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Kapitel 10 Taxacher-2010 Schlusskapitel
Apokalyptische Vernunft.
Theologie und Geschichte heute
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Welche Konsequenzen sollte die Theologie des 21. Jahrhunderts aus unserem Gang durch die Geschichte der apokalyptischen Vernunft - der sicher skizzenhaft geblieben ist - ziehen? Diese Frage möchte ich im Schlusskapitel beantworten, persönlich, thesenhaft. Kein akademisches, theologisches Arbeitsprogramm habe ich zu bieten, sondern einen Standpunkt und einige Linien, die sich von ihm aus postulatorisch ausziehen lassen. Nach dem überwiegend historisch-interpretatorisch orientierten Gang dieses Buches soll am Schluss „stracks nach Jerusalem" geredet werden, wie Karl Barth es von Theologen forderte.
Keine anachronistische Theologie
Dabei wird gerade dieser energische Schwenk vom Historischen zum „Systematischen" manchem problematisch erscheinen. Ist es heute, in einer als postmodern gekennzeichneten geistes- und kulturgeschichtlichen Situation, nach Aufklärung und Historismus, im Zeitalter der entfalteten pluralistischen empirischen Wissenschaftlichkeit überhaupt möglich, an die biblische apokalyptische Vernunft anzuknüpfen, aus ihrer Geschichte einen eigenen Standpunkt abzuleiten? Und wenn überhaupt, wäre das nicht erst vertretbar nach einer vorsichtigen und komplexen methodologischen und hermeneutischen Reflexion, durch deren Filter gesiebt dann in der systematischen Theologie ankommen würde, was in ihr heute noch an apokalyptischer Vernunft sinnvoll integriert und angewendet werden kann?
Dieser Zweifel richtet sich gegen die beiden Komponenten im Begriff des Apokalyptischen, die ich schon in Kapitel 1 unterschieden und aufeinander bezogen habe: Einem (nach-)modernen Denken muss sowohl die Orientierung der Vernunft an einer ihr vorgängigen göttlichen Offenbarung als auch ein es durchgängig steuerndes Gefälle zu einer erwarteten eschatologischen Vollendung, zum Ende der Geschichte hin, also ihre Selbst-Situierung in einer noch andauernden Endzeit, problematisch erscheinen. Denn durch beide Seiten dieser apokalyptischen Grundierung scheint sie aus der Kommunizierbarkeit innerhalb einer heute als universal zumindest postulierbaren gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Vernünftigkeit herauszufallen.
Der Einwand ist ernst zu nehmen. Er lässt sich auch nicht leichthin dadurch abweisen, dass man auf den Eigenstand der Theologie insgesamt verweist, der mit der ersten Komponente im Grunde zusammen fällt: Alle - zumindest biblisch orientierte (sowohl jüdische, christliche als auch islamische) - Theologie hängt an der Annahme göttlichen Sprechens, selbst wenn sie - hermeneutisch bewusst um den Graben zwischen göttlichem und menschlichem Sprechen wissend, das im Grunde
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nicht in einer Kategorie des „Sprechens" zusammen gedacht werden kann - mit einer talmudischen Geschichte die Offenbarung Gottes nur im unhörbaren Anfangshauch vor der menschlichen Auslegung, im Aleph vor dem eigenen Text andeutet.
Sicher wird sich jede Theologie in diese Einsamkeit begeben müssen, wenn sie noch etwas anderes sein möchte als die Religionswissenschaft ihrer eigenen Konfession. Sie wird dann zu Recht weiter darauf hinweisen, dass auch eine autonome Vernunft jedenfalls die Möglichkeit eines Sprechens Gottes jenseits aller unserer Sprache offen halten muss, wenn sie nicht selbst dogmatisch, und somit nicht mehr autonom sein will. Ludwig Wittgensteins Satz: „Gott offenbart sich nicht in der Welt"1 ist wahr im Sinne der eigentlich tautologischen Feststellung, dass wir in menschlicher Sprache immer nur menschliche Sprache finden werden. Als Dekret darüber, dass Offenbarung nicht sei, nicht geschehe, ist er selbst dogmatisch. Mit dieser kritischen Verständigung gegenüber dem Anspruch autonomer Vernunft kann sich die Theologie sozusagen kommunikativ den Rücken frei halten. Die Problematik, im Kommunikationsraum moderner Vernünftigkeit apokalyptische Vernunft zur Sprache zu bringen, wird sie dadurch jedoch nicht los.
