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Fünf Arbeitsfelder aus meinem Pfarreralltag

 

 

   (1)  Ökoarbeit  

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1981 kam ich als 2. Pfarrer (Archidiakon) an den Dom St. Marien zu Zwickau. Vorher war ich fast zwölf Jahre in Quesitz bei Leipzig Pfarrer. Der Dom ist eine Zentralkirche mitten in der Stadt. Diese Lage begünstigte die offene Arbeit, und für mich war Mission eine Chance. Jeder durfte kommen und war gern gesehen. Am Dom war der Jugendliche Michael Paschold hauptamtlich als Küster angestellt. Er besaß eine kircheneigene Wohnung in einem Hinterhaus, in die er öfters Jugendliche einlud und mit ihnen feierte. Sie hörten Musik, spielten zusammen und übernachteten mitunter bei ihm.

Eines Tages hatten sie die Idee, den Hinterhof freundlicher zu gestalten. Die Gedanken wurden in die Tat umgesetzt, die Haustüren wie die Mülltonnen sind mit bunten Blumen bemalt worden. Dann meinte man, die Stadt etwas freundlicher gestalten zu müssen. Die Jugendlichen sind mit Plastesäcken durch die Stadt gezogen und haben das herumliegende Papier und den Unrat eingesammelt und anschließend entsorgt.

Durch Zwickau fließt die Mulde, die als Müllkippe benutzt wurde. Die Jugendlichen zogen Autoreifen, Schrott, Leiterwagen etc. heraus und reinigten sogar ein Stück Uferpromenade. Sie forderten die Stadtverwaltung auf, die Dreckberge zu beseitigen, was auch geschah. In der Weihnachtszeit 1983, als die Hochrüstung in Ost und West auf Hochtouren lief, gingen die Jugendlichen auf den Weihnachtsmarkt. Sie hatten sich mit Bettlaken als Engel gekleidet und schenkten den Besuchern brennende Kerzen als Zeichen des Friedens. Diese Aktion wurde von der Stasi als Vermummungsaktion ausgelegt und untersucht.

Bei einem Kaffee erzählte mir Herr Paschold, dass gestern wieder einmal die Polizei in seiner Wohnung gewesen sei. Er schilderte mir folgenden Hergang: Es klingelte an der Wohnungstür. Beim Öffnen standen zwei Uniformierte davor; einer setzte sofort seinen Fuß zwischen Tür und Schwelle, damit die Tür nicht zugeschlagen werden konnte. Ohne zu fragen drangen sie in die Wohnung ein, durchsuchten alle Räume, kontrollierten die Ausweise der Anwesenden und machten sich entsprechende Notizen. So etwas sei in der letzten Zeit häufig vorgekommen. 

Für mich war das ein Zeichen äußerster Gefährdung, die Gruppe und ihr Tun wurden beobachtet. Ich schlug innerkirchlichen Alarm. Ich informierte den Superintendenten Günther Mieth (OV "Geier") und unterrichtete den Kirchenvorstand. Im Kirchenvorstand kamen wir überein, dass der Superintendent einen Brief an die Direktion des Volkspolizei­kreisamtes (VPKA) schreiben sollte, was er auch umgehend tat. Darin wurde klargestellt, dass die Personen­feststellungen in einem privaten Wohnraum ohne Hausdurch­suchungsbefehl erfolgte und dass die Arbeit des Kirchners Gemeindearbeit sei. Die Antwort vom VPKA enthielt die Entschuldigung, die Streifenpolizisten hätten nicht sachgerecht gehandelt. Der Kirchenvorstand hat daraufhin mit Herrn Paschold einen neuen Mietvertrag abgeschlossen. Es wurde festgeschrieben, dass seine Wohnräume auch für die kirchliche Jugendarbeit genutzt werden. Wir haben beobachten können, dass die Polizei keine weiteren Kontrollen durchführte.

Im Frühjahr 1984 wurde Herr Paschold zu den Bausoldaten der Nationalen Volksarmee (NVA) einberufen und sein Freundes­kreis besaß so kein Zuhause mehr. Ich kümmerte mich um die ökologisch Interessierten und lud sie ins Dom­gemeinde­haus ein. Sie nahmen das Angebot an, weil ich schon vorher bei ihnen ein und aus ging. Daraus hat sich ein systematisch arbeitender Ökokreis gebildet. Es stießen weitere Jugendliche von der sozialdiakonischen Arbeit der Stadtmission hinzu, die Diakon Frank Kirschneck (OV „Kreis") aufgebaut hatte.2


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Der größte Teil nahm auch bei mir am Glaubenskurs teil und ließ sich taufen oder konfirmieren. Sie sahen in der Ökogruppe ein Betätigungsfeld, in dem sie ihr Christsein konkret umsetzen und Verantwortung übernehmen konnten. Jörg Banitz (OV „Kreis"), der später nach dem Ausscheiden und Tod von Herrn Paschold Domküster wurde, hat den Ökokreis bis Herbst 1989 selbstständig geleitet.

Die Jugendlichen hatten sich zur Aufgabe gestellt, die Bevölkerung auf die schlimmen Umweltprobleme, die totgeschwiegen wurden, aufmerksam zu machen und sie dafür zu sensibilisieren. Aus heutiger Sicht ist es unverständlich, dass es nach den staatlichen Angaben keine Umweltprobleme gab.

