Start    Weiter

2  Die Geschichte unserer Kanalisation

 

 

 

33

Wenn man heutzutage über die Willkür des Personenkults sich ergeht, bleibt man immer wieder bei den oft bemühten Jahren 1937/38 hängen. Und es prägt sich dies ins Gedächtnis ein, so als habe vorher niemand gesessen, als sei nachher keiner eingesperrt worden, alle bloß 1937 und 1938.

Ohne über irgendeine Statistik zu verfügen, fürchte ich dennoch nicht fehlzugehen, wenn ich sage, daß der Strom der Jahre 37/38 weder der einzige noch auch der hauptsächliche war, vielleicht nur einer von den drei großen Strömen, die die düsteren stinkigen Rohre unserer Gefängniskanalisation beinahe zum Bersten brachten.

Vorher war der Strom der Jahre 1929/30 gewesen, ein Strom, so mächtig wie der Ob, der gut fünfzehn Millionen Muschiks (wenn nicht gar mehr) in die Tundra und in die Taiga geschwemmt hat. Doch die Bauern sind der Sprache nicht mächtig, des Schönschreibens nicht kundig, sie verfaßten weder Beschwerden noch Memoiren. Die Untersuchungsrichter haben sich mit ihnen nächtens nicht abgemüht. Protokolle waren für sie zu schade — es genügte die Verordnung ihres heimatlichen Dorfsowjet. Verströmt war dieser Strom, aufgesogen vom ewigen Frostboden, und auch die allerhitzigsten Köpfe erinnern sich kaum noch daran. Als hätte er das russische Gewissen nicht einmal gestreift. Indessen war kein Verbrechen Stalins (und unser aller) schwerer als dieses gewesen.

Und nachher gab's den Strom von 1944-46, einen Jenissej von Strom durchaus: Ganze Nationen wurden durch die Abflußrohre gepumpt und dazu noch Millionen und Abermillionen von Heimkehrern aus Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit — auch dies unsere Schuld, daß sie unter die Deutschen gerieten! (Das war Stalins Art, Wunden auszubrennen, damit sich rascher Schorf bilde und dem müden Leib des Volkes keine Atempause gegeben werden müsse.) Doch auch in diesem Strom war überwiegend einfaches Volk; es schrieb keine Memoiren.

Der Strom des siebenunddreißiger Jahres aber riß auch Hochgestellte und Einflußreiche mit sich, Leute mit Parteivergangenheit und Menschen mit höherer Bildung; fortgeschwemmt wurden sie ins Inselreich GULAG, zurück aber blieben Wunden, in den Städten, aus denen sie kamen. Und diejenigen, die er gestreift hatte — wie viele waren es, die sich aufs Schreiben verstanden! —, schreiben denn heute alle und führen es alle im Munde: das Jahr 37! Eine Wolga von menschlichem Leid!

Sag aber einem Tataren, Kalmücken oder Tschetschenen: «Neunzehnhundertsiebenunddreißig» — er wird bloß mit der Achsel zucken. Und was soll Leningrad mit dem Jahr 37, wo es vorher das fünfunddreißiger Jahr gehabt hatte? Und die zum zweiten Male einsaßen oder die Balten, soll für sie 1948/49 leichter gewesen sein? Mögen die Eiferer der Geographie und des guten Stils nun einwenden, ich hätte in Rußland manch anderen Fluß vergessen — nur Geduld, noch sind die Ströme nicht alle genannt, laßt mir bloß genug Papier. Dann werden aus den Strömen die übrigen Namen fließen.

Es ist bekannt, daß jedes Organ ohne Übung verkümmert.

Wenn wir also wissen, daß den Organen (diese widerliche Bezeichnung stammt von ihnen selbst), die da besungen wurden und emporgehoben über allem Lebenden, kein winziger Fühler abstarb, sondern umgekehrt, immer neue erwuchsen, muskelstark und beweglich, dürfte es uns nicht schwerfallen zu erraten, daß sie ständig in Übung waren.

