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Teil 2   Ewige Bewegung  

 

Das sehn wir auch den Rädern ab, den Rädern! 
Die gar nicht gerne stille stehn, die Räder ... 
Die Steine selbst, so schwer sie sind, die Steine! 
Sie tanzen mit den muntren Reih'n ... die Steine ...
Wilhelm Müller

 

1  Die Schiffe des Archipels

 

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Von der Bering-Straße bis fast zum Bosporus hin liegen die abertausend Inseln des verwunschenen Archipels verstreut. Unsichtbar sind sie, aber vorhanden, und ebenso unsichtbar, doch stetig müssen die unsichtbaren Sklaven befördert werden, jeder ein Leib, ein Volumen, ein Gewicht.

Wohin sie befördern? Womit denn?

Dazu gibt es große Häfen — die Durchgangsgefängnisse, und etwas kleinere — die Lager-Durchgangsstellen. Dazu gibt es stahl­bewehrte geschlossene Schiffe — die Sak-Waggons, und die werden draußen an der Reede statt von Booten und Kuttern von ebensolchen stählernen, geschlossenen und flinken Schwarzen Raben in Empfang genommen. Die Sak-Waggons haben ihren Fahrplan. Und im Bedarfsfall werden ganze Karawanen aus roten Viehwagen abgefertigt, und sie rollen, die roten Sonderzüge, von Hafen zu Hafen quer durch den Archipel.

Ein gut eingespieltes System ist dies, in Jahrzehnten geruhsamer Arbeit von satten und bestens ausgerüsteten Männern mit Bedacht geschaffen.  

Die Kineschmer Wachabteilung hatte an ungeraden Tagen um 17 Uhr am Moskauer Nordbahnhof den Schub aus den Gefängnissen Butyrka, Presnja und Taganka zu übernehmen. Die Iwanower Wachabteilung mußte an geraden Tagen um 6 Uhr früh zum Bahnhof, um die Umsteiger nach Nerechta, Beschezk und Bologoje auszuladen und unter Aufsicht zu halten.

Es geschah in nächster Nähe, in Körpernähe von Ihnen, jedoch unsichtbar für Sie (zumal Sie die Augen schließen konnten). Wo's große Bahnhöfe waren, wurde die trübe Fracht fernab vom Personenbahnsteig gelöscht und expediert; nur den Weichenstellern und Bahnwärtern einsichtbar. In den kleineren Stationen gab es ebenfalls auserkorene Plätzchen, tote Geleise zwischen zwei Lagerhäusern, wo der Rabe im Rückwärtsgang bis genau an die Trittbretter des Sak-Waggons herangeschoben wird. 

Der Häftling hat keine Zeit, sich den Bahnhof anzusehen, auf Sie und auf den Zug einen Blick zu werfen, es langt gerade für die Stufen (oft reicht ihm die unterste bis zum Gürtel, woher nimmt er die Kraft, hinaufzuturnen?). Die Wachen aber, die den schmalen Gang vom Raben zum Waggon umstellen, kläffen, lärmen: «Schnell! Schnell! .... Dawai! Dawai .....!» Sei noch froh, wenn's ohne Bajonett abgeht.

Und die Leute, Sie darunter, die mit Kindern, Koffern und Einkaufstaschen über den Bahnsteig hasten, haben's zu eilig, um zu ergründen: Wozu der zweite Gepäckwagen am Zug? Kein Schild ist drauf, und ganz wie der andre sieht er aus, bloß schräge Gitterstäbe sind an den Fenstern — und Dunkelheit dahinter.


Bloß Soldaten, stramme Vaterlandsverteidiger, steigen, wer weiß, warum, hinzu und marschieren, zwei Mann, an den Haltestellen rund um den Waggon mit wachsamen Blicken unters Fahrgestell.

Der Zug fährt an — und trägt die hundert zusammengepferchten Sträflingsschicksale, die hundert gepeinigten Herzen über dieselben verschlängelten Gleise, hinter derselben Rauchfahne einher, an denselben Feldern, Masten und Scheunen vorbei, und bringt sie gar um einige Sekunden früher ans Ziel, aber es läßt das vorüberhuschende Leid in der Luft hinter Ihrem Fenster noch viel weniger Spuren zurück als ein Finger, der übers Wasser streicht. 

