Wolle  & Kowalczuk

 

ROTER STERN 

über Deutschland 

 

2001 by Christoph Links Verlag
ISBN 3-86153-246-8   

Kowalczuk / Wolle :  Roter Stern über Deutschland   (2001)    - 

2001  

240 (255)  Seiten

Google.Buch 

linksverlag.de  

TV-Doku gleichen Namens (Grimme-Preis)  Video1

detopia:   Wolle Start

Aschebuch  Kopp 1996   Kowalczuk

 

Inhalt

Vorwort:  "Soldaten sehn sich alle gleich"  (7)

Anhang  

Anmerkungen (241)  

Abkürzungen (249)

Personen- und Ortsregister (250)  

Bildnachweis (254)  

Angaben zu den Autoren (255) 


Fünf Jahrzehnte lang standen auf deutschem Boden sowjetische Truppen, die dreimal stärker waren als die Nationale Volksarmee der DDR.

An der Nahtstelle zwischen Ost und West verfügten diese Eliteeinheiten über atomare Mittel­strecken­raketen auf mobilen Abschußrampen und standen für offensive Kampf­handlungen gegen die Bundes­republik bereit. 

Zugleich diente die Streitmacht der Absicherung des östlichen Herrschaftsblocks, was während des Volks­aufstandes am 17. Juni 1953 und beim Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968 besonders deutlich wurde.

Die Autoren dokumentieren nicht nur die politische und militärische Entwicklung von 1945 bis 1994, sondern schildern anhand von bisher geheimen Dokumenten und überraschenden Zeitzeugen­aussagen auch das Innenleben der Kasernen und der streng abgeschirmten »Russenstädtchen« sowie das oft konfliktreiche Verhältnis zur ostdeutschen Bevölkerung. Zahlreiche Fotos, Statistiken und Faksimiles komplettieren diese einzigartige Überblicks­darstellung.

In Zusammenarbeit mit ORB, Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg

»Die Russen kommen!« — Das Ende des Zweiten Weltkriegs  (19) 

April 1945 (19)  Schlacht um die Seelower Höhen (21)  Tragödie der Reichshauptstadt und Kapitulation Hitlerdeutschlands  (22)  Erste Begegnungen mit den Russen  (27)  Sowjetische Kriegspropaganda  (31)  Vergewaltigungen  (35)  Erste politische Maßnahmen  (40) 

Demokratische Erneuerung oder Sowjetisierung? — 
Der innere Aufbau der Sowjetischen Besatzungszone
...45  

Die Nachkriegsordnung auf dem Verhandlungstisch der Siegermächte (45)  Der Alliierte Kontrollrat (50)  Sowjetische Militäradministration (SMAD) (54)  Sowjetische Generale in Deutschland (58)  Entscheidungshoheit der Besatzungsmacht (63)   Bodenreform (64)  Demontagepolitik (67)  Schul- und Hochschulreform (76)  Entnazifizierung (80)  Sowjetische Militärtribunale (82)   Speziallager (86)  Aufbau des ostdeutschen Polizeistaates (89)  Alltag der Besatzung (94)  Schrittweise Übertragung der Regierungsgeschäfte an die DDR (98)  

»Waffenbrüder-Klassenbrüder« — Die sowjetische Armee in der DDR (104)

Die Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen (GSBT) 104  #  Stationierungsabkommen und Stationierungskosten 106  #  Die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD)  114  #  Die GSSD als strategischer Vorposten der Sowjetarmee  118  #  Wünsdorf oder »Wjunsdorf«?  123  #  Sowjetische Geheimdienste in Deutschland  126  #  Leben in den Kasernen  132  #  Straftaten der sowjetischen Soldaten  145  #  Neue Beziehungen im Zeichen von Glasnost und Perestroika  153

Armee an der Nahtstelle des Kalten Krieges - Die sowjet. Truppen in den Krisen des Sowjetblocks (160)

Deutschland in Zeiten der Blockkonfrontation (160)  Berlin-Blockade 1948/49 (163)  Volksaufstand in der DDR im Juni 1953 (167)   Gründung des Warschauer Paktes 1955 (179)  Mauerbau 1961 (182)  Ende des »Prager Frühlings« 1968 (190)  Polnische Krise 1980/81 (201) 