In den Rohren gab es Pulsschwankungen — einmal lag der Druck über dem kalkulierten, ein andermal auch darunter, doch niemals blieben die Gefängniskanäle leer. Blut, Schweiß und Harn, was von uns nach der Ausquetschung übrigblieb, sprudelte ohne Unterlaß. Die Geschichte dieser Kanalisation ist die Geschichte eines nicht erlahmenden Soges, einer nicht versiegenden Strömung, mit Hochwasser und Ebbe und wieder Hochwasser, und die Ströme waren einmal mächtiger und dann wieder schwächer, und von allen Seiten kamen noch Bäche, Bächlein, Rinnsale und einzelne mitgeschwemmte Tröpfchen hinzu.

34


Die im weiteren angeführte chronologische Aufzählung, in der mit gleicher Sorgfalt die Ströme aus Millionen von Verhafteten und die Bächlein aus einfachen, unscheinbaren Dutzenden vermerkt werden, ist noch lange nicht komplett, noch dürftig und durch meine Möglichkeiten beschränkt, in die Vergangenheit vorzudringen. Viele Ergänzungen werden notwendig sein, durch Menschen, die wissen und am Leben geblieben sind.

 

Bei dieser Aufzählung ist das schwerste der Anfang. Darum schon, weil mit jedem Jahrzehnt zurück die Zeugen spärlicher werden, die Kunde verblaßt und sich verschleiert, der Chroniken aber gibt es keine oder nur solche hinter Schloß und Riegel. Darum auch, weil es nicht ganz gerecht scheint, die Jahre der verbitterten Härte (Bürgerkrieg) mit den ersten Friedensjahren, da Barmherzigkeit zu erwarten gewesen wäre, in eine Reihe zu stellen.

Doch schon lange vor jedem Bürgerkrieg war einzusehen, daß sich Rußland, so wie es war in seiner Bevölkerungs­struktur, natürlich zu keinerlei Sozialismus eignete, daß es bis über den Kopf im Dreck steckte. Einer der ersten Schläge der Diktatur traf die Kadetten (unterm Zaren — revolutionäres Gift; unter der Herrschaft des Proletariats — reaktionäres). Ende November 1917, zum ersten nicht zustande gekommenen Termin der Einberufung der Konstituante, wurde die Kadettenpartei4 für vogelfrei erklärt, Verhaftungen setzten ein. Etwa um dieselbe Zeit wurde die Festnahme des «Bundes der Konstituante» und des Netzes der «Soldatenuniversitäten» abgewickelt.

Vom Sinn und Geist der Revolution ausgehend, ist es nicht schwer zu erraten, daß sich in jenen Monaten die Kresty, Butyrkas und die ihnen verwandten Provinzgefängnisse mit Vertretern des schwerst-begüterten Standes füllten; mit prominenten Politikern, Generälen und Offizieren; wohl auch mit Beamten der Ministerien und des Staatsapparates, die sich weigerten, den Verordnungen der neuen Macht Folge zu leisten. Zu den ersten Aktionen der Tscheka gehörte die Aushebung des Streikkomitees des «Allrussischen Angestelltenbundes». Aus einem der ersten Zirkulare der NKWD im Dezember 1917: «Angesichts der Sabotage der Beamten ... ist von den örtlichen Stellen ein Maximum an Eigeninitiative zu entfalten, wobei keineswegs auf Konfiskationen, Zwangsmaßnahmen und Verhaftungen verzichtet werden soll.»*

 

Vestnik NKVD («Nachrichten der NKWD»), 1917, Nr. 1, S. 4.

35


Und obwohl Lenin Ende 1917 zwecks Errichtung einer «streng revolutionären Ordnung» die «unbarm­herzige Niederwerfung aller anarchischen Versuche von Seiten verschiedener Trunkenbolde, Rowdys, Konterrevolutionäre und anderer Personen»* forderte, das heißt, die Hauptgefahr für die Oktober­revolution bei den Trunkenbolden vermutete, während sich die Konterrevolutionäre irgendwo unter ferner liefen drängten — war es doch auch er, der die Aufgabe in einen breiten Rahmen stellte. 

