (zweiundzwanzig Lenze danach) der Fregattenkapitän Boris Burkowski, weiße Umform, teures Eau de Cologne, eine Torte für ein Mädchen kauft, dann wissen Sie nicht, ob diese Torte bis zu der Freundin gelangt oder nicht eher, von den Messern der Durchsuchenden zerstückelt, dem Kapitän in seine erste Zelle folgen wird. Nein, niemals vernachlässigte man bei uns die Verhaftung am Tage, und die Verhaftung unterwegs, und die Verhaftung in brodelnder Menschenmenge. Und es klappte dennoch immer, und die Opfer selbst — das ist das Seltsame daran! — benehmen sich, in voller Übereinstimmung mit den Verhaftenden, maximal wohlerzogen, auf daß die Lebenden vom Untergang des Gezeichneten nichts bemerken.

Nicht jedermann ist in seinem Heim, nach vorherigem Klopfen an der Tür, festzunehmen, nicht jedermann auch an seinem Arbeitsplatz. Bei vermuteter Böswilligkeit des zu Fassenden ist es besser, ihn in Absonderung zu verhaften, fern von der gewohnten Umgebung, von der Familie, den Kollegen, den Gleichgesinnten und den Geheimverstecken: daß er nicht die Zeit habe, etwas zu vernichten, zu verbergen, zu übergeben.

Hohe Würdenträger in Partei und Armee wurden bisweilen an andere Orte versetzt, per Salonwagen auf die Reise geschickt und unterwegs verhaftet. Irgendein namenloser Sterblicher hingegen, ein angstgeschüttelter Zeuge der Verhaftungen rundum, den schiefe Blicke seiner Vorgesetzten seit einer Woche schon Böses ahnen ließen, wird plötzlich zum Gewerkschaftsrat beordert, wo man ihm strahlend einen Reisebonus für ein Sanatorium in Sotschi überreicht. Er dankt, er eilt jubelnd nach Hause, um den Koffer zu packen. In zwei Stunden fährt der Zug, er schilt die umständliche Gattin. Und schon am Bahnhof! Noch bleibt Zeit. Im Wartesaal oder an der Theke, wo er rasch ein Bier kippt, wird er von einem überaus sympathischen jungen Mann angesprochen: «Erkennen Sie mich nicht, Pjotr Iwanytsch?» Pjotr Iwanytsch wird verlegen: «Eigentlich nicht ... ich weiß nicht recht ...» Der junge Mann ist ganz freundschaftliches Entgegenkommen: «Aber, aber, Sie werden sich gleich erinnern ...» Und mit ehrfürchtiger Verbeugung zur Gattin hin: «Verzeihen Sie bitte, ich entführe Ihren Gatten bloß für einen Augenblick ...» Die Gattin gestattet, der Unbekannte hakt sich bei Pjotr Iwanytsch vertraulich unter und führt ihn ab — für immer oder für zehn Jahre.

Der Bahnhof aber lebt sein hastiges Leben — und merkt nichts ... Mitbürger, die Ihr gern Reisen unternehmt! Vergeßt nicht, daß es auf jedem Bahnhof einen Außenposten der GPU gibt mit einigen Gefängniszellen dazu.

Diese Aufdringlichkeit angeblicher Bekannter ist so ungestüm, daß es einem Menschen ohne wölfische Lagererfahrung einfach schwerfällt, sie abzuschütteln.

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Glauben Sie bloß nicht, daß Sie, wären Sie auch ein Angestellter der Amerikanischen Botschaft, namens, sagen wir Alder D., davor gefeit sind, am hellichten Tage auf der Gorkistraße beim Hauptpostamt verhaftet zu werden. Da kommt er schon auf Sie zugestürzt. Ihr unbekannter Freund, mit ausgebreiteten Armen, durch die dichte Menge: «Sascha!», ruft er ganz ungeniert. «Ewig dich nicht gesehen! ... Schau, wir stehn im Weg, komm doch zur Seite.» Doch wo er sie hinzieht, an den Rand des Gehsteigs, da ist eben eine Pobeda vorgefahren ... (Einige Tage danach wird die TASS voller Entrüstung erklären, es sei über das Verschwinden des Al-der D. in kompetenten Kreisen nichts bekannt.) Ach, wozu viel reden! Unsere Prachtkerle erledigten solche Verhaftungen sogar in Brüssel (so erwischten sie Schora Blednow), da ist Moskau nichts dagegen.

 

Man muß den Organen Gerechtigkeit widerfahren lassen: In einer Zeit, da Festreden, Theaterstücke und Damengarderoben den Stempel der Serienproduktion zu tragen scheinen, zeigt sich die Verhaftung in vielfältigem Gewand. Man winkt Sie beiseite, nachdem Sie eben am Fabriktor Ihren Passierschein vorgewiesen haben — und drin sind Sie; man schleppt Sie aus dem Lazarett mit 39 Grad Fieber fort (Ans Bernstein), und der Arzt hat nichts gegen Ihre Verhaftung einzuwenden (soll er's nur versuchen!); man verhaftet Sie vom Operationstisch weg, auf dem Sie wegen eines Magengeschwürs lagen (N. M. Worobjow. Gebietsschulinspektor, 1936) — und bringt Sie, mehr tot als lebendig, blutverschmiert in die Zelle (so erinnert sich Karpunitsch); Sie bemühen sich um eine Besuchsbewilligung (Nadja Lewitskaja) bei Ihrer abgeurteilten Mutter, man gewährt sie Ihnen — und dann erweist sich der Besuch als Gegenüberstellung und Verhaftung! Im großen Lebensmittelgeschäft Gastronom werden Sie in die Bestellabteilung gebeten und dort verhaftet; ein Pilger verhaftet Sie, der um Christi willen Beherbergung bei Ihnen erbat; ein Monteur verhaftet Sie, der gekommen ist, den Gaszähler abzulesen; ein Radfahrer, der auf der Straße in Sie hineinfuhr; ein Eisenbahnschaffner, ein Taxifahrer, ein Schalterbeamter der Sparkasse und ein Kinodirektor — sie alle verhaften Sie, der Sie zu spät den gut versteckten weinroten Ausweis erblicken.

