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»Lebe wohl Deutschland« 

Das Ende der DDR und der Abzug der sowjetischen Truppen

 

 

Perestroika und DDR  

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Seit dem frühen Vormittag des 11. November 1982 verbreiteten die Nachrichtenagenturen die Meldung, daß der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Genosse Leonid Iljitsch Breschnew, am Vortage verstorben sei. Diese Nachricht traf zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt ein. In den Büros und Dienststellen der DDR stand schon der Sekt kalt, um pünktlich um 11.11 Uhr den Beginn der Faschingszeit gebührend zu feiern. 

Doch die Vorfreude auf das närrische Treiben wurde jäh getrübt. Wenigstens die Mitarbeiter der Partei und ihr nahestehender Einrichtungen mußten anläßlich des schweren Verlusts für die fortschrittliche Menschheit gedämpftere Töne anschlagen, diesmal auf Pappnasen verzichten und den Krim-Sekt schweigend trinken. Wie später die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes enthüllten, gab es beim Sender »Radio DDR« großen Ärger, weil er, als der immer ein klein wenig schnellere »Gegner« die TASS-Meldung bereits durchgegeben hatte, immer noch den bekannten Karnevalsschlager »Heute hau'n wir auf die Pauke« spielte. Kurz darauf stellte auch der DDR-Rundfunk sein Programm um und brachte Klaviermusik von Peter Iljitsch Tschaikowski.

In der zwei Jahrzehnte währenden Regierungszeit Breschnews hatte sich eine lähmende Agonie über das Sowjet­imperium gelegt, die man in den späten achtziger Jahren selbst in Moskau als »Periode der Stagnation« bezeichnete. Die Zeit floß bleiern dahin. Mit Breschnews drittem Nachfolger Michail Gorbatschow, der sein Amt 1985 antrat, sollte alles anders werden. Zunächst begann der Kampf gegen den Alkoholismus. Vor den Schnapsläden bildeten sich lange Schlangen, weil der Wodka knapp wurde. Es folgten Kampagnen gegen Arbeitsbummelei, Spekulation und Bürokratie. 

Doch bald schon waren ganz neue Töne zu hören. In den Zeitschriften erschienen Artikel, deren kritische Schärfe früher undenkbar gewesen wäre. Auch über die Stalinzeit wurde nach Jahren der Zurückhaltung wieder öffentlich geredet. Außenpolitisch schien ein echter Wille zur Abrüstung und zur Entspannung zu herrschen. Damit wandelte sich auch der innenpolitische Spielraum der Satellitenstaaten. Die SED-Führung nutzte diese neue Möglichkeit zur Verhinderung jeglicher Reformen. 


Damit befand sich die Führung im Gegensatz zu einem gewissen Teil der Mitgliedschaft, der sich von den Veränderungen in der Sowjetunion auch in der DDR frischen Wind versprach. Doch die SED-Obrigkeit gab die Parole aus: »Wer in der DDR von Perestroika spricht, meint die Konterrevolution.« Das war aus der Perspektive der Partei- und Staatsführung klarsichtig, illusionslos und realistisch. Im Unterschied zu den vielen ehrlichen »Gorbi-Fans« erkannte sie mit sicherem Instinkt die drohenden Gefahren. Das sozialistische Haus war längst zu baufällig geworden, um noch ernsthaft einen Umbau — nichts anderes bedeutet »Perestroika« — in Angriff nehmen zu können.

Während bisher die Haltung zum Großen Bruder stets der letzte Gradmesser für die »richtige ideologische Einstellung« gewesen war, erhielten nun die abgedroschenen Freundschaftsparolen einen ironischen Beigeschmack. Schüler und Studenten genossen die Hilflosigkeit der Staatsbürgerkundelehrer und Parteipropagandisten, wenn sie diese mit kritischen Äußerungen aus der sowjetischen Presse konfrontierten. Jugendliche trugen Gorbi-Sticker und Perestroika-T-Shirts und freuten sich über die gelungene Provokation, die ihnen die Obrigkeit schwerlich verbieten konnte. 