Es wurden Umweltabende mit Kabarett, Bibel, Verkündigung und Meditation unter dem Thema „Es grünt so grün ... oder nimmt der Dreck die Farbe weg", organisiert. Die Schauspielerin Ute Ziedrich-Büning und das Musikerehepaar Ronny und Conny Hofmann haben mit ihren Fähigkeiten die Jugendlichen ausgebildet, öffentlich aufzutreten. 

2)  Kirschneck hat in der Robert-Müller-Straße in einem Abbruchhaus eine Wohnung ausgebaut, die von den Jugendlichen mit ausgestaltet und bemalt wurde. Sie wurde als „Kiste" bezeichnet. Kirschneck hat eine offene diakonische Jugendarbeit betrieben, die sich um kirchenferne und gefährdete Jugendliche (Arbeitslose, Strafgefangene, Alkoholiker, Aussteiger) kümmerte. Später hat er die Räume unter der Lutherkirche zum sogenannten „Lutherkeller" umgebaut. Dort wurde eine offene und ansprechende Jugendarbeit möglich. Der Lutherkeller ist zum alternativen Zentrum der Stadt geworden, in dem u. a. auch Stephan Krawczyk zum regelmäßig stattfindenden Liederabend eingeladen wurde. Wenn Jugendliche am Glauben interessiert waren, wurden sie zu mir in den Glaubenskurs am Dom empfohlen. 

Das gute Miteinander zwischen Dom und Sozialdiakonie war eine segensreiche Zeit. - Aber diesen Weg hat auch die Stasi benutzt, um IM in die Kirche und in meine Arbeit einzuschleusen z.B. der Schuster Frank Gille als IMB "Christoph Höhne", der Lehrling für Fertigungsmittel im Sachsenring Peter Linsener als IMS "Alex Wirth", der Anlagenfahrer bei der Wismut und Hobbyfunker Josef Miszier als IMS "Horst Kolbe". Im Auftrag der Stasi haben sich die IM taufen oder konfirmieren lassen und später hat mitunter sogar die Stasi die Kirchensteuer bezahlt. Durch die schriftlichen Berichte der IM ist diese Zeit gut dokumentiert. Ich selber habe kein Tagebuch geschrieben, denn das hätte gefährlich werden können.


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Das Programm wurde in Zwickau, Schneeberg, Annaberg, Glauchau, Werdau, Meerane, Hohenstein-Ernstthal und bei kirchlichen Jugendtagen aufgeführt. Dabei wurde u.a. auch ein Erlenmeyer-Glaskolben mit Muldenwasser herumgereicht, aus dem ein stechender Geruch ausströmte, und ein verdorrter Tannenbaum gezeigt, der auf das Waldsterben des Erzgebirges hinwies. Neben den Umweltabenden sind verschiedene Arbeitseinsätze organisiert worden, die über den Rat der Stadt innerhalb des Stadtgebietes stattfanden. Später wurden diese Einsätze fast nur auf dem Kirchengelände oder im Kirchenwald durchgeführt.

Es dauerte nicht lange, bis der Superintendent und ich zum Oberbürgermeister Heiner Fischer ins Rathaus bestellt wurden.3)  Es wurde mir vorgeworfen, dass ich mich in staatliche Angelegenheiten einmische, da die Umwelt ausschließlich Sache des Staates sei, dass ich Angriffe auf den Sozialismus und den Staat provoziere, dass ich eine illegale Organisation bilde, dass ich das Veranstaltungs­gesetz verletze, dass ich die Jugendlichen aufputsche, dass es in der Kirche keine eigenständige Umweltpolitik geben dürfe, dass ich mich ausschließlich um religiöse Dinge zu kümmern hätte und nur auf christliche Bürger Einfluss nehmen dürfe, einen ordentlichen Standpunkt zu erlangen.

Die Folge dieser staatlichen Konfrontation war, dass der Kirchenvorstand beschloss, ab jetzt die Ökogruppe offiziell zu einem festen Bestandteil der Domgemeinde zu machen. Ihr wurde der Namen "Christ und Schöpfung" gegeben. Die wöchentlichen Veranstaltungen sind in den Kirchenboten mit aufgenommen worden, und ich hatte offiziell die Verantwortung zu tragen. 

3)  Die Gespräche fanden am 4.12.1984 und 28.5.1985 statt; zugegen waren der Stellvertreter des Bürgermeister für Inneres Rolf Stowasser, Stadtrat Dr. Horst Werner (IMS „Gerhard Förster") und der Referent für Kirchenfragen Günther Zöphel als IME „Ludwig". Beim Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt ist mit dem Landeskirchenamt am 18.12.1984 ein ähnliches Gespräch geführt worden, von dem ich erst aus dem Aktenstudium erfuhr. Es war eine konzertierte Aktion.


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Die Basisgruppe ist bei dieser Entscheidung weder mit einbezogen noch befragt worden, aber sie nahm dankbar an, dass sich der Kirchenvorstand und der Superintendent schützend vor sie stellte. In dieser Situation war der Beschluss richtig. Die Fürsorge- und Obhutspflicht wurde wahrgenommen.

In dieser Zeit entstand auch ein Gesprächskreis von Akademikern, in dem neben ökologischen Problemen auch theologische, ethische, politisch, soziale und psychologische Fragen erörtert wurden. Die Stasi erfasste diesen Kreis in der OPK „Forum" und versuchte, einen IM einzuschleusen, was jedoch nicht gelang.

Die Gemeindehelferin Ute Böhme (OV „Konform") scharte engagierte Frauen um sich. Daraus entstand eine feministische Frauengruppe, die zielgerichtet die Frauenfeindlichkeit der DDR-Gesellschaft anklagte und neue Lebensformen von Gleichberechtigung anbot. Diese Basisgruppe ist von der Stasi mit IM unterwandert worden.