Sagen wir es konkret und nehmen wir dieses Konkrete, aber uns als Zeitgenossen Umfassende nicht auf die leichte Schulter: Mit Sätzen, die sich auf Offenbarung berufen, wird in Staaten, in denen ich heute leben möchte, kein Recht begründet und gesetzt. Der ethische Norm-Diskurs unserer Gesellschaften lässt den subjektiven Verweis auf solche Sätze zu, nicht aber die Inanspruchnahme eines höheren Gewichts für sie. In der wissenschaftlichen Argumentation darf Offenbarung als Argument nicht vorkommen.
Philosophen und Theologen dürfen wohl für Offenbarung argumentieren, aber gerade darin ist sie selbst kein Argument, das der Argumentation enthöbe. Politiker dürfen sich christlich nennen, sogar Parteien tun es noch - aber diese Christlichkeit erscheint, wenn sie nicht eher verschämt versteckt wird, als Motivation jenseits des Politischen, nicht als Begründung für einen den anderen überlegenen Durchsetzungsanspruch. Wo das geschähe, würde gerade die Rolle der Religion im politischen Geschehen als Gefahr für die Konstruktion demokratischen Gemeinwesens kritisiert werden. In dieser gesellschaftlichen Situation sind Theologen Zeitgenossen, die, insofern sie faktisch-praktisch, wahrscheinlich aber auch aus Überzeugung, diese Zeitgenossenschaft annehmen, gewissermaßen etwas anderes tun, als wenn sie theologisch sprechen. Was sie in diesem Sprechen unbedingt angeht und verpflichtet, hat diese Unbedingtheit in ihrer Zeitgenossenschaft nicht mehr, und das nicht nur äußerlich, im Sinne eines akzeptierten Zurücksteckens, einer übernommenen Zurückhaltung, sondern als Kennzeichen der eigenen gesellschaftlichen Identität: Wir wollen keinen christlichen Staat mehr, wir können uns eine universale christliche Wissenschaft (z. B. eine christliche Physik) auch selbst nicht mehr denken. Wir sind als Christen und Theologen Mitglieder unterschiedlicher, konkurrierender Parteien. Wir sind in unserer Lebenspraxis und den konkreten, oft ungeschriebenen und unreflektierten Normen, Zeitgenossen der Moderne.
Wittgenstein, Tractatus, Satz 6.432.
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Ich verdeutliche es beispielhaft im Rückgriff auf eine wichtige Station der Entstehung apokalyptischer Vernunft: Die deuteronomistische Geschichtskritik an Israel argumentierte aus der Inspiration durch prophetische Gottesoffenbarung heraus, von der her prophetische Theologie Konsequenzen für die gesellschaftliche Verfasstheit und das politische Verhalten Israels zog. Prophetische Qualifikation der Gegenwart, kritische Geschichtstheologie und Tora, Weisung, gehören in dieser Theologie untrennbar zusammen. Ein Begründungsverweis auf eine abstrakte Of-fenbarungsherkünftigkeit, aus der nichts weiter folgen würde außer einer offenen Argumentationslandschaft mit Gott im Rücken, widerspricht gerade der Eigenart apokalyptischer Vernunft von ihren konstitutiven Anfängen her. Wirklich moderne Theologie funktioniert aber - ob sie es sich schon ganz eingestehen mag oder nicht - ungefähr so.
