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Die zärtliche Gewalt

 

 

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Ein heikles Thema in Mutter-Sohn-Beziehungen ist der Umgang mit Zärtlichkeiten. Liebevoller, spielerischer Körperkontakt, Berührungen und Zärtlichkeit sind elementar für jede menschliche Entwicklung. Von ihrer angemessenen Befriedigung hängt das kindliche Wohlbefinden und die Fähigkeit des Sohnes ab, sich angstfrei und vertrauensvoll in soziale Beziehungen hineinzuwagen, Nähe zuzulassen, aber auch spüren zu dürfen, wann diese Nähe nicht gewollt ist oder auf ambivalentem Angebot beruht. 

Die spezielle Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit, die viele Mütter ihren männlichen Säuglingen entgegenbringen — Untersuchungen haben gezeigt, dass Mütter Söhne meist länger stillen und in puncto Sauberkeitserziehung nachsichtiger sind als mit Töchtern —, verändert sich offenbar im Laufe des Heranwachsens des Sohnes.

Glorifizierung des männlichen Geschlechts, Furcht oder Ekel führen zu ambivalenten Beziehungen. Söhne erleben Zärtlichkeits­anwandlungen ihrer Mütter, die damit eigene Bedürfnisse nach Berührungen stillen — ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob dieser Kontakt den Wünschen des Sohnes entspricht. Es irritiert und frustriert Mütter, dass ihre Wünsche nach Streicheln, Zärtlichkeit und Schmusen häufig nicht erfüllt wurden. Sie halten sich für liebevoll und zärtlich, ohne zu spüren, dass sie einen Mangel stillen und eine parasitäre Ohnmacht ausleben. Der Sohn hat keinen Ein-fluss darauf, ob seine Bedürfnisse nach Nähe und Zärtlichkeit befriedigt werden: Wenn er die ungewollte Zärtlichkeit der Mutter abwehrt, muss er damit rechnen, dass er von ihr gar nichts mehr bekommt.

Traurig erinnert einer der Männer die Härte und Schroffheit seiner Mutter: Wärme strahlte sie nicht aus und konnte sie nicht gehen. Erst recht nicht Zärtlichkeiten. Die wenigen lieben Worte, die zu mir über ihre Lippen kamen, habe ich aufgesogen wie ein Schwamm. Andere Männer beklagen, dass ihre Mutter nie bereit war, sie auf ihren Schoß zu lassen oder mit ihnen zu kuscheln. Sie erinnern sich an feste, zupackende, häufig kalte Hände und ungeduldige, zerrende Bewegungen. Frauen können ihr ungestilltes Zärtlichkeitsbedürfnis eben auch in Form wahlloser Berührungen oder durch Ablehnung und Vermeidung notwendiger Körperkontakte weitergeben.

Eine Variante des Übergriffs der Mutter ist die sexuelle Verführung des Sohnes. Eine ganze Reihe von Müttern scheint die zärtlichen Bedürfnisse ihrer Söhne projektiv verarbeiten, das heißt mit eigenen sexuellen Motivationen verwechseln zu können. In dem Buch »Wie Mütter ihre Söhne sehen« hat Günter Amendt deutlich gemacht, dass viele Mütter die erotischen und sexuellen Aspekte der Beziehung zu ihren Söhnen verleugnen. 

85,5 Prozent der von ihm befragten Frauen schließen aus, dass Handlungen, die sie »gut gemeint« haben, später von ihrem Sohn als Verführungsversuch, Übergriff oder Missbrauch angesehen werden könnten. Ihr Interesse am Penis des Sohnes ist angeblich affektneutral, dient lediglich der Reinlichkeitserziehung. Daher schließen diese Mütter aus, dass Berührungen der Genitalien des Sohnes erotisch-sexuelle Empfindungen hervorrufen. Sie registrieren bei alltäglichen Reinigungsvorgängen keine Schamgefühle und Peinlichkeit seitens ihrer Söhne.

Intensive Beschäftigung mit dem Genital des Sohnes, zur Kontrolle, ob der Penis sich auch richtig entwickelt, basiert angeblich auf mütterlicher Fürsorge. Da der Vater bei der Klärung diesbezüglicher Ungewissheiten selten zu Rate gezogen wird, vermutet Amendt, dass es den Müttern nicht um die gemeinsame Erziehung des Sohnes geht, sondern um ihre individuelle mütterliche Wunschwelt hinsichtlich des zukünftigen Schicksals des »Geschlechts« ihres Sohnes und eine möglichst exklusive Beschäftigung mit seinem Penis. 

