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19 Gesellschaftstheorie von morgen
Ken Wilber 1981
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In diesem Buch habe ich die These aufgestellt, der Kern einer wirklich vereinigten kritischen Sozialtheorie ließe sich am besten auf eine ins einzelne gehende multidisziplinäre Analyse der Entwicklungslogik und der hierarchischen Austauschebenen aufbauen, aus denen sich das vielschichtige Individuum zusammensetzt. Das müßte als Minimum folgendes einbeziehen:
1. Die physisch-uroborische Ebene materiellen Austauschs, deren Paradigma Nahrungsaufnahme und -entnahme aus der natürlichen Umwelt ist; die dazugehörige Sphäre ist die der Handarbeit (oder technologischen Arbeit); ihr archetypischer Analytiker ist Karl Marx.
2. Die emotional-typhonische Ebene pranischen Austauschs, deren Paradigma Atem und Sexualität ist; ihre Sphäre ist gefühlsbasierter Verkehr — vom reinen Gefühl über Sex bis zum Machtgefühl —, ihr archetypischer Analytiker ist Sigmund Freud.
3. Die auf verbaler Gruppenzugehörigkeit beruhende Ebene symbolischen Austauschs, deren Paradigma das Gespräch (Sprache), deren Sphäre Kommunikation (und der Beginn der «Praxis»), und deren archetypischer Analytiker Sokrates ist.
4. Die mental-ichhafte Ebene des Austauschs von auf Gegenseitigkeit beruhender Selbstachtung, deren Paradigma Ichbewußtsein oder Selbstreflexion ist; ihre Sphäre ist die gegenseitiger persönlicher Anerkennung und Wertschätzung (der Höhepunkt der «Praxis»), und ihr archetypischer Analytiker ist Hegel (in seinen Schriften über die Beziehungen zwischen Herr und Sklave).
5. Die psychische Ebene intuitiven Austauschs, deren Paradigma Siddhi (oder psychische Intuition in ihrem weitesten Sinne) ist; ihre Sphäre ist schamanische Kundalini und ihr archetypischer Analytiker Patanjali.
6. Die subtile Ebene des Gott/Licht-Austausches, deren Paradigma Transzendenz zum Heiligen und Offenbarung ist (Nada); ihre Sphäre ist subtiler Himmel (Brahma-Loka), ihr archetypischer Analytiker Kirpal Singh.
(7./8.) Die kausale Ebene allerhöchsten Austausches, deren Paradigma völlige Versenkung ins Ungeschaffene und als das Ungeschaffene (Samadhi) ist; ihre Sphäre ist die Leere/Gottheit und ihr archetypischer Analytiker Buddha/Krishna/Christus.
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Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, in diesem Schlußkapitel solch eine umfassende Theorie in einer mehr ins einzelne gehenden Darstellung zu präsentieren, wobei ich mich vor allem auf die Arbeiten der <Frankfurter Schule> stützen wollte, die — vor allem durch Habermas — für die Ebenen 1 bis 4 schon das Fundament gelegt hat. Dann aber wurde mir klar, daß dies ein allzu detaillierter Abschluß für ein Buch gewesen wäre, das ansonsten versucht hat, nur allgemeine Zusammenhänge und erste Annäherungen aufzuzeigen.
Mir schien es deshalb angemessener, die Diskussion hier auf die drei grundlegenden «Kategorien» zu konzentrieren, in denen das Bewußtsein selbst existieren kann, nämlich das Subjektive, das Objektive und das Nicht-Dualistische (oder Atman selbst). Diese drei Kategorien umspannen die gesamte Große Kette des Seins, weshalb die wesentlichen Thesen durch Bezugnahme auf diese drei Kategorien viel einfacher dargestellt werden können. Die Menschen ganz allgemein haben Zugang zu drei grundlegenden «Welten» — der subjektiven, der objektiven und der nicht-dualistischen Welt des Atman —, und was wir untersuchen wollen, sind die Arten von Gesellschaftstheorien, die innerhalb dieser drei Kategorien entstanden sind. Darüber hinaus soll die Frage gestellt werden, wie sie in einem umfassenderen Rahmen zu einer Synthese zusammengebracht werden können.