Und im wohlbekannten, immer gleichen Zugalltag — Bettwäsche aufschnüren, heißen Tee beim Schaffner bestellen —, wie sollten Sie sich's denken können, da» dunkle gepreßte Entsetzen, das drei Sekunden zuvor am gleichen Punkt des Euklidischen Raums vorbeigesaust war? Der Sie über die Enge des Abteils verärgert sind, ach, alle vier Plätze belegt! — Wie sollten Sie glauben (und ob Sie's jetzt über dieser Zeile glauben?), daß in einem gleichen Abteil eben vor Ihnen vierzehn Man dahingebraust sind? Und vielleicht fünfundzwanzig? Und dreißig? ...

Sak-Waggon was für eine abscheuliche Abkürzung! Wie übrigens alle von den Henkern geschaffenen Kurzwörter. Sagen wollen sie damit, daß es ein Waggon für Häftlinge, eine fahrende Haftanstalt sei. Aber das Wort hat sich nirgendwo als in den Gefängnispapieren halten können. Die Gefangenen machten sich eine andere Benennung zu eigen: Stolypin-Wagen hieß er oder einfach Stolypin.

 

Im Zuge der Verbreitung schienengebundener Verkehrsmittel in unserem Vaterlande änderte sich auch die Form der Sträflingsbeförderung. Noch bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zogen die Häftlinge zu Fuß oder auf Pferde­wagen nach Sibirien. Lenin fuhr 1896 schon in einem gewöhnlichen Eisenbahnwagen 3. Klasse (unter Freien) in seine sibirische Verbannung; und beklagte sich lautstark beim Schaffner über die unerträgliche Enge.

Das allseits bekannte Gemälde von Jaroschenko «Überall Leben» zeigt uns eine noch sehr naive Art des Umbaus von Personen­wagen 4. Klasse für Zwecke der Häftlingsverfrachtung: Alles blieb, wie es war, die Gefangenen reisten wie gewöhnlich Menschen sonst, nur die Fenster waren beidseitig vergittert. Diese Wagen liefen lange über die russischen Bahnstrecken; manche erinnern sich, noch 1927 darin befördert worden zu sein, selbstredend nach Geschlechtern getrennt. Hingegen weiß der Sozial­revolutionär Truschin zu berichten, daß er auch schon unter dem Zaren im Stolypin fuhr, freilich altväterlich, zu sechst in einem Abteil.

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Wahrscheinlich wurde diese Art Waggon unter Minister Stolypin, demnach vor 1911, erstmals auf die Reise geschickt. Die vereinte kadettisch-revolutionäre Erbitterung trug schuld darin, daß der Name fortan an ihm kleben blieb. Zu rechten Ehren kam der Waggon allerdings erst in den zwanziger Jahren; allgemein und ausschließlich angewandt wurde er erst ab 1930, als die Gleichschaltung unser ganzes Leben erfaßte; darum wäre es gerechter gewesen, ihn nicht Stolypin, sondern Stalin zu nennen. Doch gegen die Sprache aufkommen zu wollen, ist müßig.

 

Der Stolypin ist ein gewöhnlicher Eisenbahnwaggon mit acht Abteilen, davon fünf für die Häftlinge (wie überall im Archipel fällt die Hälfte aufs Bedienungs­personal!); diese nun haben nicht Trennwände zum Gang, sondern Gitter, die den Durchblick ins Innere freigeben. Das Gitter, gekreuzte schräge Stäbe, wie man sie auch am Bahnhof zur Einzäunung von Rasen verwendet, reicht bis hinauf zur Decke und schneidet das sonst übliche Gepäckfach über dem Gang ab. Die Gangfenster sind wie sonst, bloß ebenfalls von außen vergittert, und die Häftlingsabteile haben keine Fenster, nur ein kleines, natürlich vergittertes blindes Loch überm mittleren Liegebrett (die Fenster fehlen! Darum haben wir den Stolypin für einen Gepäckwagen angesehen). Vorm Abteil ist eine Schiebetür: ein Eisenrahmen mit gleichem Gitter.