 

   (2)  Gottesdienst neu erlebt  

 

Die Glaubenskursteilnehmer zeigten nicht nur Interesse für die Ökoarbeit, sondern einige setzten sich für eine Neugestaltung des traditionellen Gottesdienstes ein und brachten ihre Begabungen ein. Sie organisierten, dass an bestimmten Tagen ein "Gottesdienst neu erlebt" in der Domgemeinde stattfand. Besondere Ereignisse oder Gedenktage wurden bewusst unter Gottes Wort gestellt und nicht nur der Gemeinde, sondern der ganzen Bevölkerung angeboten.4) Die Einladungen konnten nicht über die Presse gehen, denn das war nicht möglich.

4)  Es waren im Schnitt drei bis vier Gottesdienste, die intensiv vorbereitet wurden: beispielsweise 8. März (Internationaler Frauentag), 1. Mai, 8. Mai (Befreiung vom Hitlerfaschismus), 6. August (Abwurf der 1. Atombombe auf Hiroshima), l. September (Weltfriedenstag), 9. November (Reichskristallnacht), Friedensdekade. 
Zu den Christvespern am heiligen Abend, zur Auferstehungsfeier am Ostermorgen, aber auch zu anderen Gottesdiensten haben sich die jungen Christen mit eingebracht. Die Personen, die sich engagierten, sind entweder in den bereits erwähnten OV oder in neu angelegten Vorgängen bearbeitet worden: OV „Kontraste", „Konzept" und andere.


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Da der Dom mitten im Stadtzentrum steht, sind die Fenster zur Plakatierung benutzt worden. Ein Anliegen der Gottesdienste war es, nicht nur Gottes Wort zu verkündigen, zu singen und zu beten, sondern das Gehörte in die Tat umzusetzen und selber aktiv zu werden. Eine Veränderung oder ein Neuanfang sollte nicht von den anderen gefordert werden, sondern konnte zuerst bei sich selber beginnen und zur Nachahmung anregen. Umkehr und Neuanfang wurden nicht als Forderung angesehen.

 

Erinnert werden soll auch an die innerkirchlichen Schwierigkeiten, die bei den „Gottesdiensten neu erlebt" über Jahre hinweg bestanden. Am Dom gab es zwei Kirchenmusiker: Kantor und Kirchenmusikdirektor Paul-Eberhard Kreisel und den Organisten Günther Metz.5) Beide hatten etwas gegen neue Lieder und andersartige Musik. Die Auseinandersetzungen wurden bis hin zum Landeskirchenamt getragen und als Kompromiss habe ich dann musikalische Elemente in die Verkündigung aufnehmen müssen. Dieses Recht habe ich mir als Pfarrer nicht nehmen lassen.

Hervorheben möchte ich den Michaelistag 1986. Es wurde ein Gottesdienst vorbereitet und gestaltet unter dem Thema: „Kinder an die Macht". Das war der Titel eines Liedes von Herbert Grönemeyer und sollte von der Schallplatte abgespielt werden. Für die Kirchenmusiker war das eine „Konserve", die nichts im Dom zu suchen hatte. Ich habe dann diesen Titel während der Predigt einspielen lassen.

Im Vorfeld des Gottesdienstes habe ich mich mit der Jugendfürsorgerin Frau Charlotte Liebold und dem Staatsanwalt Herrn Seelinger auseinandergesetzt, um konkrete Informationen über die wirkliche Situation der Problemkinder aus Zwickau zu erhalten. Diese Tatsachen habe ich dann im Gottesdienst bekannt gemacht. 

5)  Allerdings muss auch gesagt werden, dass der Organist Metz seine Bedenken oft zurückgestellt und die Gottesdienste mit seinen einmaligen und unvergesslichen Orgel­improvisationen bereichert hat.


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Als besondere Aktion sind im Gottesdienst Pakete und Päckchen gepackt worden, die an Kinder in Kinderheimen geschickt wurden. Elemente dieses Gottesdienstes sollten auch zum Nationalfeiertag der DDR am 7. Oktober, an dem der Dom für die Bevölkerung geöffnet war, eingebracht werden.

Einen Tag vor dem Nationalfeiertag wurden der Superintendent und ich zu einem Disziplinierungsgespräch zum Ober­bürger­meister geladen. Er stellte fest, dass der Gottesdienst <Kinder an die Macht> ein Angriff auf den sozialistischen Staat sei und dass das sozialistische Gesundheitswesen und die Sozialpolitik der DDR verleumdet worden wären. Ich hätte u.a. gesagt, dass in Zwickau jährlich zwischen 600 bis 800 Schwangerschaften legal unterbrochen würden, was Mord an wehrlosen Menschen sei, dass das jüngste geschlechtskranke Kind neun Monate alt sei und das sei geschehen, weil der leibliche Vater, der geschlechtskrank war, sich an ihm vergangen habe, dass ein Kind ans Bett gefesselt worden sei, während sich die Eltern vergnügten. 

Er sagte, hier liege eine Einmischung in staatliche Angelegenheiten und eine Diffamierung der Staatsorgane vor; ich würde strafbare Handlungen und Verbrechen, die einer Anzeigepflicht unterlägen, decken. Ich spräche nicht die Wahrheit, weil das alles nicht geschehen sei, und ich sei der einzige Zwickauer Pfarrer, der das gute Verhältnis von Staat und Kirche störe. Er werde als Bürgermeister das Landeskirchenamt bitten, meine Versetzung zu veranlassen.

