Vorwort 1978
(Vorangestelltes Nachwort anstatt eines zweiten Vorworts)
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»Auch Bücher haben ihr Erlebtes«, heißt es bei Goethe, der das viel zitierte »Habent sua fata libelli« frei überträgt. In diesem hypertrophisch ereignisreichen Jahrhundert hängt das Schicksal der Bücher in der Tat viel mehr vom »Erlebten« der Autoren als vom Gefallen des Lesers ab. Millionen Bücher sind von ihren Besitzern insgeheim, in angstvoller Hast vernichtet worden; zahllose Schriftsteller haben ihre Manuskripte versteckt, vergraben, ehe sie sie schließlich verbrannten und die Asche zerrieben, damit keine Spur von ihnen bliebe.
Niemand könnte die Werke zählen, die ungeschrieben bleiben mußten, als es vor allem darauf ankam, das nackte Leben nicht zu gefährden und den kümmerlichen Rest von Freiheit nicht zu verlieren. In der »Zeit der Verachtung« blieben so ungezählte Werke ungeschrieben, viele andere ungedruckt — ihr Schicksal war so jämmerlich wie das jener Manuskripte, die wie ein schändliches Geheimnis verborgen und schließlich vergessen werden mußten.
Im Herbst 1933, fünf Monate nachdem ich das Dritte Reich verlassen hatte, begann ich, das vorliegende Buch zu schreiben. In der Tat diktierte ich diesen Text improvisierend, so wie ich es in meinen Wiener und Berliner Kursen stets getan hatte. In den Diskussionen, die sich ihnen gewöhnlich anschlossen, brachten die Hörer Fragen und Einwände vor; auch diese diktierte ich in Erinnerung an die fruchtbaren Auseinandersetzungen im Individualpsychologischen Institut.
Im Mai 1934 schloß ich mit der 28. Vorlesung meinen »Versuch einer sozialen Charakterologie« ab; dieses Buch sollte übrigens nur der erste Band eines umfassenden Werkes werden. Als ich dann einige Wochen später nach Paris kam, bot ich es einem bedeutenden französischen Verleger an, der es ohne zu zögern annahm und mich sogleich mit einem Übersetzer zusammenbrachte. Die französische Fassung sollte in einem Jahr fertig werden und das Buch in den letzten Monaten des Jahres 1935 erscheinen. Doch habe ich weder den Übersetzer wiedergesehen noch die Übersetzung je zu Gesicht bekommen. Ich stand damals mitten im politischen Kampf und zeigte mich wohl nicht ausreichend bemüht, den anscheinend verschollenen Übersetzer und das Manuskript wiederzufinden.
»Ich ärgerte mich, aber nicht zu sehr ... es handelte sich nicht um mein Pech ... — alles hing mit einem Sachverhalt zusammen, der weit über mich hinausging. Ich überlegte: Entweder ich überlebe den kommenden Krieg, dann werde ich alles aufholen können — in 5, in 10 Jahren. Oder ich überlebe ihn nicht, dann wird alles was mich betrifft, sowieso unerheblich gewesen sein.«
Das schrieb ich Jahrzehnte später in meiner Autobiographie.
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Zwei Jahre nach dem Krieg gelang es mir, das vergilbte Manuskript wieder aufzutreiben; was ich sonst an Büchern und Manuskripten in Paris besaß, war inzwischen konfisziert und zweifellos vernichtet worden. Ich empfand nicht das geringste Bedürfnis, mir das Manuskript auch nur wieder anzusehen. Die kaum sagbar schwere Zeit, die inzwischen vergangen war, hatte mich dem jungen Mann, diesem geradezu besessenen Psychologen der ich gewesen war, ebenso wie seinen recht herausfordernden Gewißheiten entfremdet — seinen Gewißheiten, aber nicht seinen Fragestellungen und nicht den grundlegenden Erkenntnissen der Adlerschen Individualpsychologie.