 

In seinem am 7. und 10. Januar 1918 veröffentlichten Artikel «Wie soll man den Wettbewerb organisieren?» verkündete Lenin als gemeinsames, einheitliches Ziel die «Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer»5. Unter Ungeziefer aber verstand er nicht nur alles, was klassenfeindlich und klassenfremd war, sondern auch «Arbeiter, die sich vor der Arbeit drückten», zum Beispiel die Setzer der Petrograder Parteidruckereien. (Da ist sie, die Wirkung der zeitlichen Entfernung. Heute fällt es uns schwer zu begreifen, wieso sich Arbeiter, kaum daß sie Diktatoren wurden, von der Arbeit - für sich selbst! - zu drücken begannen.) Und weiter:  «... in welchem Viertel einer großen Stadt, in welcher Fabrik, in welchem Dorf gibt es ... keine . . . Saboteure, die sich Intellektuelle nennen?»** 

Zugegeben, die Formen der Säuberungsaktion gegen Ungeziefer sollten nach Lenins in diesem Artikel dargelegten Vorstellungen recht vielfältig sein: an einem Ort ins Gefängnis stecken, am anderen die Klosetts reinigen lassen, dann wieder «ihnen nach Abbüßung ihrer Freiheitsstrafe gelbe Pässe aushändigen», schließlich mal den Parasiten erschießen; es bietet sich zur Auswahl das Gefängnis oder die Bestrafung mit «schwerster Zwangsarbeit»*** an. Die Grundarten der Bestrafung zwar vorsehend und vorsagend, überließ es der Genosse Lenin letztlich «den Kommunen, den Gemeinden», die Auffindung der besten Säuberungs­methoden und -mittel zum Gegenstand eines breiten Wettbewerbs zu machen.

Wer alles dieser sehr weitherzigen Bezeichnung Ungeziefer zugeordnet wurde, ist heute im vollen Umfang nicht mehr einzusehen: zu vielschichtig war die Bevölkerung des Russischen Reiches, und es fanden sich darunter auch abgesonderte, völlig überflüssige und bis zum heutigen Tage auch schon vergessene geringfügige Gruppen. Ungeziefer waren natürlich die Semstwo-Leute6. Ungeziefer waren die Genossenschaftler. Alle Hausbesitzer. Nicht unbeträchtlich war die Zahl der Ungeziefer unter den Gymnasialprofessoren. Durchweg Ungeziefer umlagerte die Kirchenräte der Pfarrgemeinden, Ungeziefer sang in den Kirchenchören.

 

*  Lenin, Polnoe sobranie socinenij («Gesammelte Werke»), 5. Ausg., Bd. 35, S. 66.
**  Lenin, «Gesammelte Werke», Bd. 35, S. 204.
***  ebd., S. 203.

36


Alle Geistlichen waren Ungeziefer, und um so mehr die Mönche und Nonnen. Aber auch jene Tolstoianer, die sich bei Dienstantritt in sowjetischen Behörden oder, sagen wir, bei der Eisenbahn weigerten, den unumgänglichen schriftlichen Eid zu leisten, der sie verpflichtete, die Sowjetmacht mit Waffen in der Hand zu verteidigen, erwiesen sich als Ungeziefer (und wir werden noch Gerichtsprozesse gegen sie erleben). Da wir schon bei Eisenbahnen sind: Eine Unmenge von Ungeziefer verbarg sich unter Eisenbahneruniformen; auch solches mußte ausgerupft, bisweilen auch vertilgt werden. Die Telegraphisten waren aus unerfindlichen Gründen allesamt notorisches Ungeziefer, ohne Sympathie für die neuen Sowjets. Nichts Gutes ist auch über den WIKSchEL zu sagen, genausowenig über andere Gewerkschaften, die oft von arbeiterfeindlichem Ungeziefer nur so wimmelten.