Damit sind wir schon bei der nicht zerreißbaren Einheit von Offenbarung und Eschatologie in der apokalyptischen Vernunft: Die zweite Seite des Apokalyptischen, ihr Gefälle zur endzeitlichen Bestimmung der Gegenwart, gehört hier zum Sprechen von Gottes Offenbarung her schon unbedingt dazu. Wo Gott unbedingt angeht, ist keine Zeit mehr, ist letzte Zeit. So kann man es „existenzial" auslegen. In einer ganzheitlichen apokalyptischen Vernunft, die Gottes Wille nicht individualisierend und spiritualisierend vom Politischen, Sozialen, Ökonomischen abspalten kann - weil es ein von Gott gewolltes Heil seiner Schöpfung rein individuell und spirituell schlicht nicht gibt! - wird diese existenziale Bestimmung aber sofort auch zu einer geschichts-theologischen: Wo Gottes Wille sich ausspricht, erscheint am Horizont das Ende der Geschichte, wie Menschen sie machen, und dieser Horizont ist universal. Der Widerspruch dieser Geschichte zu Gott ist nicht graduell, nicht tolerierbar, deshalb auch nicht perpetuierbar. Er ist absolut, nicht auszuhalten und deshalb der Keim zum Untergang, zum Ende der Geschichte, soll denn Gott seine Offenbarung überhaupt verifizieren.
So aber denken wir, auch wir modernen Theologen, als Zeitgenossen nicht. Schon das Zeitkonzept apokalyptischer Vernunft ist in unser modernes Wissen nicht einfach zu transformieren: Wir wissen um ein Universum, in dem Zeit und Raum relative Größen sind und nicht ausgeschlossen werden kann, dass selbst die Linearität zwischen Urknall und einem Entropie-Tod unserer Welt umkehrbar ist und in Paralleluniversen schon andauernd umgekehrt wird. Aber auch in unserer kleinen Menschheitsgeschichte wissen wir um die kulturelle Konstruiertheit unseres Konzepts von Geschichte. Und nochmals innerhalb dieses Konzepts, wie es sich als historisches Bewusstsein selbst reflektiert, sehen wir nur die Ausgeliefertheit unserer Selbst an die historische Relativität und keine ihn verifizierenden Taten Gottes -jedenfalls keine, die nicht schon am nächsten Tag durch andere Ereignisse wieder falsifiziert erscheinen. Heute, nach Auschwitz schließlich, erscheint zweifelhaft, ob überhaupt eine Tat Gottes denkbar ist, die diese Falsifikation seines sich durchsetzenden Willens auch nur relativieren, die aller Heilsverheißung beigebrachte tödliche Verwundung heilen könnte.
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Ich hole so weit und so grundsätzlich aus, weil die Unmöglichkeit apokalyptischer Vernünftigkeit im 21. Jahrhundert sonst nur verharmlosend erfasst würde. Fundamentalisten aller Couleur verzweifeln an dieser Grundsätzlichkeit. In ihrer Reaktion reißen sie Apokalyptik und Vernunft auseinander. Sie erheben dann aus ihren Heiligen Schriften die apokalyptische Botschaft für die Gegenwart, so als wären diese Schriften direkt für unsere Zeit geschrieben, so als ließe sich ihre Botschaft ohne reflektierenden Umweg auswerten.
Beobachter sagen häufig, Fundamentalisten würden die Schriften „wörtlich" auslegen. Das stimmt jedoch nicht, denn bei einer wirklich wörtlichen Übernahme der biblischen Aussagen würde man sich andauernd in Widersprüche verwickeln. Die biblischen Schriften, insbesondere ihre Prophetien, sind nicht einheitlich. Fundamentalisten systematisieren und harmonisieren also. Die Gesichtspunkte, unter denen sie das tun, tragen sie von außen an die Schriften heran, nämlich von ihrer Diagnose der Gegenwart her, von ihrer sicher wiederum aus ihrem vorgängigen Glaubenswissen gespeisten Welt-Anschauung. Nur so werden die Schriften auf scheinbar direktem Wege aktuell. Die Direktheit des Weges ist eine Täuschung, die durch Verschweigen der eigenen Hermeneutik entsteht. Das Auslegungsergebnis ist eine Karikatur der biblischen Apokalyptik. Es wird weder dem historischen Sinn der Schriften gerecht, noch lässt es sich in der Moderne argumentativ vermitteln. Es ist im Gegenteil von der modernen Rationalität her leicht zu widerlegen: Seiner Schriftauslegung lassen sich lauter historische und literaturwissenschaftliche Fehlurteile nachweisen, seiner aktuellen Anwendung fehlt die logische Stringenz. Den Fundamentalisten interessiert das jedoch nicht: Er stellt im Gegenzug die gesamte moderne Vernünftigkeit unter das Verdikt der Wider-Göttlichkeit und behauptet den Offenbarungs-Charakter seines Offenbarungs-Konstrukts. Er verdrängt dabei die Einsicht, dass seine eigene Vorgehensweise spezifisch modern ist. Er denkt eben nicht apokalyptisch in einem Umfeld biblischen Zeitgeistes und Weltbildes, er spielt gewissermaßen nur die Zeitgenossenschaft mit den biblischen Autoren. In Wirklichkeit ist er sehr wohl ein Zeitgenosse der Moderne und seine unre-flektierte Hermeneutik ist eine Reaktion auf den unhintergehbaren Pluralismus innerhalb des modernen Autonomie-Paradigmas der Vernunft. Sie ist eine Immunisierungs-Strategie gegen die Moderne, die diese jedoch als ihren Kontext voraussetzt.
