Die Expertise des Professors Charles Beard
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In seiner Antwort (vom 19. März 1937) an den Sekretär des New Yorker Komitees, Nowak, motiviert Herr Charles Beard seine Weigerung, an der Untersuchungskommission teilzunehmen, mit prinzipiellen Argumenten, die an sich von großem Wert sind, unabhängig von der Frage der Beteiligung oder Nichtbeteiligung des berühmten Historikers an der Untersuchungskommission.
Wir erfahren vor allem, daß Herr Beard »zahlreiche Dokumente, die sich auf die Sache beziehen, einschließlich des offiziellen Berichts über den letzten Moskauer Prozeß sorgfältigst studierte«. Das Gewicht dieser Erklärung seitens eines Gelehrten, der zu gut weiß, was »sorgfältiges Studium« bedeutet, ist ohne viel Worte klar. Herr Charles Beard teilt in sehr zurückhaltender, aber gleichzeitig unzweideutiger Form mit, daß er beim Studium der Frage auf Punkte gestoßen sei, die »auszuschließen« sind.
Vor allem, sagt er, beruht die Anklage gegen Trotzki völlig auf Geständnissen. »Aus langem Studium historischer Probleme weiß ich, daß Geständnisse, sogar wenn sie freiwillig gemacht sind, keinen positiven Beweis darstellen.« Das Wort »sogar« zeigt klar genug, daß die Frage über die Freiwilligkeit der Moskauer Geständnisse dem Gelehrten mindestens zweifelhaft erscheint.
Als Beispiel falscher Selbstbeschuldigungen führt Herr Beard die klassischen Muster der Inquisitionsprozesse an, heben den Offenbarungen finstersten Aberglaubens. Diese Gegenüberstellung, die sich mit den Gedankengängen Friedrich Adlers, des Sekretärs der II. Internationale, deckt, spricht allein für sich. Ferner hält es Herr Beard für richtig, in bezug auf mich die in der amerikanischen Rechtswissenschaft herrschende Regel anzuwenden: der Angeklagte ist als unschuldig befunden, da gegen ihn keine objektiven Beweise angeführt werden, die vernünftigen Zweifeln keinen Platz lassen. Und schließlich, schreibt der Historiker,
»ist es in solchen Fällen fast, wenn nicht völlig, unmöglich, die negative Behauptung zu beweisen, und zwar: daß Trotzki konspirative Verbindungen, deren er beschuldigt wird, nicht eingegangen ist. Es ist natürlich, daß ein alter, in seiner Sache erfahrener Revolutionär, keine kompromittierenden Berichte über solche Operationen aufbewahrt haben würde, wenn er sich damit beschäftigt hätte. Ferner hätte niemand in der Welt nachweisen können, daß er nicht in Konspirationen verwickelt war, wenn er nicht während der ganzen Zeit, auf die sich die Anklage bezieht, unter Bewachung gewesen wäre. Meiner Ansicht nach, fährt der Autor des Briefes fort, ist Herr Trotzki nicht verpflichtet, Unmögliches zu tun, das heißt, eine negative Tatsache durch positive Beweise zu beweisen. Es ist die Pflicht der Ankläger, etwas mehr als Geständnisse zu erbringen, nämlich: sie bekräftigende Beweise spezifischer und klarer Akte.«
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Wie schon gesagt, sind die angeführten Schlußfolgerungen an und für sich sehr wichtig, da sie ein vernichtendes Werturteil über die Moskauer Justiz enthalten. Wenn die durch nichts bekräftigten Geständnisse von zweifelhafter »Freiwilligkeit« nicht genügen, um mich anzuklagen, so genügen sie ebenso wenig für die Anklage gegen alle anderen. Das bedeutet nach Beards Meinung, daß in Moskau Dutzende Unschuldiger erschossen sind, oder solche Personen, deren Schuld nicht bewiesen ist. Die Herren Henker müssen dieses Werturteil hinnehmen, und zwar von einem außerordentlich gewissenhaften Forscher auf Grund »sorgfältigen Studiums« der Frage.
Trotzdem muß ich sagen, daß aus den materiellen Schlußfolgerungen des Herrn Beard sich keinesfalls die formelle Schlußfolgerung ergibt, und zwar: die Ablehnung, an der Untersuchung teilzunehmen. In der Tat: die öffentliche Meinung erwartet vor allem die Lösung des Rätsels — ist die Anklage bewiesen oder nicht bewiesen? Diese Frage will ja in erster Linie auch die Kommission lösen. Herr Beard erklärt: Ich für meinen Teil bin zu dem Schlüsse gelangt, daß die Anklage nicht bewiesen ist, und trete deshalb in die Kommission nicht ein. Mir scheint, eine richtigere Schlußfolgerung wäre gewesen: und trete deshalb in die Kommission ein, um sie von der Richtigkeit meiner Schlußfolgerung zu überzeugen. Es ist doch ganz klar, daß der kollektive Beschluß einer Kommission, die aus Vertretern verschiedener Zweige des öffentlichen Lebens und verschiedener geistiger Waffengattungen besteht, in den Augen der öffentlichen Meinung ein größeres Gewicht hat, als die Meinung einer einzelnen, wenn auch höchst autoritativen Person.
Die Schlußfolgerungen des Herrn Beard sind, trotz all ihrer Wichtigkeit, unvollständig auch in ihrem materiellen Kern. Die Frage besteht gar nicht darin, ob die Anklage gegen mich bewiesen oder nicht bewiesen ist. In Moskau sind Dutzende erschossen. Andere Dutzende warten auf die Erschießung. Hunderte und Tausende sind verdächtig, indirekt beschuldigt, verleumdet, nicht nur in der USSR, sondern in allen Teilen des Erdballs. Und das alles auf Grund von »Geständnissen«, die Herr Beard gezwungen ist, mit den Geständnissen der Inquisitionsopfer zu vergleichen.
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Die Kernfrage muß somit so formuliert werden: von wem, wozu und weshalb werden diese Inquisitionsprozesse und Kreuzzüge der Verleumdung organisiert? Hunderttausende von Menschen in der Welt sind davon unerschütterlich überzeugt und Millionen vermuten es, daß diese Prozesse auf systematischen Fälschungen beruhen, diktiert von bestimmten politischen Zwecken. Eben diese Beschuldigung, die sich gegen die regierende Clique in Moskau richtet, hoffe ich vor der Kommission beweisen zu können. Es geht folglich nicht nur um eine »negative Tatsache«, das heißt darum, daß Trotzki an einer Verschwörung nicht teilgenommen, sondern um eine positive Tatsache, das heißt darum, daß Stalin die in der Weltgeschichte gewaltigste Fälschung organisiert hat.
Aber auch in bezug auf die »negativen Tatsachen« kann ich die zu kategorische Meinung des Herrn Beard nicht akzeptieren. Er vermutet, daß als erfahrener Revolutionär ich keine mich kompromittierenden Dokumente aufbewahrt haben würde. Vollkommen richtig. Aber ich würde auch nicht den Verschwörern Briefe in einer höchst unvorsichtigen und mich am stärksten kompromittierenden Form geschrieben haben. Ich würde nicht ohne jegliche Notwendigkeit mir unbekannte junge Menschen in die geheimsten Pläne einweihen, oder ihnen bei der ersten Zusammenkunft höchst verantwortliche terroristische Aufträge erteilen. Insofern mir Herr Beard Kredit' als Konspirator erweist, kann ich, gestützt auf diesen Kredit, völlig die »Geständnisse« kompromittieren, in denen ich als Operettenverschwörer dargestellt werde, dessen Hauptsorge ist, dem künftigen Staatsanwalt möglichst viel Zeugen gegen mich zu liefern. Dasselbe bezieht sich auch auf die anderen Angeklagten, hauptsächlich auf Sinowjew und Kamenjew. Ohne jegliche Notwendigkeit und ohne jeglichen Sinn erweitern sie den Kreis der Eingeweihten. Ihre zum Himmel schreiende Unvorsichtigkeit trägt einen erfundenen Charakter offen zur Schau. Und trotz alledem besitzt die Anklage nicht einen Beweis. Die ganze Sache ist aufgebaut auf Gesprächen, richtiger auf Erinnerungen an Gespräche. Das Fehlen von Indizien — ich werde nicht müde werden, es zu wiederholen — annulliert nicht nur die Anklage, sondern bildet ein schreckliches Indiz gegen die Ankläger selbst.
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Jedoch habe ich auch direktere und dabei vollständig positive Beweise der »negativen Tatsachen«. Das ist gar nicht so selten in der Justiz. Es ist selbstverständlich schwer zu beweisen, daß ich in den acht Jahren Emigration mit keinem irgendeine geheime Zusammenkunft in Sachen einer Verschwörung gegen die Sowjetmacht gehabt habe. Aber die Frage steht auch gar nicht so. Die wichtigsten Zeugen der Anklage, die auch die Angeklagten sind, müssen nachweisen, wann und wo sie Zusammenkünfte mit mir gehabt haben. In all diesen Fällen kann ich infolge meiner besonderen Lebensweise (Polizeiaufsicht ständige Bewachung durch Freunde, tägliche Post usw.) mit nicht zu erschütternder Sicherheit nachweisen, daß ich zur angegebenen Zeit an dem angegebenen Ort nicht gewesen sein konnte. Einen solchen positiven Beweis einer negativen Tatsache nennt man in der juristischen Sprache ein Alibi.
Es ist ferner ganz unbestreitbar, daß ich in meinen Archiven keine Aufzeichnungen über meine eigenen Verbrechen, wenn ich sie begangen hätte, aufbewahrt haben würde. Aber meine Archive sind für die Untersuchung wichtig, nicht durch das, was sie nicht enthalten, sondern durch das, was sie enthalten. Die positive Kenntnis des täglichen Ganges meiner Gedanken und meiner Handlungen im Laufe von neun Jahren (ein Jahr Verbannung und acht Jahre Landesverweisung) genügen vollkommen, um eine »negative Tatsache« zu beweisen, nämlich, daß ich Handlungen, die meiner Überzeugung, meinen Interessen und meinem ganzen Wesen zuwider sind, nicht begangen haben kann.
Eine »rein juristische« Expertise
Die Agenten der Sowjetregierung geben sich selbst vollkommen darüber Rechenschaft, daß man ohne Bekräftigung der Moskauer Urteile durch irgendwelche autoritäre Expertisen nicht auskommen kann. Zu diesem Zwecke wurde zum ersten Prozeß auf geheime Weise der englische Advokat Pritt eingeladen; zu dem zweiten ein anderer englischer Advokat, Dodley Kollard. In Paris haben drei dunkle, aber der GPU ergebene Advokaten den Versuch unternommen, zum gleichen Zwecke die Firma La Commission Juridique Internationale auszunutzen. Ein in weitesten Kreisen unbekannter französischer Advokat Rosenmark gab nach Übereinkunft mit der Sowjetgesandtschaft und unter Deckung der Liga für Menschenrechte eine ebenso wohlmeinende wie von keiner Sachkenntnis getrübte Expertise ab.
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In Mexiko haben die »Freunde der USSR« nicht zufällig der »Front der sozialistischen Advokaten« vorgeschlagen, eine juristische Untersuchung der Moskauer Prozesse vorzunehmen. Ähnliche Schritte werden jetzt offenbar auch in den Vereinigten Staaten unternommen. Das Moskauer Justizkommissariat hat in fremden Sprachen einen »stenographischen« Bericht über den Prozeß der Siebzehn herausgegeben (Pjatakow, Radek u. a.), um von autoritären Juristen um so leichter Zeugnisse darüber zu erhalten, daß die Opfer der Inquisition erschossen wurden in völliger Übereinstimmung mit den Regeln, die die Inquisitoren aufgestellt haben.
Im wesentlichen ist die Bedeutung einer rein formalen Bestätigung, daß die äußeren Formen und Rituale des Gerichtsverfahrens gewahrt wurden, fast Null. Das Wesentliche besteht in den materiellen Bedingungen der Vorbereitung und der Durchführung der Prozesse. Wenn man aber für einen Moment von den entscheidenden Faktoren, die außerhalb des Gerichtssaales liegen, absieht, muß man auch dann gestehen, daß die Moskauer Prozesse ein direkter Hohn auf den Gedanken der Rechtspflege sind. Die Untersuchung wird im zwanzigsten Jahre der Revolution absolut geheim geführt. Die gesamte alte Generation der Bolschewiki steht vor einem Militärgericht, das aus drei namenlosen Militärbeamten zusammengesetzt ist. Den ganzen Prozeß kommandiert ein Staatsanwalt, der sein ganzes Leben ein politischer Feind der Angeklagten war und blieb. Die Verteidigung ist abgeschafft, dem Prozeßverfahren fehlt jeglicher Widerstreit. Indizien liegen dem Gericht nicht vor; man spricht von ihnen, aber es gibt sie nicht. Zeugen, von denen Staatsanwalt oder Angeklagte sprechen, werden nicht vernommen. Eine ganze Reihe Angeklagter, von denen in der Voruntersuchung die Rede war, fehlt aus unbekannten Gründen auf der Anklagebank. Zwei Hauptangeklagte, die sich im Auslande befinden, sind über das Prozeßverfahren nicht benachrichtigt und besitzen, wie die sich im Ausland befindlichen Zeugen, keine Möglichkeit, irgendwelche Schritte zur Aufklärung der Wahrheit zu unternehmen. Der Gerichtsdialog ist vollkommen auf ein vorher einstudiertes Frage- und Antwortspiel aufgebaut. Der Staatsanwalt stellt keinem einzigen Angeklagten eine konkrete Frage, die ihn eventuell in Verlegenheit bringen und die materielle Unzulänglichkeit seiner Geständnisse enthüllen könnte. Der Vorsitzende deckt ehrfurchtsvoll die Arbeit des Staatsanwalts.
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Gerade der »stenographische« Charakter des Prozeßberichts enthüllt die böswilligen Verschweigungen des Staatsanwalts und der Richter besonders überzeugend. Man muß noch hinzufügen, daß der Bericht in bezug auf Authentizität nicht das geringste Vertrauen einflößt.
So wichtig diese Bedenken an sich auch sind, die ein breites Feld für die juristische Analyse bieten, so haben sie doch zweitrangige und drittrangige Bedeutung, da sie nur die Form der Fälschung, aber nicht ihr Wesen betreffen. Theoretisch kann man sich vorstellen, daß, wenn Stalin, Wyschinski und Jeschow noch fünf oder zehn Jahre die Möglichkeit haben sollten, ungestraft weiter ihre Prozesse zu inszenieren, sie eine solche Höhe der Technik erreichen werden, daß alle Elemente des Gerichtsverfahrens sich in formaler Übereinstimmung zueinander und zu den bestehenden Gesetzen befinden würden. Doch die Vervollkommnung der juristischen Technik der Fälschung würde diese der Wahrheit nicht um einen Millimeter näherbringen.
