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Geschichte eines Manuskripts

Einführung von Adolf Muschg  

 

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Der Autor dieses Buches ist zweiunddreißig Jahre alt geworden. Er lebte noch, als ich Anfang Oktober sein Manuskript von einem befreundeten Buchhändler erhielt, mit der Bitte um Prüfung, ob es — der Autor wünsche es dringend — veröffentlicht werden könne. Die Lektüre wurde zu einer Prüfung anderer Art, einer für mich selbst. 

Ich schrieb dem Autor, ich stünde, wie selten zuvor, unter dem Eindruck, ein notwendiges Manuskript gelesen zu haben; unter diesem Eindruck falle mir auch der Schein kritischer Objektivität schwer. Ich bemühe mich jetzt nicht weiter darum und schicke das Manuskript einem Verleger weiter, dem ein ruhigeres Urteil zuzutrauen sei, und allenfalls auch eine Veröffentlichung. Ich fühle mich nur verpflichtet, den Autor an Rücksichten zu erinnern, die das Manuskript nicht zu nehmen brauche, die familiär Betroffene aber vom Buch erwarten würden.

Seine schriftliche Antwort — er hatte sie damals auch bereits testamentarisch bei Freunden hinterlegt —: er sei zur Wahl eines Pseudonyms bereit. Sonst sehe er keine Wahl: das Manuskript müsse heraus. Der Brief »Fritz Zorns«, das einzige Zeugnis unserer Bekanntschaft, war klar bis ins Schriftbild hinein; dieses hatte das hoffnungslos Ordentliche, das ich (zu spät) bei einem Freund deuten gelernt hatte, der sich unlängst das Leben nahm: als Ausdruck extremer Not. — Zurück von einer Amerika-Reise, auf der mich die Erinnerung an Mars verfolgt hatte, bekam ich vom Verleger zögernden Bescheid: entschieden sei noch nichts, aber mancherlei Bedenken überwögen. 

Das Nächste erfuhr der Verleger vom Psychotherapeuten »Fritz Zorns«: die Antwort vertrage keinen Aufschub mehr, wenn sie den Autor noch lebend erreichen solle. Er liege im Spital, sein Zustand sei kritisch. Die Versuchung der Notlüge meldete sich und wurde überwunden: hier verbot sich nicht nur die »rücksichtsvolle«, sondern jede Gefälligkeit. Der Verleger teilte dem Autor sein Ja schriftlich mit; er sandte den Brief nicht expreß, um dem Sterbenden den Gedanken an Eile zu ersparen; dieser Takt fiel ins Leere.

Denn als ich am 2. November im Spital anrief, um Z. meinen Besuch anzukündigen, erfuhr ich, daß er an diesem Morgen gestorben war. Einige Stunden quälte mich und andere der Gedanke, die Nachricht — die einzige, auf die er noch freudig warten konnte — habe ihn verfehlt. Aber er hat sie erhalten. Sein Psychotherapeut, der sie ihm am Vorabend des Todes noch bringen konnte, bezeugt, daß er sie wahrgenommen hat.

 

  Verwandtschaften  

 

Ohne dem Autor begegnet zu sein, erkannte ich seine Herkunft, seine Umwelt, seinen Bildungsweg, seine Lebenserwartung; die Nähe dieser Biografie zu meiner eigenen bestürzte mich. Ich wurde, zehn Jahre früher, an derselben »Goldküste« geboren. Ich hatte Z.s Schulen besucht, bis und mit Universität; ich hatte an einem Zürcher Gymnasium unterrichtet, wie er. Ich war — trotz vieler Beweise des Gegenteils — ein schlechter Reisender, wie er; auch mich hat der Weg, als mir das Tödliche meiner Jugend-Erwartung begegnet war, in die Psychoanalyse geführt. 

Freilich: in Z.s Bericht war das Tödliche schon keine Metapher mehr; es war ein medizinischer Befund mit einem volkstümlich-schauerlichen Namen: Krebs. Daher das Bestürzende der Lektüre. Ich erkannte dies Leben wieder; zugleich suchte ich gute Gründe, mich von dem wohlbekannten Unbekannten, der sich da Fritz Zorn nannte, abzusetzen.

Es gab auch Unterschiede. Mein kleinbürgerliches Milieu hatte nicht so grausam dicht gehalten wie sein privilegiertes. 