Das fundamentalistische Interesse gerade an der Apokalyptik im engeren Sinn hat seinen Grund in deren Welt-Kritik, die ein Modell für die Verweigerung gegenüber der modernen pluralistischen Gesellschaft abgibt. Tatsächlich hat die hellenistische und römische Zivilisation ja Züge einer „antiken Moderne" an sich. Dennoch ist die Gleichsetzung der Zeiten eine optische Täuschung und produziert einen Anachronismus. Die biblischen Apokalyptiker wehrten sich gegen die kritiklose Anpassung an die heidnische Weltlichkeit der Götterkulte und entlarvten den Imperialismus der Großreiche als gegen Gottes Willen gerichteten Machtanspruch und Unterdrückungsapparat. Sicher lassen sich dazu Parallelen in der modernen Welt finden, denen gegenüber die theologische Kritik mit Rückgriff auf die biblischen Quellen legitim, ja geboten ist. Dass sich diese Parallele aber gerade in der Aufklärung als
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solcher, in Rationalität und Humanismus, in Demokratie und Liberalität finden ließe, ist eine ideologische, biblisch nicht begründbare Behauptung. Die geheime Offenbarung sieht das Böse in Rom und in Nero verkörpert, nicht in Sokrates und Seneca. Sie geht auf diese Ebene der Weltanschauungsdiskussion gar nicht ein, denn die ist nicht ihr Problem.
Das fundamentalistische Interesse an der Apokalyptik hat dazu geführt, dass wissenschaftliches und theologisches Interesse an der Apokalyptik in der Moderne sich umgekehrt meist auf den Fundamentalismus richtet. Studien zur Bedeutung der Apokalyptik für unsere Zeit befassen sich meist mit den Sekten und evangelikalen Bewegungen, die uns den nahen Weltuntergang ansagen, insbesondere mit den US-amerikanischen Vertretern, die mit ihrer Botschaft eine starke politische Stellungnahme gegenüber der Politik ihres Landes und dem Nahostkonflikt verbinden.2 So interessant und beunruhigend diese Bewegungen auch sein mögen - die aufs Ganze gesehen doch gesellschaftliche Außenseiter bleiben: Durch diese Fokussierung erscheint Apokalyptik in der Moderne dem wissenschaftlichen Theologen stets als eine Sache der anderen, als befremdliche, schlechte Theologie. Seine Aufgabe besteht dann darin, die Auslegung der biblischen Schriften vor solchen un-hermeneutischen Kurz-Schlüssen zu bewahren und sein Publikum dahingehend zu beruhigen, dass solche Apokalyptik die Sache einer guten Theologie und damit die Sache der Kirchen nicht sein kann.