Schon jene Gruppen allein, die wir aufgezählt haben, ergeben eine riesige Zahl — Säuberungsarbeit genug für einige Jahre.

Und erst die vielen verdammten Intellektuellen, die rastlosen Studenten, alle Sorten von Sonderlingen, Wahrheitssuchern und Narren, von denen Rußland zu säubern schon Peter I. vergeblich sich mühte — ein Hindernis immer für jedes wohlgeordnete strenge Regime!

Unmöglich wäre es gewesen, diese sanitäre Säuberungsaktion, zumal im Kriege, vermittels der veralteten Prozeßformen und juristischen Normen zu vollbringen. Es wurde demnach die allerneueste Form gewählt: die außergerichtliche Abrechnung, und in selbstloser Aufopferung wurde diese undankbare Arbeit von der Tscheka übernommen, der Schildwache der Revolution, einem in der Menschheits­geschichte einmaligen Straforgan, das in einer einzigen Instanz die Kompetenz der Bespitzelung, der Verhaftung, der Voruntersuchung, der Anwaltschaft, des Gerichts und der Urteilsvollstreckung vereinte.

1918 ging man daran, zwecks Beschleunigung auch des kulturellen Sieges der Revolution die Heiligenreliquien zu durchstöbern und herauszukippen, dazu die kirchlichen Utensilien zu requirieren. Unruhen kamen auf; das Volk wehrte sich gegen die Plünderung von Kirchen und Klöstern. Da und dort läuteten die Glocken Alarm, und die Christenmenschen kamen herbei­gelaufen, manche auch mit Holzprügeln. Verständlicherweise mußten etliche an Ort und Stelle niedergemacht, andere verhaftet werden.

Heutige Überlegungen über die Jahre 1918-20 bringen uns in Verlegenheit: Sind auch all jene den Gefängnisströmen zuzurechnen, die noch vor der Gefängniszelle umgelegt wurden? Und in welche Rubrik mit jenen, die von den Kombeds7 an der Scheunenwand des Dorfsowjet oder in den Hinterhöfen liquidiert wurden? Und die Teilnehmer an den zuhauf entlarvten Verschwörungen in den Provinzen, für jedes Gouvernement eine eigene (zwei in Rjasan, je eine in Kostroma, Wyschnewolozk, Welisch, einige im Kiewer Gebiet, einige um Moskau, je eine in Saratow, Tschernigow, Astrachan, Seliger, Smolensk, Bobruisk, Tambow, eine in der Kavallerie und weitere in Tschembary, Welikije, Luki, Mstislawl und so fort)?

37


Haben sie auch nur mit einem Fuß das Inselreich betreten, oder waren sie nicht mehr dazugekommen, gehören sie somit nicht zum Gegenstand unserer Untersuchung? Von der Niederwerfung einiger berühmter Revolten abgesehen (Jaroslawl, Murom, Rybinsk, Arsamas), kennen wir manche Ereignisse bloß ihrem Namen nach — zum Beispiel das Gemetzel von Kolpino im Juni 1918 — was? warum? wer? wen? ... Wohin das eintragen also?

Nicht minder schwer fällt auch diese Entscheidung: Wohin — in die Gefängnisströme oder in die Bilanz des Bürgerkrieges — gehören die Zehntausende von Geiseln, jene persönlich keiner Verbrechen angeklagten, namentlich nicht einmal mit Bleistift in Listen aufnotierten friedlichen Bürger, deren Vernichtung zur Abschreckung erfolgte und aus Rache an den militärischen Feinden oder den aufständischen Massen. 