In einem politischen Prozeß von so außerordentlicher Bedeutung kann der Jurist die politischen Bedingungen, aus denen der Prozeß erwuchs und unter denen die Untersuchung geführt wurde, nicht abstrahieren von — konkret gesprochen — jenem totalitären Druck, dem letzten Endes in gleicher Weise Angeklagte, wie Zeugen, wie Richter und Verteidiger und sogar der Staatsanwalt unterworfen sind. Hier liegt der Kern der Frage! In einem kontrollosen und despotischen Regime, in dem alle ökonomischen, politischen, physischen und moralischen Zwangsmittel in einer Hand konzentriert sind, hört ein Gerichtsverfahren auf, ein Gerichtsverfahren zu sein.
Es handelt sich um eine Prozeßinszenierung mit vorher verteilten Rollen. Die Angeklagten werden auf die Bühne gelassen erst nach einer Reihe von Proben, die dem Regisseur vorher die Sicherheit geben, daß die Angeklagten nicht aus ihren Rollen fallen werden. In diesem Sinne — wie in allen anderen — stellen diese Gerichtsverfahren nur eine Zusammenballung des gesamten politischen Regimes der USSR überhaupt dar. In allen Versammlungen sprechen alle Redner das gleiche, sich dem Hauptredner anpassend, ganz unabhängig davon, was sie selbst noch gestern gesprochen haben. In den Zeitungen kommentieren sämtliche Artikel die gleiche Direktive in den gleichen Ausdrücken.
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Den Bewegungen des Dirigentenstabes folgend, arbeiten Historiker, Wirtschaftler und sogar Statistiker Vergangenheit und Gegenwart um, ohne Rücksicht auf Tatsachen, Dokumente oder sogar auf die vorletzte Ausgabe des eigenen Buches. In den Kindergärten und Schulen rühmen sämtliche Kinder mit den gleichen Worten Wyschinski und verwünschen die Angeklagten. So handelt keiner aus freiem Willen, alle tun sich Gewalt an. Die Einheitlichkeit des Prozesses, in dem die Angeklagten um die Wiederholung der Formeln des Staatsanwalts wetteiferten, ist somit keine Ausnahme von der Regel, sondern nur der abscheulichste Ausdruck des totalitär-inquisitorischen Regimes. Wir haben vor uns nicht eine Gerichtsverhandlung, sondern eine Theatervorstellung, in der die Hauptakteure ihre Rollen vor dem Lauf des Revolvers spielen. Die Vorstellung kann besser oder schlechter ablaufen; das ist eine Frage der Inquisitionstechnik, aber nicht der Rechtspflege. Eine »rein juristische« Expertise beschränkt ihre Aufgabe darauf, festzustellen, ob die Fälschung gut oder schlecht durchgeführt wurde.
Um die Frage greller zu beleuchten, sofern sie überhaupt einer Beleuchtung bedarf, nehmen wir ein frisches Beispiel aus dem Gebiete des Staatsrechts. Nach der Machteroberung erklärte Hitler, entgegen allen Erwartungen, daß er gar nicht die Absicht habe, die Grundgesetze des Staates abzuändern. Die meisten Menschen haben wahrscheinlich vergessen, daß in Deutschland die Weimarer Verfassung noch heute unangetastet besteht: Hitler hat nur in dieses juristische Futteral den Inhalt der totalitären Diktatur hineingetan. Stellen wir uns jetzt einen Experten vor, der sich eine große Brille aufsetzt und bewaffnet mit offiziellen Dokumenten das Staatsregime Deutschlands »von rein juristischem Standpunkte« studieren will. Nach einigen Stunden angespannter geistiger Arbeit wird er entdecken, daß Hitler-Deutschland eine demokratische Republik von reinstem Wasser darstellt (allgemeines Wahlrecht, ein Parlament, das dem Führer Vollmachten bewilligt, Unabhängigkeit der Justiz usw. usw.). Jeder gesund denkende Mensch wird aber ausrufen, daß eine solche juristische »Expertise« im besten Falle ein Ausdruck des »juristischen Kretinismus« ist.
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Die Demokratie beruht auf dem freien Kampf der Klassen, Parteien, Programme, Ideen. Wenn man diesen Kampf erdrosselt, bleibt von der Demokratie leere Spreu, geeignet zum Verdecken einer faschistischen Diktatur. Die moderne Rechtspflege beruht auf dem Kampfe zwischen Anklage und Verteidigung, der in gewisse prozessuale Rahmen eingefügt ist. Wo der Wettstreit zwischen den Parteien mit Hilfe außergerichtlicher Gewalt erdrosselt wird, bilden die prozessualen Rahmen, wie sie auch aussehen mögen, nur einen Schirm für die Inquisition. Die wirkliche Untersuchung der Moskauer Prozesse muß allseitig sein. Sie wird selbstverständlich mich den »stenographischen« Bericht verwerten, aber nicht als Ding an sich, sondern als Bestandteil des gewaltigen historischen Dramas, deren Hauptfaktoren hinter den Kulissen des Prozeßschauspiels bleiben.
Autobiographie
In seiner Anklagerede vom 28. Januar sagte Wyschinski: »Trotzki und die Trotzkisten sind stets eine kapitalistische Agentur in der Arbeiterbewegung gewesen.« Wyschinski entlarvte das Gesicht »des echten, wahren Trotzkismus, dieses alten Feindes der Arbeiter und Bauern, des alten Feindes des Sozialismus, des treuen Dieners des Kapitalismus«. Er schilderte die Geschichte des »Trotzkismus, der mehr als dreißig Jahre seines Daseins darauf verwandte, um letzten Endes seine endgültige Umwandlung in eine Sturmabteilung des Faschismus vorzubereiten, um eine Abteilung der faschistischen Polizei zu werden«.
Während die ausländischen Publizisten der GPU (vom Daily Worker, New-Masses usw.) viel Energie verbrauchen, um mit Hilfe feinster Hypothesen und historischer Analogien zu erklären, auf welche Weise ein revolutionärer Marxist im sechsten Jahrzehnt seines Lebens sich in einen Faschisten verwandeln konnte, geht Wyschinski an die Frage ganz anders heran: Trotzki war stets ein Agent des Kapitals und ein Feind der Arbeiter und Bauern; mehr als dreißig Jahre hat er sich auf die Umwandlung in einen Agenten des Faschismus vorbereitet. Wyschinski sagt das, was die Publizisten von »New-Masses« erst nach einiger Zeit sagen werden. Ich ziehe darum vor, es mit Wyschinski zu tun zu haben. Den kategorischen Behauptungen des Staatsanwalts der UdSSR stelle ich ebenso kategorische Tatsachen meiner Autobiographie entgegen.
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Wyschinski irrt, wenn er von 30 Jahren der Vorbereitung auf den Faschismus spricht. Tatsachen, Arithmetik, Chronologie wie übrigens auch die Logik sind nicht die starke Seite dieser Beschuldigung. In Wirklichkeit waren es im vorigen Monat vierzig Jahre, seit ich ununterbrochen an der Arbeiterbewegung unter dem Banner des Marxismus teilnehme. In meinem 18. Lebensjahr organisierte ich in Nikolajew illegal den »Süd-Russischen Arbeiterbund«, dem mehr als 200 Arbeiter angehörten. Ich gab die revolutionäre Zeitung »Nasche Djelo« mittels Hektograph vervielfältigt heraus. Während meiner ersten Verbannung nach Sibirien (1900-1903) war ich der Mitbegründer des sibirischen »Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse«. Nach der Flucht ins Ausland schloß ich mich der sozialdemokratischen Organisation »Iskra« an, an deren Spitze Plechanow, Lenin und andere standen. Im Jahre 1905 führte ich die leitende Arbeit im ersten Petersburger Sowjet der Arbeiterdeputierten.
Ich habe viereinhalb Jahre in Gefängnissen zugebracht, war zweimal in sibirischer Verbannung, insgesamt zweieinhalb Jahre, ich floh zweimal aus Sibirien, verbrachte unter dem Zarismus, mit einer Unterbrechung, zwölf Jahre in der Emigration, wurde im Jahre 1915 in Deutschland in meiner Abwesenheit wegen kriegsfeindlicher Tätigkeit zu Gefängnis verurteilt, wurde aus dem gleichen Grunde aus Frankreich ausgewiesen, in Spanien verhaftet, von der englischen Regierung in ein Konzentrationslager in Kanada gesperrt. So erfüllte ich meine Funktion als »Agent des Kapitals«.
Die Erzählungen der Stalinschen Historiker, ich wäre bis zum Jahre 1917 Menschewik gewesen, gehören zu den üblichen Fälschungen. Von dem Augenblick an, wo der Bolschewismus und der Menschewismus sich politisch und organisatorisch getrennt hatten (1904), stand ich formell außerhalb beider Fraktionen; wie aber die drei russischen Revolutionen gezeigt haben, traf sich meine politische Linie, trotz Konflikten und Polemik, in allem wesentlichen mit der Lenins.
Die wichtigste Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Lenin in diesen Jahren war meine Hoffnung, daß man durch eine Vereinigung mit den Menschewiki die Mehrzahl von ihnen zwingen könnte, den revolutionären Weg zu beschreiten. In dieser brennenden Frage hat Lenin völlig recht behalten. Man muß aber sagen, daß im Jahre 1917 die »Vereinigungstendenzen« bei den Bolschewiki sehr stark waren. Am 1. November 1917 sagte Lenin in der Sitzung des Petrograder Parteikomitees: »Trotzki hat schon lange gesagt, daß eine Vereinigung unmöglich ist. Trotzki hat es begriffen, und seitdem gibt es keinen besseren Bolschewiken.«
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Seit Ende 1904 vertrat ich die Ansicht, daß die russische Revolution nur mit der Diktatur des Proletariats enden kann, die wiederum zur sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft führen muß, unter der Voraussetzung einer erfolgreichen Entwicklung der Weltrevolution. Die Minderheit meiner heutigen Gegner hielt diese Perspektive für phantastisch bis zum April 1917, belegte sie feindlich mit dem Namen »Trotzkismus« und stellte ihr das Programm der bürgerlichen demokratischen Republik entgegen. Was die große Mehrzahl der heutigen Bürokratie betrifft, so hat sie sich der Sowjetmacht erst nach der siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges angeschlossen.
In den Jahren meiner Emigration beteiligte ich mich an der Arbeiterbewegung Österreichs, der Schweiz, Frankreichs und der Vereinigten Staaten. Ich denke mit Dankbarkeit daran, daß die Emigration mir die Möglichkeit gab, mich der internationalen Arbeiterklasse näher anzuschließen und den Internationalismus aus einem abstrakten Begriff in eine bewegende Kraft für mein ganzes Leben zu verwandeln.
Während des Krieges war ich zuerst in der Schweiz und dann in Frankreich als Propagandist gegen den Chauvinismus tätig, der die II. Internationale zerfraß. Über zwei Jahre lang gab ich in Paris, unter der Militärzensur, eine russische Tageszeitung heraus im Geiste des revolutionären Internationalismus. Ich war durch meine Arbeit mit den internationalen Elementen Frankreichs eng verbunden, und mit ihren Vertretern nahm ich gemeinsam teil an der internationalen Konferenz in Zimmerwald gegen den Chauvinismus (1915). Die gleiche Arbeit setzte ich fort während der zwei Monate meines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten. Nach meiner Ankunft in Petrograd (5. Mai 1917) aus dem kanadischen Konzentrationslager, wo ich unter den gefangenen deutschen Matrosen die Ideen Liebknechts und Rosa Luxemburgs propagierte, nahm ich unmittelbarsten Anteil an der Vorbereitung und Organisierung der Oktoberrevolution, besonders während der vier entscheidenden Monate, als Lenin gezwungen war, sich in Finnland versteckt zu halten. Im Jahre 1918 mußte Stalin in einem Artikel, der die Aufgabe hatte, meine Rolle in der Oktoberrevolution zu begrenzen, schreiben:
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»Die gesamte Arbeit der praktischen Organisierung des Aufstandes wurde vollbracht unter unmittelbarer Leitung des Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, Trotzki. Man kann mit Bestimmtheit behaupten, daß die Partei den schnellen Übertritt der Garnison auf die Seite der Sowjets und die geschickte Organisierung der Arbeit des Revolutionären Kriegskomitees vor allem und hauptsächlich dem Genossen Trotzki verdankt.« (»Prawda«, Nr. 241, 6. Nov. 1918.) Das hinderte Stalin nicht, sechs Jahre später zu schreiben: »Keine besondere Rolle, weder in der Partei noch beim Oktoberaufstand, hat Trotzki, ein für die Periode des Oktober für unsere Partei verhältnismäßig neuer Mann, gespielt und spielen können.« (Stalin, »Trotzkismus oder Leninismus«, S. 68-69.)
Gegenwärtig hält es Stalins Schule mit Hilfe der ihr eigenen wissenschaftlichen Methoden, nach denen Gericht und Staatsanwaltschaft erzogen werden, für bewiesen, daß ich die Oktoberrevolution nicht geleitet, sondern ihr entgegengewirkt habe. Jedoch beziehen sich diese historischen Fälschungen nicht auf meine Autobiographie, sondern auf Stalins Biographie.
Nach der Oktoberumwälzung stand ich neun Jahre an der Macht, nahm unmittelbar Anteil am Aufbau des Sowjetstaates, der revolutionären Diplomatie, der Roten Armee, der wirtschaftlichen Organisationen und der Kommunistischen Internationale. Drei Jahre lang habe ich unmittelbar den Bürgerkrieg geleitet. In dieser harten Arbeit war ich gezwungen, zu entscheidenden Maßnahmen zu greifen. Ich trage dafür die volle Verantwortung vor der internationalen Arbeiterklasse und vor der Geschichte. Die Rechtfertigung der harten Maßnahmen beruht auf ihrer historischen Notwendigkeit und Fortschrittlichkeit, auf ihrer Übereinstimmung mit den grundlegenden Interessen der Arbeiterklasse. Jede Repressivmaßnahme, die der Bürgerkrieg diktierte, habe ich bei ihrem richtigen Namen genannt und über sie offen Bericht erstattet vor den werktätigen Massen. Ich hatte vor dem Volke nichts zu verbergen, wie ich jetzt vor einer Untersuchungskommission nichts zu verbergen habe.
Als in einem bestimmten Teil der Partei, nicht ohne versteckte Treibereien Stalins, eine Opposition gegen meine Methoden der Bürgerkriegsführung entstanden war, händigte mir Lenin aus eigener Initiative und ganz unerwartet für mich im Juli 1919 einen weißen Bogen Papier aus, auf dem unten geschrieben war:
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»Genossen, ich kenne den strengen Charakter der Verfügungen des Genossen Trotzki und bin so tief überzeugt, in so vollkommenem Maße überzeugt von der Richtigkeit, Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der von Genossen Trotzki im Interesse der Sache erteilten Verfügung, daß ich die erteilte Verfügung voll und ganz unterstütze. W. Uljanow (Lenin)«.