Es kam sogar zu einem kleinen, allerdings nur sehr kurzfristigen Wunder. Die sonst immer als lästige Pflichtübung betrachteten Russisch-Kurse erfreuten sich plötzlich ungewöhnlicher Beliebtheit. Mit Eifer übersetzte man, um nicht ausschließlich auf die deutschsprachigen Publikationen aus der Sowjetunion angewiesen zu sein, die »Prawda« und andere Zeitungen und trieb so manchen Funktionär mit einschlägigen Zitaten in die Enge. Eine Analyse des Ministeriums für Staatssicherheit vom 2. März 1989 beschäftigte sich mit diesen Aspekten und führte aus: 

»In zunehmendem Maße wird die Auffassung vertreten, daß sich die inneren Entwicklungsprobleme der sozialistischen Länder, vor allem auf ökonomischem Gebiet, nachhaltig negativ auf die internationale Ausstrahlungskraft des Sozialismus insgesamt auswirken ... Vorliegenden Hinweisen zufolge werden diesbezügliche Probleme von Studenten an Hoch- und Fachschulen in zunehmendem Maße auch im Rahmen des marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums aufgeworfen, wobei nach Meinung der Lehrkräfte diese Fragen immer zwingender gestellt werden.

Vielfach wird dabei auch die grundsätzliche Forderung nach mehr Raum für <offene Sozialismusdiskussionen> erhoben und die Auffassung vertreten, daß nur <über den wissenschaftlichen Meinungsstreit wirksame, den Sozialismus insgesamt voranbringende Lösungen erreichbar> seien. In nicht geringem Umfang schätzen Studenten ein, daß Lehrkräfte einem Meinungsstreit zu den aufgeworfenen Problemen und Fragen ausweichen, sich z.T. in Allgemeinplätze flüchten. Vielfach wird ihnen die Fähigkeit abgesprochen, überzeugend argumentieren zu können.«1)

Es wäre freilich grundfalsch, die damals weit verbreitete Berufung auf die Politik Gorbatschows lediglich als Provokation oder taktisches Kalkül zu betrachten. Für einen kurzen historischen Moment stellte die UdSSR für viele Menschen in der DDR das Reich der Freiheit und der Hoffnung dar. Dies trifft natürlich besonders auf die Intelligenz zu, zumal auf jene Vertreter, die der SED angehörten und immer noch eine demokratische Transformation des sozialistischen Systems herbeisehnten.

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Besonders das ansprechend aufgemachte, dem amerikanischen »Readers Digest« nachempfundene und für das Ausland bestimmte Monatsheft »Sputnik« bereitete den Parteifunktionären Sorge. Seine Auflage betrug in den achtziger Jahren insgesamt etwa eine Million Exemplare, davon 180.000 in deutsch. In der DDR kaufte man angesichts der Trostlosigkeit der heimischen Presselandschaft die hübsch illustrierte Mischung aus Reiseberichten, Kochrezepten und Kulturbeiträgen bereits vor Beginn der Perestroika gern. Hier fanden die Leser Berichte über die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der UdSSR, über die schrittweise Rehabilitierung einst verfemter Künstler und Schriftsteller, über die Enthüllungen der Verbrechen Stalins. Eine spannendere Lektüre konnte man sich kaum vorstellen, und jeder Besitzer eines Abonnements des Post­zeitungsvertriebs durfte sich glücklich schätzen, an der Quelle neuer Informationen zu sitzen. 

Am 19. November 1988 brachte das »Neue Deutschland« in seiner Wochenendausgabe eine winzige Meldung unter der lapidaren Überschrift »Mitteilung der Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen«, in der es hieß, die Zeitschrift »Sputnik« sei »von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Sie bringt keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, statt dessen verzerrende Beiträge zur Geschichte«. Den Anlaß bildeten zwei Beiträge im Oktoberheft, in denen Parallelen zwischen Hitler und Stalin gezogen worden waren.

Bereits vor dem 19. November 1988 hatten die Behörden die Auslieferung des ebenfalls für das Ausland bestimmten fremdsprachigen sowjetischen Periodikums »Neue Zeit« stillschweigend unterbunden. Die beschlagnahmte Nummer enthielt ein Theaterstück des bekannten Dramatikers Michail Schatrow. 