Viele Männer fragen in den Briefen ihre Mütter, warum diese ihre Wünsche nach Zärtlichkeit und Anerkennung nicht an ihre Ehemänner und Partner herangetragen haben. Nicht selten werden die Söhne von ihren Müttern zu »Liebespartnern« gemacht, werden zu erotischen Ersatzobjekten, wenn der Partner der Mutter sich ihren Wünschen und dem Kontakt entzieht oder (etwa bei Trennung) ganz abwesend ist. Die Männer berichten von regelrechten »Streichelsitzungen«, bei denen die Mutter zum Beispiel massiert werden wollte. Viele Söhne wurden gegen ihren Willen in das Bett der Mutter geholt. Manche teilten dieses jahrelang mit ihr, sollten ihr den Rücken und die Füße wärmen, überhaupt Wärme spenden. Das sind Erfahrungen, die Verwirrungen und Ekelgefühle gegenüber dem weiblichen Körper auslösen, so dass dieser auch später als Bedrängung und übermächtig erlebt werden muss. Immer wieder werden die Grenzen des Sohnes eindeutig überschritten und der Missbrauch vollzogen.

Ein Mann, dessen kompletten Brief ich hier aus Platzgründen weggelassen habe, schreibt: Wenn wir allein waren, pflegtest du nackt durch die Wohnung zu laufen und das Bad wurde nie verriegelt. Am Ende der Schulzeit begann ich, dich immer sexueller zu streicheln. Ich nuckelte an deinen großen Brüsten und streichelte dir die Vagina und den Kitzler, mehrmals, bist du zum Orgasmus kamst. Später kam es sogar zum Geschlechtsverkehr, den die Mutter Jahre danach so kommentierte: du musstest doch stolz und froh sein, das gemacht zu haben, wovon sonst alle Söhne bloß träumen. Erst in der Therapie lernte dieser Mann begreifen, dass die Mutter ihn verführt und den Koitus gewollt hatte und dass er kein verabscheuungs­würdiger Täter war.

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»Dein Körper war des Nachts so heiß an meinem«

  Reinhard Lauf  

Ich bin 1939 in Berlin geboren, Einzelkind. Mein Vater starb, als ich fünf Jahre alt war. Nach dem Abitur Ausbildung zum Kaufmann, dann BWL-Studium ohne Abschluss. Seither arbeite ich als EDV-Fachmann. Ich bin geschieden, lebe zur Zeit allein.

 

Mutter,

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ich frage dich: warum hast du mich zur Welt gebracht? Du hast mich nicht geboren, damit ich glücklich ein eigenes Leben führe, das weiß ich sicher! Was wolltest du von mir? Was sollte ich für dich sein? Hast du mich je geliebt? 

Du hast mich unglücklich gemacht. Ich kann dich nicht hassen, ich kann dich nicht lieben, und doch habe ich nichts deutlicher gespürt im Leben als dass ich dich lieben sollte. Da habe ich versagt und leide darunter noch heute, zehn Jahre nach deinem Tod. Aber ich will nicht länger leiden an diesem Gefühl, dir nicht genügt zu haben. Ich will jetzt endlich frei mem eigenes Leben leben. Du sollst nicht länger auf mir hocken und mich am Atmen hindern. Ich schreibe diesen Brief, um gegen deinen steten stummen Vorwurf, dich nicht genug geliebt zu haben, meine Position zu beziehen und dir klar zu zeigen, dass du mich auch nicht geliebt hast. Du hattest so viel Macht über mich. Was wäre aus mir geworden, wenn du nicht gestorben wärst? Ich war achtundvierzig Jahre alt, als du starbst. Ich hatte bis dahin keinen einzigen Konflikt offen mit dir ausgetragen, ich habe mich dir immer durch »Verkrümeln« entzogen, um überhaupt zu leben!

... 

