Die überforderten Retter
Niklas Klaus Karl Rainer Frank
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Viele Männer erinnern sich an den Auftrag der Mutter, sie retten zu müssen, sich um sie zu sorgen, einen Ausgleich für die Schlechtigkeit der anderen Männer, vor allem des Vaters, zu schaffen.
Sie erinnern das Gefühl qualvoller hoffnungsloser Überforderung und der Angst, von der Mutter verlassen zu werden, falls sie deren Erwartungen und Wünsche nicht erfüllen würden.
Dabei hegen und pflegen die Mütter ihre Söhne, die sie so sehr brauchen, nicht nur. Mit Gewalt machen sie die Kinder gefügig. Diese Gewalt, die Mütter auf unterschiedliche Weise in den Beziehungen zu Söhnen ausagieren, wird von ihnen selbst häufig nicht gesehen.
Dabei handelt es sich nicht nur um direkte körperliche Gewalt — Ohrfeigen, die im Vorübergehen ausgeteilt werden, brutale Schläge und jähe Wutanfälle, der Auftrag an den Vater gar, den Sohn zu verprügeln.
Auch das häufige Ausagieren des eigenen Kummers vor dem Sohn, das fatale Weinen und Schreien, die phasenweisen Depressionen und Androhungen von Selbsttötungen seitens der Mütter schwächen die Söhne und lassen sie ihrerseits gewaltsam reagieren.
»Stimmungen gegenüber meiner Mutter«
Niklas Ahrens
Ich wurde 1965 geboren als zweiter von drei Söhnen. Als ich zwölf war, zog mein Vater auf Verlangen meiner Mutter aus der gemeinsamen Wohnung aus. Mit meinen beiden Brüdern blieb ich bei der Mutter. Bis heute sind meine Eltern verheiratet. Ich bin von Beruf Technischer Zeichner. Was ich hier vorlege, stammt aus meinen Tagebüchern. Einen wirklichen Mutterbrief möchte ich zu gegebener Zeit schreiben.
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Meine selbstgebastelten Kruzifixe waren ein Protest gegen die scheinbar heile Welt: ein Bild der Grausamkeit gegen die Grausamkeit von Verwöhnung und Umklammerung; kein Selbst haben zu dürfen, damit meine Mutter ein Selbst haben konnte.
Irgendwo sehe ich ein Unersättliches in mir, was mir auch Angst macht. Wo ich Halt suchen möchte, da ist gähnende Leere — freier Fall. Nicht meine Bedürftigkeit zählte, sondern die Bedürftigkeit meiner Mutter.
Meine Gedanken sind nicht frei. Vor den Gedanken waren Gefühle und Stimmungen, die ich nicht frei und geborgen ausleben und äußern konnte. Meine Gedanken machen mir so oft so schwere Schuldgefühle. Es scheinen so oft Gedanken zu sein, die an allem rütteln, die die Welt um mich zum Einsturz zu bringen drohen, gegen alles aufbegehren wollen, auch das, wo hinein ich meine Hoffnungen und Wünsche legen möchte, wo ich Geborgenheit und Wärme suche und meine Lebendigkeit spüren möchte.
Wie sehr muss ich »Schutz« und »Geborgenheit« durch meine Mutter als Gefängnis empfunden haben? Sie nicht anstrengen, sie nicht überfordern. Sie ist so labil, ich bin das einzige, wo sie noch Halt findet. Ich kann nur überleben, wenn sie überlebt. Sie hat soviel Angst, soviel Zweifel und Schuldgefühle. Wenn sie Angst hat zu versagen, bin ich verloren. Doch wohin mit meinen Gefühlen, die ich auch habe? Mir fehlt soviel. Da waren Gefühle, die ich nicht spüren durfte — wie hilflos, wie schwach und wie abhängig ich mich fühlte. Ich musste stark und kräftig sein, fröhlich, damit ich überhaupt eine Mutter hatte.
Wer hat sich sonst um mich gekümmert?
Ich weiß einfach nicht, wo ich soviel Ablehnung gespürt habe, woher meine Feindseligkeitserwartungen kommen. Es muss so schrecklich sein, zu meinem wahren Schmerz, zu meiner wahren Wut, meiner wahren Angst zu kommen. Und trotzdem spüre ich immer wieder diese gnadenlosen, erbarmungslosen Stimmen in mir. Sind es meine eigenen Stimmen, die sagen wollen: Gib mir eine Chance, ich selbst sein zu dürfen. Hasse und verachte meinen Vater nicht so — du machst mir damit Angst. Ich bin so total überfordert, wenn du dir bei mir Halt und Frieden suchst, wenn ich dich versöhnen soll. Du nutzt mich aus, du saugst mich aus, weil du meinst, ich sei der einzige Mensch, der dich nicht bedroht. Was kann ich dafür, daß dir deine Eltern soviel Angst gemacht haben? Ich kann dir nicht Schutz und Geborgenheit geben, dich nicht groß und stark machen. Ich will nicht dein Schutzschild sein - dich trösten. Ich will, dass du nicht meinen Vater für dein Unglück verantwortlich machst; ich will es nicht ausbaden, dass du dich bedroht und unglücklich fühlst. Ihn verachtest du, aber mich machst du so groß.
Ich will einfach nicht für deine gute Stimmung verantwortlich sein. Manchmal ist mir deine gute Stimmung so verhasst, weil ich mich dafür so zurücknehmen muss, weil du mich damit überrennst und kein Platz für mich mehr bleibt. Ich überrenne mich heute selber, erdrücke mich, als ob ich immer wieder diese Umklammerung und Symbiose im Unglück wiederholen möchte.
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»Fast wäre ich an dir erstickt«
Klaus Fritsche
Ich bin 34 Jahre alt, ledig, Einzelkind. Nach einer Ausbildung zum Maschinenschlosser und anschließender sechsjähriger Berufstätigkeit machte ich auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur und studiere zur Zeit an der TU Berlin für das Lehramt an Berufsschulen. Nach der Scheidung meiner Eltern lebte ich allein mit meiner Mutter
Hallo Erika,
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als erstes schicke ich voraus, dass ich von dir erwarte, dass du auf diesen Brief antwortest. Aber nicht mit einem hysterischen Anruf, wie ich es von dir gewohnt bin, in dem alles gleich in deinem Sinne geklärt werden muss, sondern ich bestehe darauf, dass du mir schriftlich antwortest und dir mindestens drei Monate Zeit nimmst, dich mit diesem Brief auseinander zu setzen.
