4. Der industrieelle Mensch: die große Illusion Vogt-1948
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Zur Zeit der amerikanischen Revolution betrug die Bevölkerung der gesamten Welt alles in allem etwa 900 Millionen Menschen. Trotz der hochentwickelten Agrikultur, die durch vierzig Jahrhunderte in Asien bestand, und einer agrikulturellen Revolution, die sich in Europa entwickelte, waren sie außerstande, sich selbst zu ernähren.
Eine Studie in der Universität von Nanking berichtet, "daß von 108 v.Chr. bis 1911 n.Chr. 1828 Hungersnöte in China gewütet haben, also fast alljährlich eine. Eine Hungersnot in Bengalen-Indien soll ein Drittel der Bevölkerung hinweggerafft haben...".1
Edmund Burke ruft in seiner berühmten Rede der <Versöhnung mit den Kolonien>, die er 1775 im Parlament hielt: "Lange Zeit hindurch ist die Alte Welt von der Neuen ernährt worden. Die Knappheit, die ihr empfunden habt, wäre verzehrender Hunger gewesen, wenn nicht dieses Kind eurer alten Tage mit wahrhaft kindlicher Pietät, mit christlicher Barmherzigkeit dem Munde seiner erschöpften Mutter die volle Brust seines jugendlichen Überflusses gereicht hätte!" — Das sind Tatsachen, die zu einer Zeit, da die junge Welt von einer noch viel erschöpfteren Mutter angerufen wird, wohl des Nachdenkens wert sind.
In dem Zeitraum von 1200-1600 erlitt England (nach William Farr) rund alle fünfzehn Jahre eine Hungersnot,2) und um die Zeit Georg III. war das Leben, das hart an der Grenze des Hungertodes balancierte, ungefähr das, "was wir jetzt einen asiatischen Standard"3) nennen.
In Irland sollen, dem Bericht nach, Mißernten die Bevölkerung auf zwei und eine halbe Million reduziert haben.4) Wir besitzen keine Statistik darüber, welche Menschenzahl auf den britischen Inseln Hungers starb, aber die Gesamtzahl muß viele Millionen betragen haben. Die Menschen waren gezwungen, Katzen, Ratten, Farnwurzeln, Hunde und sogar Menschenfleisch zu essen.5.
Diese Notlage war nicht auf die britischen Inseln beschränkt. Ein großer kontinentaler Führer sagt in einer Ansprache an seine Truppen:
"Laßt euch nicht zurückhalten von dem, was ihr besitzt; nicht von der Sorge um eure Familien; denn das Land, das ihr bewohnt, von allen Seiten durch das Meer abgeschlossen und von hohen Bergen umgeben, ist zu klein für euch große Bevölkerung; es ist auch nicht reich und fruchtbar; es bringt kaum Nahrung genug für seine Bauern hervor. Daher kommt es, daß ihr mordet und einander verschlingt, daß ihr Krieg führt und oft an den Wunden zugrunde geht, die ihr einander schlagt.
Hört deshalb auf, euch zu hassen, beendet euren Streit und eure Kriege, laßt alle Auseinandersetzungen und Wortgefechte einschlafen. Betretet die Straße zum Heiligen Grabe; entringt das Land dem nichtswürdigen Volk, unterwerft es euch selbst! Das Land, in dem, wie die Schrift sagt, <Milch und Honig fließt>. Gott hat es in den Besitz der Kinder Israel gegeben!"Diese feierliche Ansprache — die ein Vorbild für Nürnberg und 1939 gewesen sein könnte — wurde 1095 n. Chr. von Papst Urban II. an die Kreuzfahrer gehalten.8
Bis ungefähr zur Zeit der industriellen Revolution waren Massentransporte von Nahrungsmitteln undurchführbar, und die Hortungsmöglichkeiten waren gleich Null. Wenn eine Mißernte kam, starben die Menschen. Wenn sie die Ertragsfähigkeit ihres heimischen Bodens erschöpften, gab es kaum einen anderen Ausweg als den Tod.
Eine Ausnahme war das alte Griechenland. Die Weisheit seines Volkes fand einen Ausweg, auf den selten hingewiesen wird; sie waren sich der ständigen Bedrohung durch Übervölkerung bewußt und verringerten diese Gefahr zweckdienlich durch Prostitution, Kindsmord, Auswanderung und Kolonisation.
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Vielen erscheint die Ethik solcher Maßnahmen abstoßend; sie würden Massenelend und Hungersnöte vorziehen. Im größten Teil der "zivilisierten" Welt sterben die Menschen einfach durch Nahrungsmangel.
Bis spät ins 18. Jahrhundert war die Hungersnot das normale, periodische Los der meisten menschlichen Gemeinschaften; und in vielen Teilen der Welt ist es so geblieben.
Dann aber brachen zwei kulturelle Revolutionen — sie hatten lange gebrütet — mit aller Macht über die Menschheit herein. Die erste war die industrielle Revolution. Sie vervielfachte die Gelegenheit zur Arbeit. Sie ermöglichte es einem Menschen, die Arbeit von zehn, hundert, tausend anderen zu leisten. Sie schuf große Städte mit Elendsvierteln, wie sie die Welt niemals gekannt hatte. Sie gebar einen völlig neuen Begriff des Lebens.
Natürlich kam die industrielle Revolution nicht urplötzlich ins Leben wie irgendein Keim, der hoch in den Himmel weht. Sie hatte Hohlwurzeln in der Vergangenheit und sandte dicke, saugende Zapfwurzeln in die Zukunft — besonders nach Westen hin. Ohne die agrikulturelle Revolution, die ihr etwa ein Jahrhundert voranging, wäre sie vielleicht totgeboren gewesen; das Problem, genug Nahrung hervorbringen, transportieren und horten zu können, um die aufschießenden Großstädte zu unterhalten, wäre wahrscheinlich ein tödlicher Faktor gewesen.
Der Parasit
Ohne die Neue Welt, von der wir Nutzen ziehen, wäre die industrielle Revolution ein verkümmerter Zwerg geblieben. Denn obwohl die Arbeit des Menschen immer wirksamer wurde und weniger Arbeiter nötig waren, um auf der Farm Nahrung zu erzeugen — der Überschuß an Arbeitern wurde für die Maschine frei —, nahm doch die Menge an Boden nicht zu. Tatsächlich schrumpfte sie zusammen durch das Anwachsen der Städte und den Bau der Landstraßen.
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Umgebungsmäßige Widerstände wurden durch die neue Agrikultur verringert; innerhalb eines Zeitraums von etwa sechzig Jahren verdoppelten verbesserte Zuchtmethoden für Rind und Schaf das Gewicht der Tiere, die auf den Markt kamen. Das biotische Potential wurde mehr als annähernd verwirklicht. Aber die totale potentiale Ertragsfähigkeit Europas verengte sich mit der Verringerung des Gebietes.
Der Grundstein zur industriellen Revolution wurde 1492 gelegt; die wohlbekannten Entdeckungen des Genuesers und der Entdecker, die nach ihm kamen, zogen ein langsames Nach-Westen-Tröpfeln der Bevölkerung nach sich, und damit ein Zurückströmen von Produkten aus der Neuen Welt. Galleonen aus dem südlichen Kontinent brachten eine unfruchtbare Ladung an Gold und Silber und Edelsteinen. Diese waren das Hauptinteresse der Spanier und solcher Freibeuter wie Sir Francis Drake. Sie brachten auch einen bescheidenen Schatz von den Anden — die Kartoffel, die der Alten Welt vieltausendmal so viel wert war wie die Schätze von Cajamarca und Tenochtitlän. Die Kartoffel paßte sich freundlich dem Boden und Klima Europas an und verringerte weiterhin für den Menschen den umgebungsmäßigen Widerstand.