Als ich im Jahre 1937, nach meinem Bruch mit dem Kommunismus, den sozialpsychologischen Essay »Zur Analyse der Tyrannis« schrieb, legte ich meine Stellung zu Alfred Adlers Lehre mit diesen Worten dar:
»Unter allen Schulen und Richtungen der modernen Psychologie hat einzig die Adlersche Lehre den psychologischen Problemen der Macht und der Geltung eine gebührende, somit zentrale Bedeutung eingeräumt. Ihre Einsichten, verbunden mit einer Menschenkenntnis, die von den Erfahrungen und Lehren der Geschichte weise Gebrauch zu machen verstand, öffneten Adler einen Weg, an dessen Anfang die wissenschaftliche Menschenkenntnis beginnt... Wir machen dankbar von jenen seiner Befunde Gebrauch, deren auf die Dauer keine psychologische Bemühung wird entraten können.«
Ich lehnte es damals gemäß dieser Auffassung ab, das Verhalten der Unterdrückten aus deren »Massencharakter« zu erklären, und unternahm es im Gegenteil, die sogenannte Masse individual-psychologisch aufzugliedern und sie sowohl in den gegebenen sozialökonomischen Zusammenhängen wie auch in der individuellen politischen Motivation zu erfassen. Damit begann mein Verzicht auf politische Gewißheiten und mit ihm der Verlust der grenzenlosen Hoffnungen, die ich auch als Psychologe an die soziale Revolution und an eine nur durch sie ermöglichte neue Erziehung knüpfte, die endlich den neuen Menschen hervorbringen sollte.
Im Herbst 1933 bewahrte ich entgegen schmerzlichen, stets aufs neue abgewiesenen Ahnungen noch immer die Zuversicht, daß das werktätige deutsche Volk sich gegen Hitlers Herrschaft erheben und der Wirtschaftskrise ein revolutionäres Ende setzen würde; vier Jahre später war es mir gewiß, daß fortab jeder Tag den zweiten Weltkrieg näherbrachte, den weder das deutsche, noch das internationale Proletariat verhindern konnte.
Als diese »soziale Charakterologie« entstand, war es zwar unwahrscheinlich, aber immerhin denkbar, daß sie in Österreich oder in der Schweiz einen Verleger finden könnte und daß in der Folge Exemplare dieses Buches illegal auch deutsche Leser erreichen würden.
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Im Hinblick darauf galt es, Namen und Bezeichnungen zu vermeiden, die das Buch und seine Leser den Nazis verdächtig machen mußten. Daher ist zwar vom Faschismus und Kommunismus hier oft genug die Rede, doch stets nur in oft variierten Deckworten. (Den gleichen, im Rückblick naiv erscheinenden Tarnversuch habe ich auch in der »Analyse der Tyrannis« unternommen — mit der gleichen, totalen Erfolglosigkeit.)
Der Leser von heute wird diese Tarnsprache mühelos verstehen und zugleich mit Staunen entdecken, daß man bereits im ersten Jahr des Dritten Reiches vom Zweiten Weltkrieg als einer unaufhaltsam nahenden Katastrophe sprechen konnte — kurz, daß nur selbstgewählte, also tendenziöse politische Taubheit und Blindheit die Zeitgenossen daran hinderten zu erkennen, daß da ein Unheil heraufbeschworen wurde, dessen sie sich im voraus mitschuldig machten. Das mag den merkwürdigen Kassandraton erklären, in dem hier so vieles vorgetragen wird. Wir waren nicht wenige, die »nicht nur das Gras wachsen hörten, sondern auch den Marschtritt jener, die es zertreten sollten«.
Doch weit öfter als der zornigen Trauer der ungehört warnenden Kassandra, begegnet man hier einem schrankenlosen, in zahllosen Variationen wiederkehrenden, psychopädagogischen Optimismus, der einer wissenschaftlich begründeten Gewißheit gleichgestellt wird, welche in naher Zukunft, unmittelbar nach der kommenden Katastrophe allen augenfällig werden würde.
Den grenzenlosen Optimismus des achtundzwanzigjährigen Autors teile ich schon seit langem nicht mehr, aber noch weniger teile ich den Pessimismus jener, die er — leider zu heftig — immer wieder angreift. Nach wie vor denke ich wie er, daß die unvermeidliche Vergesellschaftung ebenso sicher des Menschen Schicksal ist wie der Tod, der ihm ein Ende bereitet. Sein Körper macht ihn einzig, sein Ich-Bewußtsein vereinzelt ihn, aber das Ich setzt das Wir voraus. Nur dank seiner Bezogenheit auf andere erlangt der Mensch die Einheit und Ganzheit als Individuum — dank der Bezogenheit auf jene, die vor ihm da waren, auf alle, die mit ihm die Gegenwart teilen, und schließlich auf jene, die ihn überleben werden. Auch in der abgeschlossensten Einsamkeit ist er nicht allein; in all seine Urteile geht sein Wesen ein, aber nicht nur sein Wesen, sondern auch die Umwelt — gleichviel, ob er sich von ihr entfernt oder sich ihr entgegenstellt oder mit ihr engstens verbunden bleibt. Das erklärt, warum alle Menschenkenntnis vergleichende Individualpsychologie und kritische Sozialcharakterologie in einem ist. In diesem Sinne halte ich durchaus aufrecht, was in diesen Vorlesungen an charakterologischen Feststellungen und psychologischen Deutungen erarbeitet wird. Ja, auch in Anbetracht der seither neugewonnenen Einsichten erscheint mir all das noch als gültig.