Vom Gang her gesehen, gemahnt das Ganze auffallend an eine Menagerie: Auf dem Boden und auf den Hängebrettern krümmen sich jämmerliche, menschenähnliche Geschöpfe, stieren flehentlich durchs Gitter, betteln um Wasser und Nahrung. Aber niemals werden in einem Tiergarten so viele Tiere in einen Käfig gestopft.

Nach Berechnungen frei lebender Ingenieure kann ein Stolypinsches Abteil elf Mann fassen: sechs sitzen unten, drei liegen im Mittelgeschoß (die beiden Liegen sind zu einer durchgehenden Pritsche umgebaut, mit einem kleinen Ausschnitt fürs Auf- und Absteigen an der Tür) und drei im Gepäckfach oben.

Sobald nun zu diesen elf abermals elf hineingezwängt worden sind (die letzten tritt der absperrende Aufseher bereits mit den Füßen hinein), ist die durchaus normale Auslastung des Häftlingsabteils erreicht. Je zwei sitzen halb verrenkt auf dem oberen Brett, fünf legen sich aufs mittlere (fünf Glückspilze sind das, denn diese Plätze werden im Kampf erobert, eine sichere Beute der Kriminellen, wo's solche im Abteil gibt), den übrigen dreizehn bleibt das Untergeschoß: je fünf sitzen auf den Bänken, drei auf dem Boden dazwischen. Irgendwo auf und unter den Menschen liegen ihre Sachen verstreut. So fährt man denn mit eingezwängten, angezogenen Beinen Tage und Tage.

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Nein, es ist keine besondere Absicht dabei, die Leute zu quälen! Der Verurteilte ist ein Soldat der Sozialistischen Arbeitsfront, wozu ihn quälen, so er zur Arbeit taugt. Doch fährt er ja auch nicht zur Schwiegermutter auf Besuch — das müssen Sie wohl zugeben? — und sollen ihn am Ende die Freien scheel anschaun, weil er's besser hat? Unsere Transportschwierigkeiten sind bekannt; wird schon nicht abschrappen unterwegs.

In den fünfziger Jahren, als die Fahrpläne sich eingependelt hatten, dauerte eine solche Reise nicht lange: na, anderthalb, bitteschön, zwei Tage rund um die Uhr. Im Krieg und nach dem Krieg war es schlimmer: von Petropawlowsk (in Kasachstan) bis Karaganda brauchte der Stolypin mitunter sieben Tage (mit je fünfundzwanzig Häftlingen im Abteil), von Karaganda bis Swerdlowsk acht Tage (sechsundzwanzig im Abteil). Sogar von Kuibyschew bis Tscheljabinsk fuhr Susi im August 1945 einige Tage — und es waren ihrer fünfunddreißig Mann im Abteil, einer lag einfach am andern, ein strampelndes, ringendes Menschenknäuel*. 

N. W. Timofejew-Ressowski fuhr im Herbst 1946 die Strecke Petropawlowsk-Moskau in einem mit sechsunddreißig Mann belegten Abteil! Einige Tage lang hing er zwischen den Menschen, ohne den Boden mit den Zehen zu berühren. Dann begannen welche wegzusterben, man zog sie den übrigen unter den Füßen hervor (allerdings nicht gleich, erst tags darauf) — da wurde es bequemer. Seine Reise nach Moskau dauerte alles in allem drei Wochen**.

Ob sechsunddreißig das Limit waren? Die Zahl siebenunddreißig ist nicht bezeugt, und dennoch müssen wir, der einzig wissenschaftlichen Methode sowie des Kampfes gegen die «Grenzwertler» eingedenk, die Frage entschieden verneinen. Ein Grenzwert ist's nicht! Vielleicht irgendwo anders, aber nicht bei uns! Solange im Abteil, ob zwischen den Schultern, Köpfen oder Füßen, auch nur einige Kubikdezimeter unverdrängter Luft bleiben — steht das Abteil für die Aufnahme weiterer Häftlinge bereit! Als errechenbares Limit könnte man bedingt die Zahl der bei ordentlicher und kompakter Schichtung im Gesamt­volumen des Abteils unterzubringenden Leichen annehmen.