In dieser Zeit will ich keinerlei Kontakt zu dir. Wenn du mich hiermit nicht ernst nimmst, breche ich jeden weiteren Kontakt zu dir ab. Gleiches geschieht auch, wenn du mich bei irgend jemandem in der Familie nach Erhalt dieses Briefes als undankbaren und abtrünnigen Sohn darstellst oder in sonst einer Form schlecht über mich redest.
Ich schreibe an dich, weil ich das Gefühl habe, mit diesem Brief einen Knoten lösen zu können, der mich festhält, solange ich denken kann. Ich habe seit einiger Zeit das Gefühl, ich möchte aus meiner Haut fahren, um endlich einmal tief durchatmen zu können. Während der seit einigen Jahren andauernden Auseinandersetzung mit meiner Person entstehen bei mir in Bezug auf unsere Beziehung viele Fragen, die ich von dir beantwortet haben möchte, aber auch Gefühle die ich an dich herantragen muss.
Ich will dir auch schreiben, wie ich Situationen zwischen uns erlebt habe und heute fühle. Ich habe im Zusammenleben mit dir vor allem Enge erlebt. Du hast mich kontrolliert, beaufsichtigt, unter Aufsicht gestellt und für deine eigenen Bedürfnisse missbraucht und ausgenutzt. Warum hast du dir nach deiner gescheiterten Ehe keinen neuen Lebenspartner gesucht, sondern mich zu diesem gemacht? War es nötig, dass du mich zu deinem seelischen Mülleimer machtest, indem du jeden Abend die Erlebnisse und Geschehnisse deines Tages über mir ausschüttetest? Ja, Zuhören, das habe ich bei dir gelernt.
Mich selbst mitzuteilen, von mir zu erzählen, Platz für meine Berichte zu haben, gelang nur, wenn ich von Begebenheiten berichtete, die dich in Unruhe versetzen, ob sie nun wahr waren oder ich sie erfand. Es fällt mir schwer, bei den Gefühlen und Stimmungen zu bleiben, die ich dir gegenüber habe. In irgendeiner Art und Weise bist du für mich nicht greifbar, ich weiß nicht, wie ich dich kriegen, dich packen, dich erreichen kann. Ich habe die Befürchtung, dass du mir entgleitest, entwischst, wenn ich Kritik an dir übe und dann damit meine Gefühle und Empfindungen als angeblich unwahr und nicht real zurückbleiben.
Du hast es geschafft, mir das Gefühl zu vermitteln, du seist der einzige Mensch auf der Welt, auf den ich mich verlassen kann. Damit wolltest du mich stumm machen. Du wolltest früher schon verhindern, dass ich dich kritisiere, wolltest mich an dich binden und dafür Sorge tragen, dass ich dir nie einen solchen Brief schreibe. Aber ich tue es trotzdem. Ich riskiere es, auch mit dem Gefühl, mir vielleicht selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Ich werde versuchen, die Kritik und hoffentlich auch die Wut an dich heranzutragen. Du hast mir zu oft und zu früh die Verantwortung für dich und für Situationen, in denen du dich befandest, übertragen.
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Als eines von vielen Beispielen hier das Früheste, an das ich mich erinnern kann: Wir waren in Finnland, wohnten im Sommerhaus, und es musste Wasser geholt werden. Hierzu war es nötig, mit dem Ruderboot zu einer Pumpe zu fahren. Ich vertraute, du hast deinem Mann zugesagt, dies tagsüber zu tun. Nun konntest du aber nicht rudern, und vermutlich kannst du es heute noch nicht. Also hast du bei deiner Zusage mich wohl schon eingeplant. Ich ruderte also los und wir wurden auf den See hinausgetrieben. Als dann klar wurde, dass ich gar nicht gut genug rudern konnte, bekamst du mitten auf dem See einen hysterischen Anfall. Dein Gesicht verzog sich zu einer Fratze, du sahst wie wahnsinnig geworden aus. Ich hatte Angst vor dir und Angst davor, nicht mehr von diesem See herunter zu kommen.
Was an dieser Situation für mich aber auch schlimm war, war, dass du mir die Verantwortung für unsere Lage zuschobst, indem du mir in deinem Wahnsinn irgendwelche Vorwürfe machtest. Ich war damals übrigens knapp sechs Jahre. Bei der Erinnerung an deinen Gesichtsausdruck fällt mir auch die Situation ein, in der du während einem deiner cholerischen Anfälle meinen Spielzeugschrank umkipptest, weil ich nach deiner Messlatte nicht ordentlich genug aufgeräumt hatte. Alles Spielzeug lag mitsamt Schrank auf der Erde, und ich musste noch einmal von vorn anfangen, verängstigt und eingeschüchtert.
Du warst für mich unberechenbar. Leise und unscheinbar musste ich sein, um vor dir in Sicherheit zu sein. Du hast mich immer wieder in die Verantwortung gezogen, deine Defizite sollte ich ausgleichen. Eine weitere Situation, die aus heutiger Sicht bei mir den Eindruck hinterlassen hat, du warst nicht Frau deiner Sinne, bezieht sich auf meine Haustiere. Du hattest Asthmaanfälle aufgrund einer Tierfellallergie und sorgtest nicht dafür, dass die Tiere wegkamen.
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Es ging sogar so weit, dass ich den Notarzt rufen musste, weil du fast am Ersticken warst. Kannst du dir vorstellen, welche Angst ich hatte? Ich war vollkommen überfordert mit dieser Situation und anscheinend auch noch schuld, denn es waren ja meine Haustiere. Wieso hast du diese Situation so lange ertragen und mich derart geängstigt? Hier wäre deine von dir so viel gerühmte, oft überflüssige Fürsorge wirklich angebracht gewesen -aber in erster Linie für dich.