»Du wirst dich noch einmal nach mir sehnen, wenn ich tot bin«, hast du mir immer entgegengeschleudert, wenn ich es wagte, maulend, aber ziemlich leise Kritik an dir zu äußern. Da hast du dich gewaltig geirrt: Ich habe mich nicht mehr nach dir gesehnt, seit ich aus der Schule bin. Und auch schon davor war ich nur durch Angst an dich gebunden. Deine Verzweiflung konnte ich immer sehr gut verstehen. Du hast mir deine Hilflosigkeit den harten Lebensrealitäten gegenüber sehr gut vermitteln können. Ich habe dir auch immer helfen wollen, sie zu bewältigen. Und bei all den grausamen Erfahrungen, die du als Kind, als junges Mädchen, als junge Frau machtest, bei all diesen Demütigungen, Zurücksetzungen, Ausbeutungen, bei all deiner Einsamkeit habe ich mitgelitten, wann immer du mir davon erzählt hast. Ich war aber dein Kind! Ja, ich war ein Kind! Und so klein ich auch war, ich sollte deine Not verstehen. Du selber hast dich aber nie verstanden. Du warst voller Selbstmitleid, hast aber nie sinnvoll für dich gesorgt. ... Ich will nicht mehr nach Erklärungen suchen, warum du dies und das getan hast, wie deine Lage war und warum du möglicherweise nicht anders konntest. Ich will jetzt wirklich bei mir bleiben und zu meinen Gefühlen kommen. Das habe ich mir fest vorgenommen.

Ich will dich nicht schonen, Mutter. Du warst siebenunddreißig Jahre alt, als du mich 1939 geboren hast, aber du wusstest bis zur Niederkunft nichts über den Geburtsvorgang und nichts über Sexualität. Ganz stolz hast du mir das mehrmals zu Beginn meiner Pubertät erzählt und mit dem Spruch aus der Bibel ergänzt: »Siehe die Lilien auf dem Felde, sie säen nicht, sie ernten nicht und unser himmlischer Vater ernähret sie doch.« Das zeigt einerseits deine unbegreifliche grenzenlose Naivität, andererseits weist das aber auch schon auf deine Rücksichtslosigkeit und Gewalt hin, die ich während meiner Kindheit und Jugend von deiner Seite erleben mußte. 

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War es etwa keine Gewalt, dass du mich an dich gebunden hast, mich unselbständig gehalten hast? Du hast mich zum Muttersöhnchen erzogen. Ich habe mich dafür geschämt, je älter ich wurde, aber ich kam aus eigener Kraft nicht dagegen an. War es keine Gewalt, dass du mich nicht zur Schule angemeldet hast und mir damit die Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnitten hast, die heute jedem Menschen zustehen? Als ich schließlich mit elfein-halb Jahren doch eingeschult wurde, war das wie ein Kulturschock für mich

Dein kleines »Mohrchen«, wie du mich immer nanntest, hat sich alleine durchgebissen und wurde dir damit natürlich immer fremder. ... Sicher wäre es dir zehnmal lieber gewesen, wenn ich klein und dumm in deiner Nähe geblieben wäre. Ich gestehe, ich hätte damals auch lieber auf diesen Schock verzichtet und wäre lieber weiter barfuß durch Wald und Wiesen gestreift. Ich habe Rotz und Blasen geheult ... vor Angst und weil ich mich schämte, als fast Zwölfjähriger noch auf die Mutter angewiesen zu sein. Für mich Muttersöhnchen war es dann wirklich hart, im Oktober 1950 plötzlich in der DDR als ersten Unterricht im Leben überhaupt Biologie zu haben, wo ich doch nichts anderes konnte als mühsam zu lesen und zu schreiben. Und die ganze neue Klasse feixte ... [Der] Schulbesuch beendete die Zeit der größten Enge. Fast, füge ich hinzu, denn immerhin musste ich noch zwei weitere Jahre bis zu unserer Flucht nach Berlin in einem Bett mit dir schlafen. Da war ich mittlerweile dreizehn. Was es für mein Leben und die Entwicklung meiner Sexualität bedeutet hat, von meinem sechsten bis zum dreizehnten Lebensjahr das Bett mit dir zu teilen, ist gar nicht abzusehen.

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Ich erinnere mich, dass ich diese acht langen Jahre immer mit dem Gesicht zur Wand geschlafen habe, weil ich dich weder sehen noch fühlen wollte. Wenn ich dich dann doch manchmal beim An- oder Ausziehen sah, habe ich mich geekelt. Du hast dich immer so unsorgfältig gekleidet. Am hässlichsten war deine Unterwäsche. Das lag sicher zum Teil an unserer Armut, aber es lag auch daran, dass du mit dir selber so wurstig umgegangen bist. Und dann hast du dich zu mir ins Bett gelegt und mich eingeengt. Je älter ich wurde, um so unangenehmer wurde mir das. Dein Körper war so heiß, ich bin oft schlecht eingeschlafen. Ich bin heute der Meinung, das hätte nicht sein müssen. Trotz Nach-kriegswirren wäre es möglich gewesen, ein Bett für mich alleine auch noch aufzutreiben und in dem einzigen Raum, in dem wir jeweils lebten, aufzustellen. Ich glaube, du wolltest in einem Bett mit mir schlafen, damit du in deiner Einsamkeit meine Wärme spüren konntest.