Durch diese reflexhafte Verknüpfung von Fundamentalismus und Apokalyptik ist die Frage, was die biblische Apokalyptik uns in der Theologie und Christen heute tatsächlich zu sagen hat, weitgehend still gestellt. Meist geht es darum, was die Apokalyptik uns nicht zu sagen hat: dass sie sich eben nicht direkt auf eine moderne Zeitdiagnose übertragen lässt, dass sie keine Rechenaufgabe zur Bestimmung des Weltuntergangs darstellt, dass sie keinen Fahrplan politischer Ereignisse der Zukunft bietet. Das alles ist richtig, führt aber dazu, dass die biblische Apokalyptik mit der anachronistischen Auslegung der Fundamentalisten selbst dem Anachronismus überantwortet wird: eine Botschaft aus ferner Vergangenheit, von der heute vielleicht noch ein paar Grundlinien wichtig bleiben, wie Trost in der Bedrängnis, Hoffnung auf Gerechtigkeit als letzter Wille Gottes. Das kann man sich theologisch allerdings auch wo anders her holen.
Meine Darstellung der Wurzeln biblischer Apokalyptik ist einen anderen Weg gegangen. Ich habe von vorne herein nicht die Apokalyptik als solche zum Thema gemacht, sondern die apokalyptische Vernunft. Das war gegenüber den unbewusst modernen Weichenstellungen der Fundamentalisten eine bewusst moderne Herangehensweise.
Methodisch wurde sie dadurch bestimmt, dass ich die Entstehung und das Geschick apokalyptischer Vernunft anhand der Ergebnisse historisch-kritischer Forschung nachgezeichnet habe. Damit hat sich die Darstellung in den Kontext wissenschaftlicher Kommunikation begeben. Obwohl ich die theologische Perspektive
Vgl. etwa die Beiträge von Heinz-Günther Stobbe und Hans G. Kippenberg in: Schip-per/Plasger, Apokalyptik.
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meiner Arbeit nicht verschwiegen habe, ließe sich die bisherige Rekonstruktion argumentativ auch ohne theologische Vorannahmen nachvollziehen, sozusagen „von außen". Denn ich habe eine Vernunft, die sich von einer angenommenen, übernommenen Offenbarung Gottes aus auf die Geschichte bezieht und diese dadurch in einer eschatologischen Belichtung kritisiert, als ein Phänomen beschrieben, das sich aus Texten herauslösen lässt. Wer dieses Phänomen interpretatorisch richtig gesehen findet, muss deshalb nicht die Offenbarungsherkunft selbst übernehmen. Dass es Prophetie und dass es den Osterglauben gibt, ist ein historisch fassbares Phänomen. Ich habe dessen apokalyptische Dimension (im weiten Sinne des Begriffs) auszuloten versucht, nicht aber den göttlichen Ursprung oder das Os-terereignis selbst zu „beweisen" versucht.
Dieser Weg scheint mir der allein wirklich gangbare, um sowohl der eigenen Zeitgenossenschaft zur Moderne (und nicht etwa einer Art methodischer Rücksicht auf „die Anderen", die Nicht-Glaubenden) und zugleich dem Anspruch der Texte gerecht zu werden, also ohne ihn - in einer schlechten Dogmatik der Vernünftigkeit - allein durch den methodischen Zugriff schon für erledigt zu halten. Wenn die Texte sprechen sollen, darf ich weder mich, meine Vernünftigkeit verleugnen, noch den Anspruch der Texte gleich vor die Klammer der Interpretation setzen und als ausgeklammertes Vorzeichen später ignorieren.
Wenn ich dann als Theologe den Anspruch der Texte für heute reflektiere, habe ich also die Indirektheit des Zugangs schon zugegeben und im Rücken. Ich begegne denkend den Texten so, wie es das moderne historische Bewusstsein tut. Die theologische Herausforderung besteht dann darin, auf diesem Umweg, diesem langen Weg zu zeigen, was diese Texte nicht kurzschlüssig schein-„wörtlich", sondern in der ihr eigenen Vernunft unserer heutigen Vernünftigkeit zu sagen haben. Ich trete als Theologe also in einen Dialog mit den Heiligen Schriften, in einen durch ihren Anspruch an meine Theologie unbedingten Dialog, dessen Unbedingtheit jedoch die Reflexion nicht aufhebt und das Ergebnis deshalb nicht einfach vorwegnehmen kann. Durch meine offene Kommunikation mit den Texten und ihrem „Geist", die ich als Theologe sozusagen öffentlich vorexerziere, wird auch die Kommunikation mit allen ebenso offenen Diskursteilnehmern möglich, mögen sie die theologische Perspektive teilen oder nicht.