Du hast ein totales Verwirrspiel mit mir getrieben. Einerseits hast du mir die Verantwortung für deine Befindlichkeiten übertragen, andererseits hast du mich klein gemacht, in dem du mir keinerlei Selbständigkeit zutrautest. Ich habe mit dir gerungen, ja, fast gekämpft, um endlich aus dem Hort zu kommen, in den du mich mit sieben Jahren stecktest. Bis zu meinem elften Lebensjahr, obwohl ich dir immer wieder sagte, ich käme mir wie im Gefängnis vor, hast du nicht auf mein Bedürfnis reagiert. Ich weiß heute nicht mehr, mit welcher Begründung du mich im Hort ließest. Aus dem Gefängnis Hort zu entkommen gelang mir erst, als ich mich tatsächlich weigerte, hinzugehen.
Doch meine schwer gegen dich erkämpfte Freiheit währte nicht lang. Ein Jahr war ich Schlüsselkind und habe es genossen, auch ohne dich in der Wohnung zu sein, mich frei bewegen zu können, mich mit meinen Freunden auf dem Fußballplatz zu treffen. Dann kam die Oberschule und der damit verbundene Schulwechsel. Anstatt mir die Schulwahl zu überlassen, entschiedest du, ich solle auf eine Gesamtschule gehen. Begründung für diese unnötige Bevormundung war: dort sei ich nachmittags unter Aufsicht. Doch sie haben mich nicht gebändigt bekommen. Ich habe auch hier um meine Freiheit gekämpft, wie du weißt, und da bin heute stolz drauf. Du alte Knastwärterin, warum hast du mir nicht die Freiheit gelassen, die ich mir so schwer gegen dich erkämpft habe, warum musstest du mich so kleinhalten und demütigen?
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Auch als es um meine Berufswahl ging, hast du mir reingeredet, aber ich hatte nicht den Mut oder nicht die Kraft, mich bei dieser scheinbaren Lebensentscheidung - jetzt beginnt der Ernst des Lebens - gegen dich zu wehren. Ich wollte Erzieher werden. Du sagtest, das wäre ein Beruf für gescheiterte Existenzen und ich solle erst einmal etwas Vernünftiges lernen. Mann, was bist du nur für eine arrogante überhebliche Person. Ich bin also Maschinenschlosser geworden wie mein Vater. Wolltest du vielleicht, dass ich werde wie mein Vater?... Doch dafür hast du ihn eigentlich nach eurer Scheidung zu schlecht gemacht. Er hat die »Matratze des Dorfes« geheiratet, sich von der Erstbesten einfangen lassen, hast du oft erzählt. Du hast ihn als das letzte Arschloch dargestellt, das uns hat sitzen lassen. Mir sagtest du, eure Ehe wäre gescheitert, weil wir nicht mehr gemeinsam auf Montage fahren konnten, denn ich musste ja zur Schule. Aber ich sage dir, auch diese Verantwortung übernehme ich nicht mehr. Nach seiner Darstellung hat er dich nämlich verlassen, weil du eine Beziehung zu einem anderen Mann, Dieter, hattest. Ich kann mich übrigens noch an »Onkel Dieter« erinnere. Jetzt ist mir auch klar, warum du keinen Unterhalt von deinem Mann wolltest, uns in finanzielle Not brachtest und lieber allen Schmuck ins Leihhaus schafftest. Du hast mich also jahrelang belogen und wieder einmal nicht die Verantwortung für dein Handeln übernehmen wollen. Mein Vater hat übrigens nicht schlecht über dich gesprochen und erst auf mein Nachfragen hin über eure Scheidung berichtet.
Dass du mich kleinhalten wolltest, habe ich schon betont, aber mit welcher Brutalität du auch vorgegangen bist, habe ich noch nicht geschildert. Wie kommst du wahnsinnig Gewordene eigentlich dazu, mir zu sagen, meine ersten Bartstoppeln am Kinn wären Zickenhaare, und die müsste man mit einer Pinzette ausreißen? Ich habe dir damals geglaubt, weil du ja die Allwissende warst, die sogar hinten Augen hatte. Du wusstest angeblich immer ganz genau, was gut für
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mich war und was nicht. Das ist dein verlogener Größenwahn. Wenn ich Ideen hatte, Neues entdecken und ausprobieren wollte, sagtest du häufig: »Wer hat dir denn den Floh ins Ohr gesetzt?« Für eigenständige Ideen war ich aus deiner Sicht wohl zu blöd.
Aber ich sage dir, dein mütterlicher Größenwahn war völlig fehl am Platze. Du hättest dich lieber um dein verkorkstes Leben kümmern sollen. Noch einmal: Warum hast du dir in der Blüte deines Lebens keinen neuen Partner gesucht, sondern mir die Bürde auferlegt, mich nicht von dir entfernen zu können und die Rolle deines Partners zu übernehmen? Du hast mich missbraucht, benutzt, deine Macht über mich ausgenutzt, und das alles nur, weil du zu feige warst, dir einen erwachsenen Mann zu suchen. Ich war nicht dein Sohn, ich sollte dein Mann sein.
Ich werde leider nicht die Möglichkeit haben, dir die durch dich erlittene Schmach, Demütigung und Ausnutzung heimzuzahlen. Aber deine verlogene Versorgungshaltung lasse ich nicht länger durchgehen. Es ging dir nicht um aufopfernde Versorgung für deinen Sohn, es ging ausschließlich um die Befriedigung deiner egoistischen Bedürfnisse. Du hast mir meine Gefühle verdreht. Ich sollte dankbar sein für deine angebliche Askese. Also eigentlich dankbar sein dafür, deine Bedürfnisse befriedigen zu dürfen.
Zum Abschluss noch zu einer aktuellen Situation: Wenn du mich noch einmal fragst, wann ich denn eigentlich mit dem Studieren fertig sei, damit trete ich dir in den Arsch. In den letzten zwei Jahren habe ich dir mindestens zehnmal gesagt, wie lange ich noch studieren werde. Du brauchst nicht weiter Besorgnis vorzuheucheln und damit zu versuchen, mich am Studium zu hindern. Mit deinen ständigen törichten Nachfragen versuchst du doch nur, mich zu verunsichern und an der eigenständigen Expansion zu hindern. Es wäre angebrachter, wenn du mich mal fragen würdest, wie du mich unterstützen könntest. Ich sage dir, ich lasse mich von dir nicht mehr kleinhalten. Ich werde mich mit aller Macht und mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gegen dich wehren. Also lass mich in Zukunft mit dieser Scheiße in Ruhe.
