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  Delitzsch, 15. November 1986  

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Sturmbahnausbildung: in voller Montur über Gräben, Leitern, Balken und Häuserwände. Man läuft dabei nicht gegen den Feind, sondern gegen die Zeit. Für manchen ist diese allein schon unschlagbar. Der Hauptmann, ein hochaufgeschossener Choleriker mit einer bei Wutausbrüchen beängstigend zuckenden Narbe über dem linken Mundwinkel, trieb zur Eile. Nach einer beeindruckenden Demonstration — ich mag Typen, die das beherrschen, was sie anderen abverlangen — gab er noch viele durchaus gutgemeinte Hinweise. 

Auch den Unsportlichen und Schwergewichtigen, die Mehrzahl der Leute, riet er, sich am besten kopfüber in den Fuchsbau, ein mannshoch über den Boden gelegtes Betonloch hineinzuhechten. Damit könne man Zeit sparen. Das war, als ob auf dem Jahrmarkt ein geübter Akrobat die Besucher dazu ermunterte, die Riesenfelge doch einarmig zu turnen — wegen besserer Rotationsbeschleunigung. Wer auf den Hauptmann hörte, war jedenfalls schlecht beraten. Mancher blieb mit seiner Kalaschnikow hängen und steckte am Ende ganz jämmerlich im Betonloch fest.

Mit uns stürmt hier fast immer der Wind. Er bläst beständig aus den umliegenden Ebenen ins Ausbildungszentrum hinein und endockt den drahtseilbespannten Fahnenmasten seltsamer Töne, eine Mischung singender, pfeifender und klirrender Laute, die besonders Nachts etwas Unheimliches haben. Bereits am ersten Tag hatte mich dieses Geräusch unangenehm berührt, dazu das leise aber eindringliche Quietschen der Braunkohlebagger, die sich wie gepanzerte Käfer Schaufel um Schaufel ins Erdreich eingraben. Braunkohle ist übrigens unser Katzengold, das hier überall ohne Rücksicht auf Verluste gefördert wird. Sonst hängen wir ja in allem Wichtigen am großen Bruder im Osten.

 

Delitzsch, 22. November 1986

 

Vereidigungstag. Ein Meer grüner Stahlhelme wogte in dicht aufeinanderfolgenden Karrees durch das Spalier der geladenen Gäste — beeindruckend, wenn man nicht an die Köpfe denkt, die darunter schmoren. Schwur und Parademarsch hatten wir tagelang trainiert, Armdurchschlag Höhe Koppelschloß, Übergang in den Stechschritt, zackige Blickwendung auf Höhe der Ehrentribüne. Gern hätte ich die Marschformation durch plötzliche Dribbelschritte in Unordnung gebracht. Dafür wunderbar geeignet sind die Gänge zu den Mahlzeiten. Man kann da Chaos provozieren, und meist werden Unschuldige vom Spieß angeschnauzt. Marschieren wollte ich eigentlich nie, lieber ein Schiffsdeck schrubben auf hoher See.

Nachmittags mit Ines und den Eltern in einer Delitzscher Kneipe. Es war, als hätte ich sie eine Ewigkeit nicht gesehen. Auch kam ich mir in meiner Ausgangs­uniform reichlich lächerlich vor. Sie ist ja schon längst nichts Ehrenvolles mehr.

Auf meine Stube zurückgekehrt war mir so elend wie einem Gefangenen, der sich zu Unrecht eingesperrt sieht. Den Eid hatte ich mechanisch dahergesagt, eigentlich nur bemüht, den Ernst der Sache nicht zu ernst zu nehmen. Die möglichen Konsequenzen dessen, was man da schwört, denkt man lieber nicht zu Ende.

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Delitzsch, 25. November 1986

 

Geputzt wie Frau Schmidt. Gekehrt, gewischt, gebohnert, gekeult und schließlich die Stube als "gereinigt und gelüftet" abgemeldet. Die Armee würde einen guten Rahmen für Hausfrauenkurse abgeben, könnte sicher auch die Mittel dafür verfügbar machen.

Forderte von Zuhause für das Sturmgepäck ein zweites Rasierzeug an, dazu Socken und ein gutes Buch. Lesen ist hier Psycho­hygiene, geistiges Duschen. Dazu gehört auch der Briefkontakt nach Draußen als ein wichtiger Hoffnungs— und Kraftquell. Wie mag das erst im Krieg aussehen? Zur Postausgabe richten sich alle Augen gespannt auf den Stapel, den der Spieß lässig durchgeht. Wenn jemand nicht bedacht ist, tritt er immer etwas betrübt zurück. Man fühlt sich dann noch mehr alleingelassen in seiner kollektiven Isolation.

Am Ende der Appelle gibt es den sonderbaren Befehl: "Auf der Stelle wegtreten". Ein kniffliges Rätsel.