Aber nicht genug. Die Nachfrage stieg zu rasch. Um ihre wachsenden Zahlen zu befriedigen, begann Europa mehr und mehr aus dem Boden der Neuen Welt zu ziehen. Die erste beträchtliche Ernte, die zurückgeschickt wurde, war Tabak — eine Ernte, von der sich unser Boden bis heute noch nicht erholt hat. Mais, Weizen, Baumwolle, Holz, Reis, Indigo, Wolle — dies alles und noch weit mehr rauschte nach Europa hinein, um das wirtschaftliche Vakuum zu füllen. Im späten 18. Jahrhundert wurden acht Ballen Baumwolle konfisziert, weil es "unmöglich" war, daß die amerikanischen Kolonien so viel hervorgebracht hatten, und man zu der Annahme neigte, sie kämen aus anderen verbotenen Gebieten. Innerhalb weniger Dekaden erhielt Europa Hunderttausende von Ballen aus Amerika. Das neue Wunder des Transports, einer der ersten Schößlinge der industriellen Revolution, machte die Überführung möglich.
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Die Neue Welt, besonders die Vereinigten Staaten, waren zunächst eine agrarische Gemeinschaft, und England versuchte, sie in diesem Zustand zu erhalten. Der Export seiner sich neu entwickelnden Textilmaschinen war bei Todesstrafe verboten: Dem setzte die amerikanische Revolution ein Ende — aber noch viele Jahre lang war Amerika ein sich immer mehr ausdehnender Markt für den europäischen, besonders den britischen Fabrikanten. Für seine Waren und eine gute Menge Kapital tauschten wir die Produkte unseres Landes — das heißt unser Land selbst; Jedesmal, wenn eine Million Bushel Weizen den Atlantik überquerte, wurden unausrechenbare Mengen von Bodenkrume in unsere Flüsse gewaschen.
Der Bevölkerungsdruck in der Alten Welt stieg weiter an. Man entdeckte bald, daß es bequemer und billiger war, einen 150-Pfund-Menschen zu exportieren, als die vielen Pfunde Lebensmittel zu importieren, die ihn ein Jahr lang am Leben erhielten. Iren, Italiener und Polen zogen aus den Elendsgebieten der Alten Welt in die Elendsgebiete der Neuen; waren sie einmal hier, so war es nicht allzu schwierig, sich herauszuarbeiten. Siedlungsland oder die Industrien (wie die Eisenbahn), die davon abhingen, lieferten fast jedem willigen Arbeiter günstige Gelegenheiten. In der ersten Zeit der Viktorianischen Regierung sah ein großer Teil der westlichen Welt nicht viel anders aus als eine Abenteurerstadt. Stephenson, Arkwright, Fulton, Spekulanten und Unternehmer taten das ihre dazu, daß das Rad sich schneller und schneller drehte — aber es waren die reichen Wälder Neuenglands, der Prärieboden von Illinois, das rote Land von Georgia und Karolina, die Hänge von Sao Paolo, der schwarze Boden der Pampas, die verhinderten, daß es sich langsam festfraß.
Dann kam der Franzose Louis Pasteur und erklärte der Welt, was Mikroben seien und welche Rolle sie bei den Krankheiten spielten. In Europa waren die Erwartungen gestiegen, die man auf das Leben setzte — bessere Diät, bessere Kanalisation, Wasserversorgung, üppigere Nahrung, aufsteigender materieller Lebensstandard. Die Bekämpfung vieler Krankheiten kam in den Griffbereich des Menschen, und der wirksamste Einhalt gegen die Übervölkerung begann zu schwinden. Jetzt war die sanitäre Revolution gekommen.
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Noch mehr hungrige Münder
Die Völker vermehrten sich geradezu rapide. Die einfachsten Praktiken der Gesundheitspflege — wie das Abkochen unreinen Wassers — verbreiteten sich rasch über Europa und Nordamerika, und von dort auf die übrige Welt. Dieser Funke genügte, um die Bevölkerungsexplosion zu entzünden.
In den hundert Jahren vor 1940 hatte sich die Bevölkerung der Erde mehr als verdoppelt — sie war von 1000 Millionen auf 2200 Millionen gestiegen!
Das 19. Jahrhundert gehörte natürlich Großbritannien. Es hatte einen riesigen Vorsprung bei der industriellen Revolution. Jahrzehnte lang konnte es Blankoschecks ausschreiben auf den Reichtum seiner Kolonien; es besaß garantierte Märkte, die es durch geschickte Kunstgriffe schützte — wie durch die 1000-Pfund-Strafe für seine Kaufleute, wenn sie Kalkutta-Kaliko importierten.7) Es besaß die fast unangefochtene Herrschaft über Schiffahrt und Industrieexport. Im Jahre 1870 "betrug sein Anteil an der Exportwarenfabrikation der Welt 32%".8)
Seine Bevölkerung zählte zur gleichen Zeit 26 Millionen Menschen.
Kein Wunder, daß es so nachdrücklich für den freien Handel eintrat! Es war ein befriedigter Parasit, der seine Nahrung aus den erodierenden Hängen von Neuengland, Iowa, Maryland, Argentinien, Südafrika, Australien und Indien zog. Und die meisten dieser Gebiete waren es mehr als zufrieden, sich aussaugen zu lassen — gegen gute Bezahlung. An den berühmten "Steaks und Chops" von Simpson hingen Nitrogen, Pottasche, Phosphor und andere Bodenminerale der halben Welt.
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Es ist deshalb begreiflich, daß Thomas Robert Malthus' Theorien unter den reichen Gaben aus dem Füllhorn der Neuen Welt begraben wurden.
Im Jahre 1798 hatte er davor gewarnt, daß die menschliche Bevölkerung größer würde als die mögliche Nahrungsbeschaffung. Dennoch versorgten täglich große Schiffe mit den Produkten jungfräulichen Bodens den Menschen nicht nur mit besserer Nahrung, sondern immer mehr Menschen mit immer reichlicherer Nahrung. Ein Wirtschaftler nach dem anderen verwarf den <düsteren Propheten>; die <allgemeine Meinung> zögerte nicht, sich den Wirtschaftlern anzuschließen, zumal Malthus' Heilmittel in der Bevölkerungseinschränkung durch Enthaltsamkeit lag. Warum sollte man sich viel um Übervölkerung sorgen? Überall stieg der Lebensstandard. Jeder Menschenüberschuß war willkommen in den neuen Ländern. Die "Produktion" (gleichviel, ob man sie in Geld oder Nahrungsmengen maß) stieg weiter an.
Was tat es, daß schon lange vor der amerikanischen Revolution die erstweiligen Kolonien begonnen hatten, erschöpften Boden liegen zu lassen?
Und dies in beschleunigtem Tempo fortsetzten, in gleichem Maße, wie der "Fortschritt" im 19. Jahrhundert weiterging?
Was tat es, daß der Zucker den Boden Westindiens aussaugte, daß der Kaffee die Berghänge von Guatemala bis Brasilien aufriß?
Es gab ja noch so viel Land, nicht wahr?
Die Wirtschaftler und Landwirte bezogen das hochempfindliche biotische Potential nicht in ihren Begriff "Kapital" ein. Geld und Reichtum waren auf ein Durchschnittsmaß gebracht, und die Handelsbilanzen sahen fast für jedermann günstig aus. Die Physiokraten hatten den Unterschied zwischen der symbolischen Ebene und der Wirklichkeit zwar bemerkt, aber sie tauchten unter in "Fortschritt" und "Prosperität".
Trotz seiner anfänglich täppischen Bemühungen durfte Britannien nicht hoffen, die Industrieproduktion zu monopolisieren, besonders da einige seiner kraftvollsten und kämpferischsten Söhne die Demokratie der Neuen Welt suchten. Die Warenherstellung verbreitete sich über den Kontinent, und auch die Städte der Vereinigten Staaten begannen sich auszudehnen.