Ein Datum trug das Papier nicht. Das Datum sollte ich im Bedarfsfalle selbst hinschreiben. Lenins Behutsamkeit in allem, was die Werktätigen betraf, ist bekannt. Nichtsdestoweniger schwankte er nicht, von vornherein jeden meiner Befehle zu unterschreiben, obwohl von diesen Befehlen häufig das Schicksal vieler Menschen abhing. Lenin befürchtete einen Mißbrauch der Macht meinerseits nicht. Ich will noch hinzufügen, daß ich von der mir von Lenin erteilten carte blanche kein einziges Mal Gebrauch gemacht habe. Doch bleibt das Dokument ein Zeugnis des außerordentlichen Vertrauens seitens des Menschen, den ich für das höchste Muster der revolutionären Moral halte.
Ich beteiligte mich unmittelbar an der Ausarbeitung von Programmdokumenten und taktischen Thesen der III. Internationale. Auf Kongressen wurden die Hauptreferate über die Weltlage zwischen mir und Lenin geteilt. Die Programm-Manifeste der ersten fünf Kongresse sind von mir geschrieben. Ich überlasse es den Staatsanwälten Stalins, aufzuklären, welchen Platz diese Tätigkeit auf meinem Wege zum Faschismus einnahm. Was mich betrifft, so stehe ich auch heute unerschütterlich auf dem Boden jener Prinzipien, die ich, Hand in Hand mit Lenin, als Grundlage der Kommunistischen Internationale aufgestellt habe.
Ich trennte mich von der regierenden Bürokratie, nachdem sie, kraft besonderer historischer Ursachen, von denen zu sprechen hier nicht der Platz ist, sich zu einer privilegierten konservativen Kaste herausgebildet hatte. Die Gründe der Trennung fanden an allen Etappen ihren Ausdruck in offiziellen Dokumenten, Artikeln und Büchern, die der allgemeinen Nachprüfung zugänglich sind.
Ich verteidigte die Sowjetdemokratie gegen den bürokratischen Absolutismus; die Hebung des Lebensniveaus der Massen gegen die maßlosen Privilegien der Spitzen; die systematische Industrialisierung und Kollektivisierung im Interesse der Werktätigen und schließlich die internationale Politik im Geiste des revolutionären Internationalismus gegen den nationalen Konservatismus.
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In meinem letzten Buche »Verratene Revolution« habe ich den Versuch unternommen, theoretisch zu erklären, weshalb der isolierte Sowjetstaat auf der rückständigen ökonomischen Basis die ungeheuerliche Bürokratie-Pyramide ausgesondert hat, die fast automatisch von einem unkontrollierten und »unfehlbaren« Führer gekrönt wurde.
Nachdem sie die Partei mit Hilfe des Polizeiapparates erdrosselt und die Opposition zerschlagen hatte, verbannte mich die regierende Clique Anfang 1938 nach Zentralasien. Für die Weigerung, die politische Tätigkeit in der Verbannung einzustellen, vertrieb sie mich Anfang 1939 in die Türkei. Hier ging ich an die Herausgabe des »Bulletin der Opposition« heran, auf der Basis des selben Programms, das ich in Rußland verteidigt hatte, und trat in Verbindung mit dem damals noch sehr kleinen Kreis meiner Gesinnungsgenossen in der ganzen Welt.
Am so. Februar 1933 bürgerte die Sowjetbürokratie mich und meine im Auslande befindlichen Familienglieder aus. Meine Tochter Sinaida, die sich vorübergehend zur Kur im Auslande aufhielt, wurde auf diese Weise der Möglichkeit beraubt, in die US SR, zu ihrem Manne und ihren Kindern zurückzukehren. Sie beging Selbstmord am 5. Januar 1933.
Nach der Berechnung meiner jungen Mitarbeiter, die mir bei meiner gesamten Arbeit einen aufopfernden und unersetzlichen Dienst erwiesen haben und erweisen, habe ich im Auslande etwa fünftausend gedruckte Seiten geschrieben, von den Artikeln und Briefen abgesehen, die wohl noch einige tausend Seiten betragen dürften. Ich erlaube mir zu bemerken, daß ich keinesfalls leicht schreibe, sondern mit vielen Nachprüfungen und Korrekturen. Meine literarische Arbeit und meine Korrespondenz bildeten somit in den letzten neun Jahren den Hauptinhalt meines Lebens. Die politische Richtung meiner Bücher, Artikel und Briefe spricht für sich selbst. Zitate, die Wyschinski aus meinen Arbeiten anführt, sind, wie ich nachweisen werde, grobe Falsifikationen, das heißt ein unentbehrliches Element der ganzen Prozeßfälschung.
Während der Zeit von 1933 bis 1933 stand ich in bezug auf den Sowjetstaat, seine regierende Partei und die Komintern auf dem Standpunkt, der sich lapidar mit den Worten ausdrücken läßt: Reform und nicht Revolution. Diese Position lebte von der Hoffnung, daß die linke Opposition unter einer günstigen Entwicklung in Europa imstande sein werde, die bolschewistische Partei auf friedlichem Wege wieder aufleben zu lassen, den Sowjetstaat demokratisch umzubilden und die Komintern auf den Weg des Marxismus zurückzuführen.
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Erst Hitlers Sieg, vorbereitet durch die katastrophale Politik des Kremls, und die völlige Unfähigkeit der Komintern, aus der tragischen Erfahrung Deutschlands Lehren zu ziehen, haben mich und meine Gesinnungsgenossen davon überzeugt, daß die alte bolschewistische Partei und die III. Internationale für die Sache des Sozialismus endgültig verloren sind. Damit verschwand der einzige legale Hebel, mit dessen Hilfe man auf eine friedliche demokratische Reform des Sowjetstaates hoffen konnte. Seit der zweiten Hälfte 1933 komme ich immer entschiedener zu der Überzeugung, daß zur Befreiung der werktätigen Massen der USSR und der durch die Oktoberrevolution fundamentierten sozialen Grundlagen von der neuen parasitären Kaste eine politische Revolution historisch unvermeidlich ist. Es ist vollkommen natürlich, daß ein Problem von so gewaltiger Bedeutung einen leidenschaftlichen geistigen Kampf im internationalen Maßstabe hervorgerufen hat.
Die politische Entartung der Komintern, total versklavt durch die Sowjetbürokratie, hat zur Notwendigkeit geführt, die Parole der IV. Internationale aufzustellen und Grundlagen für ihr Programm auszuarbeiten. Meine sich darauf beziehenden Bücher, Artikel, Diskussionen usw. sind der beste Beweis dafür, daß es sich nicht um »Maskierung«, sondern um einen intensiven und leidenschaftlichen geistigen Kampf auf der Grundlage der Traditionen der ersten Kongresse der Kommunistischen Internationale handelt.
Ich stand die ganze Zeit in Korrespondenz mit Dutzenden alter und Hunderten junger Freunde in allen Weltteilen und kann mit Bestimmtheit und mit Stolz sagen, daß gerade aus dieser Jugend zuverlässige und feste proletarische Kämpfer der beginnenden neuen Epoche hervorgehen werden.
Die Preisgabe der Hoffnung auf eine friedliche Reform des Sowjetstaates bedeutet aber nicht die Preisgabe der Verteidigung des Sowjetstaates. Wie das gerade jetzt in New York erschienene Sammelwerk meiner Artikel aus den letzten zehn Jahren beweist (»In Defense of the Soviet Union«), habe ich unablässig und unversöhnlich gegen alle Schwankungen in der Frage der Verteidigung der Sowjetunion gekämpft. Ich habe wiederholt wegen dieser Frage mit Freunden gebrochen.
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In meinem Buche »Verratene Revolution« habe ich theoretisch den Gedanken begründet, daß der Krieg nicht nur die Bürokratie der Sowjetunion bedrohen würde, sondern auch die neuen sozialen Grundlagen der US SR, die einen gewaltigen Schritt vorwärts in der Menschheitsentwicklung bedeuten.
Daher ergibt sich für jeden Revolutionär die unbedingte Pflicht zur Verteidigung der USSR gegen den Imperialismus, ungeachtet der Sowjetbürokratie.
Meine Arbeiten aus der gleichen Periode geben ein fehlerloses Bild meiner Stellung zum Faschismus. Seit dem Beginn meiner Emigration schlug ich Alarm anläßlich der zunehmenden faschistischen Welle in Deutschland. Die Komintern beschuldigte mich der »Überschätzung« des Faschismus und der »Panik« vor ihm. Ich habe die Einheitsfront aller Arbeiterorganisationen gefordert. Die Komintern hat dem die sinnlose Theorie vom »Sozialfaschismus« gegenübergestellt. Ich habe eine systematische Organisierung von Arbeitermilizen gefordert. Die Komintern stellte dem prahlerisch künftige Siege gegenüber. Ich wies nach, daß die USSR im Falle eines Sieges des Hitler sich als höchst bedroht erweisen würde. Der bekannte Schriftsteller Ossietzky druckte und kommentierte meine Artikel mit großer Sympathie in seiner Zeitschrift.
Es half nichts. Die Sowjetbürokratie hat die Autorität der Oktoberrevolution usurpiert, nur um sie in ein Hindernis für den Sieg der Revolution in anderen Ländern zu verwandeln. Ohne die Politik Stalins gäbe es nicht den Sieg Hitlers! Die Moskauer Prozesse sind sogar in hohem Maße aus dem Bedürfnis des Kremls entstanden, die Welt seine verbrecherische Politik in Deutschland vergessen zu machen. Wenn man beweist, daß Trotzki ein Agent des Faschismus ist, wer wird da noch über Programm und Taktik der IV. Internationale nachdenken? Das war Stalins Kalkulation.
Es ist zur Genüge bekannt, daß während des Krieges jeder Internationalist als Agent einer feindlichen Regierung erklärt wurde. So war es in Deutschland mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Otto Rühle und den anderen, mit den französischen Freunden (Monatte, Rosmer, Loriot u. a.), mit Eugen Debbs usw. in den Vereinigten Staaten, schließlich mit Lenin und mir in Rußland.
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Die britische Regierung steckte mich im März 1917 ins Konzentrationslager auf Einflüsterung der zaristischen Ochrana, ich beabsichtige im Einvernehmen mit dem deutschen Generalstab die Provisorische Regierung Miljukow-Kerenski zu stürzen. Heute erscheint diese Beschuldigung als ein Plagiat an Stalin und Wyschinski; während in Wirklichkeit Stalin und Wyschinski ein Plagiat an der zaristischen Konterspionage und am britischen Intelligence Service begangen haben.
Am 16. April 1917, als ich zusammen mit deutschen Matrosen im Konzentrationslager saß, schrieb Lenin in der »Prawda«: »Kann man auch nur einen Augenblick den guten Glauben der Nachricht annehmen, daß Trotzki, der ehemalige Vorsitzende des Sowjets der Arbeiterdeputierten in Petersburg von 1905, ein Revolutionär, der Jahrzehnte seines Lebens selbstlos dem Dienste der Revolution gewidmet, hat — daß dieser Mann in Verbindung stehe mit einem Plan, der von der »deutschen Regierung« subsidiert wurde? Das ist doch eine offene, unerhörte und gewissenlose Verleumdung gegen einen Revolutionär!« (»Prawda«, Nr. 34.)
»Wie frisch klingen diese Worte jetzt«, schrieb ich am 21. Oktober 1927, ich wiederhole: 1927!, »in der Epoche der abscheulichen Verleumdungen gegen die Opposition, die sich von den Verleumdungen von 1917 gegen die Bolschewiki in nichts unterscheiden.«
Also vor zehn Jahren, lange vor der Schaffung der »vereinigten« und »parallelen« Zentren und vor dem »Fluge« Pjatakows nach Oslo, erhob bereits Stalin gegen die Opposition alle jene Insinuationen und Verleumdungen, die Wyschinski später in Anklageschriften verwandelte. Wenn jedoch Lenin im Jahre 1917 der Ansicht war, daß meine zwanzigjährige revolutionäre Vergangenheit an sich eine genügende Widerlegung schmutziger Insinuationen ist, so wage ich zu glauben, daß die danach vergangenen weiteren zwanzig Jahre, ihrem Inhalte nach genügend bedeutsame, mir das Recht geben, mich auf meine Autobiographie zu berufen, als auf eines der wichtigsten Argumente gegen die Moskauer Anklageschrift.
Meine »juristische« Lage
Allein schon die Notwendigkeit der »Rechtfertigung« gegen die Beschuldigung eines Bundes mit Hitler und dem Mikado charakterisiert die ganze Tiefe der Reaktion, die heute auf dem größten Teil unseres Planeten und insbesondere in der USSR triumphiert.
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Aber es ist keinem von uns gegeben, historisch bedingte Etappen zu überspringen. Mit höchster Bereitschaft stelle ich meine Zeit und meine Kräfte der Kommission zur Verfügung. Es ist überflüssig zu sagen, daß ich vor ihr keine Geheimnisse habe und keine haben kann. Sie wird selbst imstande sein, die nötige Vorsicht in bezug auf Dritte, insbesondere Bürger der faschistischen Länder und der USSR, zu wahren. Ich bin bereit, auf alle Fragen zu antworten und meine gesamte Korrespondenz, nicht nur die politische, sondern auch die private, der Kommission zur Verfügung zu stellen.
Gleichzeitig erachte ich es als notwendig, im voraus zu sagen, daß ich mich vor der Öffentlichkeit nicht in der Lage eines Angeklagten fühle. Dazu fehlen sogar formelle Gründe. Die Moskauer Regierung hat mich in keinem einzigen Prozeß vor Gericht gezogen. Und das nicht zufällig. Um mich vor Gericht zu stellen, hätte sie mich rechtzeitig vorladen oder meine Auslieferung verlangen müssen. Dazu wäre mindestens notwendig gewesen, den Zeitpunkt des Prozesses und die Anklageschrift einige Wochen vorher zu veröffentlichen. Aber sogar dies konnte Moskau nicht wagen.
Die gesamte Spekulation beruhte darauf, die Öffentlichkeit zu überraschen und nur die Pritts und Durantis als Deuter und Informatoren vorher bereitzuhalten. Meine Auslieferung zu fordern, wäre nicht möglich, ohne die Frage vor einem französischen, norwegischen oder mexikanischen Gericht und unter Kontrolle der Weltpresse aufzurollen. Das aber würde für den Kreml eine bittere Niederlage bedeuten! Deshalb waren beide Prozesse nicht ein Gericht über mich und meinen Sohn, sondern nur Verleumdungen gegen uns mit Hilfe eines Gerichtsprozesses, ohne Benachrichtigung, ohne Vorladung — hinter unserem Rücken.
Das Urteil im letzten Prozeß sagt, daß Trotzki und Sedow »überführt sind — der unmittelbaren Leitung der landesverräterischen Tätigkeit« und »falls sie auf dem Territorium der USSR entdeckt (?) werden, sofort zu verhaften und dem Gericht zu übergeben sind ...« Ich lasse die Frage beiseite, mit Hilfe welcher Technik Stalin hofft, mich und meinen Sohn auf dem Territorium der USSR zu »entdecken«. (Wohl mit derselben, die der GPU die Möglichkeit verschafft hat, in der Nacht auf den 7. November 1936 einen Teil meiner Archive in einem wissenschaftlichen Institut in Paris zu »entdecken« und in sicheren diplomatischen Koffern nach Moskau zu bringen.)