 

Delitzsch, 27. November 1986

 

Die Fahrschule hat begonnen. Heute waren wir zum ersten Mal mit den Böcken im Gelände. Ich saß in einer elenden Karre — Marke LO. Neben den gewaltigen Russenkisten "Kras" und "Ural" und dem tschechischen "Tatra" ein eher zierlicher Blechkasten. An meiner Seite der Fahrlehrer, ein vor Angst schwitzender Feldwebel, der mich von Zeit zu Zeit mit den schönsten Schmähungen bedachte, und dies wohl zurecht, denn ich bin ein wirklich schlechter Kraftfahrer. Wieder mußte ich an Schiffe denken und an ein Soldatsein zur See. Doch wäre da nichts unter vier Jahren gegangen. Hätte man so lange mit Leidenschaft bei der Sache bleiben können? Drake! Ringelnatz! Die unzähligen Piraten auf meinen Kinderseglern mit mehr als fünfzig Kanonen.

Hier gibt es für alles eine Dienstvorschrift, nur nicht für das Verhalten bei Anschiß durch Vorgesetzte. Wohl ist dies so, weil kein Fall und kein Charakter dem anderen gleicht; schwierig also, die Dinge in Formeln und Paragraphen zu fassen. Mit Offizieren verhält es sich nicht anders als mit Hunden: Nicht immer ist der,

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welcher am lautesten bellt, auch der Gefährlichste. Symmetrisches Mitbrüllen kann hier ein mögliches Erfolgsrezept sein. Dem "Sie sind ein Arschloch" oder "Ich lasse sie einsperren" eines mit blutunterlaufenen Augen tobenden Hauptmanns entgegnet man am besten im selben Tonfall mit einem schneidigen "Jawohl, Genosse Hauptmann". Große Leute mit kräftigen Stimmen sind da freilich im Vorteil. Größere Vorsicht hingegen ist bei leisen, zischenden Anklagen geboten. Man kennt Fälle, wo Soldaten für nichts ins Loch müssen.

 

Delitzsch, 30. November 1986

Heute, am ersten Advent, ist es kälter geworden, fast winterlich. Wie sehr ich das neue Jahr herbeisehne.

Letzte Woche war Alarm. Tagelang hatten wir uns darauf vorbereitet. Alles war bekannt, jeder wußte Bescheid. Dennoch ging es ordentlich durcheinander, als das große Klingeln die Leute aus den Kojen riß. Obwohl ich schon lange wachgelegen hatte, blieb ich im Moment der Alarmierung wie gelähmt. Unter dem Spott der Stubenälteren und dem ungeduldigen Kommandieren des Leutnants wollte kein Handgriff glücken. Als ich schließlich schweißgebadet auf dem Kompanieflur stand, schnürte mir das Koppel die Luft ab. Der Tragegurt hatte sich mehrfach verwickelt, und das Sturmgepäck hing irgendwo in Höhe der Kniekehlen. Geradestehen konnte ich nicht, mußte sogar fürchten, jeden Augenblick nach hinten umzukippen. Besonders brenzlig wurde es, als der Leutnant beim Abschreiten der Front den Sitz meines in der Eile nur provisorisch übergestülpten Stahlhelmes korrigierte. Ein geflügeltes Wort hier: "Ehe wir aus der Knete kommen, verteilt der Ami längst Kaugummi." Das ganze Theater scheint völlig absurd, doch es fußt auf einer einfachen Logik: Man glaubt zu wissen, was richtig und falsch, wer gut und wer böse ist.

Begann mit Zweigs "Joseph Fouche", dem großen Durchschlängler, der den Tyrannen nichts tat, sich selbst aber auch nichts tun ließ. Ein anderer dieses Schlages war Hofmaler David. Erst ließ er sich vom König bezahlen, dann stimmte er für dessen Hinrichtung.

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Delitzsch, 5. Dezember 1986

Gestern großer Kilometermarsch für uns Fahrschüler. Unsichere Zeit für Dörfer und Ortschaften um Delitzsch. Der befehlshabende Oberstleutnant kündigte am Morgen eine gefechtsnahe Kolonnenfahrt an. Hier und da fielen Mülltonnen und Straßenschilder. Im Gelände hoben wir Schützenmulden aus, um feindliche Angriffe abzuschlagen. Später wurden die Fahrzeuge zum Schutz gegen Luftangriffe abgetarnt. Schließlich mußten wir unter Vollschutz weiterfahren. Flieger von oben, Gas von unten, dazwischen der kontrollierende Hauptmann auf seinem Motorrad. Nachts kampierten wir im Freien. Ich ging noch ein wenig spazieren, ehe ich mich in die Decken wickelte.