Klaus
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»Deine Duldung der Gewalt meines Vaters gegen dich war Gewalt gegen mich«
Karl Voigt
Ich wurde 1966 als zweitjüngstes von sieben Geschwistern in Berlin geboren. Nach der mittleren Reife machte ich eine Ausbildung als Groß- und Außenhandelskaufmann und arbeitete mehrere Jahre im Verkauf und in der Verwaltung. Nach längerer Orientierungsphase strebe ich nun auf dem Zweiten Bildungsweg das Abitur an.
Hallo, Mutter,
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ich schrieb dir im vergangenen Dezember zu deinem siebzigsten Geburtstag einen Brief. Ich fühle mich noch immer ziemlich zerrissen! Ich werde sehr traurig und wütend, wenn ich an die Gewalt mit ihren vielen Gesichtern denke, die ich im Zusammenleben mit dir erlebt habe.
Durch jahrelange und mühsame Bewusstseinsarbeit in der Therapie-und Männergruppe mit Gleichgesinnten und Freunden kann ich heute den Schmerz spüren, den die Verletzungen von damals verursachten. Und ich spüre meinen enormen Arger und meine Wut auf dich! Du hattest damals zu Hause das Sagen und somit die Macht auch über unser und mein Leben.
Mit deinen Entscheidungen hast du auch Weichen für meine Zukunft gestellt. Heute spielst du das nur zu gern herunter, verharmlost viele Situationen oder streitest sie gar ab. Als dich dein Ehemann - unser Vater - immer häufiger und brutaler schlug, fasstest du den kühnen und positiven Entschluss, dich zu trennen und die Scheidung zum zweiten Male einzureichen.
Du suchtest dir heimlich eine Wohnung und eine Hauswartstelle und außerdem eine Nebentätigkeit als Putzfrau. Wir Kinder wurden in die anstehende geheime Operation eingeweiht und instruiert, unsere Spielsachen, Schulsachen und so weiter heimlich zu packen, so dass der Vater davon nichts mitbekäme. Die Vorbereitungen für den Tag X liefen auf Hochtouren. Und dann war es soweit: Ich werde es nie vergessen, es war der 1. April 1977: Eile, Eile, jeder Handgriff musste sitzen, hatten wir für diesen großen Umzug, der einer Flucht gleichkam, doch nur einen Tag. Und immer die Sorge: Was wäre, wenn der Vater ausgerechnet heute mal pünktlich von der Arbeit nach Hause kommen würde? ... Nach einigen angenehmen, vatergewalt-freien Wochen in der viel zu kleinen, mit Möbeln und Kisten quer durcheinander gestellten Wohnung fuhrst du mit uns nach Kreuzberg.
Ich kann mich noch verhältnismäßig gut daran erinnern, wie distanziert, enorm misstrauisch und voller Sorge ich dieser bevorstehenden Begegnung mit dem Vater entgegensah. Voller Sorge, dass er in der Begegnung wieder aggressiv und gewalttätig werden würde. Hatte ich doch noch sein Geschrei und dein Weinen im Ohr und die Bilder, wie du dich mit uns Kindern im Kinderzimmer zur Nachtruhe einriegeltest oder er drohte und versuchte, die Wohnungstür einzuschlagen, vor Augen. Die Angst saß mir im Nacken, aber ich glaube, die Sorge, dass er dir etwas antun könnte, war größer. Glücklicherweise reagierte der Vater anders als befürchtet. Er war dir gegenüber sehr distanziert, nur abweisend, wirkte gekränkt, gar verletzt. Ich hatte den Eindruck, er wollte mit dir nichts mehr zu tun haben. Uns Kindern begegnete er mit distanzierter Freundlichkeit.
Es blieb nicht bei dieser einen Begegnung - im Gegenteil, schon nach kurzer Zeit pendelten wir zwischen Neukölln und Kreuzberg und übernachteten in unterschiedlichen Konstellationen dort. Manchmal fuhrst du mit allen vier
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Kindern nach Neukölln, manchmal nur mit zweien, ... und dann gab es auch die Male, wo wir alle in Kreuzberg nächtigten. Alle in einem Raum - im Wohnzimmer in dieser 120 Quadratmeter großen leeren Wohnung. Vier Schlafgelegenheiten für sechs Personen. ... ich musste beim Vater auf der Couch schlafen. Du stelltest mich vor nackte Tatsachen - es war kein weiteres Bett vorhanden. Meine verzweifelten Versuche, zwei Sessel zusammenzuschieben, bescherten mir keine vernünftige Nachtruhe. Deprimiert und gedemütigt suchte ich am Fußende bei diesem schnarchenden Fleischkloß auf der Couch Platz.
Du sagst, du warst immer für uns da. In dieser Situation warst du nicht für mich da! Meine Ablehnung und mein Widerstand waren vergebens. Ich war fast elf Jahre alt und niemand hat danach gefragt, wie ich mich fühle! Ich empfand es als sehr unangenehm, gar widerlich, so nahen Körperkontakt mit dem Vater zu haben - insbesondere nach diesen erschütternden Geschehnissen, nicht im eigenen Bett schlafen zu können oder darum betteln zu müssen, nach Neukölln zu fahren.... Dieser Zustand ging etwa ein halbes Jahr. Dein später erklärtes Ziel, um die Wohnung zu kämpfen, hast du nicht erreicht. Die Wohnung wurde gekündigt, weil dein Mann keine Miete bezahlte. Wir lebten dann etwa sechs bis neun Monate allein. Zu Ostern kam dann der Vater zu Besuch, war sehr freundlich und zugewandt, was wir alle als sehr angenehm empfanden. Es wurde spät, er durfte bei uns übernachten an diesem und jenem Wochenende, und irgendwann wohnte er dann wieder bei uns. Du hast uns damals nicht gefragt, ob wir das möchten. Es war eher ein schleichender Vorgang, den du aber zugelassen hast. Das, was ich in den folgenden Jahren in unserer Familie in dieser viel zu kleinen und vollgestopften Wohnung mit dem ungewollten Vater und mit dir erlebte, hat schmerzhafte Spuren hinterlassen.