Zu Beginn dieses Versuches möchte ich einfach feststellen, daß die kritischen Theoretiker der Gesellschafts- und der politischen Wissenschaft immer wieder vor dem zentralen Problem gestanden haben: Warum sind Männer und Frauen unfrei?
Die Antworten, die im Abendland daraufgegeben werden, fallen ungefähr in zwei Kategorien. Die einen suchen die Ursache der Unfreiheit in objektiven, die anderen in subjektiven Kräften. Die Antworten der ersten Kategorie kamen etwa von Rousseau, und es folgten weitere bis zu Karl Marx und anderen Sozialreformern; sie alle bilden heute die Basis dessen, was man locker als «liberale» Weltanschauung bezeichnet. Dazu gehören alle Formen humanistischer Psychologie und Philosophie. Deren Grundanschauung ist: Der Mensch wird seinem Wesen nach frei geboren und ist von Natur aus gut und liebesfähig. Er wird jedoch in eine gesellschaftliche und politische Welt, eine «objektive» Welt hineingeboren, die ihrerseits soziale Ungleichheit, Unterdrückung und bösen Willen lehrt und verewigt.
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Wenn auch die Menschen unterschiedlich mit Talenten, Intelligenz und Initiative ausgestattet sind, so besteht doch eine so unerhört unfaire Verteilung des Reichtums, daß diese nicht allein auf subjektive Unterschiede zurückgeführt werden kann. Vielmehr muß man dafür einen objektiven politischen Überbau verantwortlich machen, der es einigen begünstigten Individuen gestattet, die Arglosen auszubeuten und zu unterdrücken.
Um ein abgedroschenes Beispiel zu geben:
John D. Rockefeller kann eine Million Male mehr Geld machen als ein durchschnittlicher Arbeiter verdient. Und dennoch arbeitet er nicht eine Million Male härter, ist nicht millionenfach intelligenter, anständiger oder mutiger. Mit anderen Worten: Etwas anderes als John D. (etwas für ihn «Objektives») ist für einen großen Teil seines Erfolges verantwortlich, und dieses «andere» ist ein Umfeld, in dem wirtschaftliche Ausbeutung erlaubt oder sogar ermutigt wird.
Auf keine andere Weise, so heißt es in dieser Theorie, läßt sich die Tatsache erklären, daß zum Beispiel in den Vereinigten Staaten etwa zehn Prozent der Einwohner über sechzig Prozent des nationalen Reichtums besitzen. Diese zehn Prozent mögen wie John D. helle Köpfe, intelligent und voller Initiative sein, doch sind sie nicht um so viel mehr mit diesen Gaben ausgestattet als ihre Mitbürger.
Vielmehr kann eine kleine Gruppe infolge eines gegebenen Überbaus wirtschaftlicher und politischer Ausbeutung aus der Arbeitsleistung anderer einen unverhältnismäßig großen Anteil am nationalen Wohlstand abzweigen. Da der Umfang des nationalen Wohlstands begrenzt ist, müssen alle anderen sich mit viel weniger günstigen Bedingungen abfinden. Das ist nach Ansicht dieser Theorie der Grund, warum die Menschen unfrei sind — sie werden unterdrückt, ausgebeutet und mit Füßen getreten. Etwas in der objektiven, äußeren Welt zwingt den Subjekten Unfreiheit auf. Dieses Argument läuft wie ein roter Faden durch die humanistische Psychologie und Philosophie: Die Menschen sind wirtschaftlich unfrei, weil sie unterdrückt, psychologisch unfrei, weil sie geistig eingeschränkt werden. Das ist die eine Seite der im Abendland gegebenen Antworten.
Da nach dieser Meinung die objektive Welt die Unfreiheit verschuldet, muß sie zwecks Verbesserung der Lage erheblich geändert werden. Wie diese Gruppe die Lösung des Problems Unfreiheit, sieht, ist klar: Aufhebung der Unterdrückung durch Umverteilung des Wohlstandes; Aufhebung der Verdrängung durch Vermittlung mentaler Gesundheit an alle; Abschaffung der ausbeuterischen politischen und wirtschaftlichen Strukturen, damit alle freien Zugang zum Überfluß der Natur haben.
