Harald Welzer

Selbst denken

Eine Anleitung
zum Widerstand

 

2013 S.Fischer 328 Seiten

2015 Fischer TB 463 Seiten

Harald Welzer (2013) Selbst denken - Eine Anleitung zum Widerstand

2013     

460 Seiten

DNB.Buch 

Bing.Buch

detopia:

Welzer Start 

Umweltbuch

Utopiebuch 

Christian Felber 

2015: Autonomie

 

Audio 2013

 

 

 

 2015 TB - 463 Seiten

 

2013 - 328 Seiten

 

Damit die Zukunft wieder ein Versprechen wird – der Bestseller von Harald Welzer

Angaben aus der Verlagsmeldung

Was ist bloß aus unserer Zukunft geworden? Es ist höchste Zeit, dass sich jeder überlegt, wie wir eigentlich leben wollen – damit die Zukunft wieder ein Versprechen und keine Bedrohung ist. Dieses Buch ist eine Anleitung dafür: Harald Welzer, der bekannteste und vielleicht konsequenteste Vordenker des Landes, lotet schonungslos die Abgründe der vom Konsumvirus und politischer Lähmung befallenen Gesellschaft aus.

Und er zeigt, wie viele konkrete und attraktive Möglichkeiten es bereits jetzt gibt, zum politischen Handeln zurückzufinden und sich wieder ernst zu nehmen. Der erste Schritt ist gar nicht schwer: Selbst denken!


 

INHALT vom Taschenbuch 2015 - 463 Seiten - Inhalt2015pdf

7 Die Zukunft als Versprechen  13 Die Zukunft als Vergangenheit  19 Wo geht's zurück zur Zukunft?  22 Extraktivismus  27 Zerstörung von Sozialität  30 Wohnst du noch, oder zerstörst du schon?  40 Sorry, Umwelt!  47 Postideologie  58 Warum wir nicht so sein wollen, wie wir waren  67 Wachstumsreligion  74 Warum Sie immer noch glauben, anders zu sein, als Sie sind  76 Die Textur der Erwartungen an die Welt  79 Tiefe Industrialisierung  89 Mentale Infrastrukturen  92 Kulturelle Bindungen  98 Wissenschaft 

101 Die Moralisierung des Marktes  106 Konsumethik  113 Der Konsument konsumiert nicht  117 Selbst­entmündigung  121 Selbst­entmündigung in Grün  125 Ein kurzer Ausflug in die Geschichte der Ökologie­bewegung  134 Protest  142 Das Politische wird antiutopisch  148 Geschichts­losigkeit  158 Das Wunder des grünen Puddings 

163 Warum ist der Klimawandel eigentlich so toll?  180 Zurück zum Politischen  185 Die zivilisatorische Aufgabe  189 Selbst denken  195 Utopien

203 Achtsamkeit  209 Ohne Masterplan  216 Lebenskunst, schon bald  221 Lebenskunst, zwanzig Jahre später  230 Eine nicht ganz so schöne Geschichte aus dem Jahr 2033  248 Hypothetisches Leben  250 Produktivkräfte des Beginnens  251 Moralische Ökonomie  263 Lokale Kulturen  267 Communities of practice 

272 Resilienzgemeinschaften und Commons  287 Alphabetisierung für eine nachhaltige Moderne  288 Zeit  293 Sparsamkeit  298 Verantwortung 

3xx Tod  3xx Reparieren, Nutzungsinnovationen 311 Genossen­schaften  317 Bündnisse  322 Handlungsspielräume  328 Unbequemlichkeit 334 Sich selbst ernst nehmen  347 Politik und Geschichte  359 Die Gegengeschichte  369 Vorbilder  374 Staudinger denkt selbst  373 Sladeks denken selbst  373 Christian Felber denkt selbst  383 GLS: Eine Bank denkt selbst  385 Kowalsky denkt selbst  389 Schridde denkt selbst  393 Paulmanns denken selbst  399 Ein Mobilitätsdienstleister denkt selbst  403 Rimini Protokoll denkt selbst  408 Yes Men denken selbst 