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Ich habe nicht miterlebt, dass er dich seit der Trennung noch einmal geschlagen hat, aber ich habe noch gut die vielen Beschimpfungen, Erniedrigungen und Entmutigungen in Erinnerung. Wie kannst du an einem Mann festhalten, der dich so oft beschimpfte, dich schlug, dich demütigte und bloßstellte, dir das Kopfhaar aüsriss, dir deine drei Kinder aus erster Ehe und deine kranke Mutter vorhielt, der dich mit Vorwürfen und dem Urin gefüllten Nachttopf der Kinder überschüttete, dich würgte - dir somit nach dem Leben trachtete - der dich häufig einschüchterte, dir Angst machte, dir keine Schulter zum Anlehnen und keine Geborgenheit bot, dich nicht unterstützte, dir keine Komplimente machte, dir nicht vertraute, sich dir gegenüber völlig unkooperativ und gemeinschaftsfeindlich verhielt, der dich und uns so oft in Unruhe brachte?
Wie kannst du an einem Mann festhalten, der dir soviel Gewalt angetan hat?
Im Aushalten dieser Gewalt hast du mir Gewalt angetan. Mit zunehmendem Alter wuchs auch die Kluft zwischen uns Kindern beziehungsweise zwischen mir und dem Vater. Harmonie erlebte ich in den letzten Jahren zu Hause nur selten. Streitereien beherrschten die Szene.... Auch das ist für mich Gewalt, wenn sich die Eltern ständig streiten. Obwohl ich in der großen Familie selten allein war, habe ich nur wenige Erinnerungen an Gemeinschaft und Gemeinsamkeit. Dabei geht es mir um das Wort - gemein. Die Atmosphäre war häufig eher gemein als gemein - eher negativ als positiv. Ihr Eltern strittet häufig dabei ums Geld, nicht selten erlebten wir eine Katerstimmung, weil der Vater den Lohn verspielt hatte und du nicht wuss-test, wie du unseren Verpflichtungen nachkommen solltest. ... Versöhnliche, schlichtende Worte hörten wir selten. Auch wir hatten unsere Machtkämpfe, aber wenn es um den Vater ging, stand ich dir immer bei. Wenn ihr Streit hattet, mischte ich mich häufig ein. Nie stellte ich (damals) die Position der Mutter in Frage. Du hattest immer recht. Das Verhältnis schien klar. Du das Opfer, er der Täter und das Schwein.
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Phasenweise war ich ein Stubenhocker, nach der Schule immer gleich zu Hause, keine Verabredungen mit Freunden.
Heute ist mir bewusst, dass ich damals auf dich aufgepasst habe! Einer musste ja da sein, wenn dein Mann von der Arbeit kam und ihr euch gezofft habt, weil nie auszuschließen war, dass er doch wieder zuschlagen könnte. »Dich müßte man mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, bis die Gehirnmasse herausquillt«, hörte ich ihn mehr als einmal sagen. Meinen Ärger und meine Wut über deine gefällte Entscheidung, an dieser kranken Beziehung festzuhalten, mit diesem Versager zu leben, musste ich verdrängen.
Ich fühlte mich damals und fühle mich noch heute benutzt. Für mich ist das auch eine Form von Missbrauch! Ich fühle mich von dir gefühlsmäßig missbraucht! Du sagtest mir vor längerer Zeit einmal, ich hätte kein Recht, dir Vorwürfe zu machen. Du hattest kein Recht, mich emotional so auszubeuten, mich für deine Pläne zu benutzen und mir immer wieder Hoffnungen zu machen, Hoffnungen auf ein besseres angenehmeres Leben, als wir es lebten und erlebten!
Alle Bestrebungen und Anstrengungen führten immer wieder in dieselbe trostlose und hoffnungslose Wohn- und Lebenssituation. Die Niederlage war mir näher als der Erfolg. Du hast mich in meiner Entwicklung enorm gebremst, festgehalten - und mich mit Enttäuschungen überhäuft! Ja, du hast mich so oft enttäuscht und getäuscht! euer Beziehungskrieg hat mich auch nach meinem Auszug weiterhin belastet und Depressionen bei mir ausgelöst.
Deine nicht konsequent vollzogene Trennung erlebe ich noch immer als Trauma - als eine seelische "Wunde, die nicht heilen kann. Die schmerzt, wenn ich meine Arme nach dem Leben ausstrecken, Glück und Zufriedenheit erfahren möchte. Zufriedenheit mit mir, mit meinen Freunden, mit meiner Partnerin, mit meinem Beruf. Mein Widerstand war damals leicht zu brechen. Du hast ihn viele Male gebrochen und etwas in mir zerbrochen. Mein Vertrauen zu dir ist zerbrochen. Ich kann dir nicht mehr glauben und nicht mehr vertrauen.
Vor langer Zeit habe ich (oder du?) es mir zur Aufgabe gemacht, dich retten zu müssen. Aber das kann ich nicht, und ich will das auch nicht mehr. Ich kann nicht mehr für dich da sein und ich will mich nicht mehr für dich verantwortlich fühlen! Dieses Gerangel von damals um eine lebenswerte Perspektive, das spüre ich noch heute in meiner Brust, und ich möchte, dass es aufhört. Daran arbeite ich seit Jahren erfolgreich in der Männergruppe! Wann übernimmst du endlich die Verantwortung für dein Tun und Handeln für dein Leben?
Karl
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»Bleib du wenigstens bei mir«
Rainer Strotmann
Ich bin 1957 geboren, jüngster von drei Söhnen und lebe seit zehn Jahren eine lebendige Partnerschaft mit meiner Frau. Nach einer Facharbeiterausbildung machte ich auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur, studierte und promovierte zum Dr. phil. auf dem Gebiet der Männerforschung.
Mutter,
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ich schreibe dir, weil ich dir einige Erlebnisse in unserer Beziehung, überwiegend Vorfälle aus meiner Kindheit, noch nicht gesagt habe. Diese Kindheitserlebnisse haben mich damals sehr belastet, was dir durch diesen Brief klar werden kann.
Mir ist wichtig, dass du weißt, wie es mir damals ging. Das mir jetzt eindrücklichste Bild unserer Beziehung stammt aus der Zeit, in der ich sechs bis acht Jahre alt war. Du stehst am Küchenfenster, bist »außer dir«, hysterisch, weinst und klagst die Familie an, aber nur ich bin da. Mir mutest du dich zu.