Vera Kornejewa wurde in Moskau in ein Abteil mit dreißig Frauen verpackt, davon waren die meisten stockalte Mütterchen, die «wegen des Glaubens» in die Verbannung gingen (alle außer zweien mußten nach der Ankunft ins Krankenhaus). Sie hatten im Abteil keine Toten, weil auch einige junge, aufgeweckte und hübsche Mädchen mitfuhren (wegen «Ausländerfreundschaft» verurteilt). Die Mädchen nahmen sich die Wachen vor, versuchten, ihnen ins Gewissen zu reden: «Schämt ihr euch nicht? Sind doch eure Mütter, die ihr so behandelt!» 

* Dies, um jene zufriedenzustellen, denen der Mangel an Kampflust unerklärlich und tadelnswert scheint.
** In Moskau aber wurde Timofejew-Ressowski, o wunderliche Gesetze des Wunderlandes, von Offizieren aus dem Zug getragen; eine Limousine wartete bereits: Er fuhr, der Wissenschaft zu dienen!

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Das fand Gehör, weniger wohl wegen der sittlichen Argumentation als des gefälligen Äußeren der Mädchen wegen — einige Frauen wurden in den Karzer übersiedelt. Im Stolypin aber ist der Karzer keine Strafe, sondern ein Genuß. Von den fünf Häftlingsabteilen werden nur vier als Gemeinschaftszellen verwendet, das fünfte ist in zwei Hälften geteilt: zwei Kleinkupees entstehen, Schaffner fahren sonst in solchen: eine Sitzbank unten, eine Liegebank in der Mitte. Diese Karzer dienen der Isolation; darin zu dritt, zu viert zu fahren, bedeutet das höchste an Komfort.

Nein, nicht um die Häftlinge absichtlich mit Durst zu martern, werden die Halberstickten, Halberdrückten an all den Tagen ihrer Reise nur mit Salzheringen oder trockenem Bückling gefüttert (so war es in allen Jahren, 1930 wie 1950, winters wie sommers, in Sibirien und in der Ukraine, die Zitierung von Beispielen erübrigt sich in diesem Fall). Nicht um die Menschen zu quälen, aber — wüßten Sie was Besseres vorzuschlagen? Womit hätte man das Pack unterwegs füttern sollen? Die warme Ration ist im Waggon nicht vorgesehen (die Küche, die in einem Abteil des Stolypin mitfährt, ja, die ist für die Wachmannschaft). Die Graupen trocken verteilen? Das geht nicht. Rohen Fisch? Geht nicht. Fleischkonserven? Daß sie sich fett fressen? Etwas Besseres als Salzheringe findest du nicht, dazu ein Stück Brot — was will man mehr?

Nimm ihn nur, nimm ihn, deinen halben Hering, und sei's zufrieden! Wenn du klug bist, steckst du den Hering in die Tasche und hältst es ohne aus, im Durchgangslager kannst du sie alle auffressen, weil's dort Wasser gibt. Schlimm wird es, wenn sie in grobem Salz gewälzte nasse Asow-Sardellen verteilen; die werden dir im Sack kaputt, drum fang das Ding lieber gleich in den Rockschoß, ins Taschentuch, in die hohle Hand und iß. Der Haufen Sardellen kommt zum Aufteilen auf irgendwessen Joppe. Den trockenen Bückling schüttet die Wache direkt auf den Boden, zerstückelt wird er auf der Bank, auf den Knien*.

Sobald du deinen Fisch bekommen hast, ist dir auch das Brot gewiß und vielleicht sogar ein Stück Zucker. Schlimmer, wenn die Wache mit der Meldung angerückt kommt, für heute sei die Fütterung abgesagt, weil für die Seki nicht gefefaßt werden konnte.

*  P.F. Jakubowitsch («In der Welt der Verfemten», Moskau 1964, Bd. 1) berichtet über die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, daß die Schubgefangenen in Sibirien zur damaligen furchtbaren Zeit 10 Kopeken Taggeld fürs Essen bekamen, die Preise aber waren: ein Laib Weizenbrot (drei Kilo etwa?) fünf Kopeken, ein Krug Milch (zwei Liter etwa ?) drei Kopeken. «Die Häftlinge leben im Überfluß», schreibt er. Hingegen sind im Gouvernement Irkutsk die Preise höher, ein Pfund Fleisch kostet 10 Kopeken und «die Häftlinge leiden bittere Not». Ein Pfund Fleisch pro Tag und Mann — kein halber Hering ...