Der Superintendent wies sofort die Anschuldigungen zurück und schrieb später noch einen Brief, in dem er betonte, dass die öffentliche Verkündigung auch auf gesellschaftliche Prozesse einzugehen habe, dass die negativen Beispiele den Staatsorganen bekannt seien, und erinnerte daran, dass ich als Pfarrer einer seelsorgerlichen Schweigepflicht unterliege und keine vertraulichen Informationen weiterzugeben habe.


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Im Anschluss sind die staatlichen Anschuldigungen im Vorbereitungsteam diskutiert und ausgewertet worden. Wir kamen überein, bestimmte Elemente am 7. Oktober wegzulassen und nur ein Miniprogramm anzubieten. Das war ein Erfolg des Gespräches.

Im Herbst führte der Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt mit dem Landeskirchenamt Gespräche, die meinen Weggang aus Zwickau zum Inhalt hatten. Daraufhin sind mit mir vier Kadergespräche geführt worden, die das Ziel hatten, mich zu bewegen, die Domgemeinde zu verlassen. Mir ist freundlich und verbindlich gesagt worden, dass meine Fähigkeiten und Begabungen in einer anderen Gemeinde besser zur Entfaltung kommen könnten und dass ich in Zwickau fehl am Platze sei. Ich sollte weggelobt werden. Für mich war das Abwerben wie Honig ums Maul schmieren. Als sachlicher Grund wurde angegeben, dass ich als Pfarrer zuviel am Dom sei, obwohl im Herbst 1986 erst die dritte Pfarrstelle durch Pfarrer Rudolf Hübler neu besetzt worden war.6

 

   (3) Amnestie-Arbeit  

 

Sie begann im Herbst 1987, als eine allgemeine Amnestie zum 38. Jahrestag der DDR erfolgte. Diese war die größte seit der Gründung der Republik und führte bis zum 12. Dezember 1987 zur Entlassung von insgesamt 24.621 Personen aus den Gefängnissen.7)  In der DDR waren der Strafvollzug und die Eingliederung der entlassenen Straftäter Tabuthemen. Als Pfarrer konnte ich von diesem gesellschaftlichen Problem wegsehen und die Nöte der Haftentlassenen über-

6)  In den Akten ist sogar zu lesen, Hüblers "Einsatz in der Domgemeinde sei vom Landeskirchenamt auch unter dem Gesichtspunkt des <Wirkens> von Pfarrer Dr. Käbisch erfolgt".  So Aktennotiz vom 8.10.1987 über ein Gespräch zwischen Hübler und Kirchenreferent Zöphel (IME „Ludwig"); BStU, ASt Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 1523/74, Bd. 11/5, Bl. 20.
7)  Angaben nach Freie Presse vom 14.12.1987, S. 2.


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gehen, denn das gehörte nicht zu meinen Pflichten. Aber ich bin auf diese Menschen zugegangen. Die Aussage Jesu, die ich damals in einer Predigt für die Partnergemeinde aus Bad Bramstedt auslegte, hat mich nicht zur Ruhe kommen lassen: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Da spricht Jesus konkret aus: „Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu mir gekommen" (Matthäus 25,31 ff).

Fünf Zwickauer waren es, die die bevorstehende Amnestie als eine Herausforderung für die Kirche ansahen: Frank Kirschneck, Günter Kreusel (OV „Kontraste"), Ursula Nike, Hans Bahr (IMB „Uwe Schaarfschwert") und ich.8) Wir wollten nach all unseren Kräften und Möglichkeiten den Amnestierten Hilfe anbieten. Das erste Mal trafen wir uns am 29. September in den Räumen der Inneren Mission. Wir stellten rasch fest, dass keiner eine Ausbildung, entsprechende Sachkenntnis noch Erfahrung hatte. Keiner war im Besitz entsprechender Gesetze und Rechtsvorschriften. Für diese Arbeit standen uns auch keine Fachbücher zur Verfügung. Ebenso fehlte es an Geldern, aber wir erhielten Unterstützung vom Superintendenten und vom Leiter der Stadtmission Christian Albrecht (OV „Harmonie").

Es war der Wille, der uns zusammenführte und -hielt, für diese Menschen da zu sein, ihnen beizustehen und sie in den Alltag zurückzuführen. Sie sollten spüren, hier in Zwickau leben Christen, die Verständnis für alle Nöte aufbringen und die den schwierigen Weg der Eingliederung mitgehen.

 

8  Kirschnek brachte auf Grund seiner Ausbildung und als Arbeiter im Sozialbereich die meiste Erfahrung mit. Kreusel war Pfarrer der Herrnhuter Gemeinde, Frau Nike Sozialbetreuer der Inneren Mission. Der Kraftfahrer Hans Bahr hatte ca. 10 Jahre selbst im Gefängnis gesessen und kannte damit die Gefängniswelt von innen und die Schwierigkeit nach der Entlassung. Kurzzeitig war auch der Haftentlassene Hans-Herbert Kühl dabei; Pfarrer Johannes Schubert stieß später zur Amnestiegruppe hinzu und engagierte sich.