Zwar war ich erst recht in Furcht und Zittern gehalten worden vor den Normen, nach denen seine Jugend geregelt war. Aber bei mir war ihr System früher geborsten und hatte, als ich jeden Tag um meine soziale Qualifikation zittern mußte, ihr Scheinhaftes enthüllt — noch lange nicht für mein Bewußtsein von damals, aber, de facto, für mein Verhalten. Ich hatte schon als Kind lernen müssen, mir neben der brüchig gewordenen »rechtsufrigen« Existenz eine andere zu konstruieren, in Wort, Schrift, Phantasie und allmählich auch in Wirklichkeit. Z. begegnete dieser Alternative erst, als er sie nicht mehr zu leben vermochte. Ich war — anders als er — ein sogenannter guter Turner gewesen, ein Zwangs-Motoriker, genau gesagt; indem ich meinem Körper in jeder Schulpause einmal davonjagte, fühlte ich ihn doch, wenn ich auch — so wenig wie Z. — ein brüderliches Verhältnis zu ihm entwickelte.

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Z.s Kontakt­hemmungen, ich kannte sie auch. Aber ein dunkles Gefühl hatte mich doch immer wieder gezwungen, damit die Flucht nach vorn anzutreten; auf dieser Flucht bin ich, anders als er, auch der Sexualität begegnet, in unglücklichen und schuldbewußten Formen zunächst, aber dabei brauchte es nicht zu bleiben. Ganz unvorstellbar war mir Z.s Apathie gegenüber Zeitungen, gegenüber jeder Kultur-Neuigkeit, Jazz, der letzten Single: die Mauern um mein bißchen Eigenleben mochten nicht weniger hoch gewesen sein als bei ihm, aber ich benützte jede Lücke, sei es zum Ausbruchversuch, sei es um das Neueste zu mir herein­zuzerren. Die doppelte Moral hatte mich wenigstens gelehrt, mein Heil nicht von mir selbst zu erwarten, ich wußte, daß ich mir nicht genügte. Nicht die Starre war mein Problem, sondern der Krampf: die Angst, etwas zu versäumen und beim Gutmachen meiner Schuldgefühle (dem einzigen, dem wahren Kleinbürger-Kapital) nicht ganz vorn zu sein. Diese Angst vor dem Versäumnis brauchte mir nicht erst, wie Z., mit einem klinischen Befund zusammen aufzugehen. Sie begleitete mich als Lebensform.

Und vielleicht hat sie mir (mit der Auflage der Über-Forderung) immer wieder eine Zukunft offengehalten. Denn daß ich mir eine Schwellung an meinem Hals ohne jene Angst, »etwas zu versäumen«, hätte durchgehen lassen, das wäre nicht zu denken gewesen. Was mich mein Puritaner-Haushalt nicht lieben gelehrt hatte — meinen eigenen Körper —, mußte desto wachsamer beobachtet werden. Keine Stelle in Z.s Manuskript habe ich verständnisloser gelesen als die, wo er das todbringende Symptom erst einmal als Metapher behandelt (»unvergessene Tränen«), statt es beim ersten Verdacht radikal-medizinisch behandeln zu lassen. In der Tat hätte ihm, wäre er weniger nobel gewesen, diese Angst vielleicht das Leben gerettet.

Er, der Sohn aus behütetem Haus, war nicht dazu erzogen, auf Versäumnisse zu achten — es hatte schon zuviele davon gegeben. Vielleicht wußte er es aber auch zu gut — ES in ihm wußte, was ihm am Halse zu blühen begann, und ES war heimlich im Bunde damit. Denn der Anfang des akuten Sterbens bezeichnet in dieser Biografie ja den erstmaligen, schmerzhaften Einbruch wirklichen Lebens. 

Die melancholische Wahrheit, wonach wir nur um den Preis des Lebens die Kunst lernen, das Leben zu genießen hier zieht sie sich auf einen einzigen, glühenden Punkt zusammen und hätte die Kraft, Wunder zu wirken, wenn sie nicht den Stoff mitverzehrte, an dem sich das Wunder hätte zeigen können. Wahrheit ist kein Trost für entgangenes Leben — kein Brennen der Welt vermag das Blühen zu ersetzen.

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    Ist das noch Literatur?  

 

Dies ist das Lebenswerk eines Sterbenden. Dennoch: die Frage, ob es auch Literatur sei, soll darum nicht mit einer moralischen Erpressung beantwortet werden. Es ist eine ästhetische Frage, und als solche besonders ernst zu nehmen bei einem Dokument, dessen Problem die veruntreute Sinnlichkeit, die verlorene Wahrnehmung ist. Das Urteil über den literarischen Wert muß sich neben einem Todesurteil zeigen dürfen, ohne erniedrigende Rücksichten zu nehmen — und sehr leicht wird es dann gerade dem teilnehmenden Leser nicht fallen.