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Mag sein, daß es stimmt: Irgendein Gefängnisbuchhalter hat sich in der Rubrik verschaut. Mag genausogut sein, daß sie sehr wohl gefaßt haben, bloß selbst mit ihrer Ration nicht auskommen (kriegen auch nicht gerade viel zum Beißen), darum das Brot geangelt haben und auch das halbe Stück Salzhering nicht mehr verteilen, denn das sähe ohne Brot verdächtig aus.

Und natürlich geschieht es nicht, um den Häftling zu martern, daß sie ihm nach dem Hering kein Wasser geben, weder heißes abgekochtes (das ohnedies nie) noch einfach von der Wasserleitung welches. Begreiflich ist's: Das Bewachungspersonal ist knapp, die einen stehen im Gang auf Posten, die ändern schieben im Windfang Wache, müssen in den Stationen unter den Waggon und aufs Dach kriechen, Ausschau halten, ob nirgendwo ein Loch gebohrt wurde. Ein weiterer putzt die Waffen, und schließlich darf auch die politische Schulung nicht zu kurz kommen, und die Dienstordnung will studiert werden. Die dritte Schicht, die schläft inzwischen, acht Stunden stehen ihnen zu, der Krieg ist ja vorbei. Außerdem: Das Wasser in Eimern von weither zu schleppen ist nicht nur beschwerlich, auch kränkend:

Warum soll sich ein sowjetischer Krieger für die Feinde des Volkes wie ein Maulesel abrackern? Dann wieder wird der Stolypin-Wagen beim Verschieben oder Umkoppeln auf einem abgelegenen Geleise vergessen (nur fort aus der Sichtweite), da bleibt auch die eigene Rotarmistenküche ohne Wasser. Einen Ausweg gibt es freilich: aus dem Lok-Tender einen Eimer vollzuschöpfen — gelb, trüb, Schmieröl schwimmt drauf. Die Seki trinken's gern, nitschewo, die können's im Dämmer des Abteils nicht recht erkennen: Ein Fenster haben sie nicht, eine Lampe auch nicht, das Licht aus dem Korridor muß reichen. 

Und noch was: Das Wasser auszuschenken ist zu umständlich, eigene Becher besitzen die Häftlinge nicht; wer einen hatte, mußte ihn abliefern, und drum heißt's, die Leute aus den zwei staatseigenen Gefäßen zu tränken, da stehst du also, während sie sich satt trinken, daneben und schöpfst und schöpfst und bedienst sie noch. (Wenn sie wenigstens untereinander einig wären, aber nein: «Laßt zuerst die Gesunden trinken», schrein schon wieder welche, «und dann erst die Tbc-ler, und dann die Syphilitiker!» Als ob's in der Nebenzelle nicht wieder von vorn begänne: «Zuerst die Gesunden ...»)

Doch all dies wäre noch zu ertragen, das Wassertragen und das Ausschenken, täten sie nicht, kaum daß sie sich vollgesoffen haben, diese Säue, gleich nach dem Austreten schreien. Denn so ist es: Gibst du ihnen kein Wasser, brauchen sie nicht auszutreten, läßt du sie einmal im Tag trinken, geben sie sich mit einem Mal zufrieden, bringst du ihnen aus lauter Mitleid zweimal Wasser, müssen sie zweimal hinaus. Am günstigsten ist's noch immer, sie wasserlos zu halten.

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Und nicht deswegen haben sie was gegen's Austreten, weil sie den Abort schonen wollen, sondern deswegen, weil es eine verantwortungsvolle, ja eine militärische Operation ist: ein Gefreiter und zwei Soldaten sind auf lange damit beschäftigt. Zwei Posten werden aufgestellt: einer an der Aborttür, einer am anderen Gangende (damit keiner entwischt), der Gefreite hat unentwegt die Abteiltür auf- und zuzuschieben, den Rückkehrenden hinein-, dann den nächsten herauszulassen. Die Order verbietet, mehrere auf einmal rauszulassen, es könnte Aufruhr, Fluchtversuche geben. Und so ergibt es sich, daß der eine auf seinem Weg zum Abort die dreißig Häftlinge seines Abteils und die hundertzwanzig des ganzen Waggons und dazu noch ein Wachkommando aufhält! Drum: «Dawai, dawai! ... Schneller! Schneller!», der Gefreite treibt ihn an, der Soldat hilft nach, der Häftling eilt und stolpert durch den Gang, als ob er diese Klobrille dem Staate stehle.