Einen neuen Partner hast du dir nach Vaters Tod im Jahre 1944 nie mehr gesucht. Deshalb musste ich die Partnerfunktion übernehmen. Das war ein Missbrauch, ein Gewaltakt. Mutter, du hast mich missbraucht und überfordert. Und du hast meine sexuelle Identität missachtet. Du bist brutal darüber hinweggegangen, dass da ein kleiner Junge heranwuchs, der einmal ein glücklicher, liebesfähiger Mann werden wollte. Statt dessen hast du mir einen Ekel vor dem weiblichen Körper auf meinen Lebensweg mitgegeben! Ich trage eine schwere Hypothek ab, wenn ich versuche, mich jetzt davon zu befreien oder damit umzugehen. Dass ich in allen meinen Partnerschaften Schwierigkeiten in der Sexualität bekam, hängt mit Sicherheit unter anderem auch damit zusammen. Halte Distanz zur Frau, sagt meine innere Stimme, so dicht wie mit der Mutter, das ist nicht schönl ... Du warst gedankenlos und egozentrisch. Und dein Horizont war ungewöhnlich eng. Du bist nur mühsam mit dem Leben zurechtgekommen, warum musstest ausgerechnet du ein Kind zur Welt bringen? Als ich noch ganz klein war, hast du mich dann einfach im Kinderwagen auf den Balkon gestellt und bist arbeiten gegangen ... viele Stunden. 

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Die Nachbarn haben mein Schreien gehört, aber sie konnten mir nicht helfen, da sie keinen Schlüssel zur Wohnung hatten.... Weinen und Rufen nach dir habe ich dann für viele Jahre meiner Kindheit in der eigenen Erinnerung.

Ich weiß sehr gut, dass ich der »Heulepeter« genannt wurde. Ich habe mich damals immer geschämt, wenn ich geweint und nach dir gerufen habe, oft stundenlang. Heute schäme ich mich meiner Tränen von damals nicht mehr, sondern bin wütend auf dich und sage dir erneut, dass es gewalttätig von dir war, mich so in die Einsamkeit zu stoßen. War es nicht auch gewalttätig, mich in der verdunkelten Wohnlaube einzuschließen und dann arbeiten zu gehen, als ich Masern hatte? Es war mehrfach gewalttätig. Du hast wegen deiner verrückten Religion »Christliche Wissenschaft« keinen Arzt gerufen, sondern statt dessen, einem Aberglauben folgend, die Laube verdunkelt und mich eingesperrt. Du hast den vierjährigen kranken Jungen, der ich damals war, einfach alleine gelassen. Ich bin heute ganz stolz auf mich, dass ich aus dem Fenster geklettert bin und trotz deines Verbotes im Garten gespielt habe. Zuvor hatte ich allerdings erst wieder lange Zeit nach dir gerufen und hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Als ich schließlich im Garten war, hatte ich Angst vor deiner Rückkehr, weil ich ungehorsam war.

Die schlimmsten Erinnerungen an ruppiges, rücksichtsloses Verhalten von dir habe ich an den Sommer 1945. Ich sehe mich als Sechsjährigen im Juli 1945, über und über mit Eiterbläschen bedeckt, weil ich an einer Art Typhus erkrankt bin. Ich bin mit dir ... auf dem Bauernhof von Tante Herta. Du hilfst dort beim Heu ernten, und ich bin viel allein. Ich sitze am Wiesenrand und sehe, wie sich die Gruppe der Erntenden mit dir immer mehr von mir entfernt. Ich kann dir nicht hinterhergehen, weil mich fast jede Bewegung schmerzt, besonders tun mir aber die Berührungen der Grashalme weh.