Gewiß doch, Mars ist Literatur, insofern hier ein gebildeter, die Sprache sehr wohl handhabender Mensch schreibt — ein Mensch auch —, der die Pointe nicht verschmäht, wo sie sich bietet, und sie gelegentlich forciert bis zur reinen Sentenz: »Ich war gescheit, aber ich konnte nichts.« — »Ich finde, jedermann, der sein ganzes Leben lang lieb und brav gewesen ist, verdient nichts anderes, als daß er Krebs bekommt« — »Geben ist viel, viel weniger selig denn Nehmen.« — »Meine Lebensgeschichte bedrückt mich zu Tode, aber sie leuchtet mir ein.« Das ist schlagend geistvoll und läßt die lateinische Erziehung des gelernten Romanisten erkennen, den Willen zur Klarheit unter Feuer.

 

Wer sich das letzte Elend nur herausgeschrien denken kann, wird hier auch Rhetorik finden, selbst Deklamation. Das Buch ist noch einmal »Literatur« im Sinn jener prekären Noblesse, die die Nähe der Guillotine zusammenbestehen läßt mit der Brillanz des Alexandriners, wie in den Gedichten Andre Cheniers; oder das Bonmot mit der Verzweiflung, wie in »Dantons Tod«; oder das blendende Kalkül mit der inneren Auszehrung, wie in allen Dramen Schillers.

Man kann an diesem Buch lernen (im Deutschen tut es zu lernen not), daß diese Verbindung nicht Lug und Trug zu sein braucht, sondern gedeckt sein kann durch den Einsatz der ganzen Person. Kurzatmige Moralisten können hier etwas erfahren über den Ursprung der Rhetorik aus dem Geiste der Tapferkeit.

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Dennoch läßt Mars, als Literatur betrachtet, durchaus zu wünschen übrig. Es ist nicht nur ein Buch ohne Anekdote; es ist ein Buch, das an entscheidenden Stellen auf den »erlebten« Beleg, auf die tragende Einzelheit verzichtet. Ein Beispiel: wir erfahren wohl, daß sich Z.s Eltern einmal (ein einziges Mal) gestritten haben; wir erfahren nicht — obwohl es von höchstem sachlichem, also auch literarischem Interesse wäre — worüber. Ein anderes Beispiel: wir vernehmen, daß der Kranke Lehrer war. Spanisch- und Portugiesischlehrer — in der Tat unterrichtete er bis kurz vor seinem Tod —; wir vernehmen nirgends, nicht mit einem Wort, was ihn die Schule gekostet hat, was ihm die Schüler in dieser kritischen Zeit bedeutet haben mögen. Für solche Realbewegungen fehlt das soziale Auge, fehlt die Ruhe, fehlt — man muß es deutlich sagen — gerade die sinnliche Bereitschaft der Sprache. Wo sie nicht blendet, wirkt sie blaß: sie muß ihre Farben von immer demselben Feuer borgen, das sie verzehrt. Sie hat eine eigentümliche Kälte nötig, um darin zu bestehen.

In der Tat gehört es zur tragischen Ironie — unliterarisch gesprochen: zur Glaubwürdigkeit dieses Buches —, daß es selber das Versäumnis dokumentieren muß, das es beklagt und denunziert; daß es das Kunst-Werk eines Beziehungslosen, ein im höchsten Sinn autistisches Dokument ist. Die Kunst kann nicht hergeben, was das Leben schuldig blieb: Reichtum der Körperreflexe, ein abwechslungsreiches Verhältnis zu sich und der Welt, das Spiel mit einem Du, die Gabe, einem Leser unwillkürlich zu Herzen zu gehen.

Hätte Z. solche Talente gehabt, er hätte wohl nicht so jung zu sterben — er hätte jedenfalls sein Leben nicht so zu verwerfen brauchen. Hier ist not-gedrungen ein anderer Kunstwille am Werk; er zeigt nichts mehr im Licht des Zartgefühls, der Sehnsucht oder Erinnerung. Er denkt nicht daran, den Objekten der Erkenntnis ihre Schärfe zu nehmen. Die einzige Gnade, die diese Kunst gewährt (wenn es eine ist), liegt eben in der abstrakten Plastik ihrer Schreck- und Angstbilder. Zu ihnen gefriert die Erinnerung an körperliches Glück.