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Es fällt vor allem die Tatsache auf, daß, nachdem das Urteil uns, von keinem Gericht Angeklagten und von keinem Gericht Verhörten, für »überführt« erklärt hat, es gleichzeitig droht, »falls wir entdeckt werden«, uns vor Gericht zu stellen. Somit sind ich und mein Sohn zwar bereits »Überführte«, aber gerichtlich noch nicht Verfolgte. Der Sinn dieser sinnlosen, aber nicht zufälligen Formulierung besteht darin, die GPU mit der Befugnis auszustatten, uns im Falle unserer »Entdeckung« ohne jegliche Gerichtsprozedur zu erschießen; den Luxus einer öffentlichen Verhandlung gegen uns kann sich Stalin sogar in der USSR nicht leisten!
Die zynischsten der Moskauer Agenten, darunter der Sowjetdiplomat Trojänowski, treten mit folgendem Argument auf: »Verbrecher können ihre' Richter nicht selbst wählen.« Im allgemeinen ist dieser Gedanke richtig. Man muß nur vorher bestimmen, auf welcher Seite der Scheidungslinie die Verbrecher sich befinden. Nimmt man an, daß die tatsächlichen Verbrecher die Organisatoren der Moskauer Prozesse sind — und dies ist die Meinung breiter und dauernd wachsender Kreise —, darf man ihnen dann erlauben, in eigener Sache als Richter aufzutreten? Gerade aus diesem Grunde steht die Untersuchungskommission über beiden Parteien.
Drei Kategorien von Beweisen
Das Gebiet, das die Moskauer Prozesse umfassen, ist unermeßlich. Wenn ich mir die Aufgabe gestellt hätte, alle gegen mich gerichteten falschen Behauptungen zu widerlegen, die allein nur in den offiziellen Berichten über die zwei wichtigsten Moskauer Prozesse enthalten sind, ich würde zuviel Zeit in Anspruch nehmen müssen; es genügt, daran zu erinnern, daß mein Name fast auf jeder Seite, und zwar mehr als einmal, figuriert. Ich hoffe, daß ich die Möglichkeit haben werde, mich noch in aller Ausführlichkeit vor der Kommission auszusprechen. Im Augenblick bin ich gezwungen, mir harte Einschränkungen aufzuerlegen. Eine ganze Reihe von Fragen, von denen jede einzeln für die Widerlegung der Beschuldigung von großer Bedeutung ist, muß zwangsweise zurückgestellt werden. Eine Reihe anderer, noch wichtigerer kann ich nur kurz streifen, nur den Gesamtrahmen jener Schlußfolgerungen zeichnen, die ich in Zukunft der Kommission darzulegen hoffe. Ich will nur versuchen, einige Knotenpunkte der Sowjetprozesse, sowohl prinzipiellen wie empirischen Charakters, auszusondern und sie gründlich zu durchleuchten.
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Diese Knotenpunkte lagern in drei Ebenen:
1. Die ausländischen Apologeten der GPU wiederholen monoton das gleiche Argument: Es ist unmöglich, anzunehmen, daß verantwortliche und alte Politiker sich vor Gericht Verbrechen beschuldigen könnten, die sie nicht begangen haben. Diese Herren aber weigern sich beharrlich, das gleiche Kriterium des gesunden Menschenverstandes nicht auf die Geständnisse, sondern auf die Verbrechen selbst anzuwenden. Indes wäre es in diesem zweiten Falle besser am Platze.
Ich gehe davon aus, daß die Angeklagten zurechnungsfähige, das heißt normale Subjekte sind und folglich offensichtlich sinnlose Verbrechen, die sich gegen ihre eigenen Ideen, gegen ihre ganze Vergangenheit und gegen ihre heutigen Interessen richten, nicht begangen haben konnten.
Im Begriff, das Verbrechen zu begehen, verfügte jeder Angeklagte über das, was man vom juristischen Standpunkte aus einen freien Willen nennen kann. Er konnte das Verbrechen begehen und konnte es nicht begehen. Er überlegte, ob das Verbrechen vorteilhaft ist, ob es seinen Zielen entspricht, ob die von ihm geplanten Mittel vernünftig sind usw., kurz, er handelte wie eine freie und zurechnungsfähige Person.
Die Lage verändert sich jedoch radikal, wenn der wirkliche oder angebliche Verbrecher in die Hände der GPU gerät, die aus politischen Gründen um jeden Preis bestimmte Geständnisse erreichen muß. Da hört der »Verbrecher« auf, er selbst zu sein. Nicht er beschließt, sondern man beschließt für ihn.
Es ist deshalb notwendig, ehe man Betrachtungen darüber anstellt, ob die Angeklagten vor Gericht entsprechend den Gesetzen des gesunden Menschenverstandes gehandelt haben, eine andere Frage auf zuwerfen, nämlich: haben die Angeklagten jene unwahrscheinlichen Verbrechen begehen können, die sie bekennen?
War die Ermordung Kirows für die Opposition von Vorteil? Und wenn nicht, war es nicht für die Bürokratie von Vorteil, die Ermordung Kirows um jeden Preis der Opposition zuzuschreiben?
War es für die Opposition von Vorteil, Sabotageakte zu begehen, Bergwerke zu sprengen, Eisenbahnkatastrophen zu organisieren? Und wenn nicht, war es nicht für die Bürokratie von Vorteil, die Verantwortung für Fehler und Katastrophen in der Wirtschaft auf die Opposition abzuwälzen?
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War es für die Opposition von Vorteil, in ein Bündnis mit Hitler und dem Mikado zu treten? Und wenn nicht, war es nicht für die Bürokratie von Vorteil, von der Opposition ein Geständnis zu erreichen, sie sei mit Hitler und dem Mikado im Bunde gewesen?
Qui prodest? Es genügt, klar und deutlich diese Frage zu formulieren, um damit allein die ersten Konturen der Antwort zu unterscheiden.
2. Im letzten wie in allen vorangegangenen Prozessen bilden den einzigen Stützpunkt der Beschuldigungen die Standardmonologe der Angeklagten, die, Gedanken und Ausdrücke des Staatsanwalts wiederholend, sich überbieten in Reuebekenntnissen und mich unvermeidlich als den Hauptorganisator der Verschwörung nennen. Wie ist diese Tatsache zu erklären?
In seiner Anklagerede versuchte Wyschinski diesmal das Fehlen objektiver Beweise mit dem Umstände zu erklären, daß Verschwörer bei sich keine Mitgliedskarten haben, keine Protokolle führen u.a.m. Diese kläglichen Argumente erscheinen doppelt kläglich auf russischem Boden, wo Verschwörungen und Gerichtsprozesse auf eine lange Reihe von Jahrzehnten blicken. Konspiratoren schreiben Briefe allegorisch. Aber diese in Geheimsprache geschriebenen Briefe werden bei Haussuchungen gefunden und bilden ein ernstes Indiz. Verschwörer gebrauchen häufig auch chemische Tinte. Die zaristische Polizei hat solche Briefe hundertemal abgefangen und sie dem Gericht übergeben. In die Mitte der Verschwörer dringen Provokateure ein, die der Polizei konkrete Berichte über den Gang der Verschwörung liefern und dadurch die Möglichkeit schaffen, Dokumente, Laboratorien und die Verschwörer selbst am Tatort zu fassen. Nichts ähnliches finden wir in den Prozessen Stalin-Wyschinski. Trotz der fünfjährigen Dauer der grandiosesten aller Verschwörungen, die Verzweigungen in allen Teilen des Landes hatte, und ihre Verbindungen östlich und westlich der Landesgrenzen, trotz den unzähligen Haussuchungen und Verhaftungen und sogar trotz Raub von Archiven gelang es der GPU nicht, irgendein materielles Beweisstück dem Gericht vorzulegen. Die Angeklagten verweisen nur auf ihre wirklichen oder angeblichen Gespräche über Gespräche. Die gerichtliche Untersuchung ist ein Gespräch über Gespräche. Die »Verschwörung« entbehrt des Fleisches und des Blutes.
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Andererseits kennt die Geschichte des revolutionären wie des konterrevolutionären Kampfes keine Fälle, wo Dutzende eingefleischter Verschwörer eine Reihe von Jahren beispiellose Verbrechen begehen und nach der Verhaftung, trotz fehlender Indizien, alles eingestehen, sich und einander angeben und mit einer Raserei ihren abwesenden »Häuptling« schmähen. Wie ist es möglich, daß Verbrecher, die gestern Menschen gemordet, die Wirtschaft demoliert, den Krieg und die Zerstückelung des Landes vorbereitet haben, heute so gehorsam nach der Stimmgabel des Staatsanwalts singen?
Diese zwei Grundzüge der Moskauer Prozesse: das Fehlen von Indizien und der epidemische Charakter der Reuebekenntnisse müssen bei jedem denkenden Menschen Verdacht erwecken. Um so größere Bedeutung gewinnt dabei eine objektive Nachprüfung der Geständnisse. Indes hat das Gericht eine solche Nachprüfung nicht nur nicht vorgenommen, sondern, im Gegenteil, sie auf jede Weise gemieden. Diese Nachprüfung müssen wir übernehmen. Gewiß, sie ist nicht in allen Fällen möglich. Aber das ist auch nicht notwendig. Uns wird es für den Anfang vollkommen genügen, zu beweisen, daß in einigen äußerst wichtigen Fällen die Bekenntnisse in völligem Widerspruch zu den objektiven Tatsachen stehen. Je schärfer der Standardcharakter der Bekenntnisse, um so mehr werden sie kompromittiert sein, wenn sich die Lügenhaftigkeit einiger von ihnen herausstellt.
Die Zahl der Beispiele, wo die Geständnisse der Angeklagten — ihre Denunziationen gegen sich und die andern — bei der Gegenüberstellung mit den Tatsachen in Stücke zerschellen, ist sehr groß. Das ist schon hier zur Genüge zutage getreten. Die Erfahrung der Moskauer Prozesse beweist, daß eine Fälschung von so grandiosem Ausmaße über die Kraft des mächtigsten Polizeiapparates der Welt geht. Zu viele Menschen und Umstände, Charaktere und Daten, Interessen und Dokumente sind es, die in den Rahmen des fertigen Libretto nicht hineinpassen! Der Kalender wahrt hartnäckig seine Rechte, und die Meteorologie Norwegens beugt sich nicht vor Wyschinski. Betrachtet man die Frage vom Standpunkte der Kunst, so würde eine solche Aufgabe, Hunderte von Menschen und zahllose Situationen dramatisch übereinstimmend anzuordnen, über die Kraft Shakespeares gehen.
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Und die GPU verfügt nicht über Shakespeare. Insofern es sich um »Ereignisse« in der USSR handelt, schützt den Schein der Übereinstimmung die Inquisitionsgewalt: alle — Angeklagte, Zeugen, Sachverständige — bestätigten im Chor materiell unmögliche Tatsachen. Aber die Lage ändert sich jäh, wenn man die Fäden nach dem Auslande ausspannen muß. Und ohne die Fäden nach dem Auslande, zu mir, »dem Feind Nr. 1«, verliert der Prozeß den Hauptteil seiner politischen Bedeutung. Deshalb war die GPU gezwungen, sich auf riskante und äußerst unglückliche Kombinationen mit Golzmann, Olberg, David, Bermann, Romm und Pjatakow einzulassen.
Die Wahl der Objekte der Analyse und der Widerlegung ergibt sich somit von selbst aus jenem »Tatbestand«, über den die Anklage gegen mich und meinen Sohn verfügt. Die Widerlegung der Angaben Golzmanns über seinen Besuch bei mir in Kopenhagen; die Widerlegung der Angaben Romms über sein Zusammentreffen mit mir im Bois de Boulogne und die Widerlegung der Erzählung Pjatakows über seinen Flug nach Oslo besitzen somit nicht nur große Bedeutung an sich, insofern sie die wichtigsten Pfeiler der Anklage gegen mich und meinen Sohn umstürzen, sie erlauben auch, einen Blick zu tun hinter die Kulissen des Moskauer Rechtswesens in seiner Gesamtheit und lassen die Methoden, die dort angewandt werden, erkennen.
Dies sind die zwei ersten Etappen meiner Analyse. Wenn es uns gelingen wird, nachzuweisen, daß einerseits die sogenannten »Verbrechen« der Psychologie und den Interessen der Angeklagten widersprechen, daß andererseits die Geständnisse, mindestens in einigen typischen Fällen, den festgestellten Tatsachen widersprechen, so werden wir damit allein schon eine sehr große Arbeit in Sachen der Widerlegung der Anklage in ihrer Gesamtheit erfüllt haben.
3. Gewiß, auch dann werden noch nicht wenige Fragen bleiben, die einer Antwort bedürfen. Die wichtigsten von ihnen wären: Was sind das für Menschen, diese Angeklagten, die nach 25-30 und mehr Jahren revolutionärer Arbeit bereit sind, sich mit so phantastischen und erniedrigenden Beschuldigungen zu belasten? Mit welchen Mitteln hat die GPU ihr Ziel erreicht? Warum hat nicht einer der Angeklagten vor Gericht die Fälschung offen herausgeschrien? Und so weiter.
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Dem Wesen der Sache nach bin ich nicht verpflichtet, auf diese Fragen zu antworten. Wir können weder Jagoda vernehmen (ihn vernimmt jetzt Jeschow!) noch Jeschow, noch Wyschinski oder Stalin und hauptsächlich nicht deren Opfer, von denen die meisten bereits erschossen sind. Die Kommission kann darum die Inquisitionstechnik der Moskauer Prozesse nicht mehr völlig aufdecken. Doch ihre Haupttriebfedern sind schon jetzt sichtbar ... Die Angeklagten sind nicht Trotzkisten, nicht Oppositionelle, nicht Kämpfer, sondern gehorsame Kapitulanten. Die GPU hatte sie während einer Reihe von Jahren für die Prozesse erzogen.
Ich halte es darum für äußerst wichtig, zum Verständnis der Mechanik der Bekenntnisse die Psychologie der Kapitulanten, als einer politischen Gruppe, zu entblößen und eine persönliche Charakteristik der wichtigsten Angeklagten der beiden Prozesse zu geben. Ich meine nicht willkürliche psychologische Improvisationen, nachträglich konstruiert im Interesse der Verteidigung, sondern objektive Charakteristiken, die auf unbestrittenem Material beruhen und sich auf verschiedene Momente der uns interessierenden Periode beziehen.