Nach dem 30. August 19188 wies die NKWD die lokalen Stellen an, «sofort alle rechten Sozialrevolutionäre zu verhaften und von den Bourgeois und Offizieren eine ansehnliche Zahl von Geiseln zu nehmen»*. (Na, geradeso, als wenn nach dem Zarenattentat der Alexander-Uljanow-Gruppe nicht nur ihre Mitglieder allein verhaftet worden wären, sondern noch alle Studenten in Rußland und eine ansehnliche Zahl von Semstwo-Leuten dazu.)

Mit Beschluß des Verteidigungsrates vom 15. Februar 1919 — offensichtlich unter Lenins Vorsitz? — wurde der Tscheka und der NKWD nahegelegt, als Geiseln Bauern jener Gegenden zu nehmen, wo die Freilegung der Eisenbahngeleise von Schneeverwehungen «nicht ganz zufriedenstellend vor sich geht», damit sie, «falls die Arbeiten nicht durchgeführt werden, erschossen werden können»**. Auf Beschluß des Rates der Volkskommissare Ende 1920 wurde es gestattet, auch Sozial­demokraten als Geiseln zu nehmen.

Allemal uns beschränkend, das heißt, nur die gewöhnlichen Verhaftungen im Auge behaltend, müssen wir doch vermerken, daß bereits mit Frühjahr 1918 der langjährige ununterbrochene Strom der verräterischen Sozialisten seinen Anfang nahm. Alle diese Parteien — die Sozialrevolutionäre, die Menschewiki, Anarchisten und Volksrevolutionäre, die hatten samt und sonders ihre revolutionäre Gesinnung bloß vorgetäuscht, jahrzehntelang als Tarnmaske gebraucht — in die Katorga9 gingen sie auch nur deswegen, aus Verstellung.

 

* Vestnik NKVD («Nachrichten des NKWD»), 1918, Nr. 21/22, S.1.
** Dekrety sovetskoi vlasti («Dekrete der Sowjetmacht»), Bd. 4, Moskau 1968, S.627.

38


Und erst im Schwung der Revolution offenbarte sich das bürgerliche Unwesen dieser Sozialverräter. Was war also natürlicher, als ihre Festnahme in Angriff zu nehmen! Bald nach den Kadetten, nach der Sprengung der Konstituierenden Versammlung und der Entwaffnung des zaristischen Preobraschenski-Leibgarderegiments und anderer ging man nach und nach, ganz still und leise daran, der Sozialrevolutionäre samt der Menschewiki habhaft zu werden. 

Ab 14. Juni 1918, dem Tag, da sie aus allen Sowjets ausgeschlossen wurden, gingen diese Verhaftungen flüssiger und geordneter vonstatten. Am 6. Juli folgten die linken Sozialrevolutionäre nach, denen es gelungen war, sich hinterlistiger und länger als Verbündete der einzigen konsequenten Partei des Proletariats zu tarnen. So fügte es sich seither: Nach jeder Arbeiterunruhe, nach jedem Unmutsausbruch, nach jedem Streik, ganz egal, wo's passierte (und es waren ihrer bereits im Sommer 1918 viele, und im März 1921 erschütterten sie Petrograd, Moskau, dann Kronstadt und erzwangen die NEP), folgten den Beschwichtigungen und Zugeständnissen, der Erfüllung von berechtigten Arbeiterforderungen die nächtlichen lautlosen Streifzüge der Tscheka gegen die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre als die wahren Urheber dieser Unruhen.

Im Sommer 1918, im April und Oktober 1919 fanden massive Verhaftungen der Anarchisten statt. 1919 wurde der gesamte greifbare Teil des Sozialrevolutionären Zentralkomitees festgesetzt — und sie blieben in der Butyrka bis zu ihrem Prozeß von 1922. Im selben Jahr 1919 schrieb der prominente Tschekist Lazis über die Menschewiki: «Diese Leute sind für uns mehr als störend. Darum wischen wir sie von unserem Weg fort, damit wir nicht darüber stolpern ... Wir setzten sie an einem stillen Örtchen fest, in der Butyrka; dort mögen sie eine Weile bleiben, bis der Kampf zwischen Arbeit und Kapital beendet ist.»* 1919 wurden auch die Delegierten des parteilosen Arbeiterkongresses verhaftet (der darum nicht stattfand).**

In vollem Umfang erkannt wurde auch schon 1919 die Verdächtigkeit der aus dem Ausland heimkehrenden Russen (wozu? in wessen Auftrag?) — aus diesem Grunde verhaftete man die aus Frankreich heimkehrenden Offiziere des russischen Expeditions­korps.