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Diese politische Methode umfaßt das ganze Spektrum von den reinen Marxisten über die Sozialisten und die Liberalen bis zu den Demokraten. Im psychologischen Bereich müßte die repressive Familie abgeschafft werden mit all ihren überlieferten Erziehungsmethoden und traumatischen Erfahrungen, die durch repressive Kindererziehung entstehen. Man sollte Liebe, Freundlichkeit und Mitleid lehren, um auf diese Weise die dem Menschen eingeborene subjektive Güte ans Licht zu holen. Das ist die psychologische Methode, die heute groß in Mode ist, von Marcuse über die humanistische Psychologie bis zu den «Encounter Groups», von Horney, über Maslow, Fromm und wie sie alle heißen bis zur Permissivitäts-Bewegung. Für die beiden Flügel dieser Gruppe, den politischen und den psychologischen, entsteht alles Böse aus der Unterdrückung des ursprünglich vorhandenen oder angeborenen Guten: Übel ist das verdrängte Gute. Mit anderen Worten: Übel ist ein objektives Verdrehen des subjektiven Guten.
Die zweite Gruppe beginnt bei Hobbes und Burke und verläuft von da über Leute wie Freud und die traditionellen Ethnologen bis zu den politischen Konservativen. Diese behaupten, der Mensch sei nicht so sehr wegen objektiver gesellschaftlicher Institutionen unfrei, sondern wegen etwas, das von Anbeginn zur Natur des Menschen gehöre. Das Subjekt trage dafür vor allem die Verantwortung, nicht das Objekt. Psychologisch wird diese Anschauung am besten von der mit «niederen Instinkten» arbeitenden Denkschule von Männern wie Darwin, Lorenz und Freud repräsentiert. Sie behaupten ganz allgemein, der Mensch werde, um Freuds besondere Ausdrucksweise zu übernehmen, mit drei und nur diesen drei Begierden geboren: nach Inzest, Kannibalismus und Mord. Das sei der subjektive Kern der Menschheit.
Diese subjektive Natur und nicht irgendeine objektive Erziehung bilde das Fundament von Unfreiheit, Grausamkeit, Bosheit und Ungleichheit. Aus dieser eigenartigen Sicht ist das beste, was die Gesellschaft und die Familie tun können, sehr früh mit dem Auftragen des Lacks zu beginnen. Man soll Schicht für Schicht von Kontrolle, Gesetz und Ordnung auftragen, dem Menschen Rationalität und allerlei Beschränkungen aufpfropfen, alles das in der Hoffnung, aus geborenen Killern gesellschaftliche Konformisten zu machen. Während für die erstgenannte Gruppe das Böse verdrängtes Gutes ist, faßt die zweite Gruppe das Gute als verdrängtes Böses auf.
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Für die erste ist das Böse ein objektives Verdrehen subjektiven Gutseins; für die zweite ist das Gute eine objektive Beherrschung des subjektiven Bösen. Der Mensch wird nach dieser letzteren Meinung als bösartiges Wesen geboren, und das Gute, das man aus ihm herausholen kann, erhält man nur durch Unterdrückung des Tiers im Menschen. Gelingt diese Verdrängung nicht, dann ist der Teufel los.
Im politischen Bereich ist diese Gruppe der Ansicht, Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit seien absolut unvermeidlich. Dies sei so aus positiven Gründen (den Menschen seien unterschiedliche Fähigkeiten angeboren, und man könne entweder Gleichheit oder gleiche Chancen haben, niemals aber beides) und auch aus negativen (den Menschen sind auch böse Potentiale eingeboren). Edmund Burke würde in diesem Zusammenhang sagen, eine Revolution, die zu einer unterschiedlichen objektiven Gesellschaftsstruktur führe, wäre nutzlos, weil sie weiterhin die grundlegende subjektive menschliche Natur intakt ließe.