»Ihr bringt mich noch ins Grab, und du bist der Schlimmste.« Wir waren allein. Du standest weinend am Fenster und ich an der Tür. Total hilflos, ich hatte das Gefühl, als würdest du mich überschwemmen, wegschwemmen. Die Lüge, dass ich dich noch ins Grab bringen würde, kannte ich schon. Dem Zustand totaler Verzweiflung und dass ich der Schlimmste sein sollte, machte mich tatsächlich schwindelig. Deine Tränen, deine Hysterie überforderten mich völlig, und ich hoffte inständig, dass die Situation endlich vorbei sein möge und du endlich deine Todesdrohung wahr machen mögest, damit das Schwindelgefühl in meinem Kopf und das Gefühl grenzenloser Ohnmacht, das mich zu verschlucken zu drohen schien, aufhöre. Nachdem du dich in Gegenwart deines jüngsten Sohnes ausagiert hattest, war ich tatsächlich enttäuscht, dass du deine Drohung nicht wahr gemacht hattest. Ich wusste, es würde wieder passieren, ich wusste, ich konnte es nicht mehr ertragen. In dieser Situation war ich so verzweifelt und überfordert, dass ich inständig hoffte: Hoffentlich ist es bald so weit. Auch war ich im Zwiespalt, einerseits glaubte ich dir nicht, dass ich dich ins Grab bringen könnte, andererseits soll ich ja nach deinen Aussagen der »Schlimmste« gewesen sein; das traf mich tief, und ich wäre danach der Schuldigste an deinem Tod gewesen. Tatsächlich bekam ich Angst vor tiefen Schuldgefühlen im Falle deines Todes.
Darüber hinaus durfte ich nicht aus dem Haus: »Rainer, bleibe du wenigstens bei mir.« Ich war mit Abstand der Jüngste, unser Vater war nicht da, meine beiden Brüder auch nicht. Nur beim Jüngsten hattest du noch die Macht, ihn nicht aus deiner Nähe zu lassen. Zuständig war ich darin für deinen Trost, und viel zu lange hatte ich das Gefühl, dich retten zu müssen und dich gerettet zu haben. Für deine gute Laune hast du mich zuständig gemacht. Während der langen »Schmusesitzungen« auf deinem Schoß, Haarestreicheln, Kopfstreicheln, war Frieden im Haus. Keine Schläge, keine Prügel, kein Schimpfen. Wenn es dir gut ging, hast du mich weniger geschlagen, und bei diesen Streichelsitzungen schien es mir auch wichtig, dich von meinem Liebsein zu überzeugen, damit du mich weniger schlägst.
Mein damaliger Freund, Udo, war damals mit fünf oder sechs Jahren in bezug auf die Liebe seiner Eltern sehr verunsichert. Er vertrat die Meinung, wenn Eltern ihre Kinder nicht schlagen, würden sie nicht lieben. Ich konnte ihm nicht zustimmen. Er wurde von seinen Eltern nicht geschlagen, und darum beneidete ich ihn. Von dir, Mutter, wurde
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ich manchmal so verprügelt, dass ich um Gnade winselte, so dass, wenn die Schläge nicht aufhörten, mir schien, die Erde würde stillstehen. Deine Wut, ich weiß nicht auf wen, hast du prügelnd mit dem Stiel des Teppichklopfers auf dem Po deines kleinsten Sohnes ausagiert.
Ich weiß den Anlass nicht mehr. So groß kann er nicht gewesen sein. Es war in der Waschküche, du hattest wohl gewaschen. Deine schnaubende Wut, mein Kopf zwischen deinen Knien, dass die Ohren vom Kniedruck schmerzten, es roch nach Waschlauge, nach deinem Schweiß, und immer die Schläge, die nicht enden wollten. Ich habe geschrien, ich habe gewinselt, ich habe dich angebettelt: »Ich bin wieder lieb, ich bin wieder lieb.« du wolltest nicht aufhören. Es hat mich niemand gerettet. Ich war dir ausgeliefert, die Welt stand still ... Ich war irgendwo anders, innerlich ganz weit weg und kehrte in die Waschküche zurück, ich hatte überlebt ... Das durfte nie wieder passieren, irgendwie musste ich Wiederholungen vermeiden. Der körperliche Schmerz war groß, es hatte unwahrscheinlich weh getan, die Demütigung allerdings schmerzte tiefer und länger. Du hattest es darauf angelegt, meine Selbstachtung, meinen Willen zu brechen. Du schienst fast alles von mir auslöschen zu wollen, dafür empfinde ich heute noch Rachegefühle.
Ich hasste dich dafür, aber gleichzeitig hatte ich dir unter Prügeln geschworen, wieder lieb sein zu wollen. Es kostete eine unwahrscheinliche Selbstüberwindung und Selbstverleugnung, wieder freundlich zu dir zu sein, wieder »lieb zu sein«. Wenn ich dich auf deinem Schoß sitzend beschmuste, war ich lieb und den Schlägen von dir fern.
Du hattest Angst vor Vater. Als dir einmal irgendeine Sache zerbrochen war, hattest du den ganzen Tag Angst vor Vaters Reaktionen am Abend. Als er kam, sagtest du ihm, die »Bla-gen«, das war dein Ausdruck für Kinder, hätten es getan. Wegen irgendeines Umstandes wurde ich nicht geschlagen.
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... Der Lehrerin der ersten Schuljahre sagtest du in meiner Anwesenheit: »Wenn Sie nicht mit ihm fertig werden, hauen Sie ihm ruhig ein paar.« Wie konntest du mich nur zum Geschlagenwerden freigeben. Auch für diese Demütigung könnte ich dir heute noch in den Arsch treten.
Dich hat es außerordentlich gefreut, wenn ich in Anwesenheit von Nachbarinnen oder Tanten mit tiefernster Jungenmiene verkündete: »Ich werde meine Mama heiraten!« Alle lachten, du auch. Mir war damals immer komisch dabei zumute, heute verstehe ich, in welcher Zwickmühle ich war: Angst vor deinen Schlägen, vor deinen hysterischen Anfällen und Angewiesensein auf deine Zuwendung. Das sicherste Mittel war für mich, dich bei guter Laune zu halten. Wenn irgendwelche Tanten oder Nachbarinnen zu mir in deiner Anwesenheit äußerten: »du hast das Gesicht deiner Mutter«, konnte ich nicht umhin, trotz deiner Freude über solche Bekundungen zu widersprechen, zumindest innerlich. Das ging zu weit, ich hatte - schon damals - mein eigenes Gesicht.