»Lebe wohl Deutschland«  Das Ende der DDR und der Abzug der sowjetischen Truppen   (206)
Perestroika und DDR  (206)  Die Sowjetarmee während der friedlichen Revolution in der DDR  (213)  Zwei-plus-Vier-Verhandlungen  (218)  Der innere Zustand der Westgruppe und der Zerfall der Sowjetunion (219)  Abzug der Westgruppe (221)  Wohnungsbauprogramm für die Heimkehrer (225)  Verfallende Kasernen und Truppenübungsplätze (226)  Ehrenmale und Heldenfriedhöfe der Sowjetarmee (230)  Die Abschiedsparade (238) 

    

"Soldaten seh'n sich alle gleich"

 

 

7-17

Am 8. Mai, dem »Tag der Befreiung«, herrschte meist strahlender Sonnenschein. Das frische Grün der Bäume, der blaue Himmel und der bunte Fahnen­schmuck verbreiteten eine feierliche und fröhliche Stimmung. Die öffentlichen Gebäude und Einzel­handels­einrichtungen waren beflaggt, und auch die pflichtbewußten Staatsbürger hatten eine Fahne aus dem Fenster gehängt. Zumeist war es die Fahne vom 1. Mai, die sie aus praktischen Gründen hatten hängen lassen. 

Zum »Tag der Befreiung«, der in der DDR bis 1968 als gesetzlicher Feiertag schulfrei war, fuhren die Klassen, gekleidet mit weißer Bluse und blauem Halstuch, gemeinsam zu einem der Soldatenfriedhöfe für die gefallenen Helden der Sowjetarmee. Da fast überall in den letzten Kriegstagen gekämpft worden war, gab es zahlreiche Soldatengräber im Lande. Je nach Größe und Bedeutung des Ortes waren sie mit Blumenrabatten, Marmortafeln, Obelisken und Skulpturen verziert. An anderen Stellen standen sowjetische Panzer vom Typ T 34 oder Sturmgeschütze auf gemauerten Podesten.

In Berlin war das monumentale Ehrenmal im Treptower Park ein beliebtes Ziel für solche Ausflüge am »Tag der Befreiung«. Dort steht inmitten des Parks auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel ein überlebensgroßer Sowjetsoldat in Bronze. In der Rechten hält er ein gewaltiges Schwert, auf dem linken Arm trägt er ein kleines Mädchen. Unter seinem mächtigen Stiefel liegt das zertretene Hakenkreuz. Barhäuptig und mit unmilitärisch langen Haaren blickt der Bronzesoldat ernst und zugleich gütig in die Ferne. In den Lesebüchern der DDR-Schulen war die Geschichte von dem tapferen sowjetischen Soldaten, der während der Kämpfe in Berlin ein deutsches Mädchen aus den Flammen einer brennenden Ruine gerettet hat, nachzulesen. 

Auch als Aufsatzthema war die Geschichte beliebt, und brav schrieben Generationen von Schulkindern, diese Heldentat zeige, daß der Sowjetsoldat gekommen war, das deutsche Volk vom Faschismus zu befreien. Zum Schulstoff gehörte auch ein Gedicht von Johannes R. Becher, »Staatsdichter« und von 1954 bis 1958 Minister für Kultur: »Sterne unendliches Glühen«. Kalt und glatt wie Marmor sind die Reime dieses Dichters der Stalin-Oden und doch so sentimental und eingängig wie die damals modernen deutschen Schlager.


Die Lesebuchgeschichte, die Lieder und Gedichte waren so süßlich betäubend wie der Veilchengeruch des sowjetischen Einheitsparfüms »Krasnaja Moskwa«, nach dem das ganze Imperium zwischen Wladiwostok und Marienborn duftete. Es war eine Märchenwelt, die sich uns auftat. Sie war so bewegend und irreal, so schön und erhaben wie der Film über Ilja Muromez, den altrussischen Recken, der gegen die Tataren zu Felde zog, einen furchtbaren Drachen besiegte und die schöne Wassilissa der Macht der Goldenen Horde entriß. 