Und tatsächlich könnte es sogar schlimmer werden. Denn wenn der Staat und eine restriktive politische Maschinerie ein Teil der notwendigen Tünche sind, mit der man Tollheit und Anarchie übermalt, dann bringt eine Revolution nicht Befreiung, sondern den kollektiven Nervenzusammenbruch.
Sind objektive Institutionen relativ fair, relativ demokratisch und relativ human, dann sollte man nicht daran rühren — das ist die politische Philosophie des Konservativismus. So wie orthodoxe Psychiater und Psychoanalytiker die humanistischen Encounter-Gruppen überhaupt nicht billigen (denn wenn Individuen kollektiv «ihre Masken vom Gesicht nehmen» und immer tiefere Schichten ihres subjektiven Ich zur Schau stellen, dann kommt ihrer Meinung nach am Ende nur eine Gruppe irrationaler Killer zum Vorschein), so mögen Konservative nicht irgendwelches progressives und liberales Herummanipulieren an gesellschaftlichen Institutionen, da sehr viel dafür spräche, daß dabei nur noch Schlimmeres herauskomme (Standardbeispiel: die Französische Revolution unter dem Banner der «Aufklärung»).
Für die erste Gruppe, die wir die humanistischen Marxisten nennen wollen, sind die Menschen unfrei, weil das Subjekt, das «wahre Ich», von objektiven Faktoren verdrängt und unterdrückt wird. Für die zweite Gruppe, die wir die freudianischen Konservativen nennen wollen, sind die Menschen unfrei, weil das «wahre Ich» verdrängt und unterdrückt werden muß: Das Subjekt hat an allem Schuld.
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Nun tritt unsere dritte Gruppe auf den Plan, die der Mystiker. Wer sich, wie ich es tue, zu dieser Gruppe zählt, ist der Ansicht, der Mensch sei vor allem deshalb unfrei, weil es den Glauben an die Existenz eines «wahren Ich» gibt. Unfreiheit, Leiden und Ungleichheit entstehen demnach nicht, weil das Objekt dem Subjekt irgend etwas antut oder umgekehrt, sondern allein schon wegen des ursprünglichen Dualismus zwischen Subjekt und Objekt. Wir sollen demnach das Ich weder verdrängen noch unterdrücken, sondern es unterminieren, es transzendieren, es durchschauen.
Diese drei Kategorien psychologisch/politischer Philosophie sind es, deren Verschmelzung wir anstreben. Bemerkenswert ist, daß sich diese Theorien meines Erachtens nicht gegenseitig widersprechen, sondern komplementär sind. Lassen Sie uns das einmal näher anschauen.
Zunächst einmal trifft nicht zu, was die Humanisten/Marxisten uns glauben machen wollen: daß ein Ich ohne Verdrängung oder Unterdrückung existieren kann. Das «freie Ich» ist ein formaler und logischer Widerspruch und hat nicht mehr Bedeutung und Wirklichkeit als die Quadratur des Kreises. Ein «freies Ich» und ein «quadratischer Kreis» existieren nur als Worte, nicht als Wirklichkeit. Wo es ein Anderes gibt, da gibt es auch Furcht; wo es ein Ich gibt, da gibt es Angst — das ist eine buddhistische und auch in den Upanischaden zu findende absolute Wahrheit.
In der Politik wird sich das marxistische Argument von selbst erledigen: Eine Revolution nach der anderen wird das Ich in Angst, Schmerz und in Ketten belassen — ganz einfach weil sie das Ich nicht beseitigen wird. Zwar trifft es zu, daß eine faire Verteilung der Gaben der Natur viel Gutes tun kann (und bereits getan hat), doch bleiben die fundamentalen Probleme davon unberührt, weil die Struktur der Bewußtheit selbst unverändert bleibt. Das gilt auch für die humanistische Psychologie und Psychotherapie: Auch da wird der Elan schließlich verkümmern. Nach allen Encounters, Urschreien, dem Herauskehren der Eingeweide und nach aller Katharsis bleibt das Ich immer noch das Ich, und die Angst kommt immer wieder.