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Wir bauten unsere eigene industrielle Ausrüstung zunächst für den Innenmarkt. Allerdings heißt das Wasserspülungsklosett in Südperu <el chicago>, aber der größte Teil der zerbrechlichen Installationen, die südlich des Rio Grande zu den wunderlichsten sanitären Gewohnheiten geführt haben, kamen von Großbritannien und dem Kontinent.
Während des Zeitraumes der großen Expansion war unser Markt nicht nur ein häuslicher, sondern vorwiegend ein ländlicher. Vor 1920 lebte die Mehrzahl unseres Volkes in Landbezirken, und es war ihre Kaufkraft, die unsere industriellen Planungen bestimmte. Und sie zogen ihren Reichtum natürlich überwiegend aus dem Lande.
Die Quelle des wirklichen Reichtums
Den Schlüssel zu dieser Beziehung gibt die Geschichte des Aufschwungs nach den Krisenzeiten zwischen 1873 (als die Daten zuerst zugänglich wurden) und dem ersten Weltkrieg, der neue Faktoren mit sich brachte.
1879 kam die Rekordweizenernte (459 Millionen Bushel!) mit ihren hohen Preisen, die sich aus der Knappheit anderer Länder ergaben. Sie verlieh den äußerst wichtigen Weizengebieten der Vereinigten Staaten eine ganz beträchtliche Erhöhung ihrer Kaufkraft, die zunächst die Expansion der Eisenbahn und dann in natürlicher Folge alle Phasen der geschäftlichen Tätigkeit anregte. Das gesteigerte Einkommen des Farmers wurde teils für Verbrauchsgüter, teils für wichtige Ausrüstungsgegenstände, die auf der Farm benötigt wurden, ausgegeben... Dieser wirtschaftliche Aufschwung von 1879 wurde auch durch die Baumwollmißernte in Indien unterstützt... Die Vorwärtsbewegung, die in der Landwirtschaft begonnen hatte, verbreitete sich in beschleunigtem Tempo durch das ganze industrielle System...
"Die merkliche Verbesserung der landwirtschaftlichen Situation (80.000.000 Bushel mehr, und dazu ein Preisanstieg von 60%), die in der Mitte des Jahres 1879 spürbar wurde, zog in schneller Folge eine allgemeine Ausdehnung der geschäftlichen Aktivität nach sich."
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"Auf dem eng damit verknüpften Gebiet des Eisenbahnbedarfes wurden in der ersten Hälfte des Jahres nur wenige Güter- und Personenwagen gekauft, nachher aber in verstärktem Maße ... die Situation der Landwirtschaft war eine mächtige Hilfe; und es ist nicht unmöglich, daß die leichte Verbesserung wieder nachgelassen hätte wie im Jahre 1895, wenn die agrikulturelle Situation im Herbst 1897 ungünstig gewesen wäre."
Der Autor sagt im gleichen Bande in einer Fußnote:
"Wenn man diese Periode studiert, ist es interessant zu bemerken, daß die wirtschaftliche Erholung Rußlands 1893 begann, zwei Jahre früher als in Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Rußland hatte 1893 ausnahmsweise große Weizenernten und entsprechend große Exporte, ebenso 1894, 1895 und 1896, wohingegen die amerikanischen Weizenernten dieser Jahre relativ klein waren. 1897 war die Situation gerade umgekehrt — eine kleine Weizenernte in Rußland und eine Rekordernte in Amerika."
"Es sei nebenbei bemerkt, das amerikanische Aufblühen im Jahre 1891-1892, dem nichts in den europäischen Ländern gleichkam, war ganz offensichtlich das Resultat der ungewöhnlichen Weizenernte von 1891, die auf 678 Millionen Bushel gestiegen war — also hundert Millionen Bushel höher als die vorhergehende Rekordernte. Infolge einer relativ kleinen Welternte waren die Preise annehmbar gut und wesentlich höher als in den darauf folgenden Jahren. Die Ausfuhren stiegen von 109 Millionen Bushel im Jahre 1890 auf 229 Millionen Bushel im Jahre 1891.
Im Jahre 1924 wiederholt sich die Situation: die Erholung von der scharfen industriellen Reaktion des Frühlings und Sommers scheint größtenteils durch eine sehr beträchtliche Weizenernte angeregt worden zu sein, die zu hohem Preis verkauft wurde. Die amerikanische Weizenernte betrug 1924 840 Millionen Bushel, gegen 795 im Vorjahr; aber der Preis stand am 1. Dezember 1924 auf 1,30 Dollar gegen 0,92 Dollar im Jahre 1923. Als Resultat der knappen Welternte stiegen die Exporte der Vereinigten Staaten von 132 Millionen auf 255 Millionen Bushel."9
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"Die Landwirtschaft repräsentiert die größte einkaufende Einheit für die Produkte der Industrie. Wir haben dreieinhalbmal so viel Arbeiter in der Landwirtschaft beschäftigt, als in der Eisen-, Stahl-, Automobil- und Bergwerksindustrie zusammengenommen. 36% aller Groß- und praktisch 50% aller Einzelhandelsgeschäfte führen landwirtschaftliche Produkte. Diese Gruppe beschäftigt 35% aller Gehalts- und Lohnempfänger im ganzen Groß- und Einzelhandel, dazu 40% der gesamten Frachttransporte der Eisenbahn; das alles hat seinen Ursprung im Boden."10
In Klammern sei bemerkt:
Wenn man die Wirkung der Kaufkraft des Farmers auf unsere Wirtschaft betrachtet, so ist es interessant, folgende Faktoren dabei zu erwägen: den Einfluß der steigenden Mechanisierung, den monopolistischen Hang zu Großfarmen, die sich daraus ergebende Schrumpfung der ländlichen Bevölkerung — und die wachsende Zusammenballung der Farmerkaufkraft in den Händen weniger Männer und Frauen!
Die Leute, die unsere ländlichen Märkte versorgten, zogen ihre Kaufkraft aus dem Boden. Aus einer sich nur eben selbsterhaltenden, nahezu unterstützungsbedürftigen Wirtschaft kommend, begannen sie Textilien, Farmverbesserungen, Fahrzeuge von wachsender Vollkommenheit und damit wachsendem Preis, moderne Sanitätsanlagen und mechanisierte Erholung zu kaufen — wachsende Mengen von Verbrauchern und Gütern.
Viele der Industrien, welche die Wünsche unserer ländlichen Bevölkerung befriedigen, wuchsen sich, wirtschaftlich gesprochen, zu Weltmächten aus. Während einer Zeit, da unser eigenes ländliches Gebiet noch der größte Markt war, verstärkten die Käufer dieser amerikanischen Industrieprodukte ihre Kaufkraft durch Farmpraktiken, die Millionen von Ackern unseres Landes zerstörten.
Der verstorbene Leonard Salter pflegte die Anekdote von dem Farmer aus Süd-Wisconsin zu erzählen, der an seiner Scheune lehnte und tiefbefriedigt bemerkte: "Ich hab' 180 Acker, Haus, Stall, Scheune und Vieh — ordentlich und schuldenfrei. Es hat mich siebzehn Jahre harte Arbeit und Schweiß und sechs Zoll Bodenkrume gekostet."
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Immer mehr Verschwendung
Angesichts der Tatsache, daß unsere ländlichen Bezirke nur durch die Ausbeutung des Bodens so wohlhabend wurden, kann man kaum umhin, den Schluß zu ziehen, daß ein großer Teil des amerikanischen Wohlstandes — der amerikanische Lebensstandard — durch eine ständige und anhaltende Zerstörung dieses einen Drittels unserer Bodendecke erkauft wurde. Hätten sich unsere Farmer von den Hängen ferngehalten, wo der Pflug nur zur Erosion führte, hätten sie sich auf Ackerbaumethoden beschränkt, die den Boden nicht zerstören, so hätten die Vereinigten Staaten freilich viel weniger Ackerland zur Verfügung gehabt. Ein großer Teil davon erreichte seine zeitweilig hohe Ertragsfähigkeit nur durch Ausnutzung und Raubbau. Das neue westliche Staubbecken, das mit dem Segen der US-Landwirtschaftskammer entstand, ist eine Probe aufs Exempel.