An solchem Material habe ich keinen Mangel. Im Gegenteil, meine Mappen bersten von Tatsachenmaterial. Ich wähle deshalb ein Beispiel, das grellste und typischste, und zwar Radek. Schon am 14. Juni 1929 schrieb ich über den Einfluß der mächtigen thermidorianischen Tendenzen auf die Opposition: »... Wir haben an einer Reihe von Beispielen gesehen, wie alte Bolschewiki, die bestrebt waren, die Parteitraditionen und sich selbst zu schützen, aus letzten Kräften versuchten, der Opposition zu folgen: Die einen bis 1925, die andern bis 1927 und manche auch bis 1929. Aber letzten Endes fielen sie ab: es reichten die Nerven nicht aus. Radek stellt momentan einen hastenden und lärmenden Ideologen solcher Art dar.« (»Bulletin der Opposition«, Nr. 1-2, Juli 1929.)
Gerade Radek hat im letzten Prozeß die »Philosophie« der verbrecherischen Tätigkeit der Trotzkisten gegeben. Nach dem Zeugnis vieler ausländischer Journalisten schienen Radeks Aussagen vor Gericht die künstlichsten und schablonenmäßigsten und am wenigsten Glauben verdienenden. Es ist um so wichtiger, an diesem Beispiel zu beweisen, daß auf der Anklagebank nicht der reale Radek figurierte, wie ihn die Natur und seine politische Vergangenheit geschaffen haben, sondern eine Art »Roboter«, hervorgegangen aus dem Laboratorium der GPU.
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Wenn es mir gelingt, dies mit der notwendigen Überzeugungskraft zu zeigen, so wird damit in hohem Maße auch die Rolle der anderen Angeklagten in diesen Prozessen erhellt werden. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß ich den Gedanken ablehne, die Physiognomie jedes einzelnen von ihnen zu erhellen. Im Gegenteil, ich hoffe, daß mir die Kommission die Möglichkeit geben wird, dies an der nächsten Etappe ihrer Arbeiten, durchzuführen. Gebunden durch den Rahmen der Zeit bin ich jetzt gezwungen, die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die wichtigsten Umstände und die typischsten Figuren zu konzentrieren.
Mathematische Reihen der Fälschung
1. Auf Grund offizieller Quellen ist mit Sicherheit festgestellt, daß die Vorbereitung des Attentates auf Kirow mit Wissen der GPU organisiert war. Der Chef der Leningrader GPU-Abteilung, Medwed, wurde gemeinsam mit elf anderen Agenten der GPU verurteilt, weil er, »im Besitze von Mitteilungen über ein sich vorbereitendes Attentat auf S. M. Kirow ..., die notwendigen Maßnahmen nicht ergriffen hatte«. Polizeiagenten, die »gewußt haben«, müßten doch, sollte es scheinen, in allen darauffolgenden Prozessen als Zeugen figurieren. Jedoch ist von Medwed und seinen Mitarbeitern in den späteren Prozessen nicht mehr die Rede: sie haben zuviel »gewußt«.
Die Ermordung Kirows bildet die Basis aller weiteren Prozesse. Indes bildet die Basis für die Ermordung Kirows eine gigantische Provokation der GPU, die durch das Verdikt des Militärtribunals vom 39. Dezember 1934 bestätigt ist. Die Aufgabe der Organisatoren der Provokation war, in den terroristischen Akt die Opposition insbesondere mich zu verwickeln (vermittels des lettischen Konsuls Bissineks, eines Agent provocateurs im Dienste der GPU, der seit dieser Zeit ebenfalls spurlos verschwunden ist). Nikolajews Schuß war im Programm wohl nicht vorgesehen, er war eher eine Mehrausgabe des Amalgams.
Diese Frage ist in meiner Broschüre »Kirows Ermordung und die stalinsche Bürokratie«, geschrieben Anfang 1935, untersucht worden. Weder die Sowjetbehörden noch ihre ausländischen Agenturen haben es auch nur versucht, auf meine Argumente, die ausschließlich auf Moskauer Dokumenten beruhen, zu antworten.
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2. Wie wir während der Untersuchung feststellten, haben sich in der USSR sieben Prozesse abgespielt, deren Ausgangspunkt die Ermordung Kirows bildet:
1. der Prozeß Nikolajew und Genossen, 28./29. Dezember 1934;
2. der Prozeß Sinowjew-Kamenjew, 15./16. Januar 1935;
3. der Prozeß Medwed und Genossen, 23. Januar 1935;
4. der Prozeß Kamenjew und Genossen, Juli 1935;
5. Der Prozeß Sinowjew-Kamenjew, August 1936;
6. der Prozeß in Nowosibirsk, 19./22. November 1936;
7. der Prozeß Pjatakow-Radek, Januar 1937.Diese Prozesse sind sieben Varianten auf das gleiche Thema. Die verschiedenen Varianten sind kaum miteinander verbunden. Sie widersprechen einander im Kern und in den Details. In jedem Prozeß organisieren die Ermordung Kirows immer andere Menschen, mit immer anderen Methoden und zu anderen politischen Zwecken. Schon allein ein Vergleich der offiziellen Sowjetdokumente miteinander beweist, daß mindestens sechs von den sieben Prozessen Betrug sind. In Wirklichkeit sind alle sieben Betrug.
3. Der Prozeß Sinowjew-Kamenjew (August 1936) hat bereits eine ganze Literatur hervorgerufen, die eine Reihe äußerst wichtiger Argumente, Zeugnisse und Erwägungen zugunsten des Gedankens enthält, daß der Prozeß ein böswilliger Betrug seitens der GPU ist. Ich nenne hier folgende Bücher:
Leon Sedow: »Das Rotbuch über den Moskauer Prozeß.«* Max Shachtman: »Behind the two Moscow Trials.« Francis Heißler: »The first two Moscow Trials.« Victor Serge: »Destin d'une revolution URSS 1917-1937.« Victor Serge: »16 Fusilles. Oü va la revolution russe?« Friedrich Adler: »Der Moskauer Hexenprozeß.«
Keine einzige dieser Arbeiten, die Ergebnisse ernster und gründlicher Untersuchungen sind, hat bisher eine kritische Beurteilung gefunden, sieht man von den Pöbeleien der Kominternpresse ab, die längst kein Mensch mit Selbstachtung ernst nimmt. Die grundlegenden Beweisführungen dieser Bücher sind auch meine Beweisführungen.
4. Schon seit dem Jahre 1926 macht die Gruppe Stalin Versuche, die einzelnen Gruppen der Opposition zu beschuldigen: der »Antisowjet«-Propaganda, der Verbindung mit Weißgardisten, kapitalistischer Tendenzen, der Spionage, terroristischer Absichten und schließlich der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes.
* Edition de Lee. Antwerpen, Onderwijsstr. 33.
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Alle diese Versuche, die Rohentwürfen ähneln, haben in offiziellen Akten, Zeitungsartikeln und Dokumenten der Opposition Spuren hinterlassen. Wenn man alle diese Entwürfe und Versuche der Fälschung in chronologischer Reihe ordnet, entsteht so etwas wie eine geometrische Progression falscher Beschuldigungen, deren Endglieder die Anklageschriften der letzten Prozesse sind. Auf diese Weise entdecken wir »das Gesetz der Fälschung«, und das Geheimnisvolle der angeblichen trotzkistischen Verschwörung verweht wie Rauch.
5. Genauso verhält es sich mit den ungeheuerlichen, auf den ersten Blick allen Gesetzen der menschlichen Psychologie widersprechenden Aussagen der Angeklagten. Die ritualen Reuebekenntnisse der Oppositionellen beginnen im Jahre 1924, hauptsächlich seit Ende 1927. Stellt man die Texte dieser Reuebekenntnisse nach der führenden Sowjetpresse zusammen — häufig aufeinanderfolgende Reuebekenntnisse der gleichen Personen —, dann erhält man die zweite geometrische Progression, deren Endglieder die einem Alpdruck gleichenden Geständnisse Sinowjews, Kamenjews, Pjatakows, Radeks und der anderen in den Gerichtsverhandlungen bilden. Die politische und psychologische Analyse dieses allgemein zugänglichen und unbestrittenen Materials deckt restlos die inquisitorische Mechanik der Reuebekenntnisse auf.
6. Der mathematischen Reihe der Fälschungen und der mathematischen Reihe der Reuebekenntnisse entspricht die dritte mathematische Reihe: der Warnungen und Voraussagen. Der Autor dieser Zeilen und seine nächsten Gesinnungsgenossen haben aufmerksam die Intrigen und Provokationen der GPU verfolgt und auf Grund von einzelnen Tatsachen und Anzeichen viele Dutzende Male im voraus vor provokatorischen Plänen Stalins und vor den sich vorbereitenden Amalgamen gewarnt, in Briefen wie in der Presse. Schon der Ausdruck Stalinsches »Amalgam« wurde von uns acht Jahre vor Kirows Ermordung und den darauffolgenden Monsterprozessen in Anwendung gebracht.
Entsprechende dokumentarische Beweise sind der New Yorker Untersuchungskommission zur Verfügung gestellt worden. Sie zeigen mit absoluter Unanfechtbarkeit, daß es sich nicht um eine illegale Verschwörung, der Trotzkisten handelte, die im Jahre 1936 angeblich plötzlich entdeckt wurde, sondern um die systematische Verschwörung der GPU gegen die Opposition, mit der Absicht, ihr Sabotage, Spionage, Attentate und Vorbereitung eines Aufstandes in die Schuhe zu schieben.
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7. Alle seit 1924 Tausenden und aber Tausenden Oppositionellen abgerungenen »Reuebekenntnisse« waren mit ihrer Spitze gegen mich gerichtet. Von allen, die in die Partei zurückkehren wollen — schreiben im »Bulletin der Opposition« (Nr. 7, November-Dezember 1929) Verbannte —, verlangt man: »Liefere Trotzkis Kopf!« Entsprechend dem uns bereits bekannten Gesetz der mathematischen Reihe, führen alle Fäden der Verbrechen, des Terrors, des Verrats und der Sabotage in den Prozessen von 1936/37 beständig zu mir und zu meinem Sohn. Aber unsere ganze Tätigkeit in den letzten acht Jahren hat sich bekanntlich im Auslande abgespielt. In dieser Beziehung ist die Untersuchungskommission, wie wir bereits gesehen haben, in vorteilhafterer Lage. Die GPU hatte im Auslande zu mir keinen Zutritt, da ich stets von einem Ring treuer Freunde umgeben war. Am 7. November 1936 stahl die GPU in Paris einen Teil meiner Archive, konnte aber von ihm bis jetzt keinen Gebrauch machen. Der Untersuchungskommission stehen mein gesamtes Archiv, Zeugnisse meiner Freunde und Bekannten zur Verfügung, von meinen eigenen Aussagen abgesehen. Sie kann meine Privatkorrespondenz mit meinen Artikeln und Büchern vergleichen und somit nachprüfen, ob in meiner Tätigkeit irgendein Element von Dualismus enthalten ist.
8. Aber mehr noch. Die Direktiven der Verschwörung kamen angeblich aus dem Auslande (aus Frankreich, Kopenhagen und Norwegen). Dank einem besonders günstigen Zusammentreffen der Umstände besitzt die Untersuchungskommission die volle Möglichkeit nachzuprüfen, ob mich in den angegebenen Zeiten und an den angegebenen Orten alle die angeblichen Verschwörer besucht haben: Golzmann, Bermann-Jurin, Fritz David, Wladimir Romm und Pjatakow. Wenn das Moskauer Gericht keinen Finger gerührt hat, um nachzuweisen, daß die Zusammenkünfte und Gespräche tatsächlich stattgefunden haben (Paßfragen, Visen, Hotels etc.), so sind wir in der Lage, hier eine viel schwierigere Aufgabe zu lösen: mit Hilfe von Dokumenten, Zeugenaussagen, Zeit- und Ortsangaben zu beweisen, daß weder diese Besuche noch diese Gespräche stattgefunden haben und daß sie nicht stattfinden konnten. Juristisch gesprochen: ich bin in der Lage, in allen wichtigen Fällen, wo Daten angeführt sind, mit unerschütterlicher Bestimmtheit mein Alibi nachzuweisen.
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9. Wenn der Verbrecher kein psychopathischer Kranker, sondern ein zurechnungsfähiges Subjekt und gar ein alter und erfahrener Politiker ist, so muß sein Verbrechen, so ungeheuerlich es auch sein mag, bestimmten Zwecken des Verbrechers entsprechen. Indes fehlt das entsprechende Verhältnis zwischen Zweck und Mittel in den Moskauer Prozessen völlig. Die Staatsanwaltschaft mutet denselben Angeklagten in verschiedenen Prozessen verschiedene Zwecke (bald nackten »Kampf um die Macht« unter dem Sowjetregime, bald »Restauration des Kapitalismus«) zu. Die Angeklagten folgen in dieser Frage gehorsam der Staatsanwaltschaft.
Die von den Angeklagten angewandten Mittel sind vom Standpunkt der vermeintlichen Ziele völlig absurd, dafür aber wie geschaffen, der Bürokratie den besten Anlaß zur Ausrottung jeglicher Opposition zu geben.
Die Schlußfolgerungen, die sich aus den ersten Schritten der Untersuchung ergeben, sind meiner Ansicht nach folgende:
1. Trotz den vielen Jahren Kampfes gegen die Opposition, den Zehntausenden von Haussuchungen, Verhaftungen, Ausweisungen, Einkerkerungen und trotz den Hunderten von Erschießungen besitzen die Gerichtsorgane der Sowjetunion kein einziges Indiz, kein einziges Beweisstück, das die Richtigkeit der Anklage bestätigt. Diese Tatsache ist das furchtbarste Indiz gegen Stalin.
2. Läßt man aber bedingt zu, die Angeklagten, alle oder nur einige, hätten die ihnen zur Last gelegten ungeheuerlichen Verbrechen tatsächlich begangen, so haben ihre stereotypen Hinweise auf mich, als den Hauptorganisator der Verschwörung, nicht die geringste Beweiskraft: moralische Kretins, die fähig sind, Zugkatastrophen zu verursachen, Arbeiter zu vergiften, mit der Gestapo in Verbindung zu treten u. a. m., mußten natürlich bestrebt sein, sich die Nachsicht der Bürokratie durch dauernde Verleumdung deren Hauptfeindes zu verdienen.
3. Die Aussagen der Angeklagten, mindestens jener, deren politische Physiognomie bekannt ist, sind jedoch auch in dem Teil falsch, wo sie ihre eigene verbrecherische Tätigkeit entlarven. Wir haben vor uns weder Banditen noch krankhaft Entartete oder moralische Kretins, sondern unglückliche Opfer des schrecklichsten aller Inquisitionssysteme.
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4. Die Prozesse sind eine Justizkomödie (so schwer es auch fällt, hier das Wort »Komödie« zu gebrauchen), deren Text auf Grund zahlreicher Versuche von den Organen der GPU unter unmittelbarer und direkter Leitung Stalins jahrelang ausgearbeitet wurde.