Eine erzwungene Kameradschaft, wie die soldatische, hat etwas Fatales: Zwar denkt man auch an Männerbünde von abenteuerlicher Romantik wie aus Zeiten des Deutsch—Französischen Krieges, mehr aber doch an spätere Schicksals­gemeinschaften, aus denen es kein Entrinnen gab, wo nur Tot oder Täterschaft winkten, manchmal sogar beides, wie im Fall der Kamikazepiloten.

Delitzsch, 7. Dezember 1986

Mein Knie macht mir Sorgen. Es taugt über die alltäglichen Belastungen hinaus weder zum Laufen noch zum Fußballspielen. Das gestrige Schwimmen war sehr angenehm. Der Armeesportverein verfügt über gute Anlagen, die man im zivilen Bereich kaum so beieinander findet. Neben Fußballplatz und Aschenbahn stehen Turn- und Schwimmhalle nebst Kraftraum zur Verfügung. Sogar eine Sauna gibt es, die dem gemeinen Mann allerdings versperrt ist. Auch findet sich in der Schwimmhalle ein mächtiger Tauchsimulator für das Training der Panzertruppe. Alles dient der Ausbildung von Unteroffizieren. 

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Erst schärfster Drill macht aus den Schülern hier die Kasernenpolizisten. Wenn man die armen Kerle, von denen später einmal das Gros studieren wird, so beobachtet, fürchtet man um ihre künftigen Untergebenen. Die jetzt erniedrigten und beleidigten Prügelknaben werden dann ebenso ordentlich austeilen. Aber wie sonst kann es auch möglich sein, vor einem Haufen Unwilliger zu bestehen.

Gestern war Besuchertag. Ines mußte lange warten, ehe sie herein durfte. Die Inspektion irgendeines Armeegenerals war schuld daran. Wegen der Sache aufgebracht, fand sie es unerhört, wie das werktätige Volk vor seinen Beschützern kuschen müsse — so ungefähr ihre Worte. Wer den Sozialismus ernst nimmt, wird hier ernsthaft enttäuscht. Mir wurde erst später klar, daß sie für die wenige Zeit bei mir fast acht Stunden auf der Bahn zugebracht hatte. Würde ich solch einen Aufwand betreiben?

Delitzsch, 14. Dezember 1986

Blätterte während des Dienstes im Dietz-Geschichtskalender, den mir Vater geschenkt hat. Er versucht immer, meine Neigungen und Begabungen zu fördern. Leider klappte es mit dem Klavierspiel, daß ihm sehr am Herzen liegt, nicht, aber Schach, Fußball und die guten alten Balladen brachte er mir nahe. Vor der Klavierstunde trafen wir uns immer im Universitätshauptgebäude, wo ich gern durch die Gänge wandelte zwischen den Porträts der alten Rektoren, Männern in dunklen Talaren und weißen, hoch­geschlossenen Stehkragen, immer mit Hut. Sodann Hegel und Lenin, dessen Spitzbart ich gern streichelte, als Büsten. Über dem Eingang zur Aula Marxens berühmter Satz: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern."

Unter dem heutigen Datum finde ich den Hinweis auf Amundsens Südpolbezwingung vor 75 Jahren. Scott kam vier Wochen später an. Er hatte das Duell im Eis verloren. Und wehe ihm: Mit seinen Gefährten erfror er im Schneesturm. Zur Niederlage kam die Vernichtung.

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Unentdecktes gibt es inzwischen immer weniger auf unserem blauen Planeten. Wir arbeiten uns ins Weltall vor, versuchen unseren Fuß auf neues Land zu setzen.

Zur kosmischen Reise:
Universum
Raumschiff durchstößt Atmosphäre.
Dahinter: gähnende Leere.
Doch nein, von Ferne
Leuchten Sterne.
Forschergruppe
Erspäht Sternschnuppe
Und folgt ihr
Bis Viertel vor vier!

Jena, 25. Dezember 1986

Hurra! Ich habe Urlaub. Das Oberkommando Landstreitkräfte hat generös verfügt, daß alle Armeeangehörigen entweder zu Weihnachten oder über den Jahreswechsel nach Hause fahren dürfen — und dies zuwider aller sonst ununterschreitbaren Gefechtsstärken! Hoffentlich merkt's beim Feind keiner.

Den ganzen Tag hatte ich noch Schnee zu schippen. Fast tat ich es mit Leidenschaft, des bevorstehenden Abgangs wegen und weil Schnee überhaupt etwas Göttliches ist. War ich am Ende des mir zugewiesenen Stücks Straße angekommen, fing ich, da der Flockenwirbel gar nicht aufhören wollte, wieder von vorne an. Eine Seelenruhe machte sich breit, die nur durch das Auftauchen höherer Offiziere von Zeit zu Zeit unterbrochen wurde. Dann stand ich Schneeschieber bei Fuß stramm bis das "Weitermachen" ertönte. Das wäre ein sehr erträglicher Winterdienst, auch auf Dauer. Nebenbei könnte man Lieder singen und Schneemänner bauen.