Erwägt man auf langfristiger Basis, daß eine Nation zunehmen muß, wenn sie nicht abnehmen soll, so hatten Millionen dieser Äcker, deren Zerstörung unsere Industriemacht aufgebaut hat, eine niedrige Ertragsfähigkeit. Aber wir wollten uns mit einem Gewinn von 1,5% nicht zufrieden geben. Wir wollten schnell reich werden!
Die Expansionsökonomie, deren Notwendigkeit ein Glaubensartikel der Wirtschaft geworden ist, war in der harten Wirklichkeit eine Beschränkungsökonomie, denn sie entwickelte sich auf Kosten unersetzbarer Kapitalgüter wie Boden und Mineralien, und solcher nur theoretisch erneuerungsfähigen Hilfsquellen wie Wasser, Wald, Weideland und Wildbestand. Denn erneuerungsfähige Hilfsmittel sind nur erneuerungsfähig, wenn sie auf der Basis gehandhabt werden, daß man den Ertrag in die Erneuerung steckt, und die Ernte auf die Ersatzkapazität beschränkt.
Seit 1670 haben wir von unserm Hilfsquellenkapital gelebt.
Wir haben das Kapital verbraucht, um teure Luxusanlagen zu bezahlen (z.B. unnötig sorgfältig durchgearbeitete Landstraßensysteme), um eine industrielle Organisation zu schaffen, die so kopflastig ist, daß sie ständig beschnitten werden muß, damit sie sich nicht überschlägt, und um einen materiellen Lebensstandard aufzustellen, der mit Papiergeld zusammengeleimt ist.
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Wir haben eine Verschwenderpsychologie entwickelt, die unsere einfachen Vorfahren abgeschreckt hätte, und von den Völkern anderer Weltteile als Wahnsinn, ja als verbrecherischer Wahnsinn angesehen wird. Unsere Zinnvorräte sind beschränkt, und es ist durchaus vorstellbar, daß wir einen Krieg anfangen, um uns den Zugang zu Zinnlagern zu sichern; dennoch hat die Zinnbeschlagnahme, eine Kriegsmaßnahme, vollkommen aufgehört.
Die Holzleute der Westküsten werfen Holz weg, das zwei- oder dreimal die Stärke des Bauholzes hat, das aus den östlichen Wäldern gekämmt wird. Der aufmerksame Beobachter wird bestätigen, daß wahrscheinlich Millionen von tropfenden Wasserhähnen kostbares Wasser verschwenden; in den Gebäuden des Kriegsdepartements forderten Tafeln mit Kriegsermahnungen, sparsames Umgehen mit dem Wasserreserven, und dabei leckten fast alle Wasserhähne im Hause.
Millionen unnötiger elektrischer Lampen verbrennen jahrein, jahraus ungezählte Tausende von Tonnen amerikanischer Kohle. Die sinnloseste Verschwendung treiben wir vermutlich mit Benzin. Wir sind eine importierende Nation, und dennoch verschwenden wir täglich Hunderttausende von Litern! Chauffeure aller Art lassen den Motor leer laufen, wenn er nicht in Gebrauch ist. Unsere Nervosität findet ein Ventil in Motorrennen und im Reisen mit einer Fahrtgeschwindigkeit, welche die Brauchbarkeit unserer Wagen verringert. Wir bauen mehr Kraft- und größeren Gasverbrauch als nötig in unsere Wagen. Wir benutzen Presse und Radio, um den Kauf von noch mehr Wagen zu propagieren.
Wir fahren damit jährlich Hunderte von Millionen Meilen nutzlosen Zielen nach. Trotzdem die Erschöpfung unserer eigenen Ölquellen vor uns liegt, schicken wir unsere Marine nach dem Mittelmeer, um der Sowjetunion die Zähne zu zeigen, auf den Zugang zum Öle Asiens bestehend — und zu Hause fahren wir fort, das eigene zu verschwenden. Ein großer Teil unseres Hilfsquellenkapitals ist aufgebraucht, aber wir haben immer noch unsere Yacht und unsere Rennställe — und eine Unmenge von Prozessen wegen Bruch des Eheversprechens.
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Die industrielle Struktur der Alten Welt war im selben Schwindelstil aufgebaut. Neue Länder — inklusive Afrika, Australien und beiden Amerikas — lieferten das Öl, von dem die Feuer der Bevölkerung brannten. Aus diesen Ländern kamen Rohmaterialien und Nahrungsmittel — Weizen, Mais, Tabak, Baumwolle, Holz, Öl, Mineralien und Unmengen anderer Dinge. Europa kaufte die Produkte, das Gleichgewicht des Handels wurde angegriffen, der hochwürdige Thomas Robert Malthus fiel mehr und mehr in Ungnade, und die Regierungen, die Wirtschaftler und Millionen von Durchschnittsmenschen, zufrieden mit dieser besten aller Welten, sammelten sich unter dem Banner des Dr. Pangloß.
Sie teilten mit unsern Pionieren die Illusion der <unbegrenzten Hilfsquellen>. Sie verstanden nicht, und die meisten von ihnen verstehen auch heute noch nicht, daß sie mit ihrer Wolle und Baumwolle, ihrem Tabak und Mais auch den Boden kaufen. Sie kaufen die Wasserrinnen Georgias, die Dongas in Südafrika, die Barrancas in Ecuador, die Überschwemmungen in Missouri und die Staubstürme in der Tasmanischen See.
Und das wird fortgesetzt! Wir prahlen mit unseren letzten Weizenernten, als seien sie nicht nur Zufälle günstigen Wetters — und dabei der Funken, der vielleicht neue Staubbecken aufflackern läßt. Wir verschiffen Waggonladungen von Korn nach Übersee, auf Kosten ebensolcher Waggonladungen von Bodendecke, die in den Golf von Mexiko sinken. Wir erhöhen unsere Steuerlast und/oder unsere Nationalschuld, um den Bevölkerungsüberschuß über zwei Ozeane hin zu füttern, und schädigen bei diesem Prozeß Tag für Tag unser Land, verletzen es zum mindesten so, daß man Jahrzehnte und viele Millonen Dollar brauchen wird, um es wieder zu hoher Ertragsfähigkeit zu bringen. Land- und Holzbarone in Lateinamerika kaufen sich Packards,* während die Bauern in den Niederungen in panischem Schrecken von den kranken Flüssen abwandern.
* (d-2015:) Autos?
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Die australischen Schafzüchter kämpfen um den tariffreien Markt, während die gute Erde ihrer viel zu dicht besetzten Weiden Tausende von Meilen über den Pazifik geweht wird.
Wäre der Parasit der europäischen industriellen Entwicklung nicht imstande gewesen, seinen Rüssel tief in neue Länder zu senken, so wäre die Geschichte der Welt anders geworden.
Enorme Bevölkerung, schwere Industrie, sozialer und wirtschaftlicher Druck hätten sich nicht zu diesem fürchterlichen Karbunkel entwickeln können, das als Weltkrieg
I aufbrach. Sie hätten auf kleinen Gebieten kleine Schwären gebildet, die aufgebrochen wären, ohne den Organismus der ganzen Welt zu zerreißen.Frankensteins Ungeheuer wäre zwar immer noch ein Ungeheuer, aber ein praktisch unschädliches Geschöpf. Da es sich aber von der ganzen Welt ernähren konnte — es saugte allein hundert Millionen Acker der besten Bodendecke der Vereinigten Staaten ein —, wuchs es so groß, daß es unkontrollierbar wurde. Der bestürzte britische Politiker, die Juden, die versuchen, an feindseligen Gewehren vorbeizuschlüpfen, die eigentlich gar nicht ihren Feinden gehören, die Indianerin, die um ihr Kind trauert — sie alle sind, in direktem historischen Sinn, Opfer dieser Überfütterung.