5. Die Beschuldigung gegen alte Revolutionäre (»Trotzkisten«), sie seien auf die Position des Faschismus übergegangen, im Bunde mit Hitler, dem Mikado usw., ist von den gleichen politischen Gründen diktiert wie die Beschuldigung seitens der französischen Thermidorianer gegen Robespierre und die anderen von ihnen guillotinierten Jakobiner, sie seien »Royalisten« und »Agenten Pitts« geworden. Analoge historische Ursachen rufen analoge Wirkungen hervor.
Die politische Basis der Anklage: Terrorismus
Wenn Terror auf der einen Seite möglich ist, warum soll er auf der anderen ausgeschlossen sein? Trotz seiner bestechenden Symmetrie ist ein solcher Gedanke von Grund auf falsch. Man kann keinesfalls den Terror der Diktatur gegen die Opposition mit dem Terror der Opposition gegen die Diktatur auf eine Stufe stellen. Für die regierende Clique ist die Vorbereitung von Morden, ob durch Gericht, ob hinterrücks, nichts anderes als eine polizeitechnische Frage; im Falle des Mißerfolges kann man immer einen untergeordneten Agenten preisgeben.
Für eine Opposition bedeutet der Terror die Konzentrierung aller Kräfte auf die Vorbereitung von Attentaten, wobei sie von vornherein weiß, daß in jedem Falle, des Erfolges wie des Mißerfolges, als Repressalie Dutzende der besten Männer ausgerottet werden. Eine solch irrsinnige Vergeudung konnte sich die Opposition keinesfalls leisten. Eben aus diesem und aus keinem anderen Grunde greift die Komintern in Ländern mit faschistischen Diktaturen nicht zu terroristischen Akten. Die Opposition neigt ebensowenig zur Politik des Selbstmordes wie die Komintern.
Nach der Anklageschrift, die auf Unbildung und Denkfaulheit spekuliert, hätten die „Trotzkisten" beschlossen, die regierende Gruppe umzubringen, um sich auf diese Weise den Weg zur Macht zu ebnen. Der Durchschnittsphilister, besonders wenn er das Abzeichen des »Freundes der USSR« trägt, denkt
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folgendermaßen: Es ist doch nicht anders möglich, als daß die Oppositionellen die Macht anstrebten und die regierende Gruppe haßten; warum sollten sie tatsächlich nicht zum Terror gegriffen haben? Mit anderen Worten: Für den Philister hört die Sache dort auf, wo sie in Wirklichkeit erst beginnt.
Die Führer der Opposition sind keine zufälligen Menschen, keine Neulinge. Es handelt sich gar nicht darum, ob sie zur Macht strebten; jede ernste politische Richtung ist bestrebt, die Macht zu erringen. Die Frage ist, ob die an der großen Erfahrung der revolutionären Bewegung erzogenen Oppositionellen auch nur für einen Augenblick glauben konnten, der Terror würde sie der Macht näherbringen. Die russische Geschichte, die marxistische Theorie, die politische Psychologie antworten: Nein, das konnten sie nicht!
Das Problem des Terrors erfordert hier eine, wenn auch nur kurze, historische und theoretische Beleuchtung. Insofern ich als der Initiator des »Antisowjet-Terrors« hingestellt werde, bin ich gezwungen, der Darstellung einen autobiographischen Charakter zu geben. Im Jahre 1902, ich war eben nach fünf Jahren Gefängnis und Verbannung aus Sibirien nach London gekommen, schrieb ich eine Glosse, die dem zweihundertjährigen Jubiläum der Schlüsselburg mit ihrem Katorgagefängnis gewidmet war; ich zählte die dort zu Tode gequälten Revolutionsopfer auf. »Sie rufen nach Rache, diese Schatten der Märtyrer«, aber ich fügte hinzu: »Nicht nach persönlicher, sondern nach revolutionärer Rache. Nicht nach der Hinrichtung der Minister, sondern nach der Hinrichtung des Selbstherrschertums.«
Diese Zeilen waren ganz und gar gegen den individuellen Terror gerichtet. Der Autor war damals 33 Jahre alt. Gegner des Terrors war er seit den ersten Schritten seiner revolutionären Tätigkeit. Zwischen 1902 und 1905 habe ich in verschiedenen Städten Europas vor russischen Studenten und Emigranten Dutzende politischer Referate gegen die terroristische Ideologie gehalten, die sich zu Beginn des Jahrhunderts unter der russischen Jugend wieder auszubreiten begann.
Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben zwei Generationen russischer Marxisten die Geschichte des Terrors aus eigener Erfahrung erlebt, haben an seinen tragischen Lehren studiert und die ablehnende Einstellung zum heroischen Abenteurertum einzelner organisch in sich aufgenommen.
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Plechanow, der Begründer des russischen Marxismus, Lenin, der Führer des Bolschewismus, Martow, der hervorragendste Vertreter des Menschewismus, haben dem Kampfe gegen die Taktik des Terrors Tausende von Seiten und Hunderte von Reden gewidmet. Die geistigen Einflüsse, die von diesen alten Marxisten ausgingen, haben schon in der frühesten Jugend meine Einstellung zur revolutionären Alchimie abgeschlossener Intellektuellen-Vereine mitbestimmt. Das Problem des Terrors war für uns russische Revolutionäre ein Problem auf Leben und Tod, sowohl in politischem wie in persönlichem Sinne des Wortes. Der Terrorist war für uns keine Romanfigur, sondern ein lebendiger, uns verwandter Mensch.
In der Verbannung haben wir jahrelang mit den Terroristen der älteren Generation Seite an Seite gelebt. In den Gefängnissen und in der Etappe kamen wir mit gleichaltrigen Terroristen zusammen. Wir haben uns in der Peter-Paul-Festung mit den zum Tode verurteilten Terroristen durch Klopfen verständigt. Wie viele Stunden, wie viele Tage gingen in leidenschaftlichen Debatten dahin, wie viele Male brachen wir wegen dieser brennendsten Frage persönliche Beziehungen ab! Mit der russischen Literatur, die diesen Streit über den Terrorismus nährte und widerspiegelte, könnte man eine große Bibliothek zusammenstellen.
Vereinzelte terroristische Explosionen sind unvermeidlich, wenn der politische Druck gewisse Grenzen überschreitet. Solche Akte haben fast immer symptomatische Bedeutung. Eine andere Sache ist die Politik, die den Terror kanonisiert, ihn zum System erhebt. »Ihrem ganzen Wesen nach«, schrieb ich im Jahre 1909, »erfordert die terroristische Arbeit eine solche Konzentration der Energie auf den >großen Augenblicke eine solche Überschätzung der Bedeutung des persönlichen Heroismus und schließlich eine solche hermetische Konspiration, die — die Agitation und Organisationsarbeit unter den Massen fast völlig ausschließen... Indem sie gegen den Terrorismus kämpfte, hat die marxistische Intelligenz ihr Recht oder ihre Pflicht verteidigt, sich aus den Arbeitervierteln nicht zu entfernen, um unter dem Palais eines Großfürsten oder Zaren eine Mine zu legen.«
Die Geschichte zu betrügen oder zu überlisten, ist nicht möglich. Letzten Endes stellt sie jeden auf seinen Platz. Die Grundeigenschaft des Terrors als System ist, jene Organisation zu vernichten, die mit Hilfe chemischer Präparate den Mangel an eigener politischer Kraft zu ersetzen sucht.
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Es gibt gewiß historische Situationen, wo der Terror Verwirrung in die Regierungsreihen hineintragen kann. Wer aber kann in diesem Falle die Früchte ernten? Jedenfalls nicht die terroristischen Organisationen selbst und nicht die Massen, hinter deren Rücken der Zweikampf sich abspielt. So haben die liberalen russischen Bourgeois seinerzeit stets mit dem Terrorismus sympathisiert. Die Ursache ist klar: »Insofern der Terror in die Reihen der Regierung Desorganisation und Demoralisation hineinträgt (mit dem Preis der Desorganisation und der Demoralisation in den Reihen der Revolutionäre)«, schrieb ich im Jahre 1909, »spielt er ihnen, den Liberalen, in die Hand.« Den selben Gedanken und fast in den selben Worten begegnen wir ein Vierteljahrhundert später im Zusammenhang mit der Ermordung Kirows.
Allein die Tatsache individueller Attentate ist ein sicheres Zeichen der politischen Rückständigkeit eines Landes und der Schwäche der fortschrittlichen Kräfte. Die Revolution von 1905, die die Macht des Proletariats offenbart hat, machte Schluß mit der Romantik des Zweikampfs zwischen dem Häuflein Intellektueller und dem Zarismus. »Der Terrorismus in Rußland ist tot«, wiederholte ich in einer Reihe von Artikeln. »...Der Terror hat sich weit nach dem Osten verschoben, in das Gebiet von Penjaba und Bengalen... Vielleicht steht dem Terrorismus auch noch in anderen Ländern des Ostens bevor, eine Periode der Blütezeit durchzumachen. In Rußland aber gehört er nun der Geschichte an.«
Seit 1907 war ich wieder in der Emigration. Der Besen der Konterrevolution arbeitete grausam, und in den europäischen Städten wurden die russischen Kolonien zahlreich. Ein ganzer Streifen meiner zweiten Emigration ist Referaten und Artikeln gegen Terror, Rache und Verzweiflung gewidmet. Im Jahre 1909 wurde aufgedeckt, daß an der Spitze der terroristischen Organisation der »Sozialrevolutionäre« der Agent provocateur Asew stand.
»In der Sackgasse des Terrorismus«, schrieb ich, »wirtschaftet die Hand der Provokation sicher.« (Januar 1910.) Der Terrorismus war für mich immer nichts anderes als eine »Sackgasse«. »Die unversöhnliche Stellung der russischen Sozialdemokratie zum bürokratisierten Terror als Kampfmittel gegen die terroristische Bürokratie des Zarismus«, schrieb ich in der gleichen Periode, »fand Verständnislosigkeit und Verurteilung nicht nur bei den russischen Liberalen, sondern auch bei den europäischen Sozialisten.«
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Die einen wie die anderen beschuldigten uns des »Doktrinarismus«. Wir russischen Marxisten erklärten unsererseits die Sympathie für den russischen Terrorismus mit dem Opportunismus der Führer der europäischen Sozialdemokratie, die gewohnt sind, ihre Hoffnungen von den Massen auf die regierenden Spitzen zu übertragen. »Wer auf das Minister-Portefeuille Jagd macht, wie der, der mit der Höllenmaschine unterm Mantel auf den Minister selbst Jagd macht — beide müssen in gleicher Weise den Minister überschätzen: seine Person und seinen Posten. Für sie verschwindet oder rückt in die Ferne das System; es bleibt nur die mit Macht ausgestattete Person.« Diesem Gedanken, der sich durch Jahrzehnte meiner Tätigkeit hinzieht, werden wir wiederum später, im Zusammenhang mit der Ermordung Kirows, begegnen.
Im Jahre 1911 entstanden in einigen Gruppen der österreichischen Arbeiter terroristische Strömungen. Auf die Bitte Friedrich Adlers, des Redakteurs der theoretischen Wochenschrift der österreichischen Sozialdemokratie »Der Kampf«, schrieb ich im November 1911 für dieses Organ einen Artikel über Terrorismus. »Ob terroristische Attentate, sogar >gelungene<, Verwirrung in die herrschenden Kreise hineintragen oder nicht, hängt von den konkreten politischen Umständen ab. Jedenfalls kann diese Verwirrung nur kurzfristig sein. Ein kapitalistischer Staat stützt sich nicht auf die Minister und kann nicht durch ihre Beseitigung vernichtet werden. Die Klassen, denen er dient, werden sich stets neue Männer finden — der Mechanismus bleibt unversehrt bestehen und wirkt weiter. Viel tiefgehender jedoch ist jene Verwirrung, die terroristische Attentate in die Reihen der Arbeitermassen hineintragen. Wenn es genügt, sich mit einem Revolver zu bewaffnen, um das Ziel zu erreichen, wozu dann die Mühe des Klassenkampfes?
Wenn ein Fingerhut Pulver und ein Stückchen Blei genügen, um d£n Hals des Feindes zu durchschießen, wozu dann Klassenorganisation? Wenn man die Exzellenzen durch den Explosionsdonner einschüchtern kann, wozu braucht man dann die Partei? Wozu Versammlungen, Massenagitation, Wahlen, wenn es so leicht ist, von der Parlamentsgalerie aus eine Ministerbank aufs Korn zu nehmen? Der individuelle Terror ist unserer Meinung nach deshalb unzulässig, weil er die Masse in ihrem eigenen Bewußtsein erniedrigt, sie mit ihrer Ohnmacht versöhnt, ihre Blicke und ihre Hoffnungen auf den großen Rächer und Befreier lenkt, der einmal kommen und seine Sache machen wird.«
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Fünf Jahre später, auf dem Höhepunkt des imperialistischen Krieges, erschoß Friedrich Adler, der mich bewogen hatte, diesen Artikel zu schreiben, in einem Wiener Restaurant den österreichischen Ministerpräsidenten Stürkh. Der heroische Skeptiker und Opportunist fand keinen anderen Ausweg für seine Verzweiflung und seine Empörung. Meine Sympathie war selbstverständlich nicht auf seiten des habsburgischen Würdenträgers. Jedoch stellte ich dem individuellen Akt Friedrich Adlers die Tat Karl Liebknechts gegenüber, der während des Krieges in Berlin auf den Potsdamer Platz ging, um an die Arbeiter revolutionäre Flugblätter zu verteilen.
Am 28. Dezember 1934, vier Wochen nach der Ermordung Kirows, als die Stalinsche Justiz noch, nicht wußte, in welche Richtung sie die Spitze ihrer »Gerechtigkeit« wenden sollte, schrieb ich im »Bulletin der Opposition« (Januar 1935, Nr. 41): »... Wenn die Marxisten den individuellen Terror sogar dann entschieden verurteilen ... wenn sich die Schüsse gegen die Agenten der zaristischen Regierung und der kapitalistischen Ausbeutung richteten, um so rücksichtsloser werden sie das verbrecherische Abenteurertum verurteilen und ablehnen, das sich gegen die bürokratischen Vertreter des ersten Arbeiterstaates in der Geschichte richtet. Die subjektiven Motive Nikolajews und seiner Gesinnungsgenossen bleiben dabei für uns gleichgültig. Mit den besten Absichten ist der Weg zur Hölle gepflastert. Solange die Sowjetbürokratie vom Proletariat nicht abgesetzt ist — und diese Aufgabe wird gelöst werden —, erfüllt sie die notwendige Funktion, den Arbeiterstaat zu schützen. Würde sich der Terrorismus vom Typ Nikolajews entwickeln, könnte er unter gewissen Bedingungen nur der faschistischen Konterrevolution dienen.
»Den Versuch machen, Nikolajew der linken Opposition unterzuschieben — und sei es auch der Gruppe Sinowjews, wie sie in den Jahren 1926/27 war —, können nur politische Gauner, spekulierend auf Dummköpfe. Die terroristische Organisation der kommunistischen Jugend wurde nicht durch die linke Opposition verursacht, sondern durch die Bürokratie, durch deren innere Zersetzung. Individualterror ist seinem Wesen nach die Kehrseite des Bürokratismus. Den Marxisten ist dieses Gesetz nicht erst seit gestern bekannt.