Dennoch wäre es unrecht zu sagen, dieses Buch habe kein Gegenüber mehr als den Tod. Es wendet sich vielmehr als Ganzes dem Leser zu, freilich ohne einen Hauch von Intimität oder gar Anbiederung. Die verschwiegene Du-Form dieses Essays ist das Plädoyer. Der Anwalt wirbt um Gerechtigkeit für einen Verhinderten: sich selbst.

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   Monsieur le vivisecteur    

 

Dieser Text nimmt keine Rücksichten; er scheint keine zu verlangen. Das Streng-Abweisende seines Stils rührt aus dem Pathos eines Subjekts, das sich selbst als Objekt vorstellt; als Objekt einer höchst privaten, dabei überpersönlichen Wissenschaft. Es ist etwas wie Hohn und Rache in dieser Pose; Rache an der lebenslänglichen Unempfindlichkeit der Seele, die jetzt, wo der physische Schmerz sie zu beleben beginnt, unter das Messer der Erkenntnis gelegt wird und dazu stillhalten muß, als fühle sie noch immer nichts.

Wir wissen, wie sehr der ästhetische Schein dieser Anaesthesie trügt, wie zerbrechlich das rekonstruierte Gebäude der Seele ist, das nur sein Demonstrations-Zweck noch aufrecht erhält. Aber eben weil diese Demonstration, diese Scheinobjektivität, so sehr gewollt ist, verlangt sie, respektiert zu werden. Z. will sich als Fall (es ist sein Letzter Wille). Er führt sich nicht allein als Person, sondern als Muster vor, daher das seltsam Exemplarische seines Stils. Die Haltung, in der er gesehen sein will, ist nicht diejenige der Not, sondern diejenige der einzigen Tugend, zu der die Not noch werden kann: des Anatomen in eigener Sache. Wir sollen vergessen, daß es sich nicht um ein post mortem, sondern um ein ante mortem, also um eine Vivisektion handelt. Wir sollen vielmehr von den extremen Versuchsbedingungen profitieren. Das Buch beansprucht einen folgenreicheren Affekt als unsere Teilnahme: unser Interesse.

Ich meine, daß der Erkenntniswert dieses Dokuments ungewöhnlich ist: der psychologische wie der medizinische (um diese prekäre Arbeitsteilung der Wissenschaften noch einmal mitzumachen). Z. beschreibt seine Kindheit als Fallstudie eines sozialen Milieus, dessen guter Ton darin besteht, Gegenwart zu vermeiden; das den Mechanismus des Verschiebens zum Lebensstil perfektioniert hat, um jeden Augenblick mit Harmonie aufwarten zu können — oder, da Harmonie im realen Sinn nicht möglich ist (insofern seelische Arbeit, Vermittlungs- und Versöhnungsaufwand dazugehören würde), mit der Fiktion von Harmonie.

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Ein feines Haus führen, das bedeutet: Probleme als stillos behandeln; in der Herausforderung durch Tatsachen eine Unhöflichkeit sehen; besonders aufsässige Realitäten entweder auf »morgen« vertagen oder an ein gründlicheres Studium (durch andere) verweisen. 

Es bedeutet: den totalen Dispens vom eigenen Standort; die diplomatische Nichtanerkennung anderer Standorte; die kunstvolle Verbindung eines unverbindlichen Ja mit einem unaus­gesprochenen Nein; die Herstellung einer Topographie ohne Licht und Schatten, definiert durch die Abwesenheit der Probleme, die — regen sie sich doch — ins Jenseits des »Schwierigen« oder »Unvergleichbaren« ausquartiert werden. Es bedeutet: sich für den Verlust eigener Körperlichkeit schadlos halten durch das exotische (aber: dezente) Schauspiel fremder Körper. Es bedeutet: sich — unter Vermeidung aller Präsenz — im Wortsinn die Zeit zu vertreiben bis zum Tod. Auch der Tod ist ja, bis auf weiteres, der Tod der anderen.