Die Amerikaner kämpften um die Seele des deutschen Volkes mit Kaugummi, Jazzmusik und Comicstrips. Die Russen hatten einen höheren Anspruch. Sie wollten das vom faschistischen Ungeist vergiftete deutsche Volk zu den humanistischen Werten bekehren. Im Moskauer »Verlag für fremdsprachige Literatur« erschienen großformatige bunte Bücher mit den Märchen Alexander Puschkins oder Alexej Tolstois Nacherzählung von Carlo Collodis Kinderklassiker »Pinocchio«. Als »Burattino« eroberte er die Herzen der Kinder und wurde zum Namenspatron von Kindergärten und Spielzeugläden. Väterchen Frost, die Hexe Baba-Jaga und Karandasch mit der Bleistiftnase wurden so populär wie Tarzan und Donald Duck im Westen. 

Der Kalte Krieg in den Kinderzimmern und auf den Schulhöfen wurde durchaus mit einer gewissen Verbissenheit geführt. Taschenkontrollen am Schultor waren an der Tages­ordnung. Mit wichtiger Miene wurden die bunten Bildergeschichten aus dem Westen als »Schund- und Schmutzliteratur« vom Pionierleiter »eingezogen«. Wahrscheinlich war das der Grund, warum Väterchen Frost und Burattino im Kampf gegen Tarzan keine Chance hatten. 

8


Wer hat vollbracht all die Taten,
Die uns befreit von der Fron?
Es waren die Sowjetsoldaten, 
Die Helden der Sowjetunion.

Dank euch, ihr Sowjetsoldaten! 
Euch Helden der Sowjetunion!

Wem dankt all das Gute und Schöne 
Der deutsche Arbeitersohn? 
Er dankt es dem Blute der Söhne, 
Der Söhne der Revolution!

Vergeßt nicht das Blut der Söhne, 
Der Söhne der Revolution! 

Die Welt von Licht überflutet -
Wir wußten es immer schon:
Für aller Glück hat geblutet
Das Herz der Revolution.

Es hat auch für dich geblutet
Das Herz der Sowjetunion!

Sterne unendliches Glühen,
Lieder singen davon:
Es brachte die Welt zum Blühen 
Das Blut der Sowjetunion.

Es brachte der Welt den Frieden 
Das Blut der Sowjetunion 

Johannes R. Becher: 
Sterne unendliches Glühen. 
Die Sowjetunion in meinen 
Gedichten 1917-1951. 
Berlin 1951

 

Doch es war nicht ihre Schuld. Es gab zauberhafte sowjetische Kinderfilme und wunderbar gestaltete Bücher vom Zaren Saltan, vom Tierhäuschen, von Nimmerklug in Knirpsenstadt, dem Zauberer in der Smaragdenstadt oder von der Fürstin Koschka. Das Märchenbuch des russischen Dichters Samuil Marschak erschien seit 1957 in zahllosen Auflagen in deutscher Übersetzung im Kinderbuchverlag Berlin. Es beginnt mit den Versen: »Tili Bom! — Denkt euch ein Haus,/ wie ein Prunkschloß sieht es aus,/ Tor und Fenstersims und Giebel/ fein geschnitzt, bemalt nicht übel!/ Schon der Teppich, goldgewirkt,/ vor der Tür für Reichtum bürgt./ In dem Haus wohnt eine Dame,/ Fürstin Koschka ist ihr Name.«

 

Die Sowjetunion war so ein Märchenschloß voller wunderbarer Dinge. Den Atomeisbrecher »Lenin«, die Staudämme an der Wolga und immer wieder den Sputnik gab es als Bilder in den Kinderzeitungen, im Fernsehen und als Nippes. Als Gastgeschenk oder Reiseandenken hielten solche Herrlichkeiten Einzug in die Wohnzimmer der DDR: ein goldener Spasskiturm mit rubinrotem Stern beispielsweise, dessen eingebaute Spieldose das Glockenspiel des Kreml intonieren konnte. Oder ein Modell des »Sputnik 1«, der die Funksignale des ersten künstlichen Erdtrabanten spielte. Wie ein Triumphmarsch tönten die Morsezeichen und verbreiteten die Botschaft vom Sieg des Kommunismus. »Hejo, Sputnik, hoch am Himmelszelt, sag, was siehst du bei der Reise um die Welt?« sangen die Jungen Pioniere. 