Manch eine Verhaftung gleicht einem Spiel: Unerschöpflich ist der darin investierte Erfindergeist, unversiegbar die saturierte Energie, aber das Opfer, das würde sich ja auch sonst nicht wehren. Ob die Einsatzkommandos auf diese Weise ihren Sold und ihre Vielzahl rechtfertigen wollen? Es würde doch, scheint's, fürwahr genügen, allen in Aussicht genommenen Karnickeln Vorladungen zu schicken — und sie kämen auf die Minute genau zur bestellten Zeit eingetrudelt mit ihrem Bündel und marschierten gehorsam durch das schwarze Eisentor des Staatssicherheitsdienstes, um das Fleckchen Boden in der ihnen zugewiesenen Zelle in Besitz zu nehmen.

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(Mit dem Kolchosbauern wird es genauso gehandhabt, wozu auch die Mühe, nachts auf lausigen Straßen zu seiner Hütte zu fahren? Man beordert ihn zum Dorfrat, dort schnappen sie ihn. Einen Hilfsarbeiter bestellen sie ins Kontor.)

Gewiß, keine Maschine kann mehr schaffen, als ihr in den Rachen geht. In den angespannten, randvollen Jahren 1945/46, als aus Europa Züge um Züge angerollt kamen, die allesamt verschlungen und auf den Archipel GULAG verfrachtet werden mußten, da fehlte schon solch überschüssiges Spiel, die Theorie selbst verblich, der rituelle Federschmuck fiel ab, und es glich die Verhaftung von Zehntausenden einem armseligen Appell: Vorn standen sie mit Namenslisten, ließen die Fracht aus einem Waggon antreten und in einen anderen verstauen, womit die ganze Verhaftung auch schon zu Ende war.

Jahrzehntelang zeichneten sich die politischen Verhaftungen bei uns eben dadurch aus, daß Leute geschnappt wurden, die unschuldig waren — und daher auf keinerlei Widerstand vorbereitet. Die Folge war ein allgemeines Gefühl der Verlorenheit, die (bei unserem Paßsystem mitnichten unbegründete) Vorstellung, es sei unmöglich, der GPU-NKWD zu entfliehen. Und selbst in Zeiten wahrer Verhaftungsepidemien, als die Menschen sich allmorgendlich von ihrer Familie verabschiedeten, weil sie nicht sicher waren, abends nach der Arbeit auch wieder heimzukehren — selbst damals ergriff fast keiner die Flucht (und nur wenige begingen Selbstmord). Was ja auch bezweckt wurde. Ein sanftes Schaf ist des Wolfes Leckerbissen.

Es geschah auch aus mangelnder Einsicht in die Mechanik der Verhaftungsepidemien. Die Organe verfügten meist über keine fundierte Motivierung für die Auswahl der zu Verhaftenden, der auf freiem Fuß zu Belassenden, sie hatten ja einzig und allein die Sollziffer zu erreichen. Die Erzielung der vorgegebenen Zahl konnte nach bestimmten Richtlinien erfolgen, ein andermal aber auch völlig zufällig sein.

Im Jahre 1937 kam eine Frau ins Empfangsbüro der Nowotscherkassker NKWD, um sich zu erkundigen, was mit dem hungrigen Säugling ihrer verhafteten Nachbarin geschehen solle. «Nehmen Sie bitte Platz», sagte man ihr, «wir werden uns erkundigen.» Sie wartete zwei Stunden — dann führte man sie aus dem Empfangsraum in eine Zelle: Die Zahl mußte raschest «aufgefüllt» werden, an einsatzbereiten Mitarbeitern mangelte es — wozu in der Stadt suchen, wenn diese da schon hier war!

Und umgekehrt ging's auch: Als sie kamen, den Letten Andrej Pavel in der Nähe von Orscha zu verhaften, da sprang er, ohne die Tür zu öffnen, aus dem Fenster, schüttelte die Verfolger ab und fuhr geradewegs nach Sibirien. Und obwohl er dort unter seinem eigenen Namen lebte und in seinen Papieren als ständigen Wohnort Orscha stehen hatte, wurde er niemals verhaftet, weder je vorgeladen noch irgendwann verdächtigt.

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Denn es gibt drei Fahndungsarten: auf Unions-, Republiks- und Gebietsebene, fast die Hälfte aller in jenen Seuchenjahren Verhafteten wurde aber bloß im Gebietsbereich zur Verhaftung ausgeschrieben. Wo zufällige Umstände, zum Beispiel die Denunziation eines Nachbarn, zur Verhaftung führten, da konnte der dazu Vorgemerkte leicht durch einen anderen Nachbarn ersetzt werden. Wie im Falle von Andrej Pavel wurden Menschen, die zufällig in eine Razzia gerieten und den Mut hatten, sogleich, noch vor der ersten Einvernahme, zu fliehen, niemals verfolgt oder belangt; wer aber blieb, auf daß ihm Gerechtigkeit widerfahre, der wurde verurteilt. Und die erdrückende Mehrzahl verhielt sich so: kleinmütig, hilflos, schicksalergeben.