In diesem Gespensterhaus, wo man Patiencen legt und Berührungen vermeidet, Menschen »komisch« findet und Sachen »schwierig«, dämpfen sich Zeit und Raum unter der Magie des Rituals zur völligen Gefühlsstille. Man kann eine Kindheit haben, ohne Kind zu sein; eine Jugend, ohne jung zu sein; erwachsen werden ohne Gegenwart; die Leute grüßen, ohne zu leben. Dabei weiß man nichts von einem Verlust, es ist ein völlig schmerzloser Zustand. Denn Schmerz wäre ja ein Gefühl; Gefühle aber <trägt> man nur, man lebt sie nicht, man reagiert nicht darauf. Man hat sie nicht nötig in diesem Kreis: wer fürs Zuschauen bezahlt, braucht schließlich nicht als Schauspieler herumzuhüpfen. Bezahlt womit? 

Geld ist das wenigste, und doch schweigt man davon, weil es sich von selbst versteht. Von allem, was sich nicht von selbst versteht, schweigt man erst recht: von der Sexualität zum Beispiel, die nach bewährtem Muster weggezaubert wird: erst steht sie in weiter Ferne, dann hat man sie anständiger­weise hinter sich zu haben: nur hier und jetzt gibt es sie nie. Zuschauerkultur. 

Die Ahnung, soviel Lebens-Art könnte in aller Stille mit dem Leben bezahlt sein, schleicht sich langsam in Z. s Jugend ein und beginnt sie zu vergiften, zunächst in Form eines psychologischen Verdachts: wie, wenn ich ändern so lächerlich erschiene, wie sie mir? Wieviel Schrecken muß die Welt verbergen, da man ihr offenbar nur mit unerschütterlicher Artigkeit begegnen kann? Wenn über alles, was mich betrifft, geschwiegen werden muß: wie ungeheuerlich mag die Schuld sein, die ich eigentlich gutzumachen hätte?

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Der Halbwüchsige geht unter seinesgleichen mit dem Gefühl umher, er habe »eine tote Krähe am Hals«: eine unheimlich prägnante Vor-Zeichnung seines terminalen Symptoms. Hier steht es noch für die Auszeichnung, die kein Mensch ehrlich verdient haben kann: vom Leben ausgenommen zu sein. Während des Studiums, des nächsten Lebensaufschubes, dämmert es ihm unwiderruflich auf: was mir geschieht, ist nicht das Rechte; es ist etwas nicht richtig mit mir. Die Verschiebung des Lebens, die mir angewöhnt wurde, die ich mir als eigene Leistung angewöhnt habe, ist eine Krankheit zum Tode.

 

Wir sehen mit Beklemmung die Negation wahrer Bedürfnisse sich vergegenständlichen an Körper und Seele des jungen Menschen. Zuerst im Schauen einer unerklärlichen Schwermut, einer allgemeinen Herab­stimmung dessen, was die ältere Medizin »Lebensgeister« genannt hat. Das Realitäts-Defizit (angesammelt in Jahren scheinbarer Harmonie und trügerischen Privilegs) sucht einen Ausweg aus dem Totschweigen der Kindheit und findet zunächst nur diese summarische Sprache der Traurigkeit. Sie kommt der Realität wenigstens insofern näher, als sie ihr Elend aufdeckt. 

»Depression« nennt die Schulpsychiatrie diesen Zustand, und wenn sie um das auslösende Moment verlegen ist, setzt sie das Adjektiv »endogen« hinzu. Sie könnte lernen, sich deutlicher zu fassen, nähme sie Z.s Biografie als Anamnese beim Wort. Nur überschritte sie dann die Grenzen der Zunftweisheit und also ihre Begriffe von Kompetenz. Wohin käme sie, wenn sie gerade das Gelingen einer Lebensleistung (nämlich das Verschwinden eines menschlichen Körpers im gesellschaftlichen Anstand) als neurotisch, als Ursache der seelischen Krankheit betrachten müßte?

Nachdem sich. Studienerfolg und Schulerfolg hin oder her, die Depression zur Resignation verdichtet hat, sucht Z. einen Therapeuten auf, bei dem die leibseelische Einheit besser aufgehoben ist als bei den Fachärzten. Die Behandlung beginnt Folgen zu zeitigen (zum ersten Mal erlebt Z., daß was er tut, Folgen hat), aber zunächst scheinen sich die Folgen gegen ihn selbst zu richten, und zwar in der schärfsten, ja katastrophalen Form. Die Einsicht in das Still-Zerstörerische seiner bisherigen Lebensform löst die offene Zerstörung aus und droht mit der Fiktion auch die Basis aller Hoffnung zu zerstören.