Die Geschehnisse der Weltgeschichte sind von nicht endender Faszination. Wäre Kolumbus zwei Monate früher oder später an der amerikanischen Küste gelandet — wie es der verstorbene Frank M. Chapaman ausgemalt hat —, so wäre er nicht dem Wanderzuge der Vögel nach Süden begegnet, und es wäre ihm wahrscheinlich nicht gelungen, seine meuternde Mannschaft zu beruhigen. Es gäbe kein palästinensisches Problem, keine Vereinten Nationen — und vermutlich keine Notwendigkeiten dieser Art.
Phantastisch? Natürlich, aber Phantasien, die berechtigt sind, wenn sie helfen, eine Brücke des Verständnisses zwischen den neueren — jetzt alternden — Ländern, und den immer zahlreicheren, immer hungrigeren Mägen zu schlagen.
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Der Trugschluß der Industrialisierung
Die Beziehung zwischen Volksmenge und Reichtum einerseits und den Boden andererseits ist noch deutlicher erkennbar, wenn wir einige Gebiete ins Auge fassen, in denen der Landhunger ersichtlicher ist als in den Vereinigten Staaten. Eins der tragischsten Beispiele einer weiten Diskrepanz zwischen der Bevölkerungszahl und der Ertragsfähigkeit des Landes, auf dem sie lebt, ist das Großbritannien des 20. Jahrhunderts.
Großbritannien war um Jahrzehnte früher als seine Konkurrenten fähig, sich Weltmärkte zu suchen. Es entwickelte frühzeitig die industrielle Geschicklichkeit, die ihm ermöglichte, zu niedrigen Preisen zu verkaufen, und — eines seiner größten Aktiva — seine Fabrikanten bewahrten die Achtung vor der Qualität, die die britischen Fabrikate, die britischen Lederwaren, die britischen Maschinen gleichbedeutend machten mit dem scheinbar unerschütterlichen Wert seines Pfundes Sterling.
Außer der Kohle besaß es fast keine wichtigen Roh- und Hilfsstoffe. Sein Hauptbesitz war der Fleiß und die Geschicklichkeit seines Volkes — und die Tatsache, daß es zuerst gekommen war. Seine Produkte waren gefragt, überall in der Welt, wo es Kaufkraft gab, und es wurde ihm leicht, seine Waren gegen Nahrungsmittel und Rohmaterial einzutauschen.
Jedoch in zweiten Teil des 19. Jahrhunderts mußte es sich mit einer starken Exportkonkurrenz Europas auseinandersetzen, und später traten auch die Vereinigten Staaten in den Wettbewerb. Noch unheilvoller war die Entwicklung konkurrierender Industrien in nahezu jedem Lande.
Ghandi, der vermutlich die Geschichte der britischen Industrie gelesen hatte, war scharfsinnig genug, um zu versuchen, den britischen Textilmarkt in Indien zu brechen. In der ganzen Welt gründeten die Völker (oft genug mit Maschinen, die sie aus England importierten) Spinnereien und errichteten hohe Zölle, um ihre neuen Industrien zu schützen.
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Als Britannien den Exportmarkt verlor, versuchte es, die Konkurrenz lahmzulegen, indem es die Preise senkte; mit anderen Worten, indem es den Lebensstandard seiner Arbeiter senkte. Britische Reeder hielten ihre Frachtsätze niedrig, indem sie ihren Matrosen Löhne zahlten, die unsere Seeleute mit wieherndem Gelächter ablehnen würden, und wir wiederum versuchten die Konkurrenz lahmzulegen, indem wir die britische Schiffahrt von unseren Küstengewässern ausschlossen und den Reedern und Seeleuten Unterstützungen angedeihen ließen, die aus den Taschen der amerikanischen Steuerzahler kamen.
Die Kosten der Operationen unserer amerikanischen Schiffe liegen um etwa 50% höher als die unserer Konkurrenten. Und die übrige Welt hat in ihrem Kampf gegen Britannien gesiegt. Britanniens Anteil an der Fabrikation fiel von 32% im Jahre 1870 auf 9,2% vor dem zweiten Weltkrieg. Dabei hat sich seine Bevölkerungszahl fast verdoppelt. Auch ohne den Krieg wäre sein Schicksal heute ein verzweifeltes. Auf den britischen Inseln wird wenig produziert — außer dem schottischen Whisky — was nicht anderswo ebenso billig zu kaufen ist. Die Qualität der britischen Fabrikate ist bemerkenswert geblieben, aber in einer Welt, wo die Menschen, die sich Qualitätsware leisten können, am schwersten von den Steuererhöhungen betroffen sind, hat die Qualität nicht mehr dieselbe Kaufkraft wie vor fünfzig Jahren.
Britannien hat jetzt eine Bevölkerungsdichte von 2500 Menschen auf jeder Quadratmeile anbaufähigen Bodens; das heißt, es kann trotz ausgezeichneter landwirtschaftlicher Methoden zu Hause nicht annähernd genug Nahrung hervorbringen, um das zu schaffen, was wir einen annehmbaren Lebensstandard nennen. Britannien hat sich seinen Lebensbedingungen von 1600 gefährlich genähert. Streng genommen ist es sogar durch den enormen Bevölkerungszuwachs in einer noch schlechteren Lage.
Erst jetzt beginnen seine führenden Männer dies Dilemma zu erkennen. In seiner Rede im Westminster College (diesem prachtvollen Anachronismus) unterschrieb Winston Churchill in völliger Unkenntnis der Befunde britischer Wissenschaftler den verhängnisvollen amerikanischen Satz:
"Es gibt genug Nahrung für alle. Die Erde ist eine großmütige Mutter; sie wird in Hülle und Fülle für ihre Kinder sorgen, wenn diese ihren Boden nur in Gerechtigkeit und Frieden bebauen!"
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Das britische Volk aber hat, angeregt durch die lange Anwesenheit der amerikanischen Soldaten, verlangende Blicke nach dem amerikanischen Lebensstandard geworfen. Die sozialistische Regierung rechnete auf "ökonomische" und "politische" Taschenspielerei, die ohne jede Basis von Land in der Luft hängend versprach, das Vereinigte Königreich an seinen eigenen Stiefellaschen wieder hochzuziehen, ohne zu erkennen, daß diese Stiefellaschen bereits bis zum Zerreißpunkt abgewetzt waren.
Wenn wir nicht willens sind, für fünfzig Millionen britischer Stiefel unter unserm eigenen Eßtisch Platz zu schaffen, werden wir erleben, daß die Hungersnot wieder einmal durch die Straßen von London schleicht. Und Hand in Hand mit dem Hunger wird der Schatten des klarblickenden englischen Geistlichen gehen —Thomas Robert Malthus.
Eine vergleichbare Situation finden wir im Inselreich Japan.
Hier ist die Bevölkerungsdichte sogar dreitausend Menschen auf jeder Quadratmeile anbaufähigen Bodens. Aber der Japaner hat den nicht unbeträchtlichen psychologischen Vorteil, an einen niedrigen Lebensstandard gewöhnt zu sein. Auch besitzt er neben der Kohle mehr mineralische Hilfsquellen als die britischen Inseln. Weiterhin hat er so viel Verständnis für seinen Boden, daß die westlichen Nationen ihn wohl beneiden dürfen. In vielen seiner Gebiete produziert er zwei Ernten pro Jahr. Aber mit der Einführung der modernen Industriemethoden und des modernen Sanitätswesens verdreifacht sich die japanische Bevölkerung in etwa fünfundsiebzig Jahren, und es ist klar, daß der Japaner selbst sich nicht auf einem anständigen Lebensstandard ernähren kann.