Wahr ist auch, daß die NKWD bei Abwesenheit des Gesuchten den Verwandten die schriftliche Verpflichtung auferlegte, ihren Wohnort nicht zu verlassen; nichts leichter für sie, als die Zurückgebliebenen später anstelle des Flüchtigen zu verbuchen.

Allgemeine Schuldlosigkeit bewirkt auch allgemeine Untätigkeit. Vielleicht holen sie dich nicht? Vielleicht geht's vorbei? A. I. Ladyschenski, dem Oberlehrer an der Schule des gottverlassenen Städtchens Kologriw, wurde im siebenunddreißiger Jahr auf dem Markt von einem Bauern die Warnung zugesteckt: «Alexander Iwanytsch, geh fort, du bist in den Listen!» Er blieb: Hängt nicht die ganze Schule an mir, gehen nicht auch ihre Kinder in meine Klasse — warum sollten sie mich holen? ... (Einige Tage später war er verhaftet.)

Nicht jedem ist es wie Wanja Lewitski gegeben, mit vierzehn bereits zur Einsicht zu gelangen: «Jeder ehrliche Mensch kommt ins Gefängnis. Jetzt sitzt Papa, wenn ich groß bin — holen sie mich.» (Sie verhafteten ihn mit dreiundzwanzig.) Die schimmernde Hoffnung läßt die meisten dumm werden. Ich bin unschuldig, warum sollten sie mich holen? Ein Mißverständnis! Schon packen sie dich am Kragen, schleifen dich fort, du aber kannst es nicht lassen, dich selbst zu beschwören: «Ein Mißverständnis! Es wird sich erweisen!» Die anderen holen sie massenweise, ohne Logik auch dort, und doch bleibt in jedem einzelnen Fall ein Vielleicht: «Vielleicht ist gerade der ...?» Du aber, du bist doch ohne Zweifel unschuldig! Für dich sind die Organe eine menschlich-logische Institution: Unschuld erwiesen — in Freiheit gesetzt.

Wozu solltest du demnach davonlaufen? ... Und warum solltest du dann Widerstand leisten? ... Du würdest deine Lage damit bloß verschlimmern, die Wahrheitsfindung erschweren. Was Widerstand?! — Auf Zehenspitzen, wie befohlen, gehst du die Treppe hinab, damit die Nachbarn gottbehüt nichts hören*.

 

* Im Lager später wurmte es einen: Was, wenn jeder von ihnen nicht sicher gewesen wäre, ob er vom nächtlichen Einsatz zurückkäme; wenn er sich von seiner Familie zu verabschieden gehabt hätte? Wenn in den Zeiten der Massenverhaftungen, z. B. als sie in Leningrad gut ein Viertel der Stadt festsetzten, was, wenn die Menschen - statt daß jeder in seinem Bau sich verkriechen und beim leisesten Geräusch an der Tür, beim Poltern von fremden Schritten im Stiegenhaus vor Angst vergehen würde - begriffen hätten, daß es nichts mehr zu verlieren gab; wenn sie also in ihren Häusern sich zusammengetan hätten, ein Haufen tapferer Männer mit Äxten, Hämmern, Schürhaken und sonstigem, was eben zur Hand war? Man wußte doch von vornherein, daß die nächtlichen Gesellen nichts Gutes im Schilde führten, da konnte man nicht fehlgehen, dem Halsabschneider einmal über'n Schädel zu hauen. Und der Gefängniswagen auf der Straße, mit dem einsamen Fahrer darin - warum ihn stehenlassen, warum nicht die Reifen aufschneiden? Bald hätten die Organe Mangel an Personal und Fahrzeugen verspürt, und es wäre das verfluchte Räderwerk trotz Stalins Eifer zum Stillstand gekommen!

Wenn ... Ja wenn ... Es fehlte uns an Freiheitswillen. Und vorher noch — an Einsicht in die wahre Lage der Dinge. Wir hatten uns in dem einen ungestümen Aufbruch des Jahres 17 verausgabt und beeilten uns danach, wieder gefügig zu werden, fanden Freude daran, wieder gefügig zu sein. (Arthur Ransome beschreibt eine Arbeiterkundgebung 1921 in Jaroslawl. Vom Zentralkomitee in Moskau waren Vertreter gekommen, sich mit den Arbeitern über die Kernpunkte der damaligen Gewerkschaftsdiskussion zu beraten. J. Larin von der Opposition erklärte den Arbeitern, daß ihre Gewerkschaft einen Schutz gegen die Betriebsverwaltung bilden müsse, daß sie, die Arbeiter, sich Rechte erobert hätten, die sie nicht aus der Hand geben dürften. Die Arbeiter verharrten in völliger Gleichgültigkeit, begriffen einfach nicht, wogegen der Schutz und wofür die Rechte zu bestehen hätten. Als aber ein Vertreter der Generallinie der Partei das Wort ergriff und die Arbeiter abkanzelte, weil sie faul und nachlässig seien, und sie aufforderte, Opfer zu bringen, unbezahlte Überstunden zu leisten, sich im Essen zu beschränken und sich in militärischem Gehorsam der Verwaltung zu fügen — da erntete er begeisterten Applaus.) Wir haben alles weitere einfach verdient.