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Zwar führt die Analyse in der Tat den Beweis, daß die leibseelische Einheit, die eine gute Erziehung weggeblendet hatte, eine überwältigende Tatsache und unauflösbar ist. Aber diese Unauflösbarkeit einsehen, heißt jetzt soviel wie: an der Heilbarkeit der Krankheit verzweifeln; denn jene Einheit hat sich inzwischen eingestellt im Zeichen ihrer Zurücknahme, der Zurücknahme der ganzen Existenz. Der niederschmetternde Name für diese Zurücknahme lautet: Krebs.

War es an dem, daß Z., seinen Befund in der Tasche, beim Analytiker Zuflucht suchte vor der Verzweiflung? Es war wohl vielmehr an dem, daß der körperliche Befund, begrenzt wie er schien, der Seele so viel Entlastung verschaffte, daß sie sich der Analyse jetzt gewachsen fühlte. »Von außen« dürfte es schwer zu fassen sein, daß der Name Krebs für den Patienten zunächst nicht mit einem Todesurteil, sondern gerade mit einer Hoffnung zusammenfiel. Das lebensfeindliche Prinzip schien, indem es ihn jetzt offen angriff, endlich selbst einen Angriffspunkt zu bieten. Im Willen zu diesem Gegen-Angriff konnte er sich durch die Psychotherapie bestärken lassen. Zum ersten Mal im Leben hatte dieser Beziehungs-invalide einen klaren Feind; dieser Feind konnte jetzt als Idealpartner an die Stelle aller vermißten Kontakte treten. Es schien noch nicht ganz fatal, daß dieser Feind ihm in Gestalt des eigenen betrogenen Körpers erschien.

 

    Krebs    was ist das?   

 

Dieser Traktat könnte mehr sein als ein Beitrag zur Psychologie einer tödlichen Lebensform. Es könnte ihrer Behandlung weiterhelfen und nützlich sein für das Verständnis einer Krankheit, die in Todesanzeigen »unheimlich« und »heimtückisch« genannt wird; die die Schulmedizin am liebsten gar nicht beim Namen nennt. Der Krebs hat den Erfindungen dieser Medizin bisher in einer Weise gespottet, die den Verdacht nahelegt, diese Krankheit sei auf allopathischer Basis ein für allemal nicht zu behandeln; sie setze ein neues, revolutionäres Verständnis des Zusammenhangs von Gesundheit und Krankheit voraus. Krebs ist eine Krankheit in Anführungszeichen, die auf verwirrende Weise auch keine ist, sondern ein asozialer Prozeß der biologischen Norm. Ein unter gewissen Bedingungen wünschbares, ja lebenswichtiges Zellwachstum hört eines Tages auf, sich an die Grenze des Wünschbaren zu halten, bricht aus dem »gesunden« Schema aus und infiziert das eigene System mit einer Anarchie, die zum Tode dieses Systems führt.

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Wer gibt das Signal zu dieser Entwicklung, die in jedem von uns (daher das »Heimtückische«) zu jeder Zeit möglich ist? Setzt dieses Wachstum zum Tode eine heimliche Disposition, ja das Einverständnis des betroffenen Organismus voraus? Haben wir es am Ende nicht mit einem Anschlag »von außen«, sondern mit einer unbewußt gesteuerten Entwicklung »von innen« zu tun? Die ältere magisch-alchimistische Heilkunde, die in einigen ketzerischen, aber merkwürdig florierenden Ablegern weiterlebt (und in Gestalt exotischer Therapien wieder auf uns zukommt), hat Gesundheit niemals als eine Größe per se, sondern als ein Gleich­gewichts­verhältnis gesehen, als labile Balance des materiellen und geistigen Stoffwechsels, als ein bestimmtes Kommunikationsniveau zwischen Innen und Außen, kurzum: als Harmonie. Woraus zu folgen scheint, daß Krankheit identisch ist mit Ungleichgewicht, mit gestörter Kommunikation; daß sie demnach nicht als Ursache, sondern als Folge einer Disharmonie beschrieben und behandelt werden muß. Man »wird« nicht krank, außer man »ist« es schon; außer man lebt in einer chronischen Unverhältnismäßigkeit zur eigenen Umgebung und daher auch zu sich selbst.