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Schon der Weg hinaus zum Feld war eine Qual gewesen, und du hast mich mehr oder weniger hinter dir hergeschleift, weil ich der Schmerzen wegen ganz langsam ging. Nun sitze ich da und weine. Es ist so schönes Wetter, richtiges Sommerwetter. Auch die Landschaft und die Wiese, an der ich sitze, sind wunderschön, aber ich weine, weil ich alleine bin. Ich rufe dauernd nach dir, aber du kommst nicht. Ich habe auch ein schlechtes Gewissen, nach dir zu rufen, weil ich merke, wie ich dir damit auf die Nerven gehe. Aber ich möchte nicht alleine sein und wünsche mir auch eine Linderung meiner Schmerzen. Ärztliche Hilfe gibt es vielleicht zu dieser Zeit dort gar nicht, aber du hättest wegen deiner »Christlichen Wissenschaft« auch keine geholt. Als es schließlich nach Hause geht, bist du erschöpft und abgespannt und kannst mir keinen anderen Trost spenden, als diese verrückten »Christian Science«-Sprüche herunterzuleiern ...: »Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus. Es ist kein Leben, keine Wahrheit und keine Intelligenz in der Materie. Gott ist Liebe, und Liebe ist geistig.«

Ich werde heute wütend, wenn ich daran denke, dass du nur mit solchen auswendig gelernten Sprüchen aus den Schriften dieser hundsgemeinen, realitätsverleugnenden Sektenreligion »Christian Science« auf meine Not reagiert hast. Du wolltest dich beruhigen, weil mein Krankheitsbild furchterregend war und du nicht wusstest, wie du damit umgehen solltest. Du hättest unter allen Umständen einen Arzt für mich suchen müssen, aber du hast es nicht getan. Schlimm für mich war auch, dass du es mir nicht nur an Tröstungen mangeln ließest, sondern mich auch noch gescholten hast, wenn mir ein Unglück widerfuhr, weil ich wegen meines mangelnden Interesses für »Christian Science« selbst die Schuld daran trug. So kam es, dass ich dir nichts davon erzählte, als ich mit etwa zehn Jahren beim Klettern aus einer Kastanie stürzte und mir schwere Prellungen am Becken und am Oberschenkelhals zuzog.

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Vor Schmerzen wimmernd, trieb ich mich bis zum Anbruch der Dunkelheit im Wald herum. Dann humpelte ich nach Hause, ertrug deine schlechte Laune wegen des Zuspätkommens, aber erzählt habe ich nichts, um nur ja nicht deine Sprüche zu hören. Fünfunddreißig Jahre später stellte sich beim Röntgen meines Beckens heraus, dass der Sturz einen Wachstumsimpuls am Oberschenkelhals ausgelöst hatte und ich seitdem zwei Kugeln übereinander am rechten Beckengelenk habe. Ich hätte also Grund gehabt, dir mein Leid zu klagen, aber ich habe es mir verkniffen. Damit habe ich leider den Grundstock dafür gelegt, dass ich bis heute sehr hart mit meinem Körper umgehe und ihm viel abverlange.

Es schmerzt mich aber auch sehr, wenn ich daran denke, dass du in deiner Kindheit eine ähnliche Erfahrung gemacht hattest mit noch schlimmerem Ausgang. Denn die Verkrüp-pelung deiner linken Hand rührte von einem Unfall bei schwerer Kinderarbeit her. Als zwölfjähriges Mädchen war dir dabei die Strecksehne gerissen. Und auch du bist damals nicht zu deiner Mutter gegangen und hast dein Leid geklagt. Die Sehne hätte wieder angenäht werden können, aber es ist nicht geschehen. Deine linke Hand blieb verkrüppelt für den Rest deines Lebens! Den Grund für diese Verkrüppe-lung und wie es dazu gekommen war, hast du mir mehrmals geschildert, solange ich selbst noch Kind war, aber nie hast du dabei über deine Gefühle gesprochen, die du damals hattest. Vielleicht wäre das eine Brücke für uns gewesen?

... sowenig ich Trost bei dir fand, sowenig konnte ich ... meine Freuden mit dir teilen, denn so Vieles, was mir Freude machte, passte nicht zu den Regeln und Grundsätzen von »Christian Science« und deren strenger Auslegung durch dich. So musste ich immer heimlich die Bücher lesen, die mir gefielen, denn für dich galt nur die Lektüre der Schriften deiner Religion etwas. Zu dieser Lektüre hast du mich ja immer gezwungen ... Ich begann damals eine Art Doppelleben.

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Alles, was mir Spaß machte, tat ich heimlich und versuchte, auch der Wohnung fernzubleiben, denn soweit ich mich zurückerinnern kann, herrschte im Zusammensein mit dir eine Stimmung von Lähmung, Bedrückung, Unlebendigkeit und Freudlosigkeit. Wenige Ausnahmen habe ich in Erinnerung. Es war schön, als du mich wegen der selbstgefangenen Forellen und Flusskrebse nicht ausschimpftest, sondern die Tiere nach einigem Zögern schmackhaft zubereitet hast.