Der Theologe ist Vorturner denkenden Glaubens. Er hat nichts zu beweisen, was er sich selber nicht beweisen kann, was auch ihm nur Gott mit seiner eigenen Verifikation beweisen könnte. Er braucht keine Apologetik zu betreiben, mit Argumenten, die nicht die seinen sind, sondern von denen er nur meint, sie könnten die anderen, die kritischen Rationalisten, die Positivisten oder die Konstruktivisten oder wen auch immer überzeugen. Er braucht nur zu zeigen, wie er die alten Texte aufschließt, indem er sich ihnen aussetzt. Er soll darstellen, was sie ihn sehen lehren, welche Deute-Kraft, welch gefährliches kritisches Potenzial in ihnen steckt, wie er in seinem Dialog mit ihnen seine Welt-Anschauung aus dem Mainstream des Denküblichen, des „gesunden Menschenverstandes" heraus steuert, wie er sein Denken radikalisiert im wörtlichen Sinne, nämlich grundiert. Er wird, wenn es gut geht, vorturnen, dass eine am biblischen Offenbarungsanspruch orientierte Vernunft
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so vernünftig und frei sich entfalten kann wie eine moderne autonome Vernunft auch, einschließlich der Kritik von Schein-Autonomien, die ihre spezifische Vernünftigkeit mit den Möglichkeiten menschlicher Vernunft selbst gleichsetzen. Mögen das andere so sehen oder nicht: Er hat nur seine Sache gut zu machen, d. h. nicht unter das ihm mögliche Niveau der Reflexion zu fallen.
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hat meine Darstellung nicht nur eine moderne methodische, sondern eine ebenso moderne inhaltliche Weichenstellung vorgenommen: Ich habe nicht Apokalyptik analysiert, auch nicht ihre Vorgeschichte in Prophetie, Deuteronomistik oder Weisheit, sondern die sie bewegende, sich in ihnen entwickelnde apokalyptische Vernunft. Deshalb standen nicht die einzelnen Botschafts-Inhalte von Prophetenbüchern, Geschichtsdarstellungen und Apokalypsen im Fokus der Darstellung, sondern notwendigerweise etwas abstrakter das Denken vom Verhältnis Gottes zur Geschichte, das sich in diesen Texten ausdrückt und ausbildet.
Aus historischer Perspektive wissen wir, dass die Prophetien sich auf zeitgenössische Gegenwart und nahe Zukunft bezogen. Wir können verfolgen, ob sie sich (oft genug) erfüllten oder ob sie vom Zeitlauf widerlegt wurden. Wir können nachzeichnen, wie beide - die erfüllten und die zunächst widerlegten - Prophetien weiter überliefert und erneut aktualisiert, also erneut auf Gegenwart und Zukunft bezogen wurden. Wir können erkennen, wie die biblische Geschichtsschreibung sozusagen als rückwärtsgewandte Prophetie deren Ansagen in die Kritik der Vergangenheit einschreibt. Wir können analysieren, wie die Apokalyptik als späte Frucht solcher stets erneuerten Anwendung der Prophetie deren universalisierte Radikalisierung versucht, sozusagen ein letztes Wort der Prophetie nach deren schmerzvoll erlebtem Verstummen versucht. Wir können nicht leugnen, dass auch dieser Versuch letzter Worte wieder von der Geschichte überholt wurde und nun die apokalyptische Tradition selbst die Kunst der erneuten Aktualisierung ihrer selbst erlernt. Es ist, als würden die Endzeiten wechseln, während die Endzeit bleibt. Selbst das Christentum mit seinem von der Ostererfahrung her aufbrechenden Anspruch eines endgültigen Messianismus bleibt im Blick auf seine Eschatologie diesen stets erneuerten Geschichtsdeutungen und Apokalypsen nicht enthoben bzw.: Wenn es sich ihnen zu entheben versucht, dann gerät es in die Gefahr, die apokalyptische Vernunft, die Beziehung Gottes zur realen Geschichte selbst aufzugeben und in eine Art Christus-Metaphysik zu mutieren, wogegen sich sofort eine interne Opposition der Wiederentdeckung der Quellen formiert.