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Und der sowjetische Erdtrabant antwortete in einer Art Wechselgesang: »Ich seh' vom Gelben Meer herüber bis zum Elbestrand die Schar der befreiten Völker, mittendrin mein Heimatland. Die Fahnen leuchten rot und die Gesänge klingen froh!« Darauf der Chor: »Hejo Sputnik, otschen choroscho!«  

Die Schulkinder verzierten kleine Schulheftchen im Oktavformat, sogenannte Vokabelhefte, mit einem Sputnik aus Buntpapier. In solche »Sputnikhefte« wurden regelmäßig die guten Taten eingetragen: die Resultate der Altstoffsammlung, die Lernergebnisse und die sportlichen Erfolge.

Gut und Böse waren wie im Märchen genau verteilt, und es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, daß der Sowjetsoldat für alles Gute, Wahre und Schöne auf der Welt stand: gutmütig, einfach, stark und am Ende immer siegreich. So sah auch die bronzene Heldengestalt aus, die sich als zentrales Bildmotiv durch die politische Ikonographie der DDR zog.

In der Wirklichkeit trugen die Sowjetsoldaten keine Schwerter. Sie sahen auch nicht so heroisch und denkmalwürdig aus wie der Bronzesoldat mit seinem wehenden Umhang, dem harten kantigen Gesicht und dem langen Haarschopf. Die echten Rotarmisten wirkten im Gegenteil recht schäbig in ihren olivgrünen verwaschenen, oft nur notdürftig geflickten Uniformen, ihren schief­sitzenden, meist viel zu großen Käppis und den unförmigen und sicher auch unbequemen Knobelbechern. Kahlgeschoren mit kindlich großen Augen schienen sie eher erbarmungswürdig. 

Furcht und Haß erregten diese Soldaten am Tage schon lange nicht mehr. Vielmehr erzeugte es Mitleid, daß sie fern der Heimat in Deutschland ihren Dienst leisten mußten. Der Muschik in Soldaten­uniform wurde eher als Opfer denn als Protagonist des Systems empfunden. »Soldaten sehn sich alle gleich / Lebendig oder als Leich« sang Wolf Biermann in einem seiner besten Lieder.  

Zur Begeisterung der Kinder fuhren die Russen, wie man eigentlich immer sagte, mit kleinen Pferdewagen umher, auch dann noch, als solche Fuhrwerke in der DDR eigentlich schon lange zur Vergangenheit gehörten. Diese Panjewagen wurden von kleinen zottigen Pferden gezogen. Die Soldaten lachten, wenn die Kinder den Pferden ein Stück Zucker gaben, und ließen sie ein Stück mitfahren. Es war eine besondere Welt mit einer besonderen Farbe. Die Pferdewagen, die windschiefen Zäune der Kasernen, die Schilderhäuschen am Kasernentor, selbst die Häuser waren oft mit einem unnachahmlichen grünen Anstrich versehen. Man nannte diese charakteristische Farbe »Russengrün«.

Hinter den Zäunen führten die Russen ihr eigenes Leben, fernab vom Alltag der DDR. Die wenigen Begegnungen mit der deutschen Bevölkerung waren streng reglementiert, und es gab sie weitaus seltener, als man angesichts der ständigen Freund­schafts­bekundungen glauben möchte. Auch von den Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR waren sie streng isoliert. Wenn sie auf Truppenübungsplätzen einmal aufeinandertrafen, stellte sich jenseits der offiziellen Freundschaftsparolen schnell ein Einvernehmen her. 

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"Marsch der Freundschaft" 
in Hoyerswerda. 

Im Anschluß an Manöver 
fuhren die Soldaten durch zahlreiche Städte, 
wo sie offiziell begrüßt wurden.