Eine große Freude hast du mir auch mit meinem ersten Fahrrad gemacht. Du hast es mir zu meinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Es war ein gebrauchtes, was mich überhaupt nicht störte, denn es fuhr ganz prima. Später erfuhr ich, dass du es auf Abzahlung kaufen musstest. Dafür zolle ich dir heute noch Respekt, wie ich sowieso grundsätzlich anerkenne, wie du uns in den schweren Zeiten durchgebracht hast. ... Ich hatte immer alles, was ich brauchte, sogar mehr als das. ... An dir hast du gespart, hast viele gebrauchte Sachen getragen, die dir die Leute gaben, bei denen du putztest. Mir, deinem »Prinzen«, hast du dann öfter Geld zugesteckt, damit ich mir einen materiellen Wunsch erfüllen konnte. Ich war dabei verlegen und hatte keine rechte Freude daran, weil ich ja wusste, wie schwer für dich das Geldverdienen war. Mir wäre es lieber gewesen, wenn du dir für dich ein neues Kleidungsstück gekauft hättest. Das habe ich dir auch oft gesagt. Dann kam heraus, dass du dir gewünscht hast, ich sollte etwas für dich kaufen. Tat ich das dann, gefiel dir nicht, was ich gekauft hatte. Und, Mutter, du hast viel zu selten mit mir gespielt, solange ich klein war. Wenn du es doch mal tatest, warst du steif und unbeteiligt. Als ich etwa acht oder neun war, dachte ich, das läge daran, dass du für damalige Verhältnisse eine alte Mutter warst, denn ich sah jüngere Mütter, die besser mit ihren Kindern spielen konnten. Lange bin ich bei dieser Meinung geblieben. 

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Heute erkenne ich, wenn ich mir Bilder von dir, von uns ansehe, dass du grundsätzlich eine gehemmte Frau gewesen sein musst. Ein leicht unsicheres, ungläubiges Lächeln liegt auf deinen Lippen, deine Augen sind wässrig und traurig. Ich darf diese Bilder nicht anschauen, wenn ich bei mir bleiben will. Der Impuls, dich zu retten, ist sehr stark. Wie aber wolltest du von mir gerettet werden? Indem ich bei dir blieb, dich nicht verließ? Das habe ich versucht. Es ist mir nicht bekommen. Und das ist es, was du nicht wahrhaben willst. Du warst nämlich immer der Meinung, dass du dich für mich geopfert hast. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: du hast von mir verlangt, daß ich mich für dich opfere, das wird mir von Tag zu Tag deutlicher!

 

Zurück zu den »Christian Science«-Sprüchen.... Ich habe mich in dieser Umgebung nie wohl gefühlt, aber ich habe mitgemacht bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, weil ich allen Ernstes glaubte, du stirbst, wenn ich aus dieser Sekte austrete. Du hattest es mir so eingeimpft, ich tat es dann schließlich doch gleichzeitig mit dem Auszug aus deiner Wohnung. Nie hast du dir eingestehen wollen, dass das meine eigene, freie Entscheidung war. Immer hast du behauptet, mein schlechter Umgang, meine Freunde seien schuld an dieser Entwicklung. Aber ich sage dir, mit »Christian Science« hatte ich nie etwas am Hut. Schon als kleiner Junge habe ich die Heuchelei und Wahrheitsverleugnung durchschaut und mich dagegen gesträubt. Du hast alles getan, um meinen Willen zu brechen. Du hast das bei mir auch geschafft, sonst hätte ich es nicht bis fünfundzwanzig dort ausgehalten. Ich habe in der Kirche meine Zeit abgesessen, um einen Konflikt mit dir zu vermeiden. Ich habe dabei viel kostbare Lebenszeit vergeudet und bin unlebendig geworden. Das schmerzt mich heute sehr. Zumal ich dabei auch eingeübt habe, unhaltbare Zustände zu ertragen, über mich ergehen zu lassen. Das ist ein schlimmes Erbe. Das macht mir noch heute zu schaffen. 

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Mir ist erst kürzlich durch Gespräche mit Freunden klargeworden, wie brutal du dein Interesse, dass ich brav und gehorsam mit dir in diese bescheuerte Kirche gehe, gegen meinen deutlich erklärten Willen durchgesetzt hast.