Ebenfalls im neunzehner Jahr wurden im weiten Umkreis um die echten und die Pseudoverschwörungen («Nationales Zentrum», Militärverschwörung) in Moskau, Petrograd und anderen Städten Erschießungen nach Listen durchgeführt (das heißt, es wurden freie Menschen gleich zur Erschießung ausgehoben) und einfach Intellektuelle, die sogenannten Prokadetten, in die Gefängnisse gefegt.

 

* M. I. Lazis, Dva goda bor'by na vnutrennem fronte. Populjarnyj obzor dejatet 'nosti CK («Zwei Jahre Kampf an der inneren Front. Eine populäre Übersicht über die Tätigkeit der Tscheka»), Moskau 1920, S. 61.
*  ebd., S.60.

39


Was bedeutet das aber: «Prokadetten»? Nicht monarchistisch und nicht sozialistisch, somit also: alle akademischen Kreise, alles rund um die Universitäten, Künstler, Schriftsteller und was es an Ingenieuren gab. Außer den extremen Schriftstellern, den Theologen und Theoretikern des Sozialismus, war die übrige Intelligenz zu achtzig Prozent «prokadettisch». Hierzu gehörte nach Lenins Meinung auch Korolenko — «ein jämmerlicher Spießer, befangen in bürgerlichen Vorurteilen»; «es ist keine Sünde, <Talente> dieser Art für ein paar Wochen ins Gefängnis zu setzen». 

Von einigen verhafteten Gruppen erfahren wir aus Protestschreiben Gorkis. Am 15. September 1919 antwortete ihm Lenin:
«... für uns liegt klar auf der Hand, daß auch hierbei Fehler gemacht wurden», aber «welches Unglück, meiner Seel'! Welche Ungerechtigkeit»; schließlich gibt er Gorki den Rat, sich nicht durch das «Gewinsel verrotteter Intellektueller aufreiben» zu lassen.
10*.

Im Januar 1919 wurden die Verordnungen über die Lebensmittelaufbringung erlassen und für die Durchführung Spezial­abteilungen — Prodotrjady — geschaffen. Im Dorf stießen sie allerorts auf Widerstand, hier auf beharrliches Ausweichen, dort auf stürmische Ablehnung. Die Beseitigung dieser Gegenwirkung ergab (die an Ort und Stelle Erschossenen nicht mit eingerechnet) einen ebenfalls beachtlichen Strom von Verhafteten: er kam zwei Jahre nicht zum Versiegen.

Ganz bewußt übergehen wir hier jenen großen Teil der Zermahlungsaktionen der Tscheka, Sonderabteilungen und Revolutions­tribunale, welcher mit dem Vorrücken der Frontlinie, mit der Einnahme von Städten und Landstrichen zusammenhing. Die nämliche NKWD-Direktive vom 30. August 1918 lenkte die Bemühungen auf die «unbedingte Erschießung aller in weißgardistische Arbeit verwickelten Personen». Dennoch weiß man manchmal nicht recht, wo die genaue Trennlinie ziehen. Daß beginnend mit Sommer 1920, als der Bürgerkrieg noch nicht ganz und nicht überall, am Don jedoch bereits beendet war, von dorther, aus Rostow und Nowotscherkassk, in großen Mengen Offiziere nach Archangelsk gebracht werden und danach mit Schleppkähnen auf die Solowki11 (es heißt auch, einige Kähne seien im Weißen, wie übrigens auch im Kaspischen Meer versenkt worden) — gehört das noch zum Bürgerkrieg oder schon zum Beginn des friedlichen Aufbaus? Und die Erschießung der schwangeren Frau eines Offiziers wegen Nichtanzeige desselben, geschehen im gleichen Jahr in Nowotscherkassk — in welcher Kategorie soll dies abgebucht werden?