411 Eine Anleitung zum Widerstand  424 12 Regeln für erfolgreichen Widerstand

  • 425 Anmerkungen

  • 443 Literaturangaben

  • 453 Abbildungsnachweis

  • 455 Personenregister

  • 458-463 Sachregister 


 

 

 

 

 

 

Zum Welzerbuch Selbst denken

Lesebericht von Volker Kempf  2013

  herbert-gruhl.de  haraldwelzer.html 

Von einer Veranstaltung zum 40. Jahrestag der “Grenzen des Wachstums” in München im Herbst 2012 berichtete ein Vorstandsmitglied aus Bayern und findet seine Einschätzung in einem SZ-Interview mit Harald Welzer vom 2./3. März gut getroffen.

Dennis Meadows hatte vor Klimaforschern erklärt, der Abzweig zur Nachhaltigkeit sei verpaßt worden, es könne nur noch um andere Szenarien gehen.

Die Klimaforscher seien darauf nicht eingegangen, trugen ihre mitgebrachten Power-Point-Präsentationen vor und flogen wieder mit dem Flugzeug davon. Ein solcher Wissenschaftsdiskurs hat autistische Züge, keine Frage.

Von Welzer liegt auch ein Buch mit dem Titel “Selbst denken” vor. Der Untertitel lautet “Eine Anleitung zum Widerstand”.

Schlägt man das Buch auf, findet sich darin ein Kapitel mit der bemerkenswerten Überschrift “Das Wunder des grünen Puddings”. Hier heißt es gleich zu Anfang:

“Kinder, Betrunkene und neu ins Amt berufene Minister sagen die Wahrheit. So war der zufällig Bundesumweltminister gewordene CDU-Politiker Peter Altmaier erstaunt, als ihm gleich nach Amtsantritt der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) eine Studie vorlegte und damit die Forderung an die Regierung verband, sie möge doch bitte dafür sorgen, dass künftig das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werde. Altmaier sagte verlegen lächelnd, das höre sich ja gut an, er könne sich aber nicht recht vorstellen, wie das gehen solle. Mit diesem Zweifel lag der Minister in der Sache durchaus richtig ...”

Welzers Einschätzung stützt sich auf den Ökonomen Nico Paech; aber auch Herbert Gruhl ließe sich mit entsprechenden Zweifeln anführen, da ihm Umweltvorsorge und Wirtschaftswachstum nicht einfach mit einem Kunstgriff in Einklang zu bringen waren (“Herbert Gruhl - Pionier der Umweltsoziologie”).

Diese angebliche Entkoppelung etwa durch Ressourceneffizienzsteigerung bleibt immer ein höchst relativer Vorgang. Mehr Wirtschaftswachstum ist immer ressourcenaufwendiger als weniger. Entsprechendes gilt für die Zahl der Menschen in einem einzelnen Land oder auf der ganzen Welt. Altmaier war also mit seinem Geistesblitz durchaus auf der Höhe so mancher skeptischer Denker angekommen, doch habe er schon wenige Wochen später auf dem Weltrettungsgipfel “Rio +20” im Juni 2012 mitgeteilt: die Zukunft der Erde sei gefährdet, wenn man das Wirtschaftswachstum nicht vom Ressourcenverbrauch entkoppele. Altmaier “hat das Falsche dazugelernt und verkündet es nun wie alle anderen.“

Altmaier ist in den “grünen Pudding” getreten. Er hätte einfach weiter selber denken müssen, wie das Welzer mit seinem Buchtitel empfiehlt. Doch das sozialpsychologische Wirkungsgefüge war stärker als das eigene Selbst. Wie Altmaier geht es vielen, nur wenige illustre Gestalten lassen sich nicht so leicht beirren.

Kants “Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen”, ist eben nicht einfach zu haben. Im Gegenteil, der Preis solchen Mutes ist oft hoch und die letzten Jahre wohl auch weiter gestiegen. Wer große Versprechen im akademischen Gewand macht und damit in Kommissionen, Politik oder Medien wirken darf, wird den Nachwuchs schon auf Linie zu bringen verstehen, der dann das Falsche dazulernen darf.

Das dürfte erklären, weshalb Selberdenker mit entsprechender Originalität so selten in Erscheinung treten und “Der Campus” (Dietrich Schwanitz) längst Stoff für realsatirisch angehauchte Romane hergibt.