Doch die kraftmeierische Pose des öffentlich verkündeten Verbots einer Publikation aus der UdSSR, verbunden mit der duckmäuserischen Verlogenheit der äußeren Form seiner Bekanntmachung löste einen Proteststurm aus. Über die Behauptung, der Postminister trüge die Verantwortung für die Absetzung des »Sputnik« von der Liste des Postzeitungsvertriebs, konnte jeder, der die Machtstrukturen des SED-Staates kannte, nur lachen. Durch das große Interesse der Bevölkerung rückten die Auswirkungen der sowjetischen Reformen verstärkt in das Fadenkreuz der Stasi-Observation. Eine von Erich Mielke unterzeichnete, für ausgewählte Persönlichkeiten der Parteispitze bestimmte Zusammenfassung besonderer Vorkommnisse anläßlich der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 hielt insgesamt elf Einzelfälle für erwähnenswert, darunter die »Ablage mehrerer Broschüren des Verlages der Presseagentur <Nowosti> mit dem Titel <Gesetzeskraft statt Beamtenmacht> im Vorraum eines Wahllokals in der Hauptstadt der DDR, Berlin«.2) Solche Vorfälle verdeutlichten die ganze Absurdität der Situation. 

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Während des Gorbatschow-Besuchs anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR am 
7. Oktober 1989 wurden die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen der KPdSU- und der SED-Führung deutlich.

Schon allein die öffentliche Präsentation Gorbatschows als »feindlich-negative« Tätigkeit fand ihren Niederschlag in den Akten des MfS. Sogar am 1. Mai 1989 wiederholte sich das makabre Schauspiel, daß Stasi-Mitarbeiter Bilder des Generalsekretärs der KPdSU abrissen, während nicht weit entfernt die offiziellen Parolen dem »unverbrüchlichen Bruderbund mit der Sowjetunion« huldigten.

 

Die Perestroika-Zeit brachte eine letzte große Blüte der Kremlastrologie. Endlich gab es alles das, wovon westliche Sowjetspezialisten immer geredet und mangels Quellen teilweise phantasiert hatten: Richtungskämpfe, Fraktionen in der Parteiführung, Machtgerangel, Reformideen und Veränderungen. Nach Jahren der bedrückenden Windstille wehten nun wahre Stürme über das Riesenreich. Gorbatschows Politik hatte eine Lawine losgetreten, welche die Weltmacht Sowjetunion zu vernichten drohte. Nicht nur die sozialistische Gesellschaftsordnung, die Macht der Nomenklatura und das sowjetische Hegemonialsystem gerieten in Gefahr, sondern auch der territoriale Bestand Rußlands, so wie er seit dem 16. Jahrhundert zusammengefügt worden war, durch den Wiener Kongreß im Jahre 1815 seine größte Ausdehnung erfahren hatte und über die Stürme von zwei Weltkriegen, Revolution und Bürgerkrieg von den Sowjetherrschern seit Lenin im Kern erhalten wurde.

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Welche Haltung nahm die Sowjetarmee zu dieser Entwicklung ein? Sie war doch neben der Partei, die sich Ende der achtziger Jahre ganz offensichtlich in einem desolaten Zustand befand, die zweite Hauptstütze des Systems. Die Armee war in der Sowjetunion Hort des Patriotismus, Vertreterin des russischen Großmachtdenkens, Hüterin einer Tradition, die nicht erst 1917 begann, sondern in die Tiefen der Geschichte zurückreichte. Die russische Armee war neben der Beamtenschaft seit Jahrhunderten das Knochengerüst jenes Vielvölkerstaates. Und die Armee schließlich war der Stolz des Landes. 

Rußland definierte sich historisch durch seine Abwehrkämpfe gegen fremde Eroberer: Tataren, Ordensritter, Napoleon, die Japaner, den deutschen Kaiser, Hitler und schließlich die US-Imperialisten. Alle russischen Eroberungen waren vom Bestreben geleitet, die Verteidigungslinien nach vorn zu verschieben, sich gegen Überraschungen zu sichern. Der russische Soldat war — ganz im Gegensatz zum russischen Beamten — im Volksmärchen, in der Literatur, in der Kunst immer eine positive Figur: stark und gutmütig, tapfer, aber nicht grausam, gehorsam, aber voll echter Liebe zum Vaterland. 