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Und dann — wogegen sich eigentlich wehren? Dagegen, daß sie dir den Hosengürtel abnehmen? Daß sie dir befehlen, in der Ecke stehen zu bleiben — oder das Haus zu verlassen? Der Abschied besteht aus vielen winzigen Rundherums, aus zahllosen Nichtigkeiten, um die im einzelnen zu streiten es wohl keinen Sinn hätte (derweilen die Gedanken des Verhafteten um die einzige gewaltige Frage kreisen: «Wofür?») — doch all dieses Nebensächliche fügt sich unabwendbar zur Verhaftung zusammen.

Ja, wer weiß denn überhaupt, was sich im Herzen eines Frischverhafteten abspielt! — Dies allein verdiente ein eigenes Buch. Da fänden sich Gefühle, die wir gar nicht vermuten würden. Als im Jahre 1921 die neunzehnjährige Jewgenija Dojarenko verhaftet wurde und drei Tschekisten ihr Bett und ihre Kommode durchwühlten, blieb sie ruhig und gelassen: Wo nichts ist, werden sie nichts finden. Plötzlich stießen sie auf ihr intimes Tagebuch, das sie selbst der Mutter nicht gezeigt hätte, und dies allein: daß feindselige fremde Kerle darin lesen konnten, erschütterte sie stärker als die ganze Lubjanka mit ihren Gitterfenstern und Verliesen.

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Wo die Verhaftung solche persönlichen Gefühle und Regungen aufrührt, tritt für viele sogar die Angst vor dem Gefängnis in den Hintergrund. Ein Mensch, der innerlich nicht auf Gewalt vorbereitet ist, wird dem Gewalttäter gegenüber stets den kürzeren ziehen.

Nur wenige ganz Schlaue und Waghalsige vermögen prompt zu reagieren. Der Direktor des Geologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften, Grigorjew, den sie 1948 abholen kamen, verschanzte sich in seiner Wohnung und hatte zwei Stunden Zeit, Dokumente zu verbrennen.

 

Manchmal aber ist das erste Gefühl des Festgenommenen jenes der Erleichterung, ja sogar der freude! Auch das liegt in der Natur des Menschen. Und ist auch früher schon vorgekommen: Die in Sachen Alexander Uljanow gesuchte Lehrerin Serdjukowa aus Jekaterinodar fand ihre Ruhe erst wieder, als sie verhaftet wurde. Doch tausendfach wiederholte es sich in Zeiten von Verhaftungsepidemien: Wenn rundum zu Dutzenden Leute verhaftet werden, die so sind wie du, hier einer und dort einer, aber dich holen sie nicht, dich lassen sie noch zappeln — da leidest du mehr, als wenn sie dich schon verhaftet hätten, da finden sich am Ende auch die Willensstärksten total zermürbt. Wassilij Wlassow, ein furchtloser Kommunist, von dem im folgenden noch öfter die Rede sein wird, hatte es, entgegen den guten Ratschlägen seiner parteilosen Mitarbeiter, abgelehnt, die Flucht zu ergreifen, und litt unsäglich darunter, daß sie ihn, der allein von der gesamten Leitung des Kadyjsker Bezirkes (1937) in Freiheit geblieben war, durchaus nicht holen wollten. Er hätte dem Angriff gern ins Auge gesehen, konnte es nicht anders, beruhigte sich erst, als der Schlag erfolgt war, und fühlte sich in den ersten Tagen nach der Verhaftung so wohl wie schon lange nicht mehr.

Vater Iraklij, ein Geistlicher, fuhr 1934 nach Alma-Ata, um die dorthin verbannten Gläubigen zu besuchen; unterdessen wurde er zur Verhaftung ausgeschrieben und dreimal in seiner Moskauer Wohnung gesucht. Als er zurückkam, wurde er am Bahnhof von Mitgliedern seiner Gemeinde abgefangen und nicht nach Hause gelassen: Acht Jahre lang versteckten sie ihn von Wohnung zu Wohnung. Am Ende war er von diesem gehetzten Leben derart entnervt, daß er freudig Gott pries, als sie 1942 seiner doch noch habhaft wurden.

Wir sprachen in diesem Kapitel bislang immer nur von der Masse, von den Karnickeln, die, wer weiß, wofür, ins Gefängnis kamen. Dennoch wird es wohl nicht zu umgehen sein, in diesem Buch auch jene zu erfassen, die in der neuen Ära echte politische Häftlinge blieben. Vera Rybakowa, Studentin und Sozialdemokratin, wünschte sich, solange sie noch frei war, in den Susdaler Politisolator2: Nur dort konnte sie mit älteren Genossen zusammenkommen (von denen war niemand mehr frei), um sich weltanschaulich zu bilden.

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Die junge Sozialrevolutionärin Jekaterina Olizkaja glaubte 1924 sogar, des Gefängnisses nicht würdig zu sein: Rußlands beste Menschen waren den Weg durch die Kasematten gegangen — was hatte sie Großes für Rußland zu tun die Zeit gehabt? Doch auch die freie Welt wollte nichts mehr von ihr wissen. So schritten sie beide ins Gefängnis: stolz und frohen Mutes.

«Widerstand! Wo war euer Widerstand?» — So werden heute die Betroffenen von den Verschontgebliebenen getadelt.
Gewiß, hier hätte er beginnen müssen, bei der Verhaftung selbst.
Und hatte nicht begonnen.