Eine Anleitung zum Widerstand gegen die Bevormundung des Denkens auch in ökologischen Fragen war da überfällig. Graphiken, die das Bevölkerungswachstum und andere ökologisch problematische Zuwächse zeigen, sind sicher zur Orientierung hilfreich. Welzer schöpft aus einem faktenreichen Hintergrundwissen und vermag ein breites Publikum mit seinem essayistischen Stil anzusprechen.

Ob Welzers Werk das wichtigste Buch des Jahres ist, wie die taz sich laut Klappentext schon im laufenden Jahr festlegt, sei dahingestellt; ein anregender Schmöker ist “Selbst denken” allemal.

Auch bleibt das Buch nicht beim Denken stehen, sondern bezieht das Handeln in zwölf Widerstandsregeln mit ein. Die 13. Regel wäre noch hinzuzufügen: Selbst lesen. 

 


 

Zu Selbst denken im DLF

Die drei bis fünf Prozent Veränderer in der Gesellschaft

Von Martin Hubert    dradio.de/dlf/sendungen/andruck/2122220/   

 

Einer der Vordenker der kapitalismuskritischen Schule ist der Sozialpsychologe Harald Welzer. Er setzt darauf, dass in jedem Bereich wenige Beteiligte - drei bis fünf Prozent - eine Veränderung anstoßen können.

Harald Welzers Buch ist auch das Buch einer persönlichen Entwicklung. Denn vor einigen Monaten verließ der bekannte Sozialpsychologe das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen, an dem er jahrelang gearbeitet hat. Er wollte nicht länger immer neue Daten über den Lauf der Welt sammeln, sondern die Welt selbst verändern. Nun ist er Direktor der Berliner Stiftung "Futur Zwei". Deren Motto heißt: Wir werden etwas getan haben.

Welzer und seine Mitarbeiter wollen Geschichten von vorbildlichen Projekten erzählen, die in die Zukunft weisen: ökologisch, sozial, nicht an Wachstum und Profit orientiert. Einige solcher Geschichten finden sich auch in Welzers Buch.

"Die GLS-Bank definiert als ihr Unternehmensziel eine "nachhaltige Gesellschaftsentwicklung". Zurzeit finanziert sie etwa 18.000 Projekte von der ökologischen Landwirtschaft bis zu Behinderteneinrichtungen."

Welzer malt diese Geschichten jedoch erst im letzten Viertel seines Buches aus. Auf den vorherigen 250 Seiten versucht er zu begründen, warum er sie erzählt. Seine Frage lautet: Wie lässt sich die heutige Wachstumsgesellschaft verändern und warum muss man dabei auf Geschichten selbst denkender und handelnder Menschen bauen?

Mal locker und sehr persönlich, mal wissenschaftlich argumentierend berührt Welzer dabei fast alle Aspekte eines Projekts der Gesellschaftsveränderung: Autonomie und Bündnispolitik, Utopie und Realismus, Freiheit und Verantwortung, Spaß und Widerstand.

Warum aber überhaupt dieses große Wort: "Widerstand?" Für Welzer zerstört die Wachstums-und Konsumlogik der Gesellschaft nicht nur die natürlichen Ressourcen. Sie sei, schreibt er, fast schon zu unserer inneren Natur geworden und definiere unser Selbstverständnis als autonomes Individuum.

"Es könnte sein, dass der heutige Totalitarismus ausgerechnet im Gewand der Freiheit auftritt: In jedem Augenblick alles haben und sein zu können, was man haben und sein zu wollen glaubt. Wenn diese Diagnose richtig ist, dann ist allerdings Widerstand nötig. Widerstand gegen die physische Zerstörung der künftigen Überlebenschancen. Widerstand gegen die freiwillige Hingabe der Freiheit. Widerstand gegen die Dummheit. Widerstand gegen die Verführbarkeit seiner selbst."