Abends Aufbruch per Bahn in Richtung Heimat. Nach bald zwei Monaten Zwangskasernierung an einem fremden, häßlichen Ort war es zu schön, mit dem Bummelzüglein ins Saaletal einzubiegen. In Camburg, wo der elektrifizierte Streckenabschnitt

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endet, wurden die Lokomotiven gewechselt. Die zwanzig Minuten waren der kürzeste und angenehmste Aufenthalt, den man sich denken kann.

Wie doch Heim und Familie im Fall einer erzwungenen Trennung an Wert gewinnen. Dem Selbstverständlichen, Altgewohnten kommt so jene Bedeutsamkeit zu, die es verdient. Wo Tage einfach abgestrichen werden, das Jetzt bedrückt und nur der Gedanke an die Zukunft befreit, bleibt die Sehnsucht danach das stärkste Gefühl. Ähnlich ging es mir vor Jahren an der Ostsee, wohin ich zu einer Hautkur geschickt worden war. Immerhin hatte ich dort das Skatspiel und meine erste kleine Liebe, ein Mädchen aus der Leipziger Georg-Schuhmann-Straße, kennengelernt. Was werde ich hier lernen?

 

Delitzsch, 30. Dezember 1986

Urlaubsrückkehr. Der Zug nach Berlin war vollgestopft mit Soldaten. Bier und Schnaps flossen in Strömen. Inmitten der grüngrauen Horden hatten die wenigen verängstigten Zivilisten einen schweren Stand. Ich war heilfroh, die Hauptader des zurückflutenden Soldatenstromes in Leipzig verlassen zu können. Die Bahn nach Delitzsch stand schon bereit. Im kalten, dunklen Abteil streckte ich mich aus.

 

Einst kehrte mein Urgroßvater in einem ebensolchen Urlauberzug an die Westfront zurück. Das war im August 1918. In erzgebirgischer Mundart hat er uns über die kuriose Reise folgende Zeilen überliefert:

 

Is Urlauberzügl   (Enne wahre Geschicht')   10. Oktober 1918

Waar draußn in Krieg war, dar kaa mer'sch gelaabn,
wos Schenners als Urlaub, kunnt's do gar net gaabn;
wenn mer wagkam vun Schlammloch, vun Leis und vun Drack,
do war'sch enn, als rutscht e grußer Staa von Harz wag.

Ne Waag von dr Stelling bis hintr zer Küch',
dan is mer geloffn grod als we' mer fliecht.
Un warn's vier bis fünf Stunden, dos war weiter nischt,
de Hauptsach', mer hot wieder mol Urlaub derwischt.

20/21

Dr Spieß in dr Schreibstub', daar gob enn is Gald,
daar gob enn in Fahrschein, dos mer kunnt' in de Walt.
Dr Koch in dr Küch' gob Brot un gob Wurscht,
de Faldflasch voll Benz, 's war meh' als for'n Durscht.  [Schnaps]

Noochert gings haam zer Mutter, dos war enne Fraad,
we' mer aakam gewackelt in faldgraue Klaad.
Die hot enn imarfelt, die schmatzet enn o,  [umarmt]
mer halt' bal vergassen, in Aff ro ze tu.  [Mütze]

Bei dr Mutter gob's Brotn, aah Bemme mit Fett,
is schennste war aber is herrliche Bett;
do kunnt' mer sich streckn, do kunnt' mer sich bieng,
un Eisenbrockn tatn nimmeh' remfliegn.

Un ging's wieder naus, de Schnauz' hatt' mer voll,
ins Elend ins grüße, mer hatt' enne Gall.
Mer klogt sich enanner de Nut gar ze sehr,
ach wenn när do draußn daar Mist alle war.

Dr Krieg is nu alle, ich bie wieder derhaam,
vun den Zeig e Geschichtl will zen Bestn ich gaabn.
E Geschichtl zen Lachn, 's is mier salber passiert,
seid alle ganz ruhig, doß'r kaa Wörtl verliert.

Im August neinznhunnertachzn war ich wieder derhaam,
hatt' vierzn Tog Urlaub un war bei dr Mamm;
un wie's do nu war, dos wißt'r ja schu,
viel Frahd, gut ze Assen, in Bett schiene Ruh.  [deto: viel Freud, gut zu essen, im Bette schöne Ruh]

Un als wieder nausging, dos war e Malör,
de Fraa und de Kinner, die heilten gar sehr;
ich sät: "Macht när sachte, die Sach is net schlimm,
iebersch Gahr. wenn dr Mai kimmt, dann is dr Krieg im!"  [Jahr]

E Landser von Staadl mußt' aah mit mier fort,   [Neustädl, Ortsteil Schneebergs]
nach Leipzich, dr Urlaubszug stand nämlich dort; 
omds sollt' mer schu dort sei, doch derhaam war's su schie,
drem sei mer gefahrn erseht 'ne annern Tog frieh.