 

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Es gibt eine natürliche Solidarität derer, die auf der gesellschaftlichen Stufenleiter ganz unten stehen. Wenn sie sich von ihren Vorgesetzten unbeobachtet wähnten, versuchten sie Kleinigkeiten aus den Armeebeständen zu verkaufen, oder sie boten Kofferradios, Uhren und Rasierapparate zum Verkauf an. Teilweise wurden diese Produkte ohne westliche Lizenz in der Sowjetunion einfach »nachgebaut«. Sie waren tatsächlich preiswert und von solider Qualität. Den Familienangehörigen begegnete man gelegentlich in Geschäften oder auf der Straße. Auch sie lebten in der geschlossenen Welt der sowjetischen Kasernen, hatten dort ihre eigenen Kindergärten, Schulen, Ambulatorien und Geschäfte. 

Das »Magasin« war die einzige für die DDR-Bevölkerung interessante Einrichtung der Besatzungsmacht. Dort gab es zu moderaten Preisen russischen Kaviar, Ölsardinen in Büchsen mit Öffner, Zigaretten mit Pappmundstück Marke »Belomorkanal«, den Krimsekt »Sowjetskoje Schampanskoje« und das beliebte Mischka-Konfekt. Auf dem bunten Einwickelpapier war eine Braunbärenfamilie nach einem Gemälde des berühmten russischen Waldmalers Iwan Schischkin abgebildet.

 

Natürlich gab es in der DDR viele Leute, die grundsätzlich etwas gegen die Sowjetunion hatten, und sei es nur deswegen, weil sie der Meinung waren, daß die SED-Herrschaft allein und ausschließlich auf den Bajonetten der Besatzungsmacht ruhte. Das sowjetische Eingreifen am 17. Juni 1953 rettete die Arbeiter-und-Bauern-Macht vor den Arbeitern und Bauern, und niemand hat dies deutlicher empfunden als die Herrschenden selbst. Drei Jahre später schlugen sowjetische Truppen den Aufstand des ungarischen Volkes blutig nieder. Am 13. August 1961 sicherten sowjetische Panzer den Bau der Mauer in Berlin. Im August 1968 beendeten die Sowjetpanzer das Experiment des Prager Frühlings, das Sozialismus und Menschlichkeit miteinander in Einklang bringen wollte. Wiederum zwölf Jahre später fuhren polnische Panzer sowjetischer Bauart auf den Straßen des Nachbar­landes auf, um ein Regime zu retten, das so gründlich abgewirtschaftet hatte wie selten ein System in der Geschichte. Jeder in der Welt wußte, daß die Verhängung des Kriegsrechtes in dem aufsässigen Land nur vor dem Hintergrund sowjetischer Interventions­drohungen möglich war.

Trotz all dieser historischen Erfahrungen konnte der überwiegende Teil der DDR-Bevölkerung sehr genau zwischen dem einzelnen Soldaten und dem System unterscheiden, das den grauen Zinnsoldaten aufgestellt hatte, um die pax sovietica in der westlichsten Provinz des Großreiches zu garantieren. Der Sowjetsoldat in all seiner Schäbigkeit blieb irgendwie auch immer der Befreier vom Hitlersystem. Bei allem Unrecht und Leid, das die Besetzung Deutschlands im Jahre 1945 mit sich gebracht hatte, wußte man in der DDR doch sehr genau, wer an diesem Krieg schuld gewesen war und wer ihn gewonnen hatte. Der Sieger war weniger die Sowjetunion oder die Kommunistische Partei oder gar Stalin, sondern der einfache russische Soldat. Über Stalins schwere strategische Fehler, die Millionen Sowjetsoldaten Tod und Gefangenschaft gebracht hatten, konnte man seit den Enthüllungen der Chruschtschow-Zeit auch in der DDR einigermaßen offen reden. Viele lasen damals den 1962 erschienenen Roman von Konstantin Simonow »Die Lebenden und die Toten« oder sahen den gleichnamigen sowjetischen Film aus dem Jahr 1964.

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Verabschiedung einer Raketeneinheit in Waren an der Müritz, 
die im Rahmen der Abrüstungsvereinbarungen 1988 in die Sowjetunion zurückverlegt wurde.