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Wir haben uns auch juristischen Beistand geholt. Kirchenamtsrat Andreas Richter (OV "Berater") hat uns mit seinem juristischen Wissen unterstützt. Ich persönlich habe von ihm als Laie sehr viel gelernt, z.B. dass man entsprechendes Fingerspitzengefühl aufbringen muss, wie man einerseits die bestehenden Gesetze einhält und andererseits die entsprechenden Freiräume – „Schlupf­löcher" – ausschöpft. Er verglich das Gesetz mit einem Sieb: Je feinmaschiger es wird, umso mehr Löcher sind in ihm. So hat er uns die DDR-Gesetze erläutert und dabei immer wieder Hoffnung gemacht, die Schlupflöcher zu nutzen. Ebenso gehörte zum Rechtsbeistand die Zwickauer Rechtsanwältin Ruth Knoll, die für uns eine kostenlose Beratung durchführte und gangbare Wege aufzeigte. Mit ihr konnte ich so manchen Fall durchsprechen.

Ab Oktober erhielten politische Gefangene, Straftäter und Asoziale mit der Amnestie die Chance, ein neues Leben zu beginnen. Aber sie waren darauf nicht vorbereitet und mitunter nach mehrjähriger Haft psychisch unfähig, Dinge des normalen Alltages zu meistern. Dazu kam noch, dass ihnen eine soziale Kälte entgegen schlug. Keiner wollte sie haben. Sie waren stigmatisiert, denn sie passten nicht in das Menschenbild des real existierenden Sozialismus. Sie mussten Auflagen erfüllen, die kaum zu schaffen waren.9) Mein Eindruck war, dass eine Art Hexenjagd getrieben wurde, um sie schnell wieder hinter Gitter zu bringen.

9)  Die Amnestierten erhielten zwar möblierten Wohnraum, der sich oft in einem katastrophalen Zustand befand, ebenso wurde ihnen eine Arbeitsstelle zugewiesen. Sie unterlagen jedoch strengsten Kontrollmaßnahmen: ihnen wurde ein staatliche Betreuer zugeteilt; sie mussten sich stets bei der Polizei melden; sie waren mit ihrem besonderen Personalausweis PM 12 jederzeit erkennbar; sie durften mitunter den Wohnort nicht verlassen; sie mussten regelmäßig arbeiten etc. Wer gegen die Auflagen verstieß, beging eine Straftat, wurde erneut verurteilt und oft mit einer höheren Haftstrafe wieder weggesteckt.


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Die Amnestiegruppe hat etwa 40 Leute betreut und teilweise unter großer Anstrengung begleitet. Wir haben uns als Gesprächs­partner angeboten, Vertrauen aufgebaut, konkrete Hilfe geleistet und Behördenängste genommen. Wir haben uns als Fürsprecher eingesetzt, neue Familienbande geknüpft oder sogar Familienanschluss für die Betroffenen gefunden. Wir gingen gemeinsam zu den Ämtern, in die Betriebe und zur Polizei. Wir halfen bei der Beschaffung von Kleidung, Möbeln und Kohlen. Wir renovierten die Wohnungen, verwalteten das Geld, schrieben versöhnliche Briefe an Familienangehörige und Schuldner. 

Zu denen, die wieder ins Gefängnis einfuhren, ist der Kontakt aufrechterhalten worden. Es wurden Briefe geschrieben und Päckchen gepackt. Es wurden Verbindungen zu den Gefängnispfarrern hergestellt, Besuchserlaubnisse beantragt und bei Genehmigung Besuche durchgeführt. So bin ich als Besucher in die verschiedensten Strafvollzugsanstalten der DDR gekommen. Über Super­intendent Mieth haben wir uns auch bemüht, einen Erfahrungsaustausch oder Sachgespräche mit den staatlichen Stellen zwecks Wiedereingliederung10 zu führen. Diesem Anliegen ist nicht entsprochen worden.

Diese Betreuung, Beratung und Unterstützung kostete Geld. Im Haushaltsplan der Domgemeinde war dafür kein Posten vorgesehen, und die Seelsorgekasse hat nicht ausgereicht. Der Bäckermeister und Konditor Dr. Bernd Engelmann hat für diese Amnestiearbeit stets ein offenes Ohr gehabt und sie finanziell unterstützt. Ohne viel Worte brauchte ich nur eine Summe zu nennen, und er hat ohne Spendenquittung den Betrag zur Verfügung gestellt. Er stellte nur die Bedingung, dass ich niemanden davon etwas erzähle.11) 

10)  An diese Stelle wandte ich mich immer als Seelsorger der Haftentlassenen. Die Vorsitzende der „Wiedereingliederung" war Frau Christa Schiffner, die für die Abteilung I der Kriminalpolizei „positiv" erfasst war (die Akten der Kleinfläche I sind im Bezirk Karl-Marx-Stadt fast vollständig vernichtet worden); weitere Mitarbeiter der Wiedereingliederung waren u. a. Jürgen Willig (IMS „Erich Siebers") und Klaus-Dieter Barner (IMS Bernd Günther").
11)  Herr Engelmann hat mir erlaubt, jetzt seinen Namen zu nennen. 


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Einen Härtefall möchte ich erwähnen, dessen Familie von ihm besonders unterstützt wurde. Der Fenster­putzer Uwe Kinzel (OV "Fenster") wurde wegen politischer Witze zu einer 18-monatigen Haftstrafe, von der er über ein Jahr absitzen musste, verurteilt. Seine Frau, konnte nicht arbeiten gehen; sie hatte zwei Kinder, ihr jüngster Sohn war todkrank. Sie hatte nur das Nötigste zum Leben. Für die Frau war es nicht nur der finanzielle Betrag, der weiterhalf, sondern das Gefühl und die Gewissheit, dass ihre Not gesehen wird und Leute an sie denken. Diese symbolische Handlung gibt Kraft, Mut und Energie zum Aus- und Durchhalten.