Das sind starke Worte. Als Sozialpsychologe weiß Welzer jedoch, dass solche Deklarationen genauso wenig wie rationale Argumente reichen, um aus den verinnerlichten Zwängen herauszukommen, wie er sie unterstellt. Notwendig sei vielmehr eine neue Praxis, die sich immer schon an den Wünschen und Hoffnungen eines guten Lebens orientiert. Deshalb seien die Geschichten von Projekten, die in diese Richtung weisen, weiter zu tragen, sodass sich eine neue Kultur etabliert. In ihr wird lieber repariert, getauscht und geliehen statt immer wieder neu gekauft, regionale Güter- und Verkehrskreisläufe schonen die Ressourcen, Genossenschaften funktionieren mit verkürzter Arbeitszeit.

"Alle diese höchst unterschiedlichen Projekte haben ein gemeinsames Merkmal: Sie verändern einen zum Teil winzigen Aspekt des gewöhnlichen Umgangs mit den Menschen und Dingen. Das Weitererzählen solcher Geschichten des Gelingens perforiert selbst schon die nur scheinbar hermetische Wirklichkeit. Aber: Das Schreiben einer solchen Geschichte darf man sich nicht gemütlich vorstellen. Sie wird nur unter der Voraussetzung wirkungsmächtig werden, dass in jedem gesellschaftlichen Segment, in jeder Schicht, in jedem Beruf, in jeder Funktion ein paar Prozent der Beteiligten beginnen, die Dinge anders zu machen: Es müssen drei bis fünf Prozent sein."

Vieles von dem, was Welzer schreibt, kommt einem bekannt vor. Die Kritik des 68er an Konsumterror und manipuliertem Bewusstsein klingt genauso an wie basisdemokratische Konzepte einer Gesellschaftsveränderung durch exemplarische Projekte. Aber Welzer schreibt diese Ideen für eine Gegenwart fort, in der die ökonomische und ökologische Krise tatsächlich bedrohliche Züge angenommen hat. Und er setzt auf eine utopische Praxis, die das Realitätsprinzip nicht verleugnet. Es gibt keinen Masterplan, schreibt er, nur ein Experiment nach dem Motto: Ihr müsst risikoreich euer Leben ändern, wenn ihr die Gesellschaft ändern wollt.

"Die Zukunft wird nur auf einem Weg zu erreichen sein, der selbst durch Irr- und Abwege, unpassierbare Stellen, gute Passagen, Steigungen und Gefälle, kurz: durch alles andere als Geradlinigkeit gekennzeichnet ist. Das ist keine Zukunft für Zwangscharaktere, weil man sich von vornherein als fehlerfreundlich verstehen muss. Wir wissen ja eben heute noch nicht, wie denn eine nachhaltige, moderne Welt aussieht, die frei, demokratisch, sicher, gerecht auf der Basis eines Ressourcenbedarfs ist, der gegenüber heute um den Faktor fünf bis zehn verringert ist. Also entwirft man den nächsten und allenfalls den übernächsten Schritt auf Probe und prüft, wie das Ergebnis jeweils ausfällt. Ob man weiterkommt oder nicht."

Wie von selbst fallen einem beim Lesen dieses Buches serienweise Einwände ein. Ist es nicht zu individualistisch, kulturpessimistisch und moralisch, eine naive Münchhausiade? Der Mensch, verstrickt in die Wachstumslogik, soll sich irgendwie selbst aus deren Sumpf herausziehen? Fehlt nicht eine genaue Analyse des ökonomischen Systems und seiner globalen Abhängigkeiten? Unterschätzt Welzer nicht die Notwendigkeit politisch-strategischen Handelns? All das hat seine Berechtigung. Aber doch nicht ganz. Denn Welzer sieht beispielsweise durchaus die klassische politische Ebene, wenn er schreibt:

"Eine Bürgerinitiative, die gegen die Interessen der großen Energieversorger arbeitet, braucht die Unterstützung der Kommune. Eine erfolgreiche Carsharing-Initiative braucht den Politiker, der eine andere Parkraumbewirtschaftung durchsetzt. Eine Nachhaltigkeitsinitiative in einem Unternehmensvorstand braucht den Betriebsrat."