Deutschland hat denselben Zyklus durchlaufen.
Es verlangte das, was es für einen angemessenen Lebensstandard hielt — besonders für seine herrschenden Klassen. "Die Länder von Mitteleuropa waren überfüllt. Jedes Land brauchte Ausdehnungsraum und wünschte zusätzliche Märkte und Kolonien, auf die es seinen Bevölkerungsüberschuß abwälzen, und wo es Nahrung für den heimatlichen Bedarf anbauen konnte."12
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Wie die meisten Länder, die sich von außen bedroht fühlen und sich auszudehnen wünschen (insbesondere Diktaturen!), vermehrten auch sie absichtlich ihre Bevölkerungszahl, um Soldaten zu bekommen, und machten dadurch die Lage noch schlechter. Zwei Versuche, "den Platz an der Sonne" zu erobern, verliefen katastrophal; aber man kann Frankreich kaum dafür tadeln, daß es einen dritten fürchtet. Deutschland ist noch nicht imstande, genug für eine wachsende Bevölkerung zu produzieren.
Großbritannien, Japan und Deutschland waren die drei höchst industrialisierten Nationen der Welt. Keine von ihnen war fähig, durch die Industrialisierung einen hohen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, ohne Zugang zu entsprechenden Gebieten produktiven Landes. Die Fürsprecher der Industrialisierung wie die Fürsprecher der alleskurierenden Armut sollten diese Fälle wohl bedenken. Ein geschwächtes und relativ friedliebendes Britannien findet sich jetzt an der Grenze des Hungers. Japan und Deutschland suchten die Lösung, die schon Papst Urban II. empfohlen hatte. Durch den Schutt und die Trümmer ihrer Straßen schleicht der Hunger, und sie haben noch keinen Weg gefunden, ihre Völker auch nur mit zweitausend Kalorien täglich zu versorgen. Sie überzogen die Ertragsfähigkeit ihres eigenen Bodens und verloren die ökonomischen Mittel, aus dem Boden der übrigen Welt die Nahrung wie die Faserstoffe zu ziehen, die für den modernen Menschen unentbehrlich sind.
Der Trugschluß der Theorie, daß nur die Industrialisierung einen hohen Lebensstandard hervorbringen kann, wird in unserm Bild 1 sehr anschaulich dargestellt. Es basiert größtenteils auf den Studien des australischen Wirtschaftlers Colin Clark, der das wirkliche Einkommen mit dem Begriff internationaler Einheiten (international units) oder IU.s bestimmt hat.13
"Als internationale Einheit wird die Menge von Waren oder Diensten definiert, die ein Dollar in den USA kaufen kann, und zwar bei dem Durchschnittspreis der Zeitspanne von 1925-1934."
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Es ist höchst bezeichnend, daß vor dem Kriege unter den zehn ersten Ländern Kanada, Neuseeland, Argentinien und Australien waren. Länder, in denen die Industrialisierung nur sehr geringe Fortschritte gemacht hatte; das waren aber alles Länder mit (im Verhältnis zu ihrem Boden und anderen natürlichen Hilfsquellen) kleiner Bevölkerung. Auf der anderen Seite sinken die industrialisierten und übervölkerten Länder wie Schweden, Deutschland, Belgien, Tschechoslowakei, Japan und Italien hinunter bis zur fünfundzwanzigsten Stelle. Auch Großbritannien würde — wäre es nicht Pensionsempfänger Amerikas — heute auf der Liste weit nach unten kommen.
Die Schweiz hält ihren Standard durch eine Kombination von Bankwesen, Fremdenverkehr, und nahezu einem Monopol auf die Herstellung von Präzisionsinstrumenten und eine geringe Bevölkerungsziffer — trotzdem hat sie inzwischen wahrscheinlich beträchtlich Terrain verloren. Die Niederlande behalten ihre Position durch die Kolonien, die sie jetzt so ungern aufgeben wollen. Irland, dessen Bevölkerung einst millionenweise Hungers starb, hat diese Bevölkerung in den letzten hundert Jahren halbiert. Und Frankreich, dasein besonders gutes Gleichgewicht zwischen ländlicher und städtischer Verteilung besitzt, ist wahrscheinlich heute das einzige zivilisierte Land der Welt, das einen Bevölkerungsrückgang aufweist.
Diese zehn Länder waren in einer günstigen Lage — entweder durch die hohe Ertragsfähigkeit ihres eigenen Bodens, oder durch die der Länder, zu denen sie relativ zu ihrer Bevölkerung Zugang hatten; sie hätten diese durch übermäßige Bevölkerungszunahme sofort verloren; die Ertragsfähigkeiten dienten beschränkten Zahlen gut, größeren aber schlecht.
Ungesunde Geburtenziffern
In bezug auf die Rate der Bevölkerungszunahme rangieren die ersten zehn Länder in Begriffen des Lebensstandards in einer Liste von vierzig Ländern wie folgt:14
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Vereinigte Staaten
an 32.
Stelle
Kanada
an 21.
Stelle
Neuseeland
an 25.
Stelle
Großbritannien
an 39.
Stelle
Schweiz
an 36.
Stelle
Argentinien
an 17.
Stelle
Australien
an 30.
Stelle
Niederlande
an 22.
Stelle
Irland
an 27.
Stelle
Frankreich
an 40.
Stelle.
Es ist klar, daß sie eine relativ günstige Beziehung zwischen Ertragsfähigkeit und Bevölkerung (hungrigen Mägen!) haben, indem sie die Zunahme der letzteren kontrollieren.
Nur ein Land ist unter den zehn "wohlhabendsten" Ländern der Welt, welches mehr als die mittlere Rate des Bevölkerungszuwachses aufweist — Argentinien, das von seinem Hilfsquellenkapital lebt. Die zehn Länder mit den höchsten Zunahmeraten sind China, Indien, Formosa, Mexiko, Ägypten, Portoriko, Sowjetrußland, Chile, die Philippinen und Albanien — alles übervölkerte Länder mit äußerst niedrigem Lebensstandard.
Während einer beschränkten Periode — wenn die Industriellen eine monopole Position einnahmen oder dergleichen, und wenn es einen Überfluß an neuem Land und unerschöpften Hilfsquellen gab — hat die Industrialisierung zweifellos den Lebensstandard gehoben, obwohl die Konzentration des Reichtums diese Segnungen der großen Masse des Volkes fernhielt. Großbritannien war ein Beispiel des Fastmonopolisten auf internationaler Skala; die Vereinigten Staaten mit ihrem ausgedehnten Innenmarkt waren ein Beispiel auf nationaler Skala. Aber diese Zeiten sind tot wie Kaiser Nero. Die kleineren Nationen, wie zum Beispiel die Nationen Lateinamerikas, die sich zur Zeit bemühen, ihren Lebensstandard durch Industrialisierungsversuche zu heben, haben einfach zu spät begonnen. Außer in dem einen oder anderen dieser Länder — wie Argentinien oder Brasilien — ist ihr Boden, ihre nationale Ertragsfähigkeit, so arm, daß sie keine beträchtliche interne Kaufkraft besitzen.
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Ihre Landproduktivität ist zu niedrig, um genug Rohmaterialien exportieren zu können, die ihrer zunehmenden Bevölkerung einen hohen Lebensstandard sichern. Zu allem Unglück machen absurde Versuche zur nationalen Autonomie die Lage noch schlechter. Die kleinen Länder Mittelamerikas beispielsweise werden in einem erstickenden Panzer einschränkender nationaler Grenzen geradezu erwürgt.