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Der Bürokratismus traut den Massen nicht und ist bemüht, sie durch sich selbst zu ersetzen. So handelt auch der Terrorismus, der die Massen beglücken will ohne deren Teilnahme. Die Stalinsche Bürokratie hat einen ekelhaften Führerkult geschaffen und die <Führer> mit göttlichen Eigenschaften ausgestattet. Die Religion der <Helden> ist auch die Religion des Terrorismus, nur mit einem umgekehrten Vorzeichen. Die Nikolajews bilden sich ein, es genüge, mit Hilfe des Revolvers einige Führer zu beseitigen, damit der Gang der Geschichte eine andere Richtung nehme. Kommunisten-Terroristen, als geistige Formation, sind Fleisch vom Fleische und Blut vom Blute der Stalinschen Bürokratie.«
Diese Zeilen sind, wie der Leser sich überzeugen konnte, nicht ad hoc geschrieben. Sie resümieren die Erfahrung eines ganzen Lebens, die wiederum auf den Erfahrungen von zwei Generationen beruht.
Schon in der Epoche des Zarismus war es verhältnismäßig eine seltene Erscheinung, auf die man mit Fingern zeigte, wenn ein junger Marxist in die Reihen der terroristischen Partei überging. Aber damals gab es mindestens einen dauernden theoretischen Kampf zweier Richtungen, die Presse der beiden Parteien führte eine erbitterte Polemik, öffentliche Diskussionen hörten nicht für einen Tag auf. Jetzt aber will man uns glauben machen, daß nicht jugendliche Revolutionäre, sondern alte Führer des russischen Marxismus, auf den Schultern die Tradition von drei Revolutionen — plötzlich, ohne Kritik, ohne Diskussion, ohne Erklärungen sich dem Terror zuwandten, den sie selbst als eine Methode des politischen Selbstmordes stets abgelehnt hatten.
Allein die Möglichkeit einer solchen Anklage zeigt, zu welchem Tiefstand die Stalinsche Bürokratie den offiziellen politischen und theoretischen Gedanken gebracht hat, von der Sowjetjustiz schon ganz zu schweigen. Den durch die Erfahrungen errungenen, durch die Theorie bekräftigten, im heißesten Feuer der menschlichen Geschichte gestählten politischen Überzeugungen stellen die Fälscher unzusammenhängende, widerspruchsvolle, durch nichts bestätigte Aussagen verdächtiger Anonymlinge gegenüber.
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Ja, sagen Stalin und seine Agenten, wir können nicht bestreiten, daß Trotzki nicht nur in Rußland, sondern auch in anderen Ländern auf verschiedenen Etappen seiner politischen Entwicklung und unter verschiedenen Bedingungen stets in gleicher Weise dringend vor dem terroristischen Abenteurertum gewarnt hat. Doch haben wir in seinem Leben einige Momente entdeckt, die eine Ausnahme von dieser Regel bilden. In dem konspirativen Brief, den er einem gewissen Dreizer schrieb (und den niemand gesehen hat); in Gesprächen mit Golzmann, den in Kopenhagen Trotzkis Sohn (der sich zu jener Zeit in Berlin befand) zu ihm brachte; in Unterhaltungen mit Bermann und David hat Trotzki (der bis zu den ersten Prozeßberichten diese Namen nie gehört hatte) in vier oder fünf Fällen seinen Anhängern (die in Wirklichkeit seine erbittertsten Gegner waren) terroristische Instruktionen erteilt (ohne sie zu begründen, ohne sie mit der Sache seines gesamten Lebens zu verbinden).
Wenn Trotzki seine programmatischen Ansichten über den Terror im Laufe von vierzig Jahren mündlich und schriftlich vor Millionen Menschen geäußert hat, so nur um zu täuschen; seine wahren Ansichten vertraute er als strengstes Geheimnis Bermann und David an ... Und, o Wunder! Diese unartikulierten »Instruktionen«, die sich auf dem Gedankenniveau des Wyschinski bewegen, genügten, damit Hunderte alter Marxisten — automatisch, widerspruchslos, stillschweigend — den Weg des Terrors beschritten. Das ist die politische Basis des Prozesses der 16. Mit anderen Worten: der Prozeß der 16 ist jeder politischen Basis bar.
Kirows Ermordung
In den Moskauer Prozessen ist die Rede von gigantischen Absichten, Plänen und Vorbereitungen von Verbrechen. Das alles spielt sich ab in Gesprächen oder, richtiger, in Erinnerungen der Angeklagten an Gespräche, die sie angeblich früher einmal geführt haben. Der Prozeßbericht bietet, wie gesagt, ein Bild von Gesprächen über Gespräche. Das einzige tatsächliche Verbrechen ist — der Mord an Kirow. Doch gerade dieses Verbrechen ist nicht von Oppositionellen oder Kapitulanten, die die GPU für Oppositionelle ausgibt, ausgeführt worden, sondern von einem, vielleicht auch zwei oder drei jugendlichen Kommunisten, die in die Netze der GPU-Provokateure geraten waren. Ganz unabhängig davon, ob die Provokateure die Sache bis zum Morde hatten bringen wollen oder nicht, fällt die Verantwortung für das Verbrechen auf die GPU, die wiederum in einer so wichtigen Angelegenheit nicht ohne direkten Auftrag von Stalin handeln konnte.
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Worauf beruhen diese Behauptungen? Das notwendige Material für die Beantwortung dieser Frage ist in den offiziellen Dokumenten Moskaus enthalten. Ihre Analyse ist in meiner Broschüre »Die Ermordung Kirows und die Sowjetbürokratie« (1935). in L. Sedows »Das Rotbuch« und in anderen Arbeiten enthalten.
Ich resümiere die Schlußfolgerungen daraus in kurzer Fassung.
1. Sinowjew, Kamenjew und die anderen konnten die Ermordung Kirows nicht organisiert haben, weil dieser Mord nicht den geringsten politischen Sinn gehabt hat. Kirow war eine nebensächliche Figur, ohne selbständige Bedeutung. Wer in der Welt hat Kirows Namen vor seiner Ermordung gekannt? Nimmt man aber den absurden Gedanken an, Sinowjew, Kamenjew und die anderen hätten den Weg des individuellen Terrors beschritten, so hätten sie auf jeden Fall begreifen müssen, daß die Ermordung Kirows, die keine politischen Resultate versprach, wütende Repressalien gegen alle Verdächtigen und Unzuverlässigen zur Folge haben müßte, die in der Zukunft jegliche oppositionelle, insbesondere jede terroristische Arbeit erschweren würden. Wirkliche Terroristen hätten mit Stalin begonnen. Unter den Angeklagten waren Mitglieder des Zentralkomitees und der Regierung, die überallhin freien Zutritt hatten; sie konnten Stalin mühelos ermorden. Wenn die Kapitulanten diesen Akt nicht vollbrachten, so deshalb, weil sie Stalin gedient und nicht bekämpft und keine Attentate auf ihn geplant hatten.
2. Kirows Ermordung versetzte die regierende Spitze in einen Zustand panischer Verwirrung. Obwohl Nikolajews Person sofort festgestellt wurde, verknüpfte die erste Regierungsmeldung das Attentat nicht mit der Opposition, sondern mit Weißgardisten, die angeblich aus Polen, Rumänien und anderen Nachfolgestaaten in die Sowjetunion eingedrungen waren. 104 solcher »Weißgardisten« wurden nach offiziellen Berichten erschossen! Vierzehn Tage lang betrachtete es die Regierung als notwendig, mit Hilfe summarischer Hinrichtungen die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung in eine andere Richtung abzulenken und irgendwelche Spuren zu verwischen. Erst am 16. Tage ließ man die Version von den Weißgardisten fallen. Irgendeine offizielle Erklärung der ersten Periode der Regierungspanik, die sich durch über hundert Leichen kennzeichnet, ist bis jetzt nicht gegeben worden.
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3. In der Sowjetpresse wurde darüber nichts gesagt: wie und unter welchen Umständen Nikolajew Kirow ermordete, welche Stellung Nikolajew bekleidete, in welchen Beziehungen er zu Kirow stand usw. Die konkreten, sowohl politischen wie einfach menschlichen Umstände des Mordes bleiben auch heute im Schatten. Die GPU kann über den Vorfall nichts erzählen, ohne ihre Initiative bei der Organisierung des Mordes an Kirow aufzudecken.
4. Trotzdem Nikolajew und die übrigen dreizehn Erschossenen alles, was man von ihnen verlangte, zugegeben hatten (ich halte es für absolut möglich, daß Nikolajew und die anderen gefoltert wurden), erwähnten sie mit keinem Worte die Teilnahme Sinowjews, Bakajews, Kamenjews oder irgendeines anderen »Trotzkisten« an dem Morde. Die GPU hat offenbar ihnen solche Fragen gar nicht gestellt. Die Situation war noch zu frisch, die Rolle der Provokation zu offensichtlich, und die GPU war nicht so sehr bemüht, die Spuren einer Opposition zu suchen, als ihre eigenen Spuren zu verwischen.
5. Während der Prozeß Radek-Pjatakow, der unmittelbar fremde Regierungen hineinverwickelte, vor offener Bühne inszeniert wurde, fand der Prozeß des Komsomolzen Nikolajew, der Kirow ermordet hatte, am S8./29. Dezember 1934 hinter verschlossenen Türen statt. Weshalb? Doch wohl nicht aus diplomatischen, sondern aus innerpolitischen Gründen: die GPU konnte ihre eigene Arbeit nicht zur Schau stellen. Man mußte im stillen alle am Attentat Beteiligten und die ihnen Nahestehenden beseitigen, sich sorgfältig die Hände waschen und erst dann die Opposition aufs Korn nehmen.
6. Die Ermordung Kirows hat in den Kreisen der Bürokratie selbst einen solchen Alarm hervorgerufen, daß Stalin, auf dem in informierten Kreisen ein Schatten des Verdachts lastete, gezwungen war, Sündenböcke zu finden. Am 33. Januar 1935 fand der Prozeß der is höchsten Beamten der Leningrader Abteilung der GPU mit ihrem Chef Medwed an der Spitze statt. Der Anklageakt gibt zu, daß Medwed und seine Mitarbeiter rechtzeitig Mm Besitze von Nachrichten über das sich vorbereitende Attentat auf Kirow waren«. Im Urteil heißt es: »Sie haben keine Maßnahmen ergriffen«, um die Tätigkeit der terroristischen Gruppe »rechtzeitig aufzudecken und zu verhindern, obwohl sie absolut die Möglichkeit hatten, dies zu tun.« Größere Offenheit kann man nicht verlangen. Sämtliche Angeklagten wurden
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zu Gefängnis von 5 bis 10 Jahren verurteilt. Es ist klar: durch ihre Provokateure spielte die GPU mit Kirows Kopf, in der Absicht, die Opposition in die Sache zu verwickeln und dann eine Verschwörung zu entdecken. Nikolajew hat jedoch den Schuß abgegeben, ohne die Erlaubnis Medweds abzuwarten, und dadurch das Amalgam schwer kompromittiert. Stalin hat Medwed als Sühneopfer dargebracht.
7. Unsere Analyse findet ihre vollständige Bestätigung in der Rolle des lettischen Konsuls Bissineks, eines notorischen Agenten der GPU. Der Konsul stand mit Nikolajew, nach dessen Geständnis, in direkten Beziehungen, gab fünftausend Rubel für die Ausführung des terroristischen Aktes und wollte von Nikolajew ohne ersichtlichen Sinn einen Brief für Trotzki haben. Um auch nur indirekt die Sache Kirow mit meinem Namen zu verbinden, schloß Wyschinski diese merkwürdige Episode dem Anklageakt an (Januar 1935), wodurch er die provokatorische Rolle des Konsuls völlig bloßstellte.
Der Name des Konsuls ist allerdings erst auf das direkte Verlangen des Diplomatischen Korps veröffentlicht worden. Danach verschwand der Konsul spurlos von der Bühne. In den späteren Prozessen wurde Bissineks mit keinem Wort erwähnt, obwohl er in direktem Verkehr mit dem Mörder war und den Mord finanziert hatte. Die weiteren »Organisatoren« des Terroraktes gegen Kirow (Bakajew, Kamenjew, Sinowjew, Mratschkowski usw.) wußten vom Konsul Bissineks nichts und nannten kein einziges Mal seinen Namen. Es ist schwer, sich überhaupt eine läppischere, verwirrtere und schamlosere Provokation auszudenken!
8. Erst nachdem die wirklichen Terroristen, deren Freunde und Helfershelfer, darunter auch die zweifellos in die Verschwörung verwickelten GPU-Agenten ausgerottet waren, hält es Stalin an der Zeit, sich die Opposition vorzunehmen. Die GPU verhaftet die Spitze der ehemaligen Sinowjewisten und teilt sie in zwei Gruppen. In bezug auf sieben angesehene politische Arbeiter, frühere Mitglieder des Zentralkomitees, berichtet die TASS am 32. Dezember, es fehlten »ausreichende Anhaltspunkte, um sie vor Gericht zu stellen«. Weniger wichtige Mitglieder der Gruppe wurden, nach der traditionellen Technik der GPU, unter dem Damoklesschwert zurückgehalten. Einige von ihnen haben unter Todesdrohungen gegen Sinowjew, Kamenjew und andere Aussagen gemacht. Die Aussagen erzählten zwar nichts vom Terror, aber von »konterrevolutionärer Tätigkeit« überhaupt (Unzufriedenheit, Kritik an Stalins Politik etc.).
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Doch haben diese Aussagen genügt, um Sinowjew, Kamenjew usw. ein Geständnis über ihre »moralische« Verantwortung für den Terrorakt abzuringen. Mit diesem Preis kauften sich (vorübergehend) Sinowjew und Kamenjew los von der Anklage der direkten Teilnahme an der Ermordung Kirows.
9. Am 26. Januar 1935 schrieb ich amerikanischen Freunden (dieser Brief ist im Bulletin der Opposition, Nr. 43, Februar 1935 abgedruckt): »Die Strategie, die um die Leiche Kirows entwickelt wurde, hat Stalin keine großen Lorbeeren eingebracht. Aber gerade deshalb kann er weder haltmachen noch zurückweichen. Stalin muß das mißglückte Amalgam durch ein neues verhüllen, in größerem Maßstabe und — erfolgreicher. Man muß gerüstet sein!« Die Prozesse von 1936 und 1937 haben diese Warnung vollkommen gerechtfertigt.