Welzers Buch spielt Kulturrevolution nicht gegen Politik aus. Es erkundet die psychologischen Aspekte einer zivilgesellschaftlichen Veränderung, die angesichts der Krisen in den letzten Jahren immer wieder einmal beschworen wurde. So etwas hat versucht werden müssen. Denn hier kann jeder überprüfen, ob er zu den drei bis fünf Prozent gehören will, denen eine nachhaltige Gesellschaft mit all ihren Anspruchsverlusten die Mühe wert ist.

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DLF zu Welzerbuch Selbst Denken

 

von Martin Tschechne  - dradio.de/dkultur/sendungen/lesart/2072446/ 

LESART    14.04.2013 ·

 

Recht charmant leitet Harald Welzer die Leser von "Selbst Denken" an, nicht immer mit allem einverstanden zu sein. Seine Analyse und Argumentation belegt der Sozialpsychologe mit konkreten Geschichten, aus denen er handfeste Empfehlungen zum Widerstand ableitet.

"Sie werden es schon bemerkt haben", so wendet sich der Autor Harald Welzer zum Ende eines Kapitels an seine Leser: "Sie werden es bemerkt haben: Ich spreche über Sie."

Die kleine Adresse an die Leser sagt eine Menge über den Ton des Buches - jovial, lässig, ein bisschen keck -, und natürlich auch etwas über dessen Inhalt. Es geht um einen Lebensstil, den kaum einer in Frage stellt. Um eine Kultur, die den Alltag bestimmt in Europa, den USA, immer mehr auch in Indien, China oder Brasilien. Eine Kultur, die ganz offensichtlich an ihr natürliches Ende stößt oder längst gestoßen ist - nur wollen das die wenigsten zugeben, solange sich Geschäfte damit machen lassen.

Konsum als Religion

Bisweilen auch spricht Welzer von einer Religion, wenn es um Wachstum geht. Und das Konsumieren wäre dann so etwas wie ein Gottesdienst. Wie sagte noch der damalige New Yorker Bürgermeister Robert Giuliani gleich nach den Anschlägen auf das World Trade Center? "Zeigt, dass ihr keine Angst habt. Geht einkaufen!"

Um es deutlich zu sagen: Harald Welzer, Jahrgang '58, Sozialpsychologe, Direktor eines eigenen Instituts in Berlin und Professor für ein selbst entwickeltes und maßgeschneidertes Fach mit Namen "Transformationsdesign" an der Uni Flensburg - Welzer tritt nicht auf als mönchischer Fortschritts- und Konsumverweigerer. Er ist über Mobiltelefon zu erreichen, kommuniziert und recherchiert im Internet, und wenn er etwa als Vortragsredner gefragt ist, dann setzt er sich eben in die Bahn. An einer Stelle des Buches gesteht er sogar, dass auch er Brot wegschmeißt, ohne mit der Wimper zu zucken.

"Ich bin ja nicht auf die Welt gekommen, und da stand eine in weiße Laken gehüllte Person neben mir, die gesagt hat: Du bist zu uns gekommen, um die Welt zu retten. Es ist ja niemandem von uns als Aufgabe gestellt, die Welt zu retten. Wenn man moralisch argumentiert, dann würde ich sagen, es ist lediglich die Aufgabe, aus dem, was man tun kann, das möglichst meiste zu machen. Punkt. Und da wir ja nun - ich in meiner Position, Sie in Ihrer, aber überhaupt alle in so einer hyperreichen Gesellschaft - wahnsinnig viel tun können, warum sollen Sie es denn um Himmels Namen nicht tun?"

Also beruft sich Welzer auf den Philosophen Theodor W. Adorno, der in seinen "Minima Moralia" konstatiert: "Intelligenz ist eine moralische Kategorie." Sprich: Wer den Verstand hat, etwas zu tun, um Unglück abzuwenden - der ist auch dazu verpflichtet.

Gewissenloses Unwissen

Dies ist der Punkt, an dem die Streitschrift ansetzt. Der Punkt, an dem Wissen in Handeln mündet, und Unwissen, Wissen-Losigkeit in Gewissenlosigkeit umschlägt. Denn jeder weiß um die Folgen eines ins Hysterische gesteigerten Konsumismus, jeder um die Endlichkeit der Ressourcen, die Gefahr globaler Erwärmung, die wachsenden Berge von Abfall. Jeder weiß, dass und wie eigenes Verhalten zum ökonomischen und ökologischen Kollaps beiträgt. Doch die schiere Information, so Welzer, ist nicht das Problem. Im Gegenteil. Eher schon lenkt sie ab von dem, worauf es ankommt.