Wohl kaum ein Sowjetbürger zweifelte an der Notwendigkeit einer starken Armee. Pazifismus und Wehrdienstverweigerung, die übrigens streng bestraft wurde, gab es nur bei religiösen Sektierern. Erst der Afghanistankrieg ließ manche Menschen an den liebgewordenen Vorstellungen von russischer Größe und Völkerbeglückung zweifeln.

Es schien kaum denkbar, daß die Sowjetarmee widerstandslos den Zerfall des sowjetischen Großreiches akzeptieren sollte. Das Militär, insbesondere der Generalstab hatten in der Sowjetunion eine Stellung erworben, die mit der Rolle der Streitkräfte in westlichen Demokratien nicht vergleichbar war. Politische Entscheidungen, wie der Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979 — möglicherweise bereits die Intervention in der Tschechoslowakei im August 1968 —, waren ganz wesentlich von militärstrategischen Erwägungen bestimmt. Politische Beobachter sprachen regelrecht von einem militärisch-industriellen Komplex in der Sowjetunion und rekurrierten damit bewußt auf einen von linken Kritikern für die US-amerikanischen Verhältnisse geprägten Begriff. Gerade Breschnew und seine Berater sollen stark unter dem Einfluß der Militärführung gestanden haben.

Gorbatschow als das Ziehkind des nach nur kurzer Amtszeit verstorbenen Generalsekretärs und langjährigen KGB-Chefs Andropow soll weit stärker auf den Geheimdienst gebaut haben. Es greift sicher zu kurz, die Perestroika als einen Machtkampf zwischen KGB und Sowjetarmee aufzufassen. Sicher ist, daß Gorbatschow der erste Generalsekretär der Nachkriegsgeneration war. Breschnews politische Vorstellungen waren noch immer vom Sieg über den Faschismus geprägt. Er sah sich gerne in der Rolle des ordensgeschmückten Offiziers, hatte seine Kriegserlebnisse in einem unter seinem Namen veröffentlichten literarischen Werk beschrieben und ließ die Bruchteile von Sekunden, in denen die Filmkameras 1945 während der Siegesparade in Moskau auf ihm geruht hatten, mit allen Mitteln der Filmtechnik verlängern und im Fernsehen zeigen.

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Durch Gorbatschows Reformpolitik sah die sowjetische Armee ihren Einfluß schwinden.

 

Gorbatschow dagegen hatte nicht einmal beim Militär gedient, sondern war gleich von der Universität in den Apparat gegangen. Als Funktionär im Nordkaukasus gehörte auch der Prominentenkurort Mineralnye Wody zu seinem Machtbereich. Dort lernte er die führenden Männer der Sowjetunion kennen, die ihn 1980 als Sekretär für Landwirtschaft ins Politbüro holten. Damit war er für das ewige Sorgenkind der Sowjetwirtschaft verantwortlich. Das brachte ihn dem Leben der einfachen Sowjetmenschen näher und machte ihn weniger von traditionellen militärstrategischen Prämissen abhängig als jene Männer, deren prägende Erlebnisse der Krieg und der Sieg über Deutschland gewesen waren.

Gorbatschow begann 1986 gegen den Widerstand führender Militärs die horrenden Militärausgaben zu reduzieren. Ohne diese Umschichtung der Mittel schien eine Reform der Sowjetgesellschaft kaum möglich. Zugleich drängte er den Einfluß der Militärs auf die Außenpolitik zurück. Fast die gesamte Militärführung wurde ausgetauscht und verjüngt.

Den neuen Männern der Armeeführung wurde innerhalb der politisch maßgeblichen Parteihierarchie eine weniger einflußreiche Position als ihren Vorgängern zugebilligt. Der neue Verteidigungsminister Dimitri Jasow erhielt lediglich die Position eines Kandidaten des Politbüros, blieb also in der zweiten Reihe der Macht. Gorbatschow setzte auf Entspannung mit dem Westen, um im eigenen Land freie Hand für Wirtschaftsreformen zu bekommen. Er wollte

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