Nachdem also die Industrialisierung allein offensichtlich nicht die Straße zur "Freiheit von Not" ist, müssen wir kurz auf zwei Gebiete blicken, in denen sie aus Mangel an Energie und Rohmaterialien unmöglich gewesen ist. El Salvador nähert sich in Eezug auf den Lebensstandard China und Indien. Es ist primär ein Agrikulturland, aber es hat seinen Boden, länger als vier Jahrhunderte, so brutal mißhandelt, daß es wahrscheinlich mehr als die Hälfte seiner Ertragsfähigkeit verloren hat. Es hat fast keine Exporte außer Kaffee, und zusätzlich kleine Mengen von Mais, die es gelegentlich, trotz des Hungers im eigenen Lande, nach Übersee verschifft; und würde die ganze Kaffeernte sozialisiert werden, wie es seine Linkspolitiker vorgeschlagen haben, so käme auf jeden Einwohner pro Jahr ein Sack im Werte von fünfzehn Dollar.
Dieses kleine Land ist besonders bezeichnend für Nordamerika, da es die Gestalt der Dinge trägt, die in Lateinamerika kommen werden. Die El Salvadorianer sind hartarbeitende, intelligente Leute von großer Redlichkeit. Diese Arbeiter scheinen sich allgemeine Achtung zu erringen, in welches Land sie auch auswandern. Aber sie haben die Kapazität ihres kultivierbaren Landes durch zu hohe Bevölkerungszahl erschöpft, und es bleibt ihnen heute nur etwa ein Acker pro Kopf; ein beträchtlicher Teil dieses Ackers ist noch dazu von schlechter Qualität. Das Resultat ist, daß Tausende von ihnen an Unterernährung sterben — das ist ein höflicher Ausdruck für das böse Wort Verhungern — und ihr durchschnittlicher Kaloriensatz nur etwa 1500 pro Tag ist. Das heißt natürlich, daß viele von ihnen noch weniger essen.
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Unsere geschützten Slums
Ein anderes Gebiet in unserer nächsten Nachbarschaft, und zwar eins, für dessen elendes Geschick das Volk der Vereinigten Staaten in hohem Maße verantwortlich zeichnen muß, ist Portoriko. Hier verdoppelte sich die Bevölkerung in den letzten zehn Jahren, d.h. seit es amerikanische Kolonie wurde. Dadurch blieb für jeden Einwohner weniger als ein halber Acker anbaufähiges Land15; und ein großer Teil des übriggebliebenen Landes (Portoriko ist schlimm erodiert) gehört den kontinentalen Zuckergesellschaften, welche die Erzeugnisse zu ihrem eigenen Profit exportieren.
Wenn die vorläufige hohe Rate des Bevölkerungszuwachses bleibt, wird Portoriko seine Menschenzahl in fünfundzwanzig Jahren wiederum verdoppeln — und dann haben die Bewohner weniger als einen viertel Acker anbaufähiges Land pro Kopf! Während ihrer Treuhänderschaft (ein ironisches Wort!) haben die Vereinigten Staaten Portoriko etwa eine Milliarde Dollar in Unterstützungen aller Art gegeben16. Trotz dieser Aussaugung des amerikanischen Steuerzahlers — eine Aussaugung, die, das darf man nicht vergessen, den Verlust von Arbeitsstunden und von Annehmlichkeiten wie besseren Erziehungssystemen, mehr Geld für Gesundheit, Dienstleistungen, Erholung usw, darstellt — trotz dieser Aussaugung des Steuerzahlers verdiente 1941-1942 die durchschnittliche Familie in Portoriko 350 Dollar!
Und dies Einkommen war geschwollen durch Kriegsverbrauch. "Im Jahre 1937 war das Pro-Kopf-Einkommen für Portoriko nur ein Siebentel so hoch wie das für die Vereinigten Staaten, und nur etwa ein Drittel so hoch wie das für Alabama, unseren ärmsten Staat17." Auch abgesehen vom Boden ist Portoriko arm an Hilfsquellen und an Energie — außer der Energie, leichtsinnig und unverantwortlich zu reproduzieren.
Der Bevölkerungszuwachs dieses insularen Slums (und ähnliche Bedingungen kann man vielleicht auch in einigen anderen unserer Kolonien finden) resultiert großenteils aus den Maßnahmen der US-Regierung.
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Wir trafen sie absichtlich und wohlüberlegt, um das Zunehmen der Bevölkerung zu fördern — verbessertes Sanitäts- und Ernährungswesen und medizinische Fürsorge — und haben praktisch nichts dazu getan, diese Maßnahmen auszubalancieren. Kürzlich ist ein Geburtenkontrollgesetz verabschiedet worden (von den Bewohnern Portorikos großenteils begrüßt), das helfen sollte, die Geburtenquote herabzusetzen; Dr. Senior berichtet jedoch: "Die Durchführung des Gesetzes ist überwiegend seinen Feinden anvertraut worden, und es wurde vorsätzlich sabotiert."
Die Totalsumme unserer Anstrengungen in Portoriko hat ein erschreckendes Ansteigen des Elends für jährlich immer mehr Menschen ergeben. Die Lehren einer solchen Fehlbehandlung werden aber anscheinend nicht von denen erwogen, welche dieses ökologische Problem in eine moralische Streitfrage verkehren wollen.
Eine Industrialisierung könnte Portoriko zwar vorübergehend helfen — auf Kosten des kontinentalen Arbeiters mit höherem Lebensstandard — aber man kann keine substantielle Besserung von ihr erwarten, es sei denn, man würde dieser sinnlosen Fruchtbarkeit Einhalt gebieten. Portoriko treibt geradenwegs der Straße Indiens und Chinas zu — und zwar mit asiatischer Geschwindigkeit.
Das gleiche tun El Salvador, Haiti, und eine Reihe anderer Länder, die nicht hoffen können, durch Industrialisierung eine Erleichterung zu finden, zumal ihnen der zollfreie Markt Portorikos fehlt. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die Zollschranken aufgehoben werden. Es gibt anscheinend auch keinen vernünftigen Grund, dies zu tun. Die übervölkerten Länder mit tiefem Lebensstandard würden auf einen freien Weltmarkt kommen, und zwar, wie es Japans Versuch beweist, mit den Erzeugnissen von Kuliarbeit. Greshams Gesetz ist auf die Arbeit ebenso anwendbar wie auf das Geld; billige Arbeit tendiert dazu, auf Kosten besser bezahlter Arbeit zu gedeihen und sie zu verdrängen. Warum sollten beispielsweise die Vereinigten Staaten die ungehemmte Vermehrung Chinas, Indiens und anderer Länder unterstützen, indem sie ihre Waren kaufen? Das einzusehen ist unmöglich.
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Ehe diese Länder nicht eine rationelle Bevölkerungspolitik treiben — so scheint es mir wenigstens —, haben sie kein Recht, von der übrigen Welt Hilfe zu erwarten.
Das gleiche läßt sich von den hochindustrialisierten Nationen Europas sagen. Ihre Industrie, die es ihnen hundert Jahre und länger ermöglicht hat, den Boden anderer Länder auszusaugen, war nichts als ein Notbehelf, ein Mittel, den Abrechnungstag hinauszuschieben. Vermutlich wird jedes Land der Erde versuchen, eine geschützte Textilindustrie aufzuziehen; wie können dann Völker mit älteren Industrieanlagen (wie das großbritannische) erwarten, einen Markt zu finden, durch den sie Fertigfabrikate gegen Nahrung und Rohmaterial vertauschen können ? Die Industrialisierung ermöglichte es hundert Jahre hindurch dem mächtigsten Sektor der menschlichen Rasse, so zu leben, als wäre er unabhängig von der Erde; sie hielt die große Illusion am Leben. Jetzt ist die Illusion geschwunden, wie ein Spiegelbild in der Luft der Wüste.