Un wie mer hiekame, do war's Zeit,
is Urlauberzügl stand schu zen Ofahrn bereit.
Un haste wos käste, de Baa in de Hand',
e alt's Weib habn mer bal imgerennt.

21/22

Ganz hintn in Wong, do prasseln mer nei,
warn früh, doß mer noch miet fortkomme sei;
is Schennste war aber, dos muß ich eich sogn,
mer hatt'n allaane dan ganzn Wong!

Dr Äff kam nu runner, de Stiefeln derzu,
in de Pantoffeln war's schenner, do hatt' mer meh Ruh;
nort habn mer gepickert, Brot un aah Wurscht,
derzu ne Pfeif Tobak un e wos gegne Durscht.

In Apolda, do blieb unner Zügl weng stieh,
is gibt wos ze Assen, do mußt' ich glei hie.
Mit'n Löffel un Kochgeschirr von Wong huppt' ich ro,
denn wenns wos ze Assen gob, war ich immer fix do.

Zwee Glaas wetter driem, do stand e längs Haus,
do wur' grod verpflegt, dos sog mer grodnaus,
's war'n Landser von vorne, die wollt'n ehaam,
ich dacht' su vor mier, die war'n der wos gaam.

Un aans, zwee, dreie, do war ich schu driem
un tat mit menn Topp ins Heisl neischiem;
is gob grode Nudeln, un Nudeln mei Laabn, e Landser hot mier aah glei enn Haufn voll gaabn.

Bie fix wieder rieber, doch denkt eich dan Schrack,
mei Urlauberzügl, dos fuhr grode wag!
Ich sog grod noch ganz hintn ne letztn Wogn,
un vor Gall und vor Wut, kunnt' ich gar nicht meh' sogn.

Nu stand ich, ich Talgis. off'n Bahnhuf allaa, [Dummkopf]
un wie ich do aussoch, dos hätt'r solln saah:
in dr Drillichgaack, Pantoffeln, de Pfeif in Gesicht,
su gieht's enn Vielfraß, dar gar net soot kriegt.

E Leutnant hot alles durch Zufall gesaah
un hätt' mer vor Wut bal paar neigehaa;
wos wollt'r nu machen, hier kunnt' ich net bleibn,
un'r tat mer enn Fahrschein for'n Schnellzug ausschreün.

Ich ho mich bedankt, war innerlich früh,
ho de Nudeln gassen off dr Bank dann in Ruh.
Mit'n nächstn Schnellzug bie ich glei nochgesuhlt [nachgefahren]
un hatt' in Gotha mei Zügl dann eigehult. 

22/23

Nu kennt'r eich denken, doß gob ja enn Spaß,
mei Landser, dar lacht sich is Hemm klitschenaß,
ar sät bluß: "Unterwaags hatt' mer Nudeln, derzu zweemol Wurscht,
e halb's Brot un e schiens Bierle for'n Durscht!"

Ich war wie bedeppert, guckt' menn Landser grüß aa,
un wollt s gar net glaabn, dos e su wos gaabn kaa;
ich stieg nu ganz klaalaut glei nei ze menn Wogn,
war früh, doß se mer hatt'n noch nischt waaggetrogn.

Ne Kopp hatt' ich voll, ich hatt grod genug,
un viel Wut ieber dan dappischen Urlauberzug.
Dar hielt fei noch manchmol, dos kaa ich eich sogn,
doch su fix huppt' ich net wieder raus, aus menn Wogn.

10. Oktober 1918

Illustration

 

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Delitzsch, 8. Januar 1987

Versetzung in eine Artilleriesicherstellungseinheit. Nun trage ich die rot umrandeten Schulterklappen der Kanoniere. Bemerkte sogleich den schärferen Ton, der hier im Vergleich zur Stabskompanie herrscht. Ein Hauptmann stellte mich scheinbar freundlich zur Rede. Sein Gesicht war aalglatt, sein Lächeln boshaft und giftig.

Im Politunterricht präsentierte ein junger Leutnant unseren Feind, die NATO. An der Karte verortete er Aufmarsch- und Manövergebiete, nannte Truppenstärken und Bewaffnung. Doch fanden seine Ausführungen zur "roll back"-Strategie oder der "fast forward"-Verteidigung des Westens kaum Anklang. So recht bedrohlich wollte das jedenfalls kaum jemandem erscheinen. Der Leutnant wirkte schulmeisterlich, stellte auch Fragen, aber, wie es schien, nicht so sehr der Sache wegen, sondern weil die Leute einzuschlafen drohten. Insgesamt wenig dogmatisch, versuchte er immerhin, sich auch unangenehmen Einwürfen zu stellen. Grabowski: "Sie glauben doch nicht, Genosse Leutnant, daß Deutsche auf Deutsche schießen werden?"