 

Die russischen Soldaten und Offiziere in diesen Filmen und Büchern kämpften nicht für Stalin, sondern trotz Stalin und dessen Terrorsystem. Es folgten weitere Bücher von Simonow und anderen Autoren, in denen das Leid und der Heroismus des einfachen Sowjetmenschen dargestellt wurden. Die Romane aus der Sowjetunion wurden statt der offiziösen Geschichtsdarstellungen gelesen. Die literarischen Texte erzählten jene Geschichten, die im Schulunterricht und in den Geschichtsbüchern der Sowjetunion wie der DDR nicht vorkommen durften. Auch wenn die deutschen Leser oder deren Väter auf der anderen Seite der Front gekämpft hatten, empfanden viele den russischen Soldaten als eine Art Kameraden auf dem Leidensweg des 20. Jahrhunderts.

Wolf Biermann hat in seinem »Wintermärchen« versucht, diesen Widerspruch in poetischen Metaphern zu erfassen. Während einer Reise von Berlin nach Hamburg im Jahre 1964 sieht er aus dem Zugfenster Soldaten der Sowjetarmee am Bahngleis stehen und Machorka rauchen. Sie waren die Befehlsvollstrecker einer Besatzungsmacht, die in ihrem Herrschaftsbereich jeden Widerstand unterdrückten, und doch waren sie auch die Befreier vom Faschismus.

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Schwanheide ist der Grenzbahnhof 
Wir hielten nur Sekunden 
Die Grenzer und die Zolljungfraun 
Sind aus dem Zug verschwunden

Die Grenze selbst war kaum zu sehn 
Die Stacheldrahtbarrieren 
Zwei Rotarmisten standen müd 
Mit Schnellfeuergewehren

In ihren Fingern hielten sie 
Die scharfen Papyrossi 
Der eine warf die Kippe weg 
Der andere genoß sie

Im Weiterfahren dachte ich:
Ihr armen armen Schweine 
Wozu steht ihr am Arsch der Welt 
Euch in den Bauch die Beine

Im letzten Krieg, im blutigsten 
Von allen großen Kriegen 
Da schossen eure Väter gut 
Und starben wie die Fliegen

Für nichts für altes und für mich
Verloren sie ihr Leben
Und ihr verliert jetzt eure Zeit
(Weiß ich was noch daneben!)

Ich salutiere innerlich 
Den kahlgeschorenen Freunden 
Ihr seid das Rückgrat unsrer Macht 
Euch werd ich nie verleumden!

Euch werd ich immer vorteilhaft
Und lobend nur erwähnen!
Den Russenbär, ich lieb ihn mehr
Als Großdeutschlands Hyänen

Der Zottelbär, der russische 
Ist nicht mehr so romantisch
Wie Heines Tanzbär Atta Troll 
Auch nicht so dilettantisch

Wie Becher ihn besungen hat 
In seinen glatten Oden 
Bei Becher hat der Bär kein Herz 
Kein Hirn und keine Hoden

Genossen mit dem roten Stern 
Soldaten, Offiziere 
Ich liebe euch die Menschen und 
Sogar die höheren Tiere

Ihr habt ja dem Heil-Hitler-Volk 
Den Reißzahn ausgezogen 
Habt es befreit belehrt bekehrt 
Und freilich auch belogen

Ihr exportieret ja nicht nur 
Abstrakte Menschlichkeit 
Ihr gabt uns Knüppel mit 
In dieser harten Zeit

Die Macht des Proletariats
- beziehungsweise derer
Die sie vertretungsweise noch
Ausüben unsre »Lehrer« -

Die ganze rote Richtung war 
Nach zwölf Jahren Faschismus 
Ein unwillkommenes Geschenk 
(Zumal der Sozialismus

Von damals noch ein Krüppel war
Ein widerliches Zwitter:
Halb Menschenbild, halb wildes Tier 
Halb Freiheit und halb Gitter)

Wenn ich wo Rotarmisten seh
Dann blutet meine Wunde
Der Deutsche ist schon wieder fett
- Sie leben wie die Hunde

Wolf Biermann: Deutschland. Ein Winter­märchen, Kapitel V.  Aus Nachlaß 1 von Wolf Biermann, © 1977 bei Kiepenheuer

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Als es seit den fünfziger Jahren möglich wurde, mit Intourist die Sowjetunion zu bereisen, griffen viele DDR-Bürger in Ermangelung anderer Reisemöglichkeiten gern zu den Angeboten der staatlichen sowjetischen Touristikgesellschaft. Die Reiseziele waren so begrenzt wie die etwas attraktiveren Ferienplätze am Schwarzen Meer oder im Kaukasus. Es gab auch eine Menge Bürokratie, und die Gruppenreisen von Jugendtouristik waren mit ideologischen Belehrungen und offiziösen Freundschaftstreffen verbunden. Immerhin konnte man reisen, und es gab im Osten ein großes und interessantes Land zu entdecken. 