Schwerindustrien und solche, die dauerhafte Verbrauchsgüter liefern, kann man natürlich in kleinen Ländern mit beschränkter interner Kaufkraft nicht errichten. Wir haben einen Punkt industrieller Sättigung erreicht, wie das bei Großbritannien und sogar bei den Vereinigten Staaten augensichtlich wird, auf denen der Gedanke an ihre industriellen und agrikulturellen Überschüsse wie ein Albtraum lastet. Die Kaufkraft geht, und zwar fundamental, auf die natürlichen Hilfsquellen zurück — besonders auf den Boden — und keine symbolische Spiegelfechterei mit dem "Kapital" kann uns helfen, dieser harten Tatsache zu entfliehen. Es gibt zu viele Menschen in dieser Welt, als daß ihre beschränkten Hilfsquellen sie mit einem hohen Lebensstandard versorgen könnten. Durch den Gebrauch der Maschine, durch die Ausbeutung der natürlichen Hilfsquellen auf rein ausbeuterischer Basis haben wir unsere Vorladung vor den Richterstuhl hinausgeschoben.
Aber die feurige Schrift an der Wand der fünf Kontinente sagt uns jetzt, daß der Tag des Gerichts vor der Tür steht.
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Steine für Brot
Agrikulturelles Land, das jetzt bis auf einen Acker pro Person zusammengeschrumpft ist und, im Maße wie die Bevölkerung steigt und der Boden zerstört wird, schnell weiterschrumpft, produziert jedes Jahr weniger Nahrung. Die amerikanischen Überschüsse sind weit entfernt davon, typisch für die übrige Welt zu sein; und wenn wir nicht willens sind, unsere Tore einer Flut von Kompensationswaren zu öffnen, gibt es für uns nur einen Weg, um uns dieser Überschüsse zu entledigen — wir müssen sie weggeben. (Unsere agrikulturellen Überschüsse sind natürlich in großem Ausmaß illusorisch, nachdem sie auf Kosten der Ausnutzung und des Wegwaschens unseres Bodens selbst unser Kapital erschöpfen.)
Außer in einigen wenigen Gebieten der Alten Welt werden die Wälder nicht auf der Basis gleichbleibender Erträge bewirtschaftet; sie werden unbarmherzig ausgerottet. Das Grasland wird fast überall in der Welt überweidet, unsere eigenen Grasgebiete sind empfindlich verletzt, und der "Kuhblock", wie ihn ein Autor des Collier nennt, tut alles, was in seiner Macht steht, um ihnen den Gnadenstoß zu versetzen — nur um schnell reich zu werden. Die Wasserspiegel fallen, und die Beherrschung der Flüsse entgleitet uns. Wie ein Kätzchen, das mit einem Wollknäuel spielt, finden wir uns von Jahr zu Jahr in einer größeren Verstrickung.
Es gibt in der ganzen Welt nicht genug verfügbares, noch nicht angebautes Land, um den Nettozuwachs von 50.000 Mägen pro Tag auszufüllen. Und wenn wir unsere ökologischen DP.s berücksichtigen, so muß für viele Millionen jetzt lebender Menschen zusätzlicher Boden gefunden werden. Außer den Tropen besitzt nur die Sowjetunion greifbare Forstreserven, und die russischen Wälder sind zum großen Teil unzugänglich; tropische Wälder können noch nicht im großen Maßstabe ausgebeutet werden. Es gibt keine unangezapf ten Weiden; wir tun gut daran, uns jetzt unserer Steaks zu freuen, denn noch innerhalb der Lebensdauer der meisten Amerikaner werden sie sehr viel kleiner werden ...
104/105
Wir gehen einer sinkenden Ertragsfähigkeit des größten Teils der Erde und einem starken Zuwachs der Erdbevölkerung entgegen, daher müssen wir uns nach einer wirksamen Senkung unseres Lebensstandards umsehen. Tatsächlich und praktisch ist der niedrige Lebensstandard bereits da —obwohl wenige Menschen es zu bemerken scheinen — und er wird bestimmt noch niedriger werden. Ein Symptom dafür ist die Inflation in Beziehung auf das Realeinkommen. Ein anderes sind die hohen Polizeikosten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im übervölkerten Europa und Asien. Ein anderes sind die großen Anleihen, durch die wir versuchen, die Weltökonomie zu stützen, welche die meisten Leute zweifellos für Geschenke halten. Ein anderes ist unsere unbeschränkte Wohltätigkeit — siehe die UNRA.
Und ein weiteres ist die Notwendigkeit, bedürftige Millionen von Menschen aus unseren eigenen sinkenden Bodenhilfsquellen zu ernähren, zu bekleiden, ihnen Obdach zu schaffen.
Wir werden uns schwerlich, ausgenommen durch einen offenen Krieg, dem unglücklichen Los der Briten nähern, zumal unsere Bevölkerung sich im Gleichgewicht hält. Aber die steigenden Unkosten und immer höher werdenden Steuern treffen die meisten Amerikaner schwer. Die lospitale bieten weniger Vorteile; unsere Schulen werden ausgehungert und die Qualität unserer nationalen Erziehung st rapid im Absinken; einige unserer wesentlichsten Regierungsleistungen werden im Namen der Ökonomie zertrümmert; öffentliche Einrichtungen wie Museen, Bibliotheken und Colleges werden von Jahr zu Jahr ärmer; die Kaufkraft der Mittelklassen, besonders der Berufsgruppen, wird mehr und mehr auf die Notwendigkeiten des Lebens geschränkt. Dies Absinken ist etwas verkleidet durch die Rückla n der Kriegsersparnisse, die aber rasch zusammenschrumpfen. Der Aufprall dieser Schrumpfung der Kaufkraft auf unsere gesamte Wirtschaft ist sicherlich erschütternd, um es milde auszudrücken; wie seine Resultate sein werden, kann niemand ohne eine wirtschaftliche Kristallkug voraussehen.
So bitter die Pille sein mag — ein Sturz unseres Lebensstandards ist unvermeidlich. Es würde zur sicheren Katastrophe führen, wenn wir jetzt in unser immer noch relativ weiches Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen wollten. Ebenso unheilvoll wäre es, die Sturzwellen vor uns zu ignorieren, wenn es auch langsamer zur Katastrophe führte.
Niemals war in modernen Zeiten die Notwendigkeit zu klarem Denken größer, zu einem Denken, das so weit wie möglich vom Gefühlsmäßigen und Traditionellen entfernt ist. Niemals war die Notwendigkeit größer, hochherzige führende Männer zu haben, denen jeder parteimäßige Eigennutz fern liegt.
Zum Glück sind wir mit einem Wissen ausgerüstet, wie es die Menschheit nie zuvor besessen hat; wenn wir intelligent und mutig genug sind, uns dieses Wissens zu bedienen, können wir dem Zusammenbruch unserer Kultur immer noch entgehen. Aber wir können es nicht allein durch "politische" und "wirtschaftliche" Mittel. Wir müssen dabei den ganzen Menschen im Auge haben, und seine ganze Umwelt. Vor allem müssen wir uns darüber klar werden, daß jedes Reiskorn, das der Mensch in seinen Mund steckt, jedes Stückchen Kartoffel, jeder Bissen Fleisch, jede Scheibe Brot durch einen Brocken Erde irgendwo auf der Welt ersetzt werden muß.
Wir müssen erkennen, daß nicht nur jedes Gebiet eine begrenzte Ertragsfähigkeit hat, sondern auch, daß diese Ertragsfähigkeit schrumpft und der Bedarf wächst. Ehe nicht dieses Verständnis ein allerinnerster Teil unseres Denkens geworden ist und einen mächtigen Einfluß auf die Bildung unserer nationalen und internationalen Politik gewinnt, werden wir schwerlich erkennen können, in welcher Richtung unsere Bestimmung liegt.
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William Vogt Road to
Survival Die Erde rächt sich 1948