Hier gibt es bequemere und unbequemere Arten, die Zeit zu verbringen. Der politische Unterricht zählt zu den bequemeren. Abschließend noch der Film: Karl Liebknecht.

 

Delitzsch, 12. Januar 1987

Drei Uhr nachts Alarm. Auf ging's zum Gefechtsschießen nach Annaburg, zu einer kleinen Odyssee, wie sich herausstellen sollte.

Bereits kurz hinter Delitzsch blieb mein Schrott-LO mit Motorschaden liegen und mußte abgeschleppt werden; auf eisglatter Straße noch über einhundert Kilometer. Hintendran hing eine Kanone, und auf der Ladefläche bibberte ein Dutzend Schüler, die unbedingt auf den Kriegsspielplatz gebracht werden mußten. Scheppernd und schlingernd tanzte der schwere Werkstatt-Ural vor mir her. Natürlich gab es Rutschpartien, Kollisionen und Beulen, und ich war der Doofe.

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Der Schießplatz glich einer riesigen Eiswüste. Hier und da ragten Attrappen von Häuserfronten und Panzerwagen aus dem zerfurchten Boden auf. An den Rändern umgürtete zunächst zerschlagenes Gehölz, sodann der Hochwald das Terrain. Nach jeder Salve aus den russischen Bertas, Baujahr 1942, ließ sich der Oberstleutnant zu den Einschlägen fahren, um die Treffgenauigkeit der Kanonaden zu prüfen. Im Kommandeursjeep durchquerte er das Trichterfeld und schien wohl Spaß daran zu haben, im Pulverdampf den Krieg zu schnuppern. Hierher Brecht:

Die Kanone ist ein Ding
Darüber denkt man zu gering.
Ein Ding, das immer mit zwei Mann
Einen ganzen Haufen vernichten kann.

Rückwärts vereisten die Frontscheiben meiner wiederum im Schlepp heimwärts rollenden Karre. Wir suchten uns mit Feuer­zeugen zu behelfen, um wenigstens kleine Gucklöcher freizuhalten.

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Delitzsch, 17. Januar 1987

Im Fuhrpark steinhartes Eis gehackt und mit klammen Fingern an den Autos herumgebastelt. Der Leutnant wachte über uns, hatte ständig damit zu tun, Faulenzer aufzuspüren und zur Arbeit zu nötigen. Dabei darf man sich ihn nicht als Vorarbeiter denken, denn er hat von aller Technik hier noch weniger Ahnung als ich. Natürlich wissen das die Experten zu ihren Gunsten auszunutzen. An solchen "Parktagen" versucht jeder, irgendwann ein ruhiges, verstecktes Plätzchen zu finden, einen verborgenen Ort, an dem man seine Ruhe hat. So ist es etwa ein höchst erstrebenswerter Zustand, auf den Ladeflächen der Lkws zwischen Tarnnetzen "abmatten" zu können.

 

Delitzsch, 18. Januar 1987

Wegen der andauernden Kälte ist die halbe Unteroffiziersschule in die Braunkohle abkommandiert. Wir hacken hier noch munter Eis, rechnen aber stündlich mit dem Abmarschbefehl. Unser Noch-hier-Sein verdanken wir allein unserer Dienststellung:

Koch, Heizer und Kraftfahrer sind, wie die Kapelle auf dem sinkenden Schiff, bis zuletzt gefragt. Wer würde die Obersten sonst bekochen, ihnen die Dienstzimmer warm halten, sie chauffieren? Jeden Tag werden unsere hohen Herrn in Wartburgs hin- und hergefahren, der Chef sogar im Lada. Ihre Fahrer haben noch etwas von den alten Leibburschen und stehen in einem sehr persönlichem Verhältnis zu ihren Vorgesetzten. Beim Rest sind sie hoch angesehen. Von sonstigen Aufgaben bleiben sie in der Regel verschont, müssen eben nur ständig abrufbereit sein.

Trotz aller Beschäftigungstherapie lähmt hier die große Langeweile Geist und Glieder. Wer nicht aufpaßt, verblödet oder ersäuft sein Unbehagen im Schnaps. Man kann es mit eingeschmuggeltem Alkohol bei den Stubenälteren übrigens zu einigem Ansehen bringen. Das Risiko, erwischt zu werden, ist dabei nicht gering.