Vom Mai 1920 stammt der Beschluß des Zentralkomitees «über die Diversionstätigkeit im Hinterland». Aus Erfahrung wissen wir, daß jeder derartige Beschluß den Impuls für einen neuen allumfassenden Häftlingsstrom gibt.

 

* Lenin, «Gesammelte Werke», Bd. 51, S. 47ff.

40


Besondere Schwierigkeiten (aber auch besondere Vorzüge) ergaben sich bis 1922 bei der Organisierung aller Ströme aus der Nichtexistenz eines Strafkodex, eines wie immer gearteten Systems von Strafgesetzen. Einzig vom revolutionären (allerdings immer unfehlbaren!) Rechtsbewußtsein ließen sich die Ausheber und Kanalisatoren in ihren Entscheidungen leiten: Wo zupacken und was mit den Leuten tun?

In dieser Übersicht werden die Ströme der Kriminellen und Bytowiki12 außer acht gelassen, daher sei bloß daran erinnert, daß die allgemeine Not und die Mängel bei der Reorganisierung des Verwaltungsapparates, der Behörden und der Gesetzgebung nur das ihre dazu beitrugen, die Zahl der Diebstähle, Raubüberfälle, Vergewaltigungen und Bestechungen zu vergrößern bzw. das Spekulantentum aufblühen zu lassen. Obgleich für den Bestand der Republik weniger gefährlich, wurden auch diese kriminellen Verbrechen teilweise geahndet; die daraus entspringenden Häftlingsströme vergrößerten die Ströme der Konterrevolutionäre.

Freilich gab es auch noch, wie uns das von Lenin am 22. Juli 1918 unterzeichnete Dekret des Sownarkom erläutert, ein Spekulantentum rein politischer Natur: «Wer sich des gewerbsmäßigen Ver- und Ankaufs, bzw. der zum Zwecke des Verkaufs erfolgten Lagerung von Nahrungsmitteln, welche dem Monopol der Republik unterstehen, schuldig macht*, ... Freiheitsentzug von mindestens zehn Jahren, bei gleichzeitiger Verhängung schwerster Zwangsarbeit, sowie Beschlagnahme des gesamten Vermögens.»

Beginnend mit jenem Sommer hatte das Dorf in übermäßiger Anspannung aller Kräfte Jahr um Jahr die Ernte unentgeltlich abzuliefern. Bauernaufstände waren die Folge, und das bedeutete ihre Niederwerfung und neue Verhaftungen**. Wir wissen (wissen nicht ...), daß 1920 der Prozeß des Sibirischen Bauernbundes stattfand; Ende 1920 erfolgte auch die vorläufige Zerschlagung des Bauernaufstandes von Tambow. (Dort gab es kein Gerichtsverfahren.)

Doch der Hauptanteil des in den Tambower Dörfern requirierten Menschenmaterials entfällt auf den Juni 1921. Über das ganze Tambower Gouvernement waren Konzentrationslager für die Familien der aufständischen Bauern verstreut. Offenes Feld wurde mit Stacheldraht eingezäunt, drei Wochen lang wurde jede Familie dahintergesperrt, auf den bloßen Verdacht hin, daß das Familienoberhaupt bei 

41

#

 

* Der Bauer lagert Getreide zum gewerbsmäßigen Verkauf: Was ist das denn für ein Gewerbe?
** «Es wurde tatsächlich der arbeitswilligste Teil des Volkes vernichtet.» (Korolenko, Brief an Gorki vom 10.8.1921.)

 ^^^^