Durch die Amnestiearbeit ist es gelungen, z.B. Frau Marita P. aus dem Cottbuser Gefängnis zu holen. Sie hat mehrere Wochen in unserer Wohnung in einer Art Asyl gelebt. Ihr Aufenthalt ist den staatlichen Organen gemeldet worden, und sie wurde nicht abgeholt. Dietmar W. konnte durch Kassation frei kommen. Bei der Abfassung der Kassationsschrift hat Frau Knoll mitgeholfen. Heute leben beide in Freiheit, wurden nicht wieder straffällig und zu ihnen bestehen immer noch Kontakte. Ebenso ist Jörg F., der mehrere Jahre in Waldheim auch in der dortigen Psychiatrie zubringen musste, betreut worden. Er wurde oft monatelang in Einzelhaft oder in die Isolierzelle weggesteckt.12)

Neben dieser intensiven Arbeit mit den Strafgefangenen sind 1988 zwei <Gottesdienste neu erlebt> zum Thema "Entlassen und wie weiter" ausgestaltet und für die Bevölkerung angeboten worden. Dabei spielte auch das Symbol der brennenden Kerze hinter dem Stacheldraht eine Rolle.

12)  Für Frau P. hat sich Oberkonsitorialrat Manfred Stolpe, der in den Stasi-Akten als IM „Sekretär" geführt wird, eingesetzt, da sie aus Cottbus stammte. Ich habe nur einmal mit Stolpe telefoniert und ihm in groben Zügen den Fall geschildert, am nächsten Tag stand fest, dass sie nicht wieder ins Gefängnis gehen musste.


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Es war die Zeit, als viele Verhaftungen von Antragstellern auf Ausreise erfolgten. Mit den Angehörigen ist vorher abgesprochen worden, dass ihre konkreten Einzelschicksale erwähnt werden durften und die Namen öffentlich auf die Fürbittenliste gesetzt wurden. Es wurden auch Adressen von Inhaftierten bekannt gegeben, um diesen Strafgefangenen zu schreiben oder Pakete zu schicken. Ebenfalls sind Informationsblätter der DDR-Strafgesetzgebung mit konkreten Handlungshinweisen erarbeitet und vervielfältigt worden. Die Kollekte war für die Arbeit der Amnestiegruppe bestimmt. Die Staatsorgane haben die Namen aus der Fürbittenliste registriert- und entschieden, die politischen Fälle zu prüfen und die kriminellen unberücksichtigt zu lassen.13) 

 

   (4)  A-Leute in den A-Gottesdiensten  

 

Der Buchstabe "A" steht für Ausreise. Es waren ungefähr 3,5 Millionen Bürger, die in 40 Jahren der DDR den Rücken gekehrt und den Staat verlassen haben.14) Heute ist es sehr schwer, die Not und Diskriminierung nachzuvollziehen, die jene mit diesem Entschluss über sich ergehen lassen mussten. Mit dem Antrag auf Ausreise gerieten sie zunehmend in Isolation. Sie wurden manchmal von den eigenen Familienangehörigen gemieden und die Behörden behandelten sie wie Aussätzige. Sie waren gesellschaftlich stigmatisiert. Sie haben sich teilweise selbst und bewusst bis in die Asozialität treiben lassen, weil sie damit zum Ausdruck bringen wollten, dass sie nichts mehr für den sozialistischen Staat übrig hatten. Die Asozialität sahen sie als Druckmittel an, um die Aberkennung der Staatsbürgerschaft zu beschleunigen.

13)  Vgl. Partei-Information 416/88; BStU ASt Chemnitz, AKG 306, Bd. 1, Bl. 198 ff. 
14)  Die Abwanderungsbewegung ist bis heute nicht gestoppt. In den letzten zehn Jahren haben ca. 1,5 Millionen Einwohner die neuen Bundesländer verlassen und sind in die alten Bundesländer übergesiedelt.


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So sind menschliche Härtefälle – besonders nach Verhaftungen – entstanden. Zum Beispiel konnten allein zwei harmlose Zeichen zu Schikanen oder Gefängnisstrafen führen. „A-Leute" brachten in der Hutablage ein großes „A" an oder klebten es an die Heckscheibe ihres Autos. Das verriet, dass sie den Ausreiseantrag gestellt hatten. Oder sie banden an die Antennenspitze ihres Autos ein schwarzes oder weißes Bändchen als Zeichen dafür, ihr Antrag sei abgelehnt oder bewilligt. Das waren Sichtelemente, die in der Öffentlichkeit verboten waren. Das Anbringen dieser Symbole, besonders wenn sie nach Aufforderung nicht entfernt wurden, konnte mit Haftstrafe geahndet werden.

Seit Februar 1988 kamen vier Antragsteller zum Sonntagabendgottesdienst in den Dom.15) Keiner hatte sie gerufen. Sie waren einfach da und luden von sich aus andere ein. Aus den vier Leuten wurden immer mehr, bis es dann im Sommer etwa 400 Gottesdienstbesucher waren. Es sprach sich herum, dass der Dom ein legaler Ort der Begegnung war, an dem man sich treffen, aufhalten und austauschen konnte. Es gab neueste Informationen. Sie kamen von weit her gereist. Das kirchliche Gebäude bot das schützende Dach, weil woanders eine Ansammlung von mehreren Personen bereits als stumme Demonstration verfolgt und bestraft wurde. Der Gottesdienst musste sich auf die Not dieser A-Leute einstellen. Ich habe mich für eine situativ-missionarische Verkündigung eingesetzt. Für mich war mit dem Amen der Gottesdienst nicht zu Ende, sondern ich bemühte mich, selbst das Verkündigte zu leben. Mein Engagement für die Betreuung der A-Leute führte erneut zu starken innerkirchlichen Auseinandersetzungen und Spannungen.