Gestern bekam ich die letzte der vielen Spritzen ins Knie, die mir zum Knorpelaufbau seit November verabreicht worden waren. Die Wirkung, so der hiesige Militärarzt, soll erst in einigen Monaten spürbar werden. Ich bin also guter Hoffnung.

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Delitzsch, 20. Januar 1987

Munitionswache bei immer noch klirrendem Frost. Ich übernahm den Pendelposten, wanderte also mit meiner Flinte zwischen zwei Wachtürmen hin und her. Das war angenehmer, als auf dem Turm stehen zu müssen. Die Kälte vertrieb ich mit gymnastischen Übungen, die Müdigkeit mit Gesang, etwa des "Macki Messer" und überhaupt allem, was mir aus Brechts "Dreigroschenoper" in den Sinn kam. Man laufe dem Glück nicht hinterher, denn es verfolgt einen ja selbst! 

Während ich die "Unzulänglichkeit menschlichen Planens" besang, hingen tief unterm Himmel neugierig die Sterne. Dann versuchte ich es noch mit dem "Durchs Gebirge durch die Steppe zog unsre kühne Division", jener bewegenden Bürgerkriegshymne der "Partisanen vom Amur", die, wo sie aus den geschulten Kehlen der sowjetischen Militärchöre erklingt, besonders eingeht. 

Crescendo und Diminuendo am Anfang bzw. Ende des Stückes machen dabei den stärksten Eindruck und vermitteln die lebhafte Vorstellung der anmarschierenden und am Hörer vorbeiziehenden Truppe. Mit dem letzten kaum noch vernehmbaren Ton verschwindet sie vor dem geistigen Auge am Horizont. Ein revolutionäres Gefühl entsteht ganz unvermittelt, doch ist, was dem zugrunde liegt, alt: der Schlachtgesang, das Lied des marschierenden Regiments. Gibt es etwas Einprägsameres als durch Musik vermittelte Bilder? Leider kam ich über die erste Strophe und das hin zur "heiß umstrittenen Bastion" nicht hinaus. Bald tauchte auch der diensthabende Offizier auf, ließ sich anrufen und Meldung erstatten. Ich salutierte pflichtgemäß.

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Der Posten

Es wandelt der Posten
Von Westen nach Osten
Auf einer Allee
Durch frischen Schnee.

Hält einsam Wacht
In kalter Nacht,
Vom gelben Mond
Mit Licht belohnt.

Sein Schatten eilt
Ein Stückchen weit
Ihm stumm voran,
Doch stutzt der Mann,
Weil dieser ihm nämlich
So gar nicht ähnlich.

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Delitzsch, 25. Januar 1987

Die "Kontrolle-Landstreitkräfte" steht vor der Tür, besser, sie droht! Straußberger Generale haben sich angemeldet, und ein Zustand absoluter Ordnung soll ihnen präsentiert werden. Vom Oberst bis zum Landser ist alles in Bewegung; es herrscht ein Treiben, wie im Bienenstock. Man stückelt Potemkinsche Dörfer zusammen, übertüncht, verziert, verschleiert, versteckt und beseitigt. Alles ist vorläufig, und mancher scheint sich wie ein Dekorateur im Theater zu fühlen. So kam ein Stabsoffizier auf die fixe Idee, den Sanitärtrakt — bis etwa auf Schulterhöhe — rosarot anzustreichen. Jetzt, wo die Arbeit fast beendet ist, wähnt sich der Eintretende eher in einem Freuden- als in einem Scheißhaus der Nationalen Volksarmee. Varietas delectat. Hoffentlich sehen das die hohen Herren auch so.

Nachdem wir am Nachmittag im Regen Geländer gestrichen haben, wurden bis spät in die Nacht Waffen und Schutzanzüge gereinigt. Die Maschinenpistole Marke "Kalaschnikow" zeichnet eine zweckmäßige und überschaubare Mechanik aus, so daß die Sache zwar langwierig aber machbar ist. Waffen müssen überhaupt einfach zu handhaben sein, denn auch das einfachste Gemüt kann Scharfschütze sein. Dementsprechend groß sind die Gefahren, wo freier Zugriff herrscht. Faustregel beim Putzen hier: Niemals zu früh fertig sein. Anders liegt die Sache bei Gasmasken und Schutzanzügen. Da offenbaren sich unglaubliche Abgründe des Schmutzes. Will der Putzende in alle Ritzen und Spalten vordringen, muß er bald die Aussichtslosigkeit seines Tuns anerkennen. Ist dazu beim diensthabenden Unteroffizier noch ein Zug zur Reinheit bis ins letzte Detail ausgeprägt, wird die Lage hoffnungslos. Man putzt auf verlorenem Posten. Denn natürlich: Wo ein Wille ist, ist auch Dreck. Glücklicherweise erlahmt auch die Willenskraft des Eifrigsten irgendwann.