Es scheint also, als hätten die freudianischen Konservativen das letzte Wort; daß Unfreiheit und Ungleichheit in den Menschen selbst liegen, nicht in menschlichen Institutionen. Damit haben sie aber nur zur Hälfte Recht. Denn Unfreiheit, Aggression und Ängste sind nicht charakteristisch für die Natur des Menschen, sondern für das menschliche separate Ich. Nicht die Instinkte ruinieren den Menschen, sondern sein psychischer Appetit, der seinerseits ein Produkt seines Eingegrenztseins ist, nicht seiner Biologie. Die Grenze zwischen dem Ich und dem Anderen verursacht Furcht, die Grenze zwischen dem Vergangenen und der Zukunft verursacht Ängste, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt verursacht Begierden. Während die Biologie nicht zerstört werden kann, lassen Grenzen sich transzendieren.
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Es sind die exklusiven Grenzen in der Bewußtheit und für die Bewußtheit, die die ursprüngliche Unfreiheit begründen, und nicht spezifische Aktionen innerhalb dieser Grenzen oder über sie hinaus. Solange die Seele sich vom All abgrenzt, wird sie gleichzeitig Angst und Verlangen, Thanatos und Eros, Schrecken und Durst verspüren. Die Grenze zwischen dem Ich und dem Anderen ist der Schrecken des Lebens; die Grenze zwischen Sein und Nicht-Sein der Schrecken des Sterbens. Solange die Menschen Sklaven ihrer Grenzen sind, werden sie in Kämpfe verwickelt sein; jeder Militärexperte wird bestätigen, daß dort, wo es eine Grenze gibt, ein Krieg möglich ist. Das Ziel der Mystik ist es, die Menschen aus ihren Kämpfen zu befreien, indem sie sie von ihren Grenzen befreit — weder das Subjekt noch das Objekt zu manipulieren, sondern beide in nichtdualistischem Bewußtsein zu transzendieren.* Die Entdeckung des Höchsten Ganzen ist das einzige Gegenmittel gegen Unfreiheit und die einzige medizinische Verordnung, die die Mystiker anbieten.
Also hat der Buddha — oder später Christus oder Padmasambhava oder Rumi oder Eckhart oder Ramana Maharshi oder wen man sonst als mystisches Vorbild nehmen will — recht, weshalb wir ihn zum Fundament der von uns angestrebten Verschmelzung machen.
* Zugleich läßt der Mystiker die Reformen nicht außer acht, die auf den niederen Ebenen möglich sind. Der Mystiker transzendiert die niederen Ebenen, bezieht sie aber auch ein, und kein echter Mystiker würde jemals Erleuchtung für sich selbst suchen und dabei Reformen vernachlässigen, die auf den niederen Austauschebenen durchgeführt werden können und müssen. In der Tat ist dies der Unterschied zwischen dem Arhat, der bei seinem Streben nach der eigenen Erleuchtung andere vernachlässigt, und dem Bodhisattva, der so lange auf eigene Erleuchtung verzichtet, bis allen anderen ebenfalls die Erleuchtung erfahrbar gemacht werden kann.
Der Bodhisattva läßt sich nicht zu der Illusion verleiten, das separate Ich könne es sich durch irgendwelche isolierten Aktivitäten oder Reformen in den subjektiven oder objektiven Bereichen für immer bequem machen. Die mystische Lösung ist eine Endlösung, nicht eine Zwischenlösung. Obwohl der Mystiker jedoch absolute Befreiung anstrebt, wird er niemals die als Zwischenschritte erzielbaren relativen Befreiungen zurückweisen. Und das ist das Schöne am Bodhisattva-Ideal. Während es Subjekt und Objekt transzendiert, vernachlässigt es beide nicht, bezieht beides in sich ein und findet darin eine vollendete Einheit.
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Potentiell sind die Menschen vollkommen frei, weil sie Subjekt und Objekt transzendieren und in ein unverstelltes Einheitsbewußtsein durchbrechen können, das vor allen Welten existiert; aber kein Anderes ist. Die letzte Lösung für das Problem der Unfreiheit ist also weder humanistischer Marxismus noch freudianischer Konservatismus, sondern buddhistisches d.h. allgemein «mystisches» Erwachen, Erlösung, Satori, Moksha, Wu, Metanoia.