Das wahrhaft Beunruhigende am Krebs ist die Tatsache, wie getreu er bis ins physiologische und psychologische Detail diese Deutung von Gesundheit und Krankheit zu bestätigen scheint. Er weist jede Therapie ab, die von einem weniger radikalen Verständnis der Zusammenhänge ausgeht; die technisch-radikale Behandlung mit Stahl und Strahl ist, wie die Resultate beweisen, ein durchaus unzureichender Ersatz. Wer nur den Krebs erforscht und behandelt, erforscht und behandelt auch ihn nicht recht — das müßte die allgemeine Folgerung aus der Unheilbarkeit dieser speziellen Zivilisationskrankheit sein; eine Folgerung, die freilich nicht nur im wirtschaftlichen Sinn sehr kostenintensiv wäre.

Der Gedanke müßte unser Menschenbild umwälzen, daß wir an nichts so häufig sterben, wie an unserer Unfähigkeit, mit den Bedingungen der selbstgeschaffenen Zivilisation in Frieden zu leben (jenem Frieden, der den Konflikt auslebt, statt ihn verdrängen zu müssen). Am Fall Z. wäre zu studieren, was der Krebs eines Individuums aller Wahrscheinlichkeit nach ist: ein Protest gegen die objektiv herrschenden Bedingungen des Unlebens; ein Signal zum Tode, das sich der so verkürzte Organismus selber gibt, indem er, für sich allein, und am Ende gegen sich, ein kompensierendes Wachstum ausbildet.

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Es genügt freilich nicht, im Krebs einen individuellen Befund des Lebens-Unwillens, einen Akt unbewußter Zurücknahme zu sehen (obwohl der individuelle Therapeut da ansetzen muß, wenn er den tödlichen Prozeß früh genug umkehren will). Der Krebs ist ein Urteil über die Gesellschaft, die Unterdrückung nötig hat und Gefühllosigkeit nötig macht. Der Hinweis auf »Moskau« — den stereotypen Ort, wo es noch schlechter zu leben ist — bezeichnet, als Alibi, nur die mangelhafte Präsenz, das Unwirkliche der eigenen Verfassung.

Hier stellt der keineswegs »linke« Z. den genauen Zusammenhang her zwischen Lebensdefizit und Antikomm­unismus, Misere und Aggression. »Moskau« wird zum Decknamen dafür, daß wir uns bedroht fühlen müssen, um überhaupt jemand zu sein.

Im Krebs entwickelt sich diese Disposition nun zur wirklichen Bedrohung. Im Krebskranken ist schuldig gesprochen, was uns alle am Leben hindert. Im Nachweis dieses Zusammenhangs, geführt mit den letzten Reserven eines gesunden Aufbegehrens und besiegelt mit dem Tode, liegt die bewegende Kraft dieses Buches. Könnte die Prämisse seines Handelns (die Unversöhnlichkeit gegenüber falschen, weil unzureichenden, auf Verdrängung beruhenden Vorstellungen über »Gesund« und »Krank«) zum allgemeinen Gesetz erhoben werden, so wäre diese Publikation ein Markstein. Sie würde der Menschenkunde — und vor allem der Medizin — neue Ziele setzen, vielleicht 180 Grad von denen entfernt, die die industrielle Heilmittelproduktion und ihre Ärztevertreter verschreiben.

 

   Gegenangriff   

 

Es gehört zu den tragischen Ironien des Buches, daß die Hoffnung, die Z. aus der Einsicht in die Ursache seiner Krankheit schöpft, für ihn, den Einzelfall, zu spät kommt. Er weiß es im Grunde; die schwer erträgliche Spannung der letzten beiden Kapitel beruht, ausgesprochen oder nicht, auf der Wette mit dem nahen Tod. Aber in einem bestimmten Sinn will er jetzt nichts davon wissen. An diesem neuen Eigen-Sinn hängt der kleine, vielleicht doch noch lebensrettende Vorsprung, den er sich ausrechnet.

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Die objektive Todesnähe suggeriert ihm eine bisher unerhörte Nähe zum Leben und vermag jene Probleme wenigstens gedanklich und sprachlich zu liquidieren, die bisher im Gefängnis der Depression und des höflichen Schweigens verschlossen blieben. Was auch immer der Krebs noch anrichten wird: die Depression, die Grundtraurigkeit hat er — in Verbindung mit der analytischen Einsicht — gründlich vertrieben, abgelöst durch realen Schmerz. Dafür kann ihm (ingrimmig) gedankt werden.