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Es handelt sich hier gewiß nicht um ein philosophisches Buch, obschon darin recht häufig von Philosophie die Rede ist. Es fehlt indes das Eingeständnis, daß der Tod, obgleich nur vom Leben aus denkbar, für den Sterbenden wie für jene, die an ihn gebunden sind, nicht nur psychologisch und historisch, sondern ebenso auch philosophisch faßbar ist. Dagegen sträubt sich aber der materialistische Obskurantismus, der die erkenntnis-theoretische und die ontologische Philosophie als eine versteckt pfäffische Kannegießerei, als eine im Dienste der herrschenden Klasse betriebene Ablenkung von dem einzig wesentlichen, dem sozialen Problem, entlarvt hat.
Habe ich zwar diese extrem entwertende Auffassung, wie sie etwa Lenin in »Materialismus und Empiriokritizismus« vertritt, nie ganz geteilt, so habe ich in diesen Vorlesungen doch recht oft die Philosophie negativ beurteilt und immer wieder global verurteilt. Schon vorher, vor 1933, hatte ich über den bürgerlichen Philosophen geschrieben: »Ob er zu Füßen Heideggers sitzt oder bei den Schriften Kierkegaards seine Ruhe findet, er ist auf einem Irrweg, der zu Nutz und Frommen der Bourgeoisie betreten wird.« Nach wie vor stehe ich dem Existenzia-lismus kritisch gegenüber, jedoch glaube ich heute keineswegs mehr, daß seine Anhänger unbewußt oder heimlich der Bourgeoisie oder gar dem Faschismus dienen. Und ich bin jetzt davon überzeugt, daß jene leninistischen Deutungen obskurantistische Verzerrungen unstatthaft simplifizierter Sachverhalte sind. Die von Lenin und seinem Regime als unfehlbares Kampfmittel angewandte, alles verfälschende Kettenidentifikation, dank der jede abweichende Auffassung verdächtig und im Handumdrehen verbrecherisch wird, hat noch immer nicht aufgehört, junge Menschen geistig und sittlich zu verderben. Spuren eines solchen Argwohns findet man auch in diesem Buch; ich habe sie nicht ausgemerzt, weil sich in ihnen auch die unsäglich schweren Bedrängnisse jener Zeit widerspiegeln, vor allem aber, damit die Leser von heute erkennen, daß schon vor beinahe einem halben Jahrhundert der Argwohn die Ideologen nicht zum Siege, sondern in die Irre geführt hat: Er verwandelte die Selbstentfremdeten in Allerweltsfeinde.
Da man in Deutschland einige meiner Arbeiten aus jener Zeit in Photokopien verbreitet, in denen Äußerungen solchen Argwohns vorkommen, ist es wohl hier am Platze, sie aufs entschiedenste zu desavouieren; die Gründe hierfür findet man in allen Schriften, die ich seit 1937 veröffentlicht habe. Seit damals frage ich nicht mehr, wem eine Wahrheit nützlich oder schädlich sein könnte; um sie zu äußern und zu verteidigen, genügt es mir, sie als solche erkannt zu haben. Die Möglichkeit, daß sie auch dem Gegner in den Kram passen könnte, vermindert ihren Wert ebenso wenig wie daß sie diese oder jene liebgewonnene Gewißheit zu erschüttern oder gar zu zerstören vermöchte. Die Wahrheit ist nicht funktionell, nicht taktisch und nicht parteiisch, aber brauchbar und leider auch leicht mißbrauchbar. Man messe den eigenen Anstand im Geistigen nicht zuletzt an der Fähigkeit, solchem Mißbrauch zu widerstehen und ihm jedenfalls zu wehren.