Und nun zum zweiten Kapitel unserer angestrebten Verschmelzung. Sobald eine Grenze zwischen Subjekt und Objekt, dem Ich und dem Anderen, dem Organismus und der Umwelt errichtet ist, ist das Ichempfinden von innen her unfrei und von innen her imstande, aus einem Gefühl reiner Panik (wegen seiner Sterblichkeit und Verwundbarkeit) gegenüber sich selbst und anderen bösartig zu sein. Das ist für menschliche Bewußtheit nicht natürlich, aber normal, weil alle «Normalen» ein separates Ichempfinden besitzen. Und für das Ichempfinden sind Verdrängung und Unterdrückung zwingend.
Das Ich muß sich nicht nur selbst verdrängen und jedes Bewußtsein von Verwundbarkeit und Sterblichkeit ausschalten, es muß in seinem Trieb nach separater Selbsterhaltung auch andere mehr oder weniger unterdrücken. Hier treten die freudianischen Konservativen auf den Plan. Denn greift man nicht nach der buddhistischen Lösung, muß es die freudianische sein: Das Ichempfinden (nicht die ganze menschliche Natur, sondern nur die des Ichempfindens) ist von innen her böse und unfrei, weshalb Verdrängung und Unterdrückung unvermeidlich und bis zu einem gewissen Maße sogar wünschenswert sind.
Aber nur bis zu einem gewissen Ausmaß, und hier kommen die humanistischen Marxisten ins Spiel. Solange es nämlich separate Ich gibt, sind Verdrängung und Unterdrückung unvermeidlich und notwendig, überschüssige Verdrängung und überschüssige Unterdrückung jedoch nicht. Die Trennungslinie zwischen Verdrängung und überschüssiger Verdrängung ist natürlich sehr schwer auszumachen, und niemand wird je die richtige Formel finden, wo diese Linie zu ziehen sei.
Aber wir verfügen immerhin noch über ein zusätzliches Verständnis, das uns die Entscheidung erleichtern kann, da wir wissen,4aß die Menschen nicht von Natur aus oder instinktiv böse sind, sondern daß Bösartigkeit für sie nur ein Ersatz ist. Die Verdrängung des eigenen Buddha-Wesens schafft Böses, und dieses Böse muß dann verdrängt werden, um «sozial Gutes» zu schaffen. Da Böses von Natur aus Ersatz ist, können wir zumindest die Art des Ersatzes objektiv auswählen, solange jemand noch nicht fähig ist, zu wahrer Transzendenz durchzubrechen. Wären die Menschen vom Instinkt her böse, dann bestünde keine Hoffnung.
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Ist Bösartigkeit für sie aber nur ein Ersatz, dann haben wir zwei Möglichkeiten zur Auswahl: ihnen tatsächliche Transzendenz oder hilfreiche Formen des Ersatzes anzubieten.
So sonderbar es zunächst klingen mag, aber eine einigermaßen annehmbare und mitfühlende Gesellschaft muß nicht unbedingt massive Verwirklichung von Atman bieten (das wäre eine utopische Gesellschaft oder Sangha); sie muß vielmehr die einzelnen Atman-Projekte so arrangieren, daß sie sich gegenseitig überlappen und stützen. Geschieht das, dann kommt der Gewinn aus dem individuellen Atman-Projekt der Gemeinschaft insgesamt zugute.
Ein Beispiel:
In manchen typhonischen Jagdgemeinschaften konnte man ein großer Held sein und damit sein Atman-Projekt mit Glanz und Gloria ausspielen, wenn man mehr Wild erlegte als die anderen — und dann alles verschenkte. Je größer das Atman-Projekt, desto größer der Nutzen für die Allgemeinheit. Diese Art von Arrangement bildet den Kern dessen, was die Ethnologin Ruth Benedict synergetische Gesellschaften nennt — und das waren genau die Gesellschaftsformen, die sie am edelsten, «liebenswertesten» und segensreichsten fand. Hilfreich synchronisierte Illusionen sind zumindest keine tödlichen. Wenn wir also schon kein Atman anbieten können, dann sollten wir zumindest sorgsam die Strukturen unserer Ersatzbefriedigungen anschauen und überlegen, ob man sie nicht humaner und synergetischer anordnen kann.