So werden Sie denn abgeführt. Bei einer jeden Tagesverhaftung gibt es diesen kurzen, unwiederbringlichen Augenblick, da Sie — getarnt, nach feiger Absprache, oder auch ganz offen, mit gezückten Pistolen — durch eine hundertköpfige Menge von ebenso unschuldigen und verlorenen Menschen geführt werden. Ihr Mund ist nicht geknebelt! Sie können schreien, hätten unbedingt schreien müssen! Brüllen, daß Sie verhaftet wurden! Daß verkleidete Männer auf Menschenjagd ausgehen! Daß eine falsche Anzeige genügt, um eingesperrt zu werden! Daß in aller Stille Millionen mundtot gemacht werden! Und solche Schreie zu jeder Stunde und an allen Ecken und Enden einer Stadt — sie hätten unsere Mitbürger vielleicht aufhorchen lassen? sie gezwungen aufzubegehren? die Verhaftung um einiges erschwert?

Im Jahre 1927, als unsere Gehirne durch blinden Gehorsam noch nicht vollends aufgeweicht waren, versuchten zwei Tschekisten am hellichten Tag auf dem Serpuchow-Platz eine Frau zu verhaften. Sie klammerte sich an einen Laternenpfahl, begann zu schreien, wollte nicht freiwillig mitgehen. Ringsherum versammelte sich eine Menschenmenge. (Was not tat, war so eine Frau, aber auch so eine Menge! Nicht jeder Passant senkte den Blick, nicht jeder versuchte vorbeizuhuschen!) Die sonst so fixen Kerle wurden sofort kleinlaut. Im Lichte der Öffentlichkeit können sie nicht arbeiten. Sie sprangen in ihr Auto und fuhren ab. Die Frau hätte sofort auf den Bahnhof und wegfahren müssen! Sie ging aber nach Hause. Und wurde nachts auf die Lubjanka gebracht.

Doch über Ihre angsttrockenen Lippen kommt kein einziger Laut, und die vorbeiströmende Menge nimmt Sie und Ihre Henker, sorglos wie sie ist, für promenierende Kumpane.

Ich selbst hatte mehrmals Gelegenheit zu schreien. 
Es war am elften Tag nach meiner Verhaftung, als ich in Begleitung von drei Schmarotzern von der Armeeabwehr, denen ihre vier Beutekoffer eine größere Last waren als ich (daß sie sich auf mich verlassen konnten, hatten sie während der langen Fahrt bereits erfaßt), auf dem Bjelorussischen Bahnhof in Moskau ankam.

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 Sie nannten sich Sonderbewachung, in Wahrheit störten sie die Maschinengewehre bloß, wo sie doch die vier zentnerschweren Koffer schleppen mußten — mit Sachen, die sie und ihre Vorgesetzten von der Smersch-Abwehr der 2. Bjelorussischen Front in Deutschland zusammengestohlen hatten und nun unter dem Vorwand, mich bewachen zu müssen, den Lieben in der Heimat brachten.

Den fünften Koffer schleppte ich selbst, ohne jede Begeisterung: es waren darin meine Tagebücher und Werke — die Indizien meiner Untaten.

Alle drei kannten sich in der Stadt nicht aus, so mußte ich den kürzesten Weg zum Gefängnis wählen, mußte ich sie selbst zur Lubjanka führen, wo sie niemals gewesen waren (ich aber verwechselte das Ganze mit dem Außenministerium).

Nach einem Tag in der Armeeabwehr; nach drei Tagen in der Frontabwehr, wo mich die Zellengenossen bereits aufgeklärt hatten (darüber, wie die Untersuchungsrichter lügen, drohen und prügeln; darüber, daß keiner, einmal verhaftet, wieder freigelassen wird; daß die zehn Jahre unentrinnbar feststehen), fand ich mich plötzlich wie durch ein Wunder in der freien Welt. Vier Tage lang fuhr ich als Freier unter Freien durchs Land, obwohl mein Körper bereits auf faulendem Stroh neben dem Latrinenkübel gelegen, obwohl meine Augen bereits die Geprügelten und Schlaflosen gesehen, meine Ohren die Wahrheit vernommen, mein Mund vom Häftlingsfraß gekostet hatte — warum also schweige ich? Warum schleudere ich nicht die Wahrheit in die betrogene Menge, jetzt, in meiner letzten öffentlichen Stunde?

Ich schwieg in der polnischen Stadt Brodnica — mag sein, sie verstanden dort kein Russisch? Kein Wort rief ich auf den Straßen von Bialystok — mag sein, dies alles ging die Polen gar nichts an? Keinen Laut verlor ich auf der Station Wolkowysk — doch die war fast menschenleer. Wie selbstverständlich spazierte ich mit den drei Banditen über den Bahnsteig von Minsk — doch der Bahnhof war zerstört. Nun aber führe ich die drei Smersch-Leute durch die weißbekuppelte runde Eingangshalle der Metrostation Bjelorusskaja, eine Flut von elektrischem Licht, und von unten herauf, uns entgegen über parallel laufende Rolltreppen, zwei Ströme dichtgedrängter Moskauer. Es kommt mir vor, als schauten sie mich alle an! Sie werden heraufgetragen, eine endlose Reihe, aus den Tiefen des Nichtwissens unter die strahlende Kuppel — zu mir, um ein winziges Wörtchen Wahrheit zu erfahren — warum schweige ich denn?!

Aber jeder hat immer ein Dutzend wohlgefälliger Gründe parat, die ihm recht geben, daß er sich nicht opfert.