15)  Es waren die Ehepaare Roland und Petra Safert und Reinhard und Karin Tschentscher. Zu den herkömmlichen Abendgottesdiensten um 18.00 Uhr kamen im Schnitt ein bis zwanzig Besucher; manchmal fiel er auch aus, weil keiner kam.


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Der Pfarramtsleiter und die Mehrheit des Kirchenvorstandes vertraten die Meinung, diesen Gottesdienst absetzen zu müssen und die A-Leute des Domes zu verweisen, weil der größte Teil von ihnen keine Christen seien. Sie würden die Veranstaltung benutzen, um damit ihre Ausreise zu beschleunigen. Das sei eine Provokation und würde das gute Verhältnis zwischen Staat und Kirche belasten. Die A-Leute hätten mit ihrem Antrag selbst das Recht verspielt, kirchlichen Beistand und Unterstützung zu erhalten. Wenn man sich um sie kümmere und auf ihrer Seite stünde, wäre dies kirchenschädigend. Der "Missbrauch der Kirche" sollte verhindert werden. Damals ahnte ich nicht, dass diese Meinung vom Staat und der Stasi gefördert wurde. Es war für mich unverständlich, dass gerade diesen Menschen in ihren Nöten das Evangelium nicht verkündigt werden sollte. Superintendent Mieth unterstützte meine theologische Position.

Ich setzte mich dafür ein, dass dieser wöchentliche Gottesdienst ökumenisch eingebunden und von einem Team verantwortet wurde. Es fanden Besprechungen statt, bei denen wir die sich stets verändernde Situation erörterten. So wurde der jeweils letzte Gottesdienst ausgewertet und der nächste geplant. Wir legten fest, dass der jeweilige Prediger den Gottesdienst zu verantworten hatte. Neben den drei Dompfarrern wurden der methodistische Superintendent Friedmar Walther (IMB „Waldemar"), der katholische Dekan Horst Hoffmann (OV „Dekan"), der Synodale Hans-Jörg Weigel (OV „Spaten II") vom Königswalder Friedens­seminar und andere Pfarrer aus Zwickau und Umgebung eingeladen. Sie schickten zum Teil Vertreter. Wir ließen uns von dem amtierenden Kirchenamtsrat Richter und dem Rechtsanwalt Jürgen Meyer (IMB „Conradt") aus Limbach-Oberfrohna juristisch beraten.


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Es wurden für die A-Leute Nachgespräche, Seelsorge, Beratung, Gemeindekreise, Glaubenskurs und Arbeitseinsätze angeboten. Wir Pfarrer verwiesen immer wieder darauf, dass sie sich nicht nur auf den Dom konzentrieren sollten, sondern in die eigenen Heimatgemeinden gehen möchten, was aber selten beherzigt wurde. Während des Gottesdienstes sind öfters Gebete auf Zettel geschrieben worden, die an ein Holzkreuz mitten im Dom geheftet wurden. Das war mehr als ein symbolischer Akt. Es wurde daran erinnert, dass derjenige, der in der DDR etwas verändern will, hier bleiben muss. Aber auch die Haltung, die DDR zu verlassen, wurde akzeptiert, denn das gehört zur freien Entscheidung eines jeden Einzelnen. Die Mahnung wurde oft ausge­sprochen: Nicht unbedacht zu handeln und keine anstößigen Aktionen zu starten. Der Staat versteht keinen Spaß! Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Nur in Freiheit kann etwas bewegt werden.

Wir hatten den Eindruck, die staatlichen Organe seien froh, dass die A-Leute in der Kirche ein Ventil für ihren Unmut fanden und wir als Kirche korrigierend auf sie einwirken konnten. Auf uns Pfarrer wurde gehört. Es drohten keine stummen Demonstrationen. Alles was geschah, war öffentlich und wurde auch im Gottesdienst angesagt. Die große Konzentration von A-Leuten ist geduldet worden. Es gab keine Übergriffe oder Verhaftungen, aber die Stasi hat alles observieren lassen. Wir haben davon nichts gemerkt.

In die Seelsorge kamen sehr viele, und ich war fast ausschließlich der Ansprechpartner. So entstand ein Vertrauensverhältnis. Die Ratsuchenden haben ehrlich ihre bisherigen Schritte preisgegeben. Die Anschriften der Rechtsanwälte Barbara von der Schulenburg, Jürgen Stang und Wolfgang Vogel wurden weitergegeben. Ein Kurierdienst nach dem Westen bildete sich heraus. Namen von juristischen, medizinischen und psychologischen Helfern wurden mitgeteilt. Auch die Besuche in der Nikolaikirche in Leipzig und der Zionskirche in Berlin wurden besprochen und anschließend öffentlich ausgewertet. Man war um Solidarisierung und Öffentlichkeit bemüht. 


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Ohne Zustimmung der Hilfesuchenden habe ich nichts unternommen. Es war wichtig, Namen, Adressen, exakte Fakten und Einzelheiten zu besitzen, wenn es Härtefälle gab oder wenn Verhaftungen erfolgten. Ich fertigte mir darüber Notizen an und ließ sie Superintendent Mieth zukommen, denn er hatte eine Verbindung zum Zwickauer Rechtsanwalt Dr. Peter Wetzig (IMS „Sascha" oder „Dr. Peters")16) knüpfen können. Er durfte die entsprechenden Härtefälle dort vorlegen. Nach einer gewissen Zeit konnten wir mit Erleichterung registrieren, dass dieser Weg von Erfolg gekrönt war und die Antrag­steller zügig ausreisen konnten. Das sprach sich natürlich herum und andere A-Leute drängten, auf diese Liste der Härtefälle zu kommen.