Wer hat die Liste der »Opfer« des Terrors zusammengestellt? (Die »Sache« Molotow)
Der Sinowjew-Kamenjew-Prozeß (August 1936) ist gänzlich auf dem Terror aufgebaut. Die Aufgabe des, sogenannten »Zentrums« bestand darin, durch Ermordung der »Führer« die Regierung zu beseitigen und die Macht an sich zu reißen. Bei einer aufmerksamen Gegenüberstellung beider Prozesse, Sinowjew-Kamenjew und Pjatakow-Radek, ist es nicht schwer, sich davon zu überzeugen, daß die Liste der Führer, die angeblich ausgerottet werden sollten, nicht von den Terroristen zusammengestellt wurde, sondern von deren vorgesehenen Opfern, das heißt vor allem von Stalin. Seine persönliche Autorschaft tritt am deutlichsten hervor bei der Frage Molotow.
Nach dem Anklageakt in Sachen Sinowjew und Genossen »hat das vereinigte Trotzkistisch-Sinowjewistische terroristische Zentrum, nachdem es Kirow ermordete, sich nicht mit der Organisierung der Ermordung Stalins allein begnügt. Das terroristische Trotzkistisch-Sinowjewistische Zentrum arbeitete gleichzeitig an der Organisierung von Morden an anderen Parteiführern, nämlich der Genossen Woroschilow, Schdanow, Kaganowitsch, Kossior, Ordschonikidse und Postyschew«. Molotows Namen enthält diese Sammelliste nicht.
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Die Aufzählung der von den Trotzkisten ausersehenen Opfer variiert im Munde der verschiedenen Angeklagten, in verschiedenen Momenten der Untersuchung und der Prozeßverhandlung. Aber in einem Punkt blieb sie unverändert: keiner der Angeklagten nannte Molotow. Bei der Vernehmung während der Untersuchung sagte Reingold aus: »Die wichtigste Weisung Sinowjews bestand darin: man müsse den Schlag gegen Stalin, Kaganowitsch und Kirow führen.« In der Abendverhandlung vom 19. August 1936 sagte der nämliche Reingold: »Deshalb ist die einzige Kampfmethode terroristische Akte gegen Stalin und seine nächsten Mitkämpfer — Kirow, Woroschilow, Kaganowitsch, Ordschonikidse, Postyschew, Kossior und andere.« Unter den »nächsten Mitkämpfern« ist Molotow nicht bezeichnet. Mratschkowski gab an:»... wir sollten Stalin, Woroschilow und Kaganowitsch ermorden. In erster Linie war Stalin auserkoren.« Molotow ist wiederum nicht erwähnt.
Nicht anders verhielt sich die Sache auch mit meinen terroristischen »Direktiven«. »Die Gruppe Dreizer... bekam die Instruktion, Woroschilow zu ermorden, unmittelbar von Trotzki«, lautet der Anklageakt. Wie Mratschkowski erzählt, hat Trotzki im Herbst 1932 »wieder die Notwendigkeit betont, Stalin, Woroschilow und Kirow zu ermorden«. Im Dezember 1934 erhielt Mratschkowski durch Dreizer einen Brief von Trotzki, der »die Beschleunigung der Ermordung Stalins und Woroschilows« forderte. Dasselbe bestätigt Dreizer. Bermann-Jurin sagt aus: »Trotzki sagte, es sei notwendig, außer Stalin auch Kaganowitsch und Woroschilow zu ermorden.«
Somit habe ich im Laufe von drei Jahren Auftrag erteilt, Stalin, Woroschilow, Kirow und Kaganowitsch zu ermorden. Von Molotow war keine Rede. Diese Tatsache ist um so bemerkenswerter, als sogar in den letzten Jahren meiner Zugehörigkeit zum Politbüro weder Kirow noch Kaganowitsch dieser Institution angehörten und keiner sie für politisch wichtige Figuren hielt, während Molotow in der führenden Gruppe die zweite Person nach Stalin war. Jedoch ist Molotow nicht nur Mitglied des Politbüros, sondern steht auch an der Spitze der Regierung. Seine Unterschrift schmückt neben der Stalins die wichtigsten Regierungsverfügungen. Nichtsdestoweniger ignorieren die Terroristen des vereinigten »Zentrums«, wie wir gesehen haben, beharrlich Molotows Existenz.
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Am seltsamsten ist, daß der Staatsanwalt Wyschinski sich über diese Ignorierung nicht nur nicht wundert, sondern sie in der Ordnung findet. So befragt Wyschinski in der Morgensitzung des 19. August Sinowjew über die geplanten Terrorakte:
»Gegen wen?«Sinowjew: »Gegen die Führer.«
Wyschinski: »Das heißt gegen die Genossen Stalin, Woroschilow und Kaganowitsch.«
Das Wort: »das heißt« läßt keine Zweifel übrig: der Staatsanwalt schließt offiziell das Regierungshaupt von der Partei- und Landesführung aus. Schließlich, resümierend die Ergebnisse der gerichtlichen Untersuchung, geht der gleiche Staatsanwalt in seiner Anklagerede mit den Trotzkisten ins Gericht, »die die Hand erhoben haben gegen die Führer unserer Partei, gegen die Genossen Stalin, Woroschilow, Schdanöw, Kaganowitsch, Ordschonikidse, Kossior und Postyschew, gegen unsere Führer, gegen die Führer des Sowjetstaates«. (Sitzung vom as. August.)
Das Wort »Führer« ist dreimal wiederholt, es bezieht sich aber auch diesmal nicht auf Molotow.
Es ist ganz unbestreitbar, daß während der langen Vorbereitung des Prozesses des vereinigten Zentrums irgendwelche ernstlichen Gründe bestanden haben mußten, Molotow aus der Liste der »Führer« zu streichen. Die in die Geheimnisse der Spitzen nicht Eingeweihten konnten es nicht begreifen: weshalb erachteten es die Terroristen als notwendig, Kirow, Postyschew, Kossior, Schdanow — »Führer« von provinziellem Maßstabe — zu ermorden, während sie Molotow, der anerkannterweise um einen Kopf, wenn nicht um zwei Köpfe diese Opferkandidaten überragt, unbeachtet ließen. Schon im »Rotbuch«, das dem Prozeß Sinowjew-Kamenjew gewidmet ist, verweilt Sedow bei diesem Ostrakismus in bezug auf Molotow. Er schreibt: »In der von Stalin zusammengestellten Liste der Führer, die die Terroristen angeblich ermorden wollten, befinden sich Führer nicht nur erster Größe, sondern sogar Schdanow, Kossior und Postyschew. Molotow steht aber nicht drin. In solchen Sachen gibt es bei Stalin keine Zufälligkeiten...«
Worin besteht das Geheimnis? Von Reibungen zwischen Stalin und Molotow, in Verbindung mit der Ablehnung der Politik der »Dritten Periode«, gingen lange und beharrliche Gerüchte, die in der Sowjetpresse einen indirekten, aber deutlichen Widerhall fanden: Molotow wurde nicht zitiert, nicht gerühmt, nicht photographiert, einfach nicht erwähnt. Das »Bulletin der Opposition« hat diese Tatsache wiederholt vermerkt.
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Nicht anzuzweifeln ist jedenfalls, daß im August 1936 der Hauptmitkämpfer Stalins gegen alle oppositionellen Gruppen aus der Liste der regierenden Spitze in gröbster Weise öffentlich hinausgeworfen wurde. Man muß somit die Schlußfolgerung ziehen, daß die »Geständnisse« der Angeklagten, wie auch meine »Direktiven«, mithelfen sollten, eine bestimmte Konjunkturaufgabe zu lösen: Kaganowitsch, Schdanow und andere in den Rang von »Führern« zu erheben und den alten »Führer« Molotow zu diskreditieren.
Vielleicht aber verhält es sich so, daß die Gerichtsbehörde zur Zeit des Prozesses noch keine Beweise für Attentate auf Molotow in Händen hatte? Eine solche Hypothese hält keiner Kritik stand. »Beweise« existieren bekanntlich in diesen Prozessen überhaupt nicht: das Urteil vom 23. August 1936 spricht von Attentaten (gegen Postyschew und Kossior), die der Prozeßbericht mit keinem Wort erwähnt. Diese an sich nicht unwichtige Erwägung tritt zurück im Vergleich mit der Tatsache, daß in den Geständnissen der Angeklagten und vor allem der Mitglieder des »Zentrums« die Rede weniger von Attentaten als von Attentatsplänen war. Es wurde fast ausschließlich davon geredet, wen die Verschwörer zu ermorden als notwendig erachteten. Die Liste der Opfer wurde folglich nicht durch das Untersuchungsmaterial bestimmt, sondern durch die politische Einschätzung der führenden Gestalten. Um so erstaunlicher, daß die Pläne des »Zentrums« und meine »Direktiven« alle denkbaren und undenkbaren Märtyrerkandidaten betrafen — außer Molotow. Indes hat niemand jemals Molotow für eine dekorative Figur, wie etwa Kalinin, gehalten. Im Gegenteil, wenn man die Frage aufwerfen soll, wer könnte Stalin ersetzen, so muß man antworten, daß Molotow die meisten Chancen hat.
Vielleicht haben die Terroristen auf Grund der Gerüchte von Meinungsverschiedenheiten einfach beschlossen, Molotow zu schonen. Wir werden sehen, daß auch diese Hypothese einer Prüfung nicht standhält. In Wirklichkeit haben nicht die »Terroristen« Molotow schonen wollen, sondern Stalin wollte, um seinen Widersacher endgültig kirre zu machen, den Eindruck erwecken, die Terroristen hätten angeblich Molotow schonen wollen. Die Tatsachen sprechen dafür, daß Stalins Absicht von Erfolg gekrönt war. Schon vor dem Augustprozeß konnte man eine Versöhnung zwischen Stalin und Molotow wahrnehmen.
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Sie fand auch sofort ihre Widerspiegelung auf den Seiten der Sowjetpresse, die, auf ein Signal von oben, an die Wiedereinsetzung Molotows in seine alten Rechte ging. Man könnte auf Grund der »Prawda« ein grelles und überzeugendes Bild von der allmählichen Rehabilitierung Molotows während des Jahres 1936 geben. Das »Bulletin der Opposition« (Nr. 50, Mai 1936) verzeichnete diese Tatsache und schrieb: »Seit der Liquidierung der >Dritten Periode< befindet sich Molotow bekanntlich halb in Ungnade...« »Nun aber hat er sich in die Front eingereiht. In den letzten Wochen hielt er einige Panegyriken auf Stalin... Als Entschädigung steht sein Name an zweiter Stelle, und er selbst wird mächster Mitarbeiten tituliert.« In dieser Frage, wie in vielen anderen, löst die Gegenüberstellung der offiziellen Organe der Bürokratie mit dem »Bulletin der Opposition« viele Rätsel.
Der Prozeß Sinowjew-Kamenjew widerspiegelte die Periode, die der Versöhnung vorausging: man konnte aber doch nicht in aller Eile das ganze Material der Voruntersuchung ändern! Außerdem hatte es Stalin mit der vollen Amnestie nicht eilig: man mußte Molotow eine empfindliche Lehre erteilen. Und darum mußte sich im August Wyschinski noch an die alte Direktive halten. Dagegen fand die Vorbereitung des Prozesses Pjatakow-Radek schon nach der Versöhnung statt. Dementsprechend verändert sich die Opferliste, und zwar nicht nur in bezug auf die Zukunft, sondern auch in bezug auf die Vergangenheit. In seiner Aussage vom 24. Januar erzählt Radek, sich auf eine Unterhaltung mit Mratschkowski im Jahre 193a berufend: »Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß die Akte sich richten müssen gegen Stalin und seine nächsten Mitarbeiter: Kirow, Molotow, Woroschilow und Kaganowitsch.«
In der Morgenverhandlung vom 35. Januar sagte der Zeuge Loginow aus: »Pjatakow erklärte (Anfang des Sommers 1935), daß das Trotzkistische parallele Zentrum... terroristische Akte gegen Stalin, Molotow, Woroschilow und Kaganowitsch vorbereite...« Pjatakow versäumte selbstverständlich nicht, die Aussagen Loginows zu bestätigen. Die Angeklagten des letzten Prozesses nennen im Gegensatz zu den Mitgliedern des vereinigten »Zentrums« Molotow nicht nur unter den Opfern, sondern stellen seinen Namen gleich nach Stalin.
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Wer also hat die Liste der vorgemerkten Opfer zusammengestellt, die Terroristen oder die GPU? Die Antwort ist klar: Stalin durch die GPU. Die oben erwähnte Hypothese, die Trotzkisten hätten von den Reibungen zwischen Stalin und Molotow gewußt und Molotow aus politischen Rücksichten geschont, hätte nur dann auf den Schein der Glaubwürdigkeit Anspruch erheben können, wenn die Trotzkisten an die Vorbereitung der terroristischen Akte gegen Molotow erst nach dessen Versöhnung mit Stalin herangegangen wären. Es stellt sich jedoch heraus, daß die Trotzkisten schon im Jahre 1932 bestrebt waren, Molotow zu ermorden: nur haben sie im August 1936 »vergessen«, dies dem Staatsanwalt mitzuteilen, der Staatsanwalt seinerseits hat es »vergessen«, sie daran zu erinnern.
Sobald aber Molotow die politische Amnestie von Stalin erreicht, ist das Gedächtnis bei dem Staatsanwalt wie bei den Angeklagten zurückgekehrt. So sind wir Zeugen eines Wunders: obwohl Mratschkowski selbst in seinen Aussagen von der Vorbereitung terroristischer Akte nur gegen Stalin, Kirow, Woroschilow und Kaganowitsch zu berichten wußte, nimmt Radek, auf Grund seiner Unterhaltung mit Mratschkowski im Jahre 1932, nachträglich Molotow in die Liste auf.
Pjatakow hatte mit Loginow vom Attentat auf Molotow angeblich im Sommer 1935, das heißt mehr als ein Jahr vor dem Sinowjew-Prozeß, gesprochen. Und schließlich erzählen von einem »tatsächlichen« Attentat auf Molotow, das sich auf das Jahr 1934 bezieht — mehr als zwei Jahre vor dem Prozeß des vereinigten »Zentrums«! — die Angeklagten Muralow, Schestow und Arnold.
Die Schlußfolgerungen sind absolut klar: die Angeklagten waren hinsichtlich der Wahl ihrer »Opfer« ebensowenig frei, wie in Hinsicht auf alles andere. Die Liste der Objekte des Terrors bildet in Wirklichkeit eine Liste der den Massen offiziell empfohlenen Führer. Sie verändert sich je nach den Kombinationen an der Spitze. Den Angeklagten wie dem Staatsanwalt Wyschinski blieb nur übrig, sich den totalitären Instruktionen anzupassen.
Es bleibt noch die Möglichkeit folgenden Einwandes: sieht diese ganze Machination nicht zu plump aus? Darauf kann man nur antworten: sie ist nicht im geringsten plumper als alle anderen Machinationen dieser schändlichen Prozesse. Der Regisseur appelliert nicht an Vernunft und Kritik. Er will die Rechte der Vernunft erdrücken durch die Massivität der Fälschung, bekräftigt durch die Erschießungen.
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