"Informationsvermittlung ist etwas völlig anderes. Das ist eines dieser ganzen Defizite innerhalb dieser Öko-Bewegung, dass die darauf setzt, dass sie Information vermittelt. Über CO2 oder den Zustand des Regenwaldes oder so etwas. Was keinen Menschen wirklich vital interessiert. Aber Geschichten interessieren Menschen."

Geschichten sind psychologische Einheiten, in denen Abläufe und Entwicklungen transparent werden. Wo Zahlen überwältigen oder irreleiten, wo Massen von Fakten die Zusammenhänge eher verschleiern als erklären - da belegen Geschichten, wie das Leben funktioniert. Oder: wie es funktionieren könnte.

"Ich halte das Geschichtenerzählen für ein radikal unterschätztes politisches Mittel. Radikal unterschätzt. Und jetzt kommt auch noch mal der Anknüpfungspunkt zu dem, was ich gesagt habe, dass die Öko- und Nachhaltigkeits-Bewegung nur reaktiv argumentiert, und dies unter Heranziehung von wissenschaftlichen Daten sonder gleichen. Das heißt im Umkehrschluss: Sie hat keine Gegengeschichte zu erzählen. Und ich kann Gesellschaft nur verändern, indem ich eine andere Geschichte erzähle. Keine soziale Bewegung ist ausgekommen, ohne eine andere Geschichte über sich und über einen zukünftigen Zustand zu erzählen."

Konkrete Geschichten vom Widerstand

Und so streut Welzer in seine Analysen eben Geschichten ein. Von Menschen, die "selbst denken", wie es der Titel des Buches empfiehlt. Die meisten sind tatsächlich so geschehen - wie die Geschichte von der Frau, die nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl damit begann, Erzeuger von Ökostrom aus der eigenen Nachbarschaft zu einem Netz zusammenzuschließen. Sehr erfolgreich. Es wächst bis heute. Und manche könnten so geschehen - wie die Geschichte von dem Mann, der eine neue Bohrmaschine kaufen will und bei der Bestellung im Internet erst mal an eine Reparaturwerkstatt verwiesen wird. Und dann an einen Nachbarn, der eine ähnliche Maschine schon besitzt. Warum nicht teilen? Eine Bohrmaschine braucht man dreimal im Jahr. Und worin soll da, bitte, ein Verzicht auf Lebensqualität liegen?

"Man kann die Frage ja blitzartig umdrehen und sagen: Worauf verzichten wir denn im Augenblick? Die Suggestion ist ja genau die: In dem Moment, wo ich sage, da müssen wir aber verzichten - ist ja der Status quo schon geadelt. Als etwas, der alles bietet und gar keinen Verzicht beinhaltet. Aber der Status quo beinhaltet ja gigantische Verzichte. Wahnsinn! Und wenn ich sagen würde: eine autofreie Stadt - wo soll da ein Verzicht sein? Worauf sollte man in einer autofreien Stadt verzichten? Ist doch völlig rätselhaft, wo da der Verzicht sein soll. Es ist ein gigantischer Gewinn. Oder ( ... ) wo liegt denn der Verzicht, wenn ich die Papaya nicht ganzjährig kriege? Das ist doch totaler Schwachsinn! Das ist doch kein Verzicht!"

Der Charme an Welzers Buch ist, dass es Analyse und Argumentation mit konkretem Handeln belegt. Mit Geschichten eben. Dass es darüber hinaus Emotionen zulässt, Ironie, Spott und - wo es angebracht ist, also ziemlich häufig - auch heiligen Zorn. Und dass es, drittens, aus allen Fakten und Prognosen auch handfeste Empfehlungen ableitet. Etwa: "Hören Sie auf, einverstanden zu sein." Oder: "Leisten Sie Widerstand, sobald Sie nicht einverstanden sind." Das wäre doch mal ein Anfang ...

 


 

 

 

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Harald Welzer (2013) Selbst denken Eine Anleitung zum Widerstand