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Zu keiner Zeit sind so viele Wahrheiten, Ideen, Ideale und sinnvolle Zielsetzungen so energisch entstellt, mißbraucht und schließlich skrupellos in ihr Gegenteil verkehrt und zur Begründung von Gewalt- und Lügenherrschaft benutzt worden wie in diesem Jahrhundert. Es begann 1914, im Ersten Weltkrieg, es hat seither nicht aufgehört: Selbst der geistloseste Despot mordet heutzutage mit Berufung auf eine Ideologie. Darbenden Menschen mag es an Brot fehlen, aber an Ideologie fehlt es nirgends — nicht im zurückgebliebensten Dorf und nicht im modernsten Wissenschaftsbetrieb, nicht in der Biologie zum Beispiel, erst recht nicht in den Sozialwissenschaften und in der Psychologie. Und sie fehlt leider auch nicht in diesem Buch; dessen Autor hätte dies seinerzeit gewiß zugegeben, allerdings mit einer bedenkenswerten Einschränkung: »Unsere dialektisch-materialistische Psychologie ist nicht abgeschlossen, sondern völlig offen nach vorne. Ich kann mir keine Wahrheit vorstellen, der wir uns verschließen müßten, denn ist auch nicht jede Wahrheit revolutionär, so kann doch keine konterrevolutionär sein.«
Ja, das dachte ich damals und brachte es wohl in jeder dieser 28 Vorlesungen zum Ausdruck. Es bewahrte mich nicht vor unzulässiger Überschätzung gewisser Einsichten und vor der Unterschätzung zahlreicher Sachverhalte. So verwies ich z. B. in wenigen Worten auf eine gerade damals in Säuglingsheimen und Kinderspitälern bestätigte Erfahrung, wonach die intellektuelle Entwicklung der Pfleglinge weit hinter der jener Kinder zurückblieb, die in ihrer Familie aufwuchsen. Nun wird aber in diesem Buch die Familie schlechthin so heftig angegriffen, als ob sie, sie allein an allem seelischen Elend schuld wäre. Die Feststellung jedoch, daß ein Kind in den ersten 18 Monaten einen stets gegenwärtigen Menschen, vorzugsweise eine Mutter braucht, eine verläßliche Bezugsperson, die ihm zur Welt, ja zur fürsorglichen Umwelt wird, hätte den Autor nachdenklich stimmen müssen. Jedoch zieht er aus ihr keinerlei Schlußfolgerung; er verschließt nicht die Augen vor der Wahrheit, er wendet nur den Blick schnell anderswo hin (siehe S. 237). Weit mehr als die psychologische Erfahrung machte ihn sein kollektivistischer Optimismus zum erbarmungslosen Kritiker der Familie. Ohne all seine Vorwürfe gegen die Familie zurückzunehmen, räume ich heute ein, daß diese trotz allem auch noch gegenwärtig den Charakter einer Gemeinschaft bewahrt und für die erste Lebensphase kaum ersetzbar ist. Selbst eine wahre Lebensgemeinschaft, so der israelische Kibbuz, der seit mehr als einem halben Jahrhundert im Sinne einer kollektivistischen Psychopädagogik seine Kinder aufzieht, beläßt den Säugling während der ersten 6 Monate bei seinen Eltern. Und es ist eine sozialcharakterologisch höchst bedeutsame Tatsache, daß die Kibbuzerziehung keineswegs die individuelle Besonderheit ver-
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wischt; es ist ebenso aufschlußreich, daß die Beziehung zwischen Eltern und Kindern bindend und liebevoll und zugleich weniger konfliktuös ist als in der üblichen Familienerziehung. Hier ist der Beweis erbracht, daß ein nicht-autoritäres Verhältnis zwischen den Generationen möglich und in jeder Hinsicht, übrigens auch im Unterricht und in der beruflichen Ausbildung, sehr förderlich sein kann. Dieser bisher wohl bedeutendste Erfolg unserer Auffassungen ist gewiß an die sozialökonomische Eigenart des wirtschaftlich strikt kollektivistischen, aber sonst entschieden personalistischen Kibbuz gebunden.