(Der einbeinige Deutsche Schulz, dem das russische Dawai inzwischen schon verständlich war, mußte 1949 im Stolypin Moskau-Kuibyschew auf seinem einen Bein zum Klo und zurück hüpfen, die Wachen brüllten vor Lachen und wollten es noch schneller haben. Der Posten, der im Windfang vor der Klotür stand, schubste ihn beim nächstenmal. Schulz fiel. Darob erzürnt, begann der Posten ihn auch noch zu schlagen — und Schulz, der sich unter seinen Schlägen nicht aufrappeln konnte, kroch auf den Händen in den schmutzigen Abort hinein. Die Wachen krümmten sich.)*

Um Fluchtversuche während der im Abort verbrachten Sekunden zu vereiteln, außerdem auch die Umlauffrequenz zu steigern, wird die Tür zum Abort nicht geschlossen, und der Posten, der den Vorgang der Entleerung beobachtet, läßt sich ermunternd vernehmen: «Dawai, dawai! ... Schluß jetzt, für dich reicht's!»

Manchmal lautet das Kommando von vornherein: «Nur klein!» — und dann paßt der draußen schon auf, daß es dabei bleibt. Na, und die Hände werden natürlich niemals gewaschen: Das Wasser ist knapp und die Zeit nicht minder. Der Häftling braucht bloß den Hahn am Waschtisch zu berühren, schon schnauzt ihn der Posten an: «He du, Hände weg, raus mit dir!» (Wer in seinem Bündel ein Stück Seife oder ein Handtuch hat, läßt es aus lauter Scham drinnen: das sähe sehr nach Frajer58 aus.) Die Toilette schwimmt im Dreck. An den Füßen klebt der flüssige Kot, aber schneller! schneller! Der Häftling zwängt sich wieder ins Abteil, klettert über fremde Hände und Schultern nach oben, und dann hängen seine schmutzigen Schuhe von der obersten Pritsche zur mittleren herab und tropfen.

* «Stalins Personenkult» nennen sie's heute. War das denn eine kultische Handlung?

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Wenn Frauen austreten, müßte die Tür nach den Geboten der Wachdienstordnung und des gesunden Menschenverstands ebenfalls offen bleiben, aber damit halten sie's nicht immer so streng: «Na schön, mach zu.» (Eine Frau muß das Klo danach auch noch putzen, da stehst ja wieder daneben, auf daß sie nicht Reißaus nimmt.)

Doch auch ungeachtet dieses raschen Tempos braucht es fürs Austreten von hundertzwanzig Menschen mehr als zwei Stunden — mehr als das Viertel einer Dreipostenschicht! Und am Ende ist alle Mühe umsonst gewesen! Es findet sich ja immer irgendein tapriger Alter, der in einer halben Stunde wieder zu flennen beginnt, und klar, daß man ihn nicht rausläßt; da scheißt er dann gleich im Abteil, und der Gefreite hat eine Sorge mehr, muß ihn alles in die Hand schaufeln und hinaustragen lassen.

Kurzum: Jedes Austreten ist zuviel! Darum gib ihnen weniger Wasser. Und weniger Essen auch — dann werden sie sich abgewöhnen, über Durchfall zu klagen und die Luft zu verpesten, ist ja zum Grausen! Man erstickt bald im Waggon!

Weniger Wasser! Den vorgeschriebenen Hering, den kriegen sie! Die Nichtzuteilung von Wasser ist ein Gebot der Vernunft, die Nichtzuteilung von Hering wäre ein Dienstvergehen.

 

Niemand, niemand hat sich das Ziel gesetzt, uns zu quälen! Das Vorgehen der Wache ist durchaus vernünftig! Aber wir sitzen wie die Urchristen im Käfig, und unsere wunden Zungen werden mit Salz bestreut.