... Du hast ein gutes Gedächtnis, ich werde dich an noch mehr erinnern. Ich hoffe sogar, du kommst in Bedrängnis, doch im Gegensatz zu meiner damaligen Angst kann es trotzdem nur ein fahler Hauch sein. Du warst und bist eine selbstgerechte Kindesmisshandlerin. Deine Worte: »Und, haben dir die Schläge geschadet, es ist doch was aus dir geworden«, habe ich nicht vergessen. Am liebsten würde ich dich spüren lassen, wie entwicklungsfördernd Schläge sind: flache Hand, Plastikstiel der Fliegenklatsche mit den scharfen Kanten rechts und links, Stiel des Teppichklopfers, Eisenstange des Treppenteppichläufers. Trotz dieser Misshandlungen habe ich aus mir etwas werden lassen, trotz der Versuche der Enteignung meiner Jungenseele durch dich.
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Als in der Schule entschieden wurde, welche Kinder auf das Gymnasium, auf die Realschule oder im Dorf auf die Volksschule gehen sollten, wolltest du, dass ich im Dorf bleibe, bei dir. Niemand kam auf die Idee, mich zu fragen, was ich will; sicher, ich hatte Angst, auf eine andere Schule in einem benachbarten Ort zu gehen.
Aber was heißt hier eigentlich sicher? Auch du hast mich nicht gefördert, nicht angespornt, sondern hast versucht, mich zu entmutigen. Ich weiß, dass Norbert Schwöppe, den Namen werde ich nie vergessen, schlechtere Noten als ich hatte, er aber zum Gymnasium gehen durfte. Was warst du engstirnig, selbstsüchtig: »Rainer, bleib du wenigstens bei mir.« Tja, da staunst du! Wo du mir doch immer zu verstehen gegeben hast, dass ich der »kleine dumme«, der »kleine Blöde« sei.
Ich verzeihe dir nichts!
Die Zeit, als ich drei oder vier Jahre alt war und mein Bruder und ich wegen deines ca. dreiwöchigen Krankenhausaufenthaltes bei Verwandten in Brackwede wohnten, war wahrscheinlich die schönste Zeit meiner Kindheit. Ich sage dir auch, warum: ICH WURDE DORT NICHT GESCHLAGEN!
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Mit Freude erzählst du noch heute, wie zart, schwächlich und kränklich ich war. Wenn du das zu wissen schienst, warum musstest du mich dann so oft verprügeln? Ich war oft krank, das stimmt. Seltsam ist nur, dass du während meiner Krankheiten auf eine eigentümliche Art zufrieden warst. Du hast mich umsorgt, »umtüddelt«, ich lag auf dem Sofa bei dir in der Küche, du warst nicht allein. Das war es nämlich; du wolltest nicht allein sein, hattest keinen Sinn im Leben, mein Kranksein gab dir Gesellschaft und Lebenssinn. Außerdem war ich mit meiner sogenannten Schwäche der Blitzableiter für deine Lebenskrisen, für die Probleme mit deinem Mann. Je weiter ich mich räumlich und emotional von dir entfernen konnte, um so gesünder und kräftiger wurde ich.
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Ich muß so ca. sieben bis acht Jahre alt gewesen sein, als ein um ein paar Jahre jüngerer Spielkamerad, er hieß Harald ... starb.... In einer Friedhofskapelle ... stand ein weißer Kindersarg, und mir wurde gesagt, darin läge der Harald und sei tot. ... Ich war völlig verstört, weil ich nicht verstand, warum mein damaliger Freund in einer Holzkiste in die Erde gelassen und dann noch begraben wurde. Warum wurde er so alleine gelassen? ... Tod, so schien mir damals, ist, wenn jemand alleine und es völlig dunkel ist. Abends lag ich im Bett. Ich war allein, es war völlig dunkel, und ich bekam eine unsagbare, furchtbare Angst, so dass ich geschrien habe, geschrien wie »am Spieß«, im wahrsten Sinne des Wortes. Du kamst hinauf in das Zimmer und konntest mich nicht beruhigen. Ich wollte bei euch im Wohnzimmer und nicht alleine sein. Du hast meine Angst nicht verstanden, du hast dann irgendwann Vater geschickt, der hat mir ins Gesicht geschlagen. Das kann nicht nur Unverständnis und Hilflosigkeit gewesen sein. Das ist lieblos, das ist grob, das ist Gewalt. Heute, Mutter, als erwachsener Mann, tut mir der kleine Junge von damals unwahrscheinlich leid. Wieso hattest du so wenig Mitleid mit mir?
Mit Frau Schön, einer ehemaligen Nachbarin, hatte ich ein verständnisvolles Gespräch über meine Angst, über die Angst im dunkeln vor dem Einschlafen im Bett. Es ist in meiner Erinnerung das einzige verständnisvolle Gespräch mit einem Erwachsenen, wenn ich Probleme hatte, bei dem ich mich tief verstanden, beruhigt und aufgehoben gefühlt habe. Sie brachte Verständnis für meine Ängste auf. Sie sprach mit euch, Ihr konntet mir ein wenig glauben. Dein Standardsatz über meine Probleme oder Schwierigkeiten lautete: »deine Sorgen möchte ich haben.«
Irgendwann später, es war bereits dunkel und es war die Uhrzeit, zu der ich immer ins Bett musste, hast du mich gefragt, ob ich nicht noch zum Fußballplatz laufen und meinen beiden Brüdern beim Training zuschauen wolle. Ich war baff und erstaunt, aber eine solche Chance, abends spät noch auf dem Fußballplatz zu sein, fand ich damals klasse. Ich lief los, es war dunkel, hatte Angst und rannte, so schnell ich nur konnte. Total erleichtert war ich erst im Flutlicht des Trainingsplatzes. Meine Brüder sahen mich, waren verwundert über meinen so späten Besuch und schickten mich »postwendend« zurück, wobei ich doch gerade so erleichtert war, den dunklen Weg gemeistert zu haben. Also in Windeseile zurück. Viele Jahre später hast du mir tatsächlich vollen Ernstes erklären wollen, dieses »Experiment« wäre der Beweis für dich gewesen, dass ich im dunkeln keine Angst gehabt hätte. Mutter, das ist das Einfühlungsvermögen einer Dampfwalze.