Im Jahre 1933 setzte ich trotz schwer abweisbarer, beunruhigender Zweifel noch große Hoffnungen in die Pädagogik der Sowjetunion — so überschätzte ich zum Beispiel zweifellos Wert und Wirkung der dortigen Arbeitsschulen. Es erschien mir gewiß, daß dort, wo das kapitalistische Eigentum abgeschafft ist, die Familie und erst recht die öffentliche Erziehung ihren autoritären Charakter endgültig verlieren müßten. Der Leser von heute weiß, daß vieles, was damals geschah, und alles, was seither geschehen ist, keineswegs diesen Erwartungen entsprochen hat. Im Gegensatz zur noch heute weit verbreiteten ideologisch-propagandistischen Fiktion hat die Entwicklung fast in allen Bereichen die Gegenrichtung eingeschlagen.
Als ich dieses Buch schrieb, waren kaum 16 Jahre seit der Oktoberrevolution verstrichen. Nun, im Jahre 1978, sechs Jahrzehnte nach jener folgenreichen Umwälzung, hat niemand mehr das Recht, sich den Einsichten zu verschließen, die ja, obschon tief enttäuschend, unsere Illusionen, aber nicht all unsere Hoffnungen zerstören. Sie verpflichten uns dazu, uns dem manichäischen Zwang falscher Alternativen und ebenso jedem Dogmatismus zu entziehen und vorsichtiger in der Zuversicht und geduldiger in der tätigen Erwartung zu sein.
Wir dürfen nicht mehr verkennen, daß die Abschaffung des Kapitals keineswegs die individuelle und soziale Befreiung, die herrschaftslose Gesellschaft gewährleisten muß. Umgekehrt wissen wir nunmehr, daß sie der Entstehung eines totalitären Regimes förderlich sein kann, welches die Menschen zur äußersten Selbstentfremdung zwingt. Daher desavouiere ich alles, was ich in dogmatischer Gegenüberstellung in diesem Buche oft zugunsten des Marxismus-Leninismus und der Sowjetunion vorgebracht habe. Aber ich bekenne mich nach wie vor dazu, daß die Erziehung, die wir meinen, ihre wesentlichen Ziele nur in einer Gesellschaft verwirklichen könnte, in der die Herrschaft über Menschen durch die Verwaltung der Dinge zum Nutzen aller ein für allemal abgelöst wäre. Die Erringung der individuellen wie der sozialen Freiheit setzt die Beseitigung oder zumindest die äußerste Beschränkung der Macht im Staat und der Autorität in der Familie voraus, ebenso wie in allen menschlichen Beziehungen — in der Liebe nicht weniger als in der Arbeit und im gesellschaftlichen Zusammenleben.
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Ich habe an dem alten Manuskript nur Wiederholungen und unnütze Längen gestrichen bzw. zusammengefaßt, aber alles andere, somit auch die oben desavouierten, allzu hoffnungsvollen und allzu polemischen Äußerungen stehen lassen. Dies geschah nur zum Teil aus einer ironischen Überlegung: Jene, die etwa in den sechziger Jahren stürmische Revolutionäre gewesen sind, und jene, die es jetzt sein wollen, sollen merken, daß sie keine Avantgarde, sondern ein Nachtrupp waren und es heute noch sind. Und daß sie uns im wildesten Getümmel mit großer Verspätung auf unseren Holzwegen nachlaufen, aber uns selten auf den Pfaden der Forschung folgen.
Und vor allem habe ich auch deshalb alles stehen lassen, weil die hier häufig triftig begründete und energisch befürwortete nicht-autoritäre Erziehung in den letzten Jahrzehnten bis zur Karikatur entstellt worden ist. Würde diese Karikatur zum allgemeinen Maßstab, dann könnte sie eine pädagogische Katastrophe von unabsehbarer zerstörerischer Wirkung hervorrufen. Nichts von dem, was das Kind oder der Zögling tut, heißt es, darf kritisiert und nichts darf ihm verweigert werden. Nun, man könnte sich kaum eine üblere Vergewaltigung unserer psychologischen Pädagogik vorstellen, als es diese seelenverkrüppelnde, verwahrlosende Verzärtelung ist, die von leichtfertig kapitulierenden, wehleidigen Erwachsenen praktiziert und von einer ideologisch benebelten, pseudorevolutionären Psychologie propagiert wird.
Nein, nicht das haben wir gemeint, als wir vor mehr als einem halben Jahrhundert forderten, die Erzieher sollten lernen, das Selbstwertgefühl des Kindes zugleich mit seinem Gemeinschaftsgefühl zu fördern und, im Hinblick auf diese Aufgabe, ohne Befehl und ohne Verbot auszukommen.