Und desgleichen ist gar keine Absicht dahinter zu finden, daß die Wachmannschaft die Achtundfünfziger mit Kriminellen und Bytowiki durcheinanderwürfelt, es sind einfach viel zu viele Häftlinge in den viel zu wenigen Waggons und Abteilen unterzubringen, und rasch soll es auch noch geschehen. Von den vier Abteilen ist eines für die Frauen bestimmt, in den drei übrigen ist's bequemer, wenn überhaupt, nach Bestimmungsbahnhöfen zu sortieren, damit das Ausladen flotter geht.

Ist denn Christus darum zwischen zwei Räubern ans Kreuz geschlagen worden, weil Pilatus ihn erniedrigen wollte? Es war einfach zum Kreuzigen der fällige Tag, Golgatha gab es nur eines, die Zeit drängte. UND ER WARD UNTER DIE ÜBELTÄTER GERECHNET.

 

Mir wird schon bange, auch nur daran zu denken, was ich alles hätte erleben müssen, hätte ich nicht eine Sonderstellung unter den Häftlingen eingenommen ... Die Eskorte und die Begleitoffiziere behandelten mich und meine Kameraden mit zuvorkommender Höflichkeit ... Als Politischer fuhr ich relativ komfortabel in die Katorga; in den Etappengefängnissen wurde mir ein von den Kriminellen abgesonderter Raum zur Verfügung gestellt, ich hatte ein Fuhrwerk, ein zweites fuhr mit einem Pud Gepäck hinterher ...

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Ich habe im vorigen Absatz die Anführungszeichen weggelassen, damit der Leser den Text unvorein­genommen erfassen könne. Die Anführungszeichen dienen ja immer, wenn nicht der Ironie, so doch zumindest der Verfremdung. Ohne Anführungszeichen hingegen klingt der Absatz recht verwunderlich — oder?

Die Schilderung stammt von P. F. Jakubowitsch, ist über die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben. Das Buch wurde neulich wieder aufgelegt, zur Belehrung über die Geschehnisse jener düsteren Zeit. Wir erfahren, daß die Politischen auf dem Frachter eine eigene Kabine hatten und an Deck einen eigenen Platz zum Spazieren. (Lesen Sie auch Tolstois Auferstehung: Fürst Nechljudow, ein Unbefugter, darf lange Unterhaltungen mit den Politischen führen.) Und nur darum, weil in der Liste neben dem Namen Jakubowitsch «das magische Wort Politischer ausgelassen worden war» (so schreibt er), wurde er am Ust-Kar «vom Katorga-Inspektor ... wie ein gewöhnlicher krimineller Häftling empfangen: grob, herausfordernd, frech». Im übrigen klärte sich das Mißverständnis glücklich auf.

Was für eine unglaubwürdige Zeit! Politische mit Kriminellen zu verwechseln glich beinahe einem Verbrechen! Die Kriminellen wurden den Leuten zum Gespött durch die Straßen getrieben, die Politischen durften zum Bahnhof eine Kutsche nehmen (Olminski, 1899). Die Politischen bekamen nicht die Gefängniskost, sondern ein Taggeld und durften nach dem Speisezettel bestellen. Der Bolschewik Olminski schickte, weil seiner Meinung zu grob, sogar die Krankenkost zurück*. Der Block­kommandant der Butyrka mußte sich wegen eines duzenden Aufsehers bei Olminski entschuldigen: «Verstehen Sie, bitte, wir haben nur selten Politische hier. Der Aufseher wußte nicht ...»

Nur selten Politische — in der Butyrka? ... Ist's ein Traum? Wo waren sie denn? Wo's doch die Lubjanka und das Lefortowo noch gar nicht gegeben hat ...!

Radischtschew wurde in Ketten auf Schub gebracht und wegen des kalten Wetters mit einem «greulichen Fell», dem Schafspelz des Wärters, zugedeckt. Indes schickte ihm Katharina, die Kaiserin, sofort eine Order nach: Ketten abnehmen, mit allem Nötigen für die Reise versorgen. Die Anna Skripnikowa wurde im November 1927 aus der Butyrka nach den Solowki eskortiert: mit Strohhut und im Sommerkleid (das sie bei der Verhaftung im Sommer getragen hatte; ihr

*  Weswegen die Berufsrevolutionäre von den kleinen Ganoven (der kriminellen Masse) allerdings auch als «lumpige Adelsfatzken» bezeichnet wurden. (P. F. Jakubowitsch)

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