Wenn wir nun zu den drei Ausgangsfragen dieses Buches zurückkehren, dann werden wir feststellen, daß sie von Anfang an darauf abgestellt waren, genau diese drei Grundkategorien — nicht-dualistisch, subjektiv und objektiv (Atman plus die beiden Seiten des Atman-Projekts) — sowie die drei grundlegenden Gesellschaftstheorien abzudecken, die von diesen Kategorien befruchtet wurden — die mystische, die konservative und die marxistisch/humanistische.
Die Frage Nummer eins — «Welche Wege zu wirklicher Transzendenz stehen uns offen?» — bezieht sich auf die mystische Position, auf die Transzendenz von Subjekt und Objekt. Die Frage Nummer zwei — «Wenn Transzendenz nicht gelingt, welche Ersatzbefriedigungen werden dann angeboten?» — bezieht sich auf die freudianisch-konservative Position, auf alle sich daraus ergebenden Wünsche, Haßbezeugungen und Ängste, die als Ergebnis des eingeengten Ichempfindens einfach entstehen müssen (weil sie der Struktur des separaten Ich inhärent sind und nicht von objektiven gesellschaftlichen Institutionen aufgezwungen werden). Die Frage Nummer drei — «Welchen Preis müssen unsere Mitmenschen für diese Ersatzbefriedigungen zahlen?» — bezieht sich auf die humanistisch-marxistische Position, auf die Tatsache, daß zwar eine gewisse Unterdrückung/Verdrängung unvermeidlich ist, überschüssige Verdrängung/Unterdrückung jedoch nicht.
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Sie bezieht sich auf die Tatsache, daß die objektiven Kosten des Atman-Projekts erschreckend sein können; denn wenn Menschen zu Objekten des negativen Atman-Projekts werden, dann werden diese Menschen zu Opfern: ausgebeutet, unterdrückt, geknechtet, versklavt, hingeschlachtet. Das Studium der Arten von Ausbeutung ist das Studium der verschiedenen Arten negativer Atman-Projekte. Wird die Ausbeutung verringert, dann verringert man auch die Atman-Projekte selbst oder ändert sie. Das ist zumindest theoretisch möglich, weil das Atman-Projekt nicht vom Instinkt bestimmt oder eingeboren, sondern Ersatz ist.
Die subjektive Unfreiheit und die objektive Ausbeutung sind Abfallprodukte des Atman-Projekts, Ergebnisse der Suche nach dem Atman in Ersatzformen, des Sich-Abstrampeins in der Welt der Zeit auf der Suche nach Zeitlosigkeit. Statt die Welt zu sein, versucht das Individuum, die Welt in Besitz zu nehmen und zu beherrschen — und statt das Selbst (Atman) zu sein, beschützt es nur sein Ich. Das ist etwas, was auch Schopenhauer uns sagen wollte, denn seine ganze Philosophie konzentriert sich darauf, zu zeigen, daß jedes einzelne Individuum tatsächlich die ganze Welt ist und «sich deshalb mit nichts weniger zufrieden gibt als damit, die ganze Welt als Objekt zu besitzen, etwas, das niemandem möglich ist, weil jedermann es gerne so hätte». Dort liegt die letzte Ursache für Elend und Unfreiheit! Von einem unersättlichen Appetit angetrieben, haben die Menschen im Laufe der Geschichte sich gegenseitig überrannt im vergeblichen Versuch, das All zu besitzen und zu haben, wobei sie sich gegenseitig unbeschreibliche Unmenschlichkeiten und Grausamkeiten zugefügt haben, die — und das ist die Ironie der Geschichte — sämtlich von einem unbewußten Gott geschaffen wurden.