... Mir wurde zunächst immer nur übel während der Gottesdienste, dann aber wurde ich mehrmals ohnmächtig. Das hat dich nicht gerührt. Das Wichtigste für dich war, dass du einen gottesfürchtigen Sohn erziehst, der dir in der Kirchengemeinde keine Schande macht, indem er sich absentiert. Da kanntest du keine Gnade. Auch als ich dann bereits auf dem Weg zur Kirche in der Straßenbahn ohnmächtig wurde, hast du deine Haltung nicht geändert. Etwa ein Jahr lang, wurde ich in unregelmäßigen Abständen ohnmächtig, entweder im Kirchenraum oder in der Straßenbahn. Ich habe mich sehr geschämt wegen dieser Schwäche. Und ich hatte sehr große Angst vor diesen Ohnmachtsanfällen. Dass diese immer nur im Zusammenhang mit der Kirche auftraten, war mir damals nicht bewusst. Ich habe immer gefürchtet, sie könnten an jedem Ort auftreten, und habe überall, wo es eng war, geschwitzt vor Angst, es könnte wieder losgehen. Das war ein Martyrium für mich, aber du bist drüber genauso hinweggegangen wie über meine Eiterbläschen im Sommer 1945.

Und du hattest Erfolg. Du hast meinen Willen gebrochen. Irgendwann hörten die Ohnmachtsanfälle auf, und ich ging, ohne zu mucken, in die Kirche. Im Gewände der hilflosen, naiven Unschuld vom Lande warst du ein zynisches Weibsstück! Du hast nicht wahrnehmen wollen, was du mir damit angetan hast. Du warst so überzeugt davon, dass du für mich immer das Richtige tust, dass du mich nach meiner Scheidung sogar ernsthaft gefragt hast, ob ich nun wieder zu dir zurückziehen würde. Ich war vierunddreißig Jahre alt und hatte eine eigene schöne Wohnung. Außerdem war ich mehr als froh, dir und deiner Kontrolle seit mehr als zehn Jahren einigermaßen entronnen zu sein. 

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Ich hatte sogar die Kraft, dir zu sagen, wie abstrus ich deine Idee fand. Da warst du beleidigt. Völlig gekränkt warst du, als ich dir schließlich die Schlüssel zu meiner Wohnung abnahm, weil du so oft unangemeldet erschienen bist, um mir, ohne mich vorher zu fragen, Kuchen und Suppe zu bringen. Ich wollte die Kontrolle durch dich noch weiter abbauen. Ganz habe ich es nie geschafft, denn gegen deine Telefonanrufe konnte ich mich nicht wehren. Wenn du mich am Telefon nicht erreicht hast, habe ich deine Vorwürfe immer geschluckt, anstatt mich gegen sie zu verwahren.

Ganz schlecht wird mir jetzt, wenn ich erkenne, wie wenig ich mich gegen deine Herrschaftsansprüche verwehrt habe. Hast du schon einmal etwas vom aufrechten Gang gehört? Den konnte ich bei dir nicht erlernen. Aber ich gebe mich nicht auf. Ich werde ihn erlernen, auch wenn du zur Zeit noch in mir hockst. Ich werde dich vertreiben. Du hast in mir nichts zu suchen. Du hast nie etwas in mir zu suchen gehabt. Du warst meine Mutter. Du solltest mir zeigen, wie man lebt, statt dessen aber hast du versucht, durch mich zu leben und bist in mich hineingekrochen, hast dich in mir eingenistet. Überall wolltest du dabei sein. Ins Theater sollte ich dich mitnehmen und auf meinen Reisen. Immer warst du mir böse, wenn ich es nicht tat. Dabei hast du die Theaterstücke nicht verstanden, auch wenn ich sie dir geduldig erklärte, und die Reisen waren für dich zu beschwerlich, auch wenn ich deine körperliche Verfassung sorgfältig berücksichtigt hatte. Immer hast du deutlich gemacht, wie einsam du ohne mich bist. Darum sollte ich mit dir an den Bodensee fahren, der mich nicht interessierte oder mit dir in die »Lustige Witwe« gehen, die mich noch weniger interessierte. Sogar deine Kleidung wolltest du nur mit mir aussuchen.