Am unteren rechten Knie habe ich seit meiner Kindheit tiefblaue Vernarbungen. Als Kind war ich auf schwarze Schlacke gestürzt, mein Knie war aufgeschlagen. Es war eine tiefe Wunde. Der Sturz schmerzte, aber was folgte, sollte wesentlich schmerzhafter, werden. Du hast mit der Nagelbürste die Schlackereste aus der Wunde gebürstet. Wenn ich daran denke, dreht sich mir heute noch der Magen um. Das war brutalste Gewalt.
Lies dir den Brief in Ruhe durch. Ich möchte nach ungefähr vier Wochen eine inhaltliche Antwort, keine Ausflüchte, kein Jammern, kein »Das habe ich nicht so gemeint oder nicht so gewollt.« Du bist ein erwachsener Mensch, stelle dich deiner Geschichte.
Rainer
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»Ich wollte dich glücklich machen, deswegen wünschte ich mir manchmal den Tod«
Frank Neumann
Ich bin 32 Jahre alt und lebe seit einigen Jahren von meiner Frau getrennt. Seit einem Jahr wohne und lebe ich mit zwei Freunden zusammen. Seit dem erfolgreichen Abschluss meines Ingenieurstudiums arbeite ich als Softwareentwickler und Projektleiter. Meine Eltern leben seit zehn Jahren getrennt.
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Liebe Mutter,
es ist ungewohnt, dich so anzusprechen, aber gerade in diesem Brief, der an dich als meine Mutter gerichtet ist, ist es mir wichtig.
Es ist für mich schwierig, die Erlebnisse von früher in Worte zu fassen. Es waren und sind mit dir mehr die Stimmungen, Gefühle, die Atmosphäre, die mir auch heute noch zu schaffen machen, als die konkreten Situationen. Diese sind mir nicht so deutlich in Erinnerung. Worum geht es mir? Du sagst immer, dass du mich liebst, dass die Zeit meiner Geburt und die ersten Jahre meines Lebens für dich eine glückliche Zeit (die glücklichste?) war, dass ihr oder vor allem du mich wolltest. Das ist die eine Seite. Aber wie ging es mir damit? Aus euren Erzählungen weiß ich, dass ich früher sehr jähzornig und wütend war, meinen Ärger ausgelebt habe, aber auch mit einigen Jahren (drei/vier?) ein ruhiges »braves« Kind wurde. Wie soll man auch gegen soviel scheinbare Liebe seinen Ärger zeigen? Diese Gefühle hatten in unserer engen Beziehung keinen Platz. Du wolltest sie nicht, konntest sie nicht ertragen. Du wolltest einen weichen, sanften, nicht aggressiven Jungen (Mann).
Wir hatten unseren ersten Konflikt, als ich dreißig Jahre alt war. Erst da hatte ich genug Distanz zu dir und musste mir keine Sorgen um dich machen. Ich konnte dir meine Gefühle zumuten und dich auch enttäuschen. Früher, als kleiner Junge, hatte ich nicht die Kraft und die Möglichkeit, dich zu enttäuschen. Ich war von deiner Liebe gefangen und eingeengt. Es ging darum, dich glücklich zu machen!
Das ist aber nicht meine Aufgabe, dafür musst du selber sorgen. In den späteren Jahren, als ich so acht bis zwölf Jahre alt war, hatte ich immer das Gefühl, dich in den schwierigen Situationen mit deinem Mann unterstützen zu müssen. ... Er war der Alkoholiker, der fremdging, er war der Täter und du sein Opfer. Du warst ihm scheinbar hilflos ausgeliefert, hast unter seinen Alkoholexzessen und den Ehebrüchen gelitten, hast dir seine Entschuldigungen und Beteuerungen angehört, und ich musste dich trösten.
Warum hast du dich nicht von ihm getrennt? Ich war wie gefangen zwischen euch, für mich blieb kein Platz, keine Luft zum Atmen. Meine Schwester ist gegangen, ausgebrochen, aber ich liebte dich doch, und du hast unter der Situation so gelitten, da konnte ich nicht auch gehen und euch euren Scheiß endlich alleine klären lassen. Ich blieb und flüchtete mich in Phantasiewelten von Märchen und Helden. Ich war unendlich einsam, hatte keine Freunde und hatte das Gefühl, nur dazusein, damit die Familie, die Geborgenheit, nicht zerbrach. Aber es war keine Geborgenheit, die mir verhalf, in die Welt hinauszugehen, es war kein Platz für mich, für die Bedürfnisse eines Teenagers nach unbeschwertem Ausprobieren, nach lebensfrohen Albernheiten. Ich war sehr schnell »erwachsen« geworden, vernünftig. Ich hatte von dir gelernt, für andere zu sorgen, dir Unterstützung in den vielen großen und kleinen Krisen des Lebens zu geben. Ich habe nicht lernen können, für mich selbst zu sorgen!
Es wurde immer Ernsthaftigkeit statt Unbeschwertheit, Vernunft statt Unvernunft, Sanftes statt Agressives von dir eingefordert. Es fiel mir noch jahrelang sehr schwer, Wünschen und Ansprüchen, die du an mich hattest, nicht zu entsprechen, dir bei den Um- und Auszügen zu helfen, dir Unterstützung in schwierigen Situationen zu geben oder auch nur (einfach) »alles« zu erzählen, mich dir gegenüber zu öffnen.
Ich hatte lange Zeit nicht das Gefühl, hierin eine Wahl zu haben oder auch nur den Raum und den Platz zu haben, zu mir zu kommen und selbst fühlen zu können, was ich denn will, was ich mir denn wünsche, was meine Bedürfnisse sind. Ich hatte immer das Gefühl, deinem Bild von dem lieben Jungen entsprechen zu müssen, um deine Liebe nicht zu verlieren. Ich war lange Jahre sehr dicht an dir dran, das heißt, ich fühlte mit dir. Du hättest den Raum und die Distanz herstellen müssen. Du bist mir zu nahegekommen! Es blieb mir früher nur die Flucht in die innere Emigration, die Verschlossenheit, der Rückzug.
Ich war in den Jahren zwischen elf und einundzwanzig sehr unglücklich, einsam und verschlossen. Ich wünschte mir manchmal den Tod, um dem entfliehen zu können. Ich habe das Gefühl, dass du mir viel an Lebenskraft geraubt hast, um deine Bedürfnisse zu befriedigen.
Dein Sohn Frank
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