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Der eine hofft noch immer auf einen glimpflichen Ausgang und fürchtet, sich durch Schreie die Chancen zu verbauen (wir haben ja keine Nachricht aus der jenseitigen Welt, wir wissen ja nicht, daß sich unser Schicksal vom Augenblick der Verhaftung an für die schlechteste Variante entschieden hat und es nichts mehr daran zu verschlimmern gibt). 

Die anderen sind noch nicht reif für Begriffe, die sich zu Warnrufen an die Menge zusammenfügen könnten. Denn einzig der Revolutionär trägt seine Losungen auf den Lippen und läßt ihnen freien Lauf, woher kamen sie dem gehorsamen, unberührten Durchschnittsbürger? Er weiß einfach nicht, was er rufen sollte. Und schließlich gibt es jenen Schlag Menschen, deren Brust randvoll ist, deren Augen zuviel gesehen haben, als daß sich diese Flut in einigen zusammenhanglosen Aufschreien hätte ergießen können.

Ich aber — ich schweige auch noch aus einem anderen Grund: Für mich sind diese Moskauer, die da auf den Stufen zweier Rolltreppen sich drängen, noch immer zu wenige — zu wenige! Zweihundert, zweimal zweihundert Menschen würden hier meinen Klageschrei hören — was aber mit den zweihundert Millionen? Ganz vage schwebt mir vor, daß ich irgendwann einmal auch zu den zweihundert Millionen sprechen werde.
Einstweilen aber werde ich, der ich den Mund nicht aufbrachte, von der Rolltreppe ins Fegefeuer getragen.
Und werde auch in der Station Ochotnyy ryad schweigen. Und beim Hotel Metropol den Mund nicht öffnen. Und nicht die Arme emporwerfen auf dem Golgatha des Lubjanka-Platzes.

 

Ich erlebte wahrscheinlich von allen vorstellbaren Arten der Verhaftung die allerleichteste. Sie riß mich nicht aus den Umarmungen der Familie, sie entriß mich nicht dem uns so teuren heimischen Alltag. Eines mattmüden europäischen Februartages erwischte sie mich auf einer schmalen Landzunge an der Ostsee, wo wir die Deutschen oder, was unklar war, die Deutschen uns, umzingelt hielten — und beraubte mich lediglich der gewohnten Truppenabteilung samt der Eindrücke aus den letzten drei Kriegs­monaten.

Der Brigadekommandeur beorderte mich zum Kommandoposten, bat mich aus irgendeinem Grunde um meinen Revolver, den ich ihm gab, nichts Böses ahnend — da stürzten aus der reglosen, wie gebannten Offiziersgruppe in der Ecke zwei Abwehrleute hervor, durchquerten mit einigen Sätzen das Zimmer: Vier Hände verkrallten sich gleichzeitig in den Stern auf der Mütze, in die Achselklappen, das Koppel, die Kartentasche; dazu riefen sie dramatisch:
«Sie sind verhaftet!!!»

Versengt, durchbohrt vom Scheitel bis zur Sohle, fiel mir nichts Klügeres ein als «Ich? Weswegen?!»

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Obwohl es auf diese Frage üblicherweise keine Antwort gibt, o Wunder, ich bekam sie! Es verdient erwähnt zu werden, weil es so gar nicht unseren Gepflogenheiten entspricht. Nachdem die Smersch-Leute aufgehört hatten, mich auszuweiden, wobei sie mir samt der Tasche meine schriftlichen politischen Betrachtungen wegnahmen und mich nun, irritiert durch das Klirren der Fenster­scheiben im deutschen Granatfeuer, eiligst zum Ausgang hin bugsierten, hörte ich plötzlich jemanden zu mir sprechen — ja doch!

Über diese blinde Mauer, die das schwer auf dem Raum lastende Wort «verhaftet» zwischen mir und den Zurückbleibenden errichtet hatte, über diese Pestwehr hinweg, die kein Wort mehr übertreten durfte, drangen zu mir die undenkbaren, märchenhaften Worte des Brigadekommandeurs:
«Solschenizyn! Kehren Sie um.»

Und ich, durch eine jähe Wendung aus den Händen der Smersch-Leute befreit, machte einen Schritt zurück. Ich kannte den Oberst kaum, er ließ sich nie zu simplen Gesprächen mit mir herab. In seinem Gesicht sah ich immer nur Befehl, Ungeduld, Zorn. Jetzt aber war es nachdenklich erhellt: War es Scham wegen der erzwungenen Teilnahme an einer schmutzigen Sache? War es Aufruhr gegen das lebenslange klägliche Sich-ducken-Mussen? Aus dem Kessel, in dem vor zehn Tagen seine Artillerieabteilung mit zwölf schweren Geschützen geblieben war, habe ich meine Aufklärungsbatterie fast ohne Verluste heil herausgebracht — sollte er sich nun wegen eines Fetzens abgestempelten Papiers von mir lossagen?
«Haben Sie...», begann er mit Nachdruck, «einen Freund an der Ersten Ukrainischen Front?»

«Halt! ... Das ist verboten!» fuhren die beiden vom Smersch, ein Kapitän und ein Hauptmann, den Oberst an. Erschrocken duckte sich das Gefolge der Stabsoffiziere, als hätten sie Angst, einen Teil von des Chefs unglaublicher Leichtfertigkeit auf sich nehmen zu müssen (die Männer von der Polit-Abteilung machten Ohren — im Hinblick auf das gegen den Brigadekommandeur zu liefernde Material).  Immerhin, ich hatte genug gehört: Ich begriff sofort, daß ich wegen des Briefwechsels mit meinem Schulfreund verhaftet worden war, begriff auch, aus welcher Richtung ich die Gefahr zu erwarten hatte.