Andererseits könnte man tatsächlich, wie Schopenhauer erklärt hat, durch Auslöschen des individuellen Willens zum Leben (Eros) in den früheren Zustand jenseits von Subjekt und Objekt zurückfallen und auf diese Weise das All selbst sein. Für Schopenhauer und für uns gibt es also einen Ausweg aus der Misere des Atman-Projekts, einen Ausweg aus dem mörderischen Zwang, «die ganze Welt als Objekt zu besitzen». Er bestünde darin, Atman selbst wiederzuentdecken, eine Höchste Identität mit dem und als das ganze Weltgeschehen auferstehen zu lassen.
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Schopenhauer selbst hat unter Benutzung von Sanskritbegriffen erklärt, daß man das nur durch Prajna erreichen könne, oder durch transzendentes Erkennen von Shunyata, des nahtlosen Gewands des Universums, das nichts anderes ist als Atman, das eigene Wahre-Selbst, der Dharmakaya.
Wir würden zur selben Schlußfolgerung kommen, wenn wir uns der Gedanken von Rank, Brown und Becker bedienten — daß nämlich Böses und Angst das Ergebnis des Versuchs sei, den Tod durch Fetischisierung von Unsterblichkeitssymbolen radikal zu leugnen, «daß die Menschen wahrhaft traurige Kreaturen sind, weil sie den Tod bewußt gemacht haben».
Bei ihrem Versuch, Tod und Sterblichkeit zu leugnen, hätten sie im Laufe der Geschichte mehr Böses, Zerstörung und mehr Ängste in die Welt gebracht, als der Teufel persönlich verkörpern könne. Doch ist Unsterblichkeitsstreben nur ein Unterprojekt des Atman-Projekts, der Ersatz der angestrebten zeitlosen Transzendenz durch immerwährende Zeitlichkeit sowie ein wildes und panikartiges Ausschlagen nach allen Seiten, gegenüber allen Hindernissen — menschlichen oder materiellen —, die die eigenen Unsterblichkeitsaussichten zu gefährden scheinen.
Wir würden jedoch dieses nur zur Hälfte gültige Argument mit dem Zusatz beenden müssen, daß es nichtsdestoweniger absolut wahr ist, daß es, wie es der Sufi Inayat Kahn formuliert hat, «so etwas wie Sterblichkeit überhaupt nicht gibt, außer als Illusion und als Eindruck dieser Illusion, den der Mensch sein Leben lang als ständige Angst in sich trägt». Mit anderen Worten: Das Ichempfinden ist letztlich illusorisch, es ist ein einfaches Produkt der Begrenzungen, weshalb der Tod letzten Endes ebenfalls eine komplexe Illusion ist (ein wesentlicher Punkt, den die Existentialisten übersehen haben). Wenn das Ichempfinden stirbt, ist das, was sich auflöst, nicht ein wirkliches Sein, sondern eine bloße Grenze, eine Grenze, die niemals real, die stets eingebildet war.
Hat sich ein Individuum aber erst einmal die Illusion des Ich und seiner Grenzen geschaffen, dann fürchtet es nichts mehr als dessen Auflösung, strebt nach symbolischer Unsterblichkeit und Kosmozentrizität. Dieses Streben wird durch das Atman-Projekt motiviert; ihm folgt dann unvermeidlich und gnadenlos die von Rank und Becker und der ganzen existentialistischen Bewegung beschriebene, von Schrecken strotzende Logik. Die Existentialisten haben zwar tatsächlich der Menschheit die Diagnose gestellt — Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern —, doch sind sie nicht bis zur letzten Prognose vorgedrungen, die im Sanskrit nichts anderes ist als das weiter oben schon genannte Prajna (prognosis).
Aber auch hier gibt es einen Ausweg. Wenn die Menschen auch unglückliche Kreaturen sind, weil sie den Tod bewußt gemacht haben, so können sie doch noch einen Schritt weiter gehen und durch Transzendenz des Ich auch den Tod transzendieren. Sich vom Unbewußten zum Ich-Bewußtsein zu bewegen, das hieß, den Tod bewußt zu machen; sich vom Ich-Bewußtsein zum Überbewußtsein zu bewegen, heißt, den Tod ungültig zu machen.
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Ende