Aber auch die Stasi hat über die Seelsorge IM eingeschleust, um Informationen zu sammeln und die kirchlichen Verbindungen auszukundschaften.17) Für meine persönliche Sicherheit suchte ich mir drei Vertrauensleute aus, die keine Pfarrer waren. Ich habe ihnen eine Liste von Adressen aus dem Westen und dem Osten anvertraut. Die Drei erklärten sich bereit, falls mir etwas passieren sollte, die Adressaten über meinen Verbleib zu informieren. Sie wollten dann an die Öffentlichkeit gehen. Öffentlichkeit war ein Schutz.

16)  Wetzig war eine Art Unterhändler für den Rechtsanwalt Professor Vogel aus Berlin. Wetzig hat alle Dom-Fälle der Stasi vorgelegt, denn über ihren Tisch lief die Bearbeitung. Sogar die Gesprächskonzeptionen zwischen Mieth und Wetzig sind von der Stasi erarbeitet worden. Vgl. Partei-Information 416/88 (BStU, ASt Chemnitz, AKG 306, Bd. l, Bl. 108 ff.) und Partei-Information 608a/88 (AKG 321, Bl. 129 f.). In einem Gespräch erzählte mir Wetzig sogar, dass er sich mit Mieth auch in der Tschechoslowakei wegen dieser Härtefälle getroffen habe.

17)  Michael Wagner als IMB „Frank Müller" sollte den Auftrag erhalten, auf Geheiß der Stasi einen Ausreiseantrag zu stellen. Er hat sich mit seiner Familie von mir taufen bzw. konfirmieren lassen. Vgl. BStU, ASt Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 3154/79, Bd. I/l, Bl. 268 f.


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Am 21. Juli 1988 sind Superintendent Mieth und ich ins Landeskirchenamt nach Dresden zitiert worden. Für mich war das kein Gespräch, sondern eine Disziplinierung. Mir wurde vorgeworfen, dass meine Predigten bei den A-Gottesdiensten bei staatlichen Stellen Anstoß erregt hätten. Das sei dem Landeskirchenamt im letzten Gespräch mit den Staatsorganen auf dem Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt mitgeteilt worden. Es wurden Predigtauszüge vorgelesen. Mir ist gesagt worden, dass ich die legitime Ebene der christlichen Verkündigung verlassen und fragwürdige sowie staatskritische Äußerungen getan hätte. 

Das Landes­kirchenamt könne sich nicht erklären, weshalb ich mich der Not dieser Menschen annehme. Ich würde wohl an mangelnder Selbstbestätigung leiden. Deshalb betriebe ich diese Arbeit. Ich sei ein Mensch, der gern den Löwen in den Schwanz zwicke. Die staatliche Seite habe der Kirche angeboten, bestimmte Anträge auf Übersiedlung zu prüfen. Das sei ein Entgegen­kommen des Staates. Für das Landeskirchenamt waren das vernünftige Töne, zumal Superintendent Mieth diese Anträge vorlegen durfte. Das war ein wohlwollendes Angebot. Der entstandene Gesprächsfaden sollte nicht durchschnitten werden. Deshalb wurde ich ermahnt, künftig keine politischen Ansprachen zu halten und mich bei der Arbeit mit den A-Leuten zurückzunehmen. Ich sollte den dringenden Wunsch der Kirche aussprechen, die Leute zum Bleiben in der DDR aufzufordern.

 

Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte: eine Phase neuartiger Kirchenbearbeitung war angelaufen. Die Stasi hatte eine Methode entwickelt, die eigenen Kirchenleute gegeneinander aufzubringen und sich wechselseitig auszuschalten. Dabei ging es nicht grobschlächtig zu, sondern feinfühlig, grazil und sanft — unter Anwendung neuester Erkenntnisse der Psychologie der Menschen­führung. 

Gewöhnlich ist über IM herausgefunden worden, an welchen Stellen auch die integeren Menschen ansprech­bar, beeinflussbar und verletzbar waren. So konnte die operative Bearbeitung auf die konkrete Person zugeschnitten und immer wieder aktualisiert werden. Es wurden IM, die Vertrauen oder Einfluss besaßen, eingesetzt. Sie waren geschult, wie solch eine Beeinflussung auszusehen hatte. Sie verstärkten eigene Gedanken und Empfindungen oder dämmten diese ein. Entscheidungen und Handlungen wurden herbeigeführt, von denen man meinte, sie wären von einem selbst gekommen. So wurde Einfluss ausgeübt und auf Entscheidung gedrängt. Diese Vorgehensweise ist schwer zu beweisen.  

Man kann daran auch kein juristisches Vergehen oder gar eine Straftat feststellen, sondern hier wurden menschliche Werte und christliche Prinzipien unterlaufen. Der Gedanke, dabei etwas Gutes zu tun, ist verinnerlicht worden und wirkte nach. Das gehört mit zu den Langzeitschäden der Stasi wie die Folgen der Polarisierung, Differenzierung und Zersetzung. Wer ein moralisches Empfinden besitzt und eine christliche Sensibilität bewahrt hat, der sieht die Unlauterkeit dieses Geschehens. Das war Verrat. Dieses Verhalten vergiftete das Miteinander und zerstörte Vertrauen.

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