So notorisch wie die Redereien über den Zustand der öffentlichen Toiletten im Wunderland des Kommunismus war die Erfahrung der russischen Gastfreund­schaft gerade gegenüber Deutschen. Die Gruppenreisenden kehrten aus Moskau und Leningrad mit der Botschaft zurück: Die Russen sind ohne Haß gegenüber den Deutschen. Auch sie können sehr genau zwischen dem Hitlersystem und dem einfachen Soldaten unterscheiden, der in den Krieg geschickt wurde. Sie sind gegenüber den Verhältnissen in Deutschland voller Neugier und Aufgeschlossenheit.

Die Neugier war beiderseitig. Auch kritische Geister und heimliche Systemgegner in der DDR wußten, daß die Verhältnisse nur im Einvernehmen mit der Sowjetunion geändert werden könnten. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgten gerade Intellektuelle immer wieder die Vorgänge in der Sowjetunion. Im Februar 1956 war es die berühmte Geheimrede Nikita Chruschtschows vor dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die auch in der DDR die Hoffnung auf bessere Zeiten nährte. Es war der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der mit seinem Roman »Tauwetter« der Periode ihren Namen gab. 

Die Intellektuellen der DDR verfolgten sehr genau alle Vorgänge in der Sowjetunion. Anfang der sechziger Jahre begannen sowjetische Ökonomen über neue Modelle der Wirtschaftsführung nachzudenken. In der DDR, Ungarn und der Tschecho­slowakei betrachtete man diese Diskussionen als grünes Licht für Wirtschaftsreformen, deren Ziel eine höhere Effizienz der Planwirtschaft war. Parallel dazu vollzog sich die zweite Phase der Entstalinisierung. In der Kulturpolitik gab es bemerkenswerte Lockerungen. Dies hatte durchaus Auswirkungen auf die DDR und die anderen kommunistischen Länder. Im Januar 1968 wurde in der Tschechoslowakei aus den vorsichtigen Reformen von oben eine gesamtgesellschaftliche Aufbruchs­bewegung, welche die Macht der alleinregierenden Partei hinwegzuschwemmen drohte.

Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 in Prag legten sich Resignation und gesellschaftlicher Stillstand wie Mehltau über das Sowjetimperium. Während der Perestroika, als in der Sowjetunion eine neuerliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte begann, sprach man von der Periode der Stagnation. Doch diese Bezeichnung scheint die traurige Wirklichkeit auf unzulässige Weise zu beschönigen. In den langen Jahren der Senilität Leonid Breschnews schritt ein gesellschaftlicher Fäulnisprozeß voran, der die seltsamsten Sumpfblüten gedeihen ließ. Hinter der brüchigen Fassade der alten Ideologie und der überkommenen Machtansprüche vollzog sich die Vereinigung der herrschenden Nomenklatura mit der frühkapitalistisch agierenden mafiosen Halbwelt der »Neuen Russen«.

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Soldat Soldat in grauer Norm 
Soldat Soldat in Uniform 
Soldat Soldat, ihr seid so viele 
Soldat Soldat, das ist kein Spiel 
Soldat Soldat, ich finde nicht 
Soldat Soldat, dein Angesicht 
Soldaten sehn sich alle gleich 
Lebendig oder als Leich

Soldat Soldat, wo geht das hin
Soldat Soldat, wo ist der Sinn 
Soldat Soldat, im nächsten Krieg 
Soldat Soldat, gibt es kein Sieg 
Soldat Soldat, die Welt ist jung 
Soldat Soldat, so Jung wie du 
Die Welt hat einen tiefen Sprung 
Soldat Soldat, am Rand stehst du

