Gute Arbeit, 15. März 2006 Von Michael Habecker "michaelhabecker" - Alle meine Rezensionen ansehen

Integrale Psychotherapie – Ein umfassendes Therapiemodell auf der Grundlage der Integralen Philosophie nach Ken Wilber - ist ein gutes Buch, das auch den theoretischen Ansprüchen genügt, die man an ein derart anspruchsvolles Vorhaben stellen darf. Nach einer kurzen Einleitung zu Hintergrund und Entstehung des Buches kommt der Autor im ersten Teil gleich zur Sache, und erläutert die philosophischen, erkenntnistheoretischen und wissenschaftsorientierten Grundlagen von Wilber’s Ansatz. Er schreckt dabei auch nicht vor der Darstellung des Holon-Ansatzes zurück, und beschreibt ausführlich die Grundbausteine der Quadranten, Ebenen und Linien des integralen Modells (auch die Typologien und Zustände sind in dem Werk integriert, was den „AQAL-Ansatz“ – alle Quadranten, Ebene, Linien, Zustände und Typen komplettiert). Was die grafische Darstellung angeht, wird echte Pionierarbeit geleistet, mit zahlreichen mehrfarbigen Tabellen und Diagrammen, die das Verständnis sehr leichtern.

Danach konzentriert sich der Autor auf die Beschreibung der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, die Ich- bzw. Selbstentwicklung, wobei er sich am „Drehpunktmodell“ orientiert, welches Wilber erstmals in Psychologie der Befreiung vorgestellt hat. Dieses Modell wird im Kontext der 4 Quadranten erläutert.

Im zweiten Teil des Buches entwickelt der Autor dann konkret und beispielhaft das Modell einer integralen Psychotherapie, als einen Rahmen für die bereits bestehenden unterschiedlichen therapeutischen Ansätze. Dabei geht er entwicklungsorientiert vor, diskutiert die Entwicklungsdrehpunkte nacheinander und untersucht, was auf jeder der Entwicklungsstufen jeweils schief gehen kann, und durch welche Methoden und Interventionen integrale Heilung möglich ist - eine Heilung, die sowohl die subjektiven (psychischen), intersubjektiven (d.h. beziehungsorientierten) sowie auch die objektiven Aspekte eines Menschen (körper- und systembezogen) berücksichtigt. Themen wie Traumanalyse und Meditation werden als Exkurs separat ausgeführt, und durch übersichtliche Schautafeln (S. 172 u. 173) sorgt der Autor dafür, dass bei der Fülle an Einzelinformationen der Überblick nicht verloren geht. Ganz wichtig im Zusammenhang einer integralen Vorgehensweise ist der Therapeut selbst, und die Anforderungen an ihn in einem integralen Prozess. Diese werden in einem eigenen Kapitel beschrieben.

Wie kann ein derartiger Ansatz zur Anwendung kommen? Bei der Diskussion dieser Frage ist der Autor nicht auf Spekulationen angewiesen, sondern stellt ein bereits bestehendes Modell vor, das er aus eigener Anschauung kennt. Es handelt sich dabei um das Bad Herrenalber Modell, welches an der Klinik gleichen Namens schon seit vielen Jahren im Einsatz ist. Dieses Modell wurde nicht vor dem Hintergrund des integralen Absatzes entwickelt, enthält jedoch ein Reihe von Merkmalen und Therapie“bausteinen“, die es lohnenswert machen, es vor eine integralen Hintergrund zu diskutierten, Dies tut der Autor sehr gründlich im dritten und abschließenden Teil des Buches, wodurch die vorangegangenen Überlegungen realitätsbezogen und praktikabel hervortreten, bis hin zur Vorstellung des Wochenplanes dieser Klinik.

Aus diesem Buch werden nicht nur Psychotherapeuten und andere Menschen in „helfenden Berufen“ im weitesten Sinn ihren Nutzen ziehen können, sondern auch diejenigen, die sich für den Integralen Ansatz von Ken Wilber in seiner (psycho)therapeutischen Anwendung allgemein interessieren. Es ist ein Buch auf dem Stand von Wilber IV (Wilber selbst teilt sein Werk in bisher fünf aufeinanderfolgende Phasen ein, I-V), d.h. die Neuerungen, die Wilber mit der Phase V einführt, sind darin (noch) nicht enthalten. Diese könnten jedoch in weiteren Auflagen, die ich dem Buch wünsche, eingearbeitet werden. Unabhängig davon bleibt die jetzt vorliegende Auflage aktuell und interessant.