Hier hätte er auch innehalten können, mein Sachar Georgljewitsch Trawkin! Doch nein! Noch muß er sich besudelt, noch brüskiert gefühlt haben, denn er erhob sich (niemals in jenem früheren Leben war er aufgestanden wegen mir!), streckte mir über die Pestwehr hinweg die Hand entgegen (niemals hatte er mir, solange ich frei war, die Hand gereicht!), ergriff sie fest, zum stummen Entsetzen des Gefolges, und sagte, warme Entspanntheit auf dem immer strengen Gesicht, furchtlos und deutlich:
   «Ich wünsche Ihnen ... Glück ... Hauptmann!» 

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Nicht nur war ich kein Hauptmann mehr — ich war ein entlarvter Feind des Volkes (denn es ist bei uns jeder Festgenommene von Anfang an auch schon vollkommen entlarvt). Wem also wünschte er Glück — einem Feind?

Die Fensterscheiben klirrten. Zweihundert Meter entfernt wurde die Erde von deutschen Einschlägen mißhandelt, die daran erinnerten, daß solches tiefer im Inneren unseres Landes, unter dem Glassturz des geordneten Daseins nicht hätte geschehen können ... Nur hier, unter dem Hauch des nahen und für alle gleichen Todes*.

 

Dieses Buch wird nicht Erinnerung an mein eigenes Leben sein. Darum will ich davon absehen, über die komischsten Einzelheiten meiner ganz und gar unüblichen Verhaftung zu erzählen. In jener Nacht mühten sich die Smersch-Leute vergeblich mit ihrer Straßenkarte ab (sie verstanden sich nicht aufs Kartenlesen), resignierten bald und überreichten sie schließlich mir, mit liebenswürdigen Komplimenten und der Bitte, dem Fahrer doch den Weg zur Armeeabwehrstelle zu zeigen. Mich selbst und meine Begleiter wies ich denn in dieses Gefängnis ein und wurde zum Dank dafür sogleich nicht in eine Zelle, sondern in den Karzer gesperrt. Diese Speisekammer eines deutschen Bauernhofes, die provisorisch als Karzer diente, möchte ich allerdings nicht übergehen.

Sie hatte die Länge eines ausgestreckten Menschenkörpers und die Breite von drei dicht aneinandergereihten Männern, ein vierter mußte sich bereits hineinzwängen. Dieser vierte war ich, eingeliefert nach Mitternacht, die drei Liegenden blinzelten mich im Licht der Ölfunzel verschlafen und unfreundlich an und rückten ein wenig, so daß ich Platz hatte, mich dank der Schwerkraft allmählich zwischen zwei Körper hineinzukeilen, bis auch meine Seite das auf dem Boden liegende Stroh berührte. So waren unser in der Kammer acht Stiefel gegen die Tür und vier Uniformmäntel. Sie schliefen, ich loderte. Je selbstbewußter ich als Hauptmann noch tags zuvor war, desto schmerzlicher traf es mich, eingezwängt am Boden dieser Kammer zu liegen. Die steifgewordenen Glieder ließen meine Nachbarn ein ums andere Mal aufwachen, dann drehten wir uns in einem gemeinsamen Schwung auf die andere Seite.

 

* Merkwürdig indes: Man kann doch ein Mensch bleiben! — Trawkin geschah gar nichts. Vor kurzem kamen wir freundschaftlich zusammen und lernten einander erst richtig kennen. Er ist General im Ruhestand und außerdem Revisor eines Jagdvereins.

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Gegen Morgen hatten die anderen ausgeschlafen, man gähnte, ächzte, zog die Beine an, verkroch sich in die verschiedenen Ecken und ging daran, Bekanntschaft zu machen.

«Und du, wofür sitzt du?»

Mich jedoch hatte unter dem vergifteten Dach des Smersch bereits der dumpfe Hauch des Auf-der-Hut-Seins angeweht, so tat ich einfältig erstaunt:

«Keine Ahnung. Glaubt ihr, die sagen's einem, die Hunde?»

Meine Nachbarn hingegen. Panzerleute in schwarzen Helmmützen, verschwiegen nichts. Drei ehrliche, drei natürliche Burschen waren es, von der Art Menschen, die ich liebgewonnen hatte während des Krieges, selber komplizierter und auch schlechter als sie. Alle drei waren Offiziere. Auch ihnen hatte man wild und hastig die Achselstücke abgerissen, das Futter sah an manchen Stellen hervor. Helle Flecken auf den verschmutzten Blusen waren die Spuren der abgenommenen Orden, dunkle, rote Narben an den Händen und in den Gesichtern — die Male von Verwundungen und Verbrennungen. Zu ihrem Pech war ihre überholungsbedürftige Abteilung ins selbe Dorf eingezogen, in dem die Abwehr Smersch der 48. Armee in Quartier lag. Abgespannt vom Gefecht, das vorgestern war, hatten sie gestern über den Durst getrunken und waren etwas abseits vom Dorf in einen Badeschuppen eingebrochen, in den sie zwei aufreizende Weibsbilder sich einsperren sahen. Mit ihren torkelnden Verehrern hatten die Mädchen leichtes Spiel: dürftig bekleidet, aber heil, liefen sie davon. Doch es stellte sich heraus, daß die eine nicht irgendwem, sondern dem Chef der Armeeabwehr persönlich gehörte.