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Du wolltest mir einfach nicht mein eigenes Leben lassen, weil du nicht alleine leben konntest. Das zeigte sich dann in

dem schlechten Gewissen, das ich hatte, wenn ich ohne dich ins Theater ging, wenn ich ohne dich verreiste. Noch heute ist dein Schatten in meiner Nähe, wenn ich im Theater, im Kino, im Konzert oder auf Reisen bin. ... Als ich dir einmal sagte, dass ich Angst vor dir habe, warst du mehr als erstaunt und hast richtig schrill ausgerufen: »Waaaaas? Duuuuu hast Angst vor mir?« Ich war damals etwa achtzehn Jahre alt und habe mich durch deine Blicke gleich wieder einschüchtern lassen. Ich hätte dir bei dieser Gelegenheit sagen sollen, wie ohnmächtig ich mich dir gegenüber fühle, aber das merke ich ja jetzt erst richtig. Solange du lebtest, habe ich immer nur unbewusst versucht, dir zu entrinnen. Äußerlich ist das auch mehr oder weniger gelungen, aber die Angst vor dir, die du mir in der Kindheit mit deinen Grobheiten mit deinem ruppigen, mürrischen Wesen eingepflanzt hast, die steckt noch in mir und macht es mir schwer, dich loszuwerden. Deine Stimmungen wechselten abrupt.

Besonders in der Kindheit in Schlesien habe ich das erfahren. Es gab Jähzornesausbrüche mit derben Schimpfkanonaden, oft auch mit Schlägen. Ein Brot hast du mir über den Kopf gedroschen, das brach dann in der Mitte durch, genauso wie der Besenstiel, den du an meinem Rücken zerbrochen hast. Ich war etwa zehn. Ich musste den Stiel anschließend reparieren, weil wir nur diesen einen hatten. Ich habe das prima hingekriegt, ich war nicht so ungeschickt, wie du oft behauptet hast, wenn ich dir nicht schnell genug war. »Du denkst nicht mit«, hast du mir oft vorgeworfen, wenn ich bei der Hausarbeit zu langsam, vielleicht auch verträumt war. Ich begreife mich heute ganz gut: Ich habe mich von dir weggeträumt, du blöde Kuh! Ich hatte keinen anderen Weg.

Wie es bei dir Jähzornesausbrüche gab, gab es auch Zärtlichkeitsausbrüche, erstickende Knuddelorgien. Ich erinnere mich tatsächlich noch genau, wie du mich immer

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gekitzelt hast, als ich noch ziemlich klein war, bis ich nach Luft schnappte. Ich habe immer gebettelt: »Hör auf, hör auf!« Aber du hast nicht aufgehört. Ob im Zorn oder in der Zärtlichkeit: immer warst du gewalttätig. Nie hast du mich gesehen, wie ich war: ein zartes Kind. Auch als Jugendlicher war ich zart. Und ich war schüchtern, weil du mich mit deinem furchterregenden Verhalten eingeschüchtert hast. Die Schüchternheit hat sich dann noch verstärkt, weil du mich von anderen Menschen isoliert hast, die für mich ein Korrektiv hätten sein können. Ich habe mir oft gewünscht, dass ein Fremder erkennt, wie ich leide und dich zurechtweist. Bei deiner Beerdigung ist dann fast so etwas passiert. Da sagte doch eine Frau, mit der du viel zu tun hattest, ganz scheu zu mir: »Na, leicht hast du es mit deiner Mutter sicher nicht gehabt.« Üble Nachrede am Grab, aber mir hat sie damit einen Gefallen getan.

Vielleicht kann ich dich später einmal gerechter beurteilen, wenn es mir gelungen ist, innerlich den richtigen Abstand zu dir herzustellen. Dass du selbst ein geradezu geschundener Mensch warst, besonders in deiner Kindheit und Jugend, weiß ich schon heute, aber das ermöglicht es mir nicht, dir die Dinge zu verzeihen, die du mir angetan hast. Ich kann auch schon sehen, dass du mit zunehmendem Alter milder wurdest, vermutlich, weil dich der Existenzkampf nicht mehr überforderte. Es gab dann sogar Ansätze zu Gesprächen, in denen wir die Dinge, von denen dieser Brief handelt, hätten ansprechen können, aber ich hatte eine seltsame, mir nicht erklärliche Angst vor dem Vertiefen. Wir fuhren einmal von einem Verwandtentreffen in der DDR spätabends nach Hause, da fragtest du plötzlich: »War ich eigentlich liebevoll genug zu dir?« dir war aufgefallen, wie liebevoll die jungen Mütter bei dem Fest mit ihren Kindern umgegangen waren. Mir sträubten sich bei deiner Frage die Haare, und ich sagte nur knapp: »Nein, ich glaube nicht.« Ich war froh, dass du nicht weiter gefragt hast, ich hätte

sonst die Autofahrt mit dir nicht fortsetzen können. Ich kann deine Frage von damals nicht anders beantworten als mit diesem Brief. Du warst nicht liebevoll zu mir. Du warst tatsächlich überwiegend lieblos. Und du hast mich nie respektiert.

Reinhard

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