Soldat, Soldat (1963)
Von Wolf Biermann

Soldat Soldat, in grauer Norm 
Soldat Soldat in Uniform 
Soldat Soldat, ihr seid so viel 
Soldat Soldat, das ist kein Spiel 
Soldat Soldat, ich finde nicht 
Soldat Soldat, dein Angesicht 
Soldaten sehn sich alle gleich 
Lebendig oder als Leich

Wolf Biermann: Alle Lieder, S. 103-104. 
© 1991 bei Verlag Kiepenheuer

 

Nach Breschnews Tod am 10. November 1982 lösten einander verschiedene Greise im Amt des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei ab. Die Nachfolgekrise wurde zum Dauerzustand, und zu Recht wurde dies als Ausdruck der Unfähigkeit zu einer wirklichen Erneuerung empfunden.

Doch im März 1985 unterbrach der bis dahin vollkommen unbekannte und verhältnismäßig junge Michail Gorbatschow überraschenderweise die Herrschaftsfolge der Gerontokraten. Der Mann mit den freundlichen Augen und dem Muttermal auf der Glatze wurde in der DDR schnell populär — populärer, als er es in seiner Heimat jemals war. Die Reden klangen verheißungsvoll. Für manche DDR-Bürger schienen sich nun endlich die Träume von einem demokratischen und menschlichen Sozialismus zu verwirklichen.

Anderen erschienen die Redensarten von Demokratie und Umbau der Gesellschaft wie ein verwelkter Blumen­strauß einer längst vergangenen Liebe. Das Interesse an den Vorgängen in der Sowjetunion war jedenfalls ungeheuer groß. Wieder waren es vor allem Filme und Literatur, welche die Botschaft von »Glasnost« und »Perestroika« transportierten. Die beiden Begriffe gingen schnell in den deutschen Sprachgebrauch über. Besonders nach dem Verbot der sowjetischen Zeitschrift »Sputnik« wurden die deutschsprachigen Broschüren der sowjetischen Nachrichtenagentur Nowosti zum Geheimtip. Die alte Parole »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« erhielt einen neuen ironischen Sinn. 

16


Die Staatsmacht der DDR war bis in die Grundfesten verunsichert. Die Freundschaft zur Sowjetunion war bei allen ideologischen Wendungen und Verrenkungen immer die unabänderliche Größe gewesen. Nun stellte sich die SED-Führung unter Erich Honecker fast offen gegen die Sowjetführung. Was auch immer die Absicht der sowjetischen Reformer gewesen sein mag — Tatsache ist, daß sich die Russen dem Demokratisierungs­prozeß in der DDR nicht in den Weg stellten. So konnte sich die Bevölkerung 1994 ohne übergroßen Schmerz, aber auch ohne Haß von den abziehenden Truppen verabschieden.

Wir wissen heute mehr über die Sowjetunion als die Jungpioniere, die vor einigen Jahrzehnten gläubig und ergriffen Blumen­sträuße auf die Gräber der Sowjetsoldaten gelegt haben. Wir wissen Bescheid über Heldenkitsch und über die Ästhetik der Stalinzeit, die in ihrer Verherrlichung des Todes fürs Vaterland der Ästhetik der besiegten Nazis so verdächtig ähnlich war.

Aus der Distanz der Jahre ist deutlich: Die Jungpionierparolen der frühen Jahre waren so brüchig wie die Granitplatten der Monumente des Heldengedenkens. Hinter der Fassade aus Marmor und Granit zerfraß der Rost die Stahlträger, die das Bauwerk zusammenhalten sollten. Und doch bleiben die Ikonen der Kindheit lebendig. In all unserem Wissen um die historischen Zusammenhänge gedenken wir in Achtung und Trauer der sowjetischen Soldaten, die in einem Krieg gegen die faschistische Tyrannei starben und die hier in fremder Erde begraben liegen. 

Wir erinnern uns an die olivgrün uniformierten Fremden in unserem Land und gedenken mit Respekt jenes Rußlands, das 1989 über den eigenen Schatten der machtpolitischen Ambitionen und der Welterlösungs­ideologie sprang und sich der Einheit und Freiheit der Deutschen nicht in den Weg stellte.

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