 

Delitzsch, 29. Januar 1987

Exerziertraining. Der Leutnant legte auch mitten im dicksten Schneefall großen Wert auf exakte Marsch- und Wendemanöver.

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Nach zwei Stunden Kreuzen und Queren des in Weiß noch weiträumiger wirkenden Exerzierplatzes hatte sich die Hälfte der Leute marschunfähig getrampelt. Mancher simulierte so offensichtlich, daß es fast schon peinlich wurde.

Der gemeine Soldat riecht jede Schwäche des Vorgesetzten. Der Leutnant merkte wohl, daß man ihn zum Narren machte, aber der lamentierende Ton seiner Befehle flößte den Leuten keinen Respekt ein. Er bleibt eben eine lächerliche Führerfigur, die zwischen Oben und Unten in der Klemme steckt. Seine Autorität wird dabei zuerst von Vorgesetzten untergraben, die ihn von Zeit zu Zeit, manchmal sogar — was pädagogisch sehr unklug ist — vor den Augen der Truppe maßregeln und der Unfähigkeit bezichtigen. Dann steht er wehrlos wie ein getretener Hund, gescholten und der Lächerlichkeit preisgegeben. Fehlender Machtinstinkt könnte sich in Konfliktsituationen übrigens schwer rächen. Im Falle einer Rebellion gegen die Offiziere wäre er für sie jedenfalls keine sichere Bank.

Im Medizinstützpunkt sagte er einmal zu mir, er leide gern für die große Sache. Man müsse sich eben in Dienst stellen und aufopfern. Das klang fast religiös. Wenn die Stabsoffiziere nach ihm brüllen, geht ein Ruck durch seinen schlaffen, immer leicht gebeugten Körper. Sein Beispiel widerlegt die These, daß, wer gehorchen auch befehlen könne.

Natürlich finden sich stattlichere Erscheinungen: Ein schneidiger, schlanker Major fiel mir hier öfter auf. Sein fein geschnittenes Gesicht und sein gerader Gang haben nichts vom dümmlichen Hochmut der Quotenabiturienten, die ihre höhere Halbbildung der 25jährigen Verpflichtung verdanken. Wenn solcher Offiziersschlag die Brust in Uniform wirft, ist das höchstens kurios, aber nicht respektabel.

Gestern kam per Päckchen ein kleines Büchlein von Anke hier an: Das Haus in der Karpfengasse. Ich freute mich, daß draußen jemand an mich denkt.

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Delitzsch, 31. Januar 1987

Auf Feuerwache. Saß mit meinem dicken Feuerwächtergürtel am Eingang des Fuhrparks und wartete darauf, daß es brennt. Da es hier aber nie brennt, waren wir außer Dienst. Es blieb also viel Zeit, Briefe zu schreiben und zu lesen. Auch leistete das kleine, viel benutzte Steckschachspiel des Vaters gute Dienste, ein Ding übrigens, dem man seinen Gebrauchswert ansieht: Zwei Springer sind schon kopflos, und ein Turm, der immer irgendwie ersetzt werden muß, fehlt. Wer denkt nicht an Zweigs "Schachnovelle", wenn er den Ersatz aus Papier zusammenrollt. Die Bauern hingegen, also diejenigen, die im wirklichen Spiel zuallererst geopfert werden, sind noch vollständig versammelt. 

Einmal, Anfang der 60er Jahre, war ein weißer Bauer im bulgarischen Schwarzmeerküstensand verschwunden, nach stundenlangem Suchen aber schließlich glücklich wiedergefunden worden. Vater erzählt die Geschichte immer gern, und es existiert auch ein Bild, das ihn und seine bulgarischen Herausforderer um den Sonnenhut sitzend zeigt, in dem das Spiel gebettet lag.

Zur Feuerwache gehört der "Feuerreiter", jene sagenhafte, dem Sensenmann irgendwie verwandte Figur, die den Brand galoppierend umkreist, wieder und wieder, bis er gelöscht ist. Bei Mörike endet die Gestalt in den Flammen — ein Gerippe, das zu Asche zerfällt. Wenn mir als Kind das Gedicht zu Gehör gebracht wurde, wollte ich die letzte Strophe nie hören.

Begann mit dem "Haus in der Karpfengasse". Bengavriel, ein Jude, erzählt die Geschichten von Bewohnern eines Prager Mietshauses, Geschichten von Menschen, die der faschistischen Gewaltherrschaft zum Opfer fielen. Einfache Leute trafen sich in der Karpfengasse, lernten sich kennen, halfen sich. Es waren keine Helden und schon gar keine Widerstandskämpfer. Die Katastrophe kam nicht über Nacht, sondern leise, dann allerdings mit Gebrüll. 

Mir gefiel das kleine Lied, das im Hause angestimmt wurde:

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