Wir haben gefordert, daß man Kinder keineswegs davor bewahren soll, die Schwierigkeiten des Lebens richtig wahrzunehmen, denn nur durch die Entfaltung kompensatorischer Kräfte werden sie mit ihnen schließlich fertig. Im Psychischen ist aller Wert Überwindungsprämie; zwar können wir sie nicht immer allein, doch müssen wir sie stets selbst erringen. Darum geht es in der Kompensation von vermeintlichen oder wirklichen organischen oder anders begründeten Minderwertigkeitspositionen.
Auch in der Frage der Frauenemanzipation ist die bis zur Karikatur führende Verzerrung fruchtbarer Wahrheiten eine viel zu häufige Erscheinung. Die Befreiung der Frau von der Männerherrschaft hat die absolute Gleichstellung der Geschlechter herbeizuführen, das heißt das gleiche Recht, den eigenen Weg zu wählen, über das eigene Schicksal zu bestimmen. Dieser Kampf ist noch lange nicht beendet, und was er erreichen soll, wird gewiß eine der erstaunlichsten Umwälzungen der Weltgeschichte sein. Doch kann es hierbei natürlich nicht darum gehen, daß die Frauen so werden wie die Männer, sondern umgekehrt, daß sie zusammen mit der Gleichheit das unbeschränkte Recht auf die Differenz, auf das Anderssein erhalten.
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Ist die Hysterie in den fortgeschrittenen Ländern allmählich seltener geworden oder völlig verschwunden, so taucht mit diesem, die Vermännlichung erstrebenden Neofeminismus eine neue Art von Hysterie auf, für die das Schlagwort von der Phallokratie als besonders törichte Kampfparole kennzeichnend ist.
Man weiß von jeher, daß der rechtmäßig freigelassene, jedoch innerlich unfrei gebliebene Sklave darauf ausgeht, selbst ein Sklavenhalter zu werden, weil er fortfährt zu glauben, daß Hammer werden muß, wer nicht Amboß bleiben will. Herr oder Sklave, Unterdrücker oder Unterdrückter, Ausbeuter oder Ausgebeuteter - eine andere Alternative kennt er nicht, denn er sucht nicht die Gemeinschaft der Freien, die Gemeinschaft der Gleichen.
In vielen Schriften hat Alfred Adler zu dem Phänomen der kriminell aggressiven Gemeinschaftsfeindlichkeit Stellung genommen und dabei sowohl die sozialen wie auch die psychischen Bedingungen aufgezeigt, unter denen besonders junge Menschen delinquent werden können. In unserer Zusammenhangsbetrachtung wird stets deutlich genug, welche Rolle die Umwelt bei solch negativer Entwicklung spielt. Aber es ist nicht wahr, daß irgend jemand ein Verbrecher werden muß, weil er in einer klassengespaltenen Gesellschaft lebt. Es ist nicht wahr, daß das Verbrechen ein authentischer Ausdruck sozialen Protestes ist. Warum und wozu jemand ein Verbrecher wird, bleibt auch unter voller Berücksichtigung der sozialökonomischen Gegebenheiten ein Problem des Individuums, seiner unzulänglichen Beziehungsfähigkeit, seiner Entmutigung und seines gestörten Gemeinschaftsgefühls. Hier liegt der fundamentale Unterschied zwischen unserer Auffassung von den Asozialen, das heißt, von Menschen mit gestörter Gemeinschaftsfähigkeit, und der Stellung jener, die mit Berufung auf Ideologien in den Verbrechern nur die unschuldigen Opfer der Gesellschaft sehen. Bei jeder Gelegenheit bekunden sie ihr Mitleid mit dem Raubmörder und vergessen seine Opfer - gleich jenen sonderbaren Antipsychiatern, die so viel von Freiheit sprechen, aber das Individuum mechanistisch nur als Produkt und Antagonist der Gesellschaft betrachten wollen.
Das Grundproblem aller Psychologie ist des Menschen Dasein als ein stetes Bezogensein. Der Mensch ist eben nicht nur ein Produkt, sondern in hohem Maße ein verantwortlicher Produzent der Umstände in dem unentrinnbaren, dialektischen Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft.
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Paris, im August 1978, Manes Sperber
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Manes Sperber Individuum und Gemeinschaft
Versuch einer sozialen Charakterologie