Ja! Nach drei Wochen Krieg in Deutschland wußten wir Bescheid:  Wären die Mädchen Deutsche gewesen — jeder hätte sie vergewaltigen, danach erschießen dürfen, und es hätte fast als kriegerische Tat gegolten; wären sie Polinnen oder unsere verschleppten Russenmädel gewesen — man hätte sie zumindest nackt übers Feld jagen dürfen und ihnen auf die Schenkel klatschen . . . ein Spaß, nichts weiter. 

Da aber die Betreffende die «Feld- und Armeegattin» des Abwehrchefs war, konnte ein beliebiger Sergeant aus dem Hinterland herkommen und den drei Frontoffizieren boshaft grinsend die Achselstücke runterreißen, die ihnen laut Frontbefehl zustanden, die Orden abnehmen, die ihnen das Präsidium des Obersten Sowjet verliehen hatte; und die drei Krieger, die vom ersten Tag an dabei waren und vielleicht manch eine feindliche Befestigungslinie zu durchbrechen halfen, erwartete nun das Militärtribunal, das ohne ihren Panzer, es ist denkbar, in diesem Dorf sich erst gar nicht hätte einrichten können.

Die Ölfunzel löschten wir aus; sie hatte sowieso schon alles verbraucht, was es für uns noch zum Atmen gab. In die Tür war ein postkartengroßes Guckloch geschnitten, durch das aus dem Gang ein Schimmer von Licht drang.

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Als fürchteten die draußen, es würde uns mit Tagesanbruch allzu bequem werden, setzten sie uns alsbald einen fünften herein. Er trat ein, in nagelneuer Soldatenuniform, die Mütze ebenso neu, und offenbarte uns, als er den Kopf vors Guckloch hielt, ein stupsnasiges, frisches, rotwangiges Mondgesicht.

«Woher kommst du, Bruderherz? Was bist du?»
«Von der anderen Seite», antwortete er fröhlich. «Ein Spion.»
«Mach Witze!» Wir waren baff. (Ein Spion, der es selbst zugibt? Das suche einer bei Schejnin und den Brüdern Tur3!)

«Was sollen da Witze, in Kriegszeiten!» Der Junge seufzte bedächtig. «Könnt ihr mir beibringen, wie ich aus der Gefangenschaft anders heimkommen soll?»

Er hatte mit seiner Erzählung kaum begonnen: wie er tags zuvor von den Deutschen hinter die Frontstellungen geschickt wurde, um da zu spionieren und Brücken in die Luft zu sprengen, statt dessen aber gleich ins nächste Bataillon ging, sich zu ergeben, und wie ihm der total übermüdete Bataillonskommandeur partout nicht glauben wollte und ihn zur Krankenschwester in Behandlung schickte — als jäh neue Eindrücke über uns hereinbrachen.

«Zum Austreten! Hände auf den Rücken!» schrie durch die sich öffnende Tür ein Klotz von Feldwebel, der durchaus tauglich gewesen wäre, die Lafette einer 122-mm-Kanone zu ziehen.

Auf dem Bauernhof draußen standen bereits MP-Schützen postiert, deren Aufgabe es war, den uns gewiesenen Pfad rund um die Scheune zu bewachen. Ich kochte vor Zorn, daß irgendein Feldwebellümmel es wagen konnte, uns Offizieren «Hände auf den Rücken» zu befehlen, die Panzerleute aber hielten die Hände wie geheißen, und ich trottete ihnen nach.

Hinter der Scheune war ein Quadrat Erde eingezäunt, festgetretener Schnee lag noch darauf und eine Unzahl von Häufchen menschlichen Kots, so dicht und chaotisch darüber verstreut, daß es große Mühe machte, Platz für seine zwei Füße zu finden. Schließlich fanden wir uns zurecht und hockten, alle fünf, an verschiedenen Stellen nieder. Zwei mürrische Soldaten hielten ihre Maschinenpistolen gegen uns Hockende im Anschlag; der Feldwebel begann, kaum daß eine Minute vergangen war, uns mit schriller Stimme anzutreiben.

«Na, was ist, wollt ihr euch nicht beeilen? Bei uns geht das Austreten fix!»

Neben mir saß einer der Panzerleute, ein langer düsterer Oberleutnant aus Rostow. Sein Gesicht war schwarz angehaucht von metallischem Staub oder Rauch, trotzdem konnte man ganz deutlich die große rote Narbe quer über die Wange sehen.

«Wo ist denn das — bei euch?» fragte er leise, ohne die Absicht zu bekunden, sich mit der Rückkehr in den kerosinverstunkenen Karzer besonders zu beeilen.

»Im Abwehrdienst Smersch!» verkündete stolz und mit übermäßiger Emphase der Feldwebel. (Die Abwehrleute hingen mit besonderer Liebe an diesem, aus Smert schpionam - «Tod den Spionen» - geschmacklos zusammengebrauten Wort. Sie meinten, es wirke abschreckend.)

«Bei uns aber geht's langsam», erwiderte der Oberleutnant versonnen. Der Helm war ihm in den Nacken gerutscht, darunter kam ein Schopf noch nicht geschorener Haare zum Vorschein. Seinen frontgegerbten rauhen Hintern hielt er in die wohltuend frische Brise.
«Wo denn bei euch?» herrschte ihn der Spieß lauter als notwendig an.
«In der Roten Armee», antwortete aus der Hocke sehr ruhig der Oberleutnant und sah dabei den mißlungenen Kanonier kühl abwägend an.

So machte ich meine ersten Atemzüge von der Gefängnisluft.

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