Nun kann man sich von diesem Schauspiel kopfschüttelnd abwenden oder aber in ihm gerade die Kraft einer theo-logisch motivierten Welt-Begegnung finden, die es sonst so in anderen Vernünftigkeiten nicht gibt. Damit dies heute möglich ist, genügt jedoch nicht die Wiederholung und Interpretation der biblischen Botschafts-Inhalte, und sei es in exegetisch sauberer Interpretation. Das wäre zu kontingent. Andererseits genügt es aber auch nicht, den biblischen Darstellungen sozusagen im Durchgang zur theologischen Systematik einmal Referenz zu erweisen, um dann aus ihnen nur theologische Grundannahmen abzulösen, die man religionsphiloso-
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phisch auch anders hätte gewinnen können. So ähnlich ist christliche Dogmatik zumindest tendenziell oft verfahren. Aber das ist wiederum zu abstrakt.
Die Rekonstruktion apokalyptischer Vernunft soll ermöglichen, sich dem zu stellen, was die biblische Botschaft bewegt. Der Weg verläuft zunächst historischindirekt, aber er kippt nicht in eine ablösende Abstraktheit ab. Ich bin mir bewusst, dass er eine Art lectio difficilor des Übergangs von biblischer zu systematischer Theologie darstellt: Die Theologie kann in ihr die biblische Konkretion nie in einem abgeschlossenen Vorkapitel hinter sich lassen, sie kann sie aber auch nicht einfach zitierend in Anspruch nehmen. Was sagt der Theologie heute die deuterojesajani-sche Verheißung der Rückkehr der Exilierten ins Gelobte Land und dessen endzeitliche neue Beschaffenheit, wenn ich diese Botschaft weder als symbolische Vorgeschichte des Christus-Ereignisses abbuche, noch sie zum Aufruf des endzeitlichen Weltkrieges für den Staat Israel missbrauche? Die Antwort lässt sich nur finden, wenn ich mich denkerisch an den Strom jener theologischen Geschichtsdeutung anschließe, die Deuterojesaja bewegte und von da aus meine Zeit reflektiere, beides konkret, aber beides dadurch gewissermaßen indirekt, vermittelt. Meine Rekonstruktion apokalyptischer Vernunft konnte darauf bisher nur vorbereiten. Eigentlich Theologie getrieben hat sie also noch nicht.
Apokalyptische Vernunft als Unterscheidung apokalyptischer Geister
Eine der apokalyptischen Vernunft verpflichtete Theologie ist kein perpetuum mobile: Aus Theologie allein, auch aus biblischer Theologie, entsteht keine aktuelle Theologie. Vielmehr muss sie stets bezogen werden auf die Gegenwart, auf die Welt, aus deren theologischer Qualifikation prophetische Theologie entsteht. Es wäre der Ursprungsanalyse apokalyptischer Vernunft also dieser zweite Flügel ihrer aktuellen Situationsanalyse erst hinzuzufügen3, wenn man eine konkrete Theologie im 21. Jahrhundert treiben wollte.
Was im Rahmen dieses Buches noch möglich ist, sind einige skizzenhafte Prole-gomena zu einer solchen Theologie. Sie benennen Leitkriterien, die aus der Analyse apokalyptischer Vernunft gewonnen werden können und die es verdienen, festgehalten zu werden, als unterscheidende Kriterien für eine Theologie, die sich in ihrem Bezug auf die Gegenwart am biblischen Geschichtsdenken orientiert. Diese Kriterien kann man im Blick auf das eben Gesagte heute auch als Unterscheidungskriterien zwischen einer schlechten und einer guten, einer fundamentalistischen und einer hermeneutisch bewussten, einer ideologischen und einer ideologie-kritischen Anwendung apokalyptischer Vernunft (oder eben Unvernunft) betrachten.
Ich hoffe das tatsächlich in einer Art Fortsetzung dieses Buches tun zu können.
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