Z. gibt in diesem Buch ein Exempel seiner bisher nie genützten Widerstandskraft. Er nimmt sich die Freiheit, die tödliche Geschwulst an seinem Leib als Erkenntnisorgan einzusetzen. Auch das bin jetzt ich, lernt einer sagen, dessen Ich-Form lebenslang unterentwickelt war. (Daß es anderseits nur die Ich-Form, den melancholischen Autismus gegeben hatte, ist nur ein scheinbarer Widerspruch.) Noch mehr, er tut endlich, was jeder Blume gelungen war und ihm nie: er lernt »sein Wachstum zeigen«. Und diese Selbstdarstellung scheint auch den Tod aufzuwiegen, der in seinem bösartig gewordenen Wachstum steckt. Es ist endlich - in Stellvertretung aller versäumten Außenbeziehungen, der ganzen verscherzten Außen-Welt — ein äußerer Tod; wohl schmerzhafter, aber niemals bösartiger als der stillschweigende innere »Tod« zuvor. Diesen äußeren Tod kann er sich, wenn gar nichts helfen sollte, immer noch zu eigen machen. Freilich nicht in der Weise, wie Hofmannsthals Claudio endlich dem Tod in die Arme sinkt:

»Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod! 
Was zwingt mich, der ich beides nicht erkenne, 
Daß ich dich Tod und jenes Leben nenne?«

Seinen Tod sterben heißt für Z. unerbittlich: beides erkennen, Tod und Leben; die Terminologie klar halten; auf poetische Verwechslungstricks ein für allemal verzichten. Es heißt: den Tod Tod nennen, und seine grausame Unvernunft festhalten; das Leben unerbittlich Leben nennen, auch dann, wenn es verwirkt sein sollte.

Ja: nicht diese Versöhnung mit dem Tod zu willigen, jene depressive Versöhnlichkeit und Parteilosigkeit im Umgang mit Tatsachen, der das Leben zum folgenlosen Traum gemacht hatte, diesmal um jeden Preis zu vermeiden: darin besteht der persönliche Sinn dieses letztwilligen Dokuments. Wenn in dieser Haltung ein Stück Spekulation steckt, so geht sie über die Hoffnung auf einen möglichen Wettbewerbsvorteil weit hinaus.

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Und hier muß von der wahren Vermessenheit dieses Sterbenden die Rede sein. Er rechnet sich aus — und dem bestürzten Leser vor —, daß diese Krankheit zum Tode, auch wenn sie unaufhaltsam fortschreitet, umkehrbar sein wird, anders umkehrbar: daß sie sich nämlich in ihrer ganzen Sinnlosigkeit wenden lassen wird gegen den Urheber alles Sinnlosen ... Was Er dem Kranken angetan hat, diesen Krebs, das wird der Kranke dem »Krokodilsgott« heimzahlen. Denn wenn es wahr sein sollte, daß das Universum ein zusammenhängender Organismus ist, dann kann auch dieser metaphysische Organismus nicht stärker sein als sein schwächstes Glied. Darin aber, schwächstes, also geopfertes Glied zu sein, soll wiederum die tödliche Stärke des Opfers bestehen. Sein Sterben soll das Ganze angreifen und den wohlverdienten Tod nach drüben fortpflanzen ...

Der Krebs erscheint hier nicht mehr bloß als Reflektor des eigenen Lebens, sondern als Waffe, als schwarze Magie, als bösartige Verdrehung des evangelischen Satzes, wonach das, was dem Ärmsten unter den Brüdern angetan wird. Ihm geschieht. Das Anti-Hiob-Motiv, die absolute Weigerung, sich mit dem Todes-Gott zu versöhnen, ist das vorwaltende Leitende der letzten beiden Kapitel. Z. gräbt sich ein in die Trotzposition des Camus'schen Sisyphus und hat die Stirn zu wiederholen: »II est heureux«. Das ist in der Tat ein ausschweifender Existentialismus, den hier einer — nicht ohne Blick auf den verwandten Satan/Luzifer — mit seiner lebendigen (endlich: lebendigen!) Seele beglaubigt. 

Es gehört ein Maximum von Selbstüberwindung — nein, von Selbstbehauptung dazu, in Z. s Lage festzuhalten an dem Camus'schen Glaubenssatz, es komme angesichts des Absurden nicht darauf an »le mieux«, sondern »le plus« zu leben. Das ist ein lebemännischer Immoralismus, der in der Tat die eigene befristete Existenz weit überzieht. Eben dieses Maximum ist Z. gerade extrem genug, um dem stummen Gewicht des Lebens­versäumnisses wenigstens der Tendenz nach die Waage zu halten.

Aber der Widerstand, der Zorn des unerbittlich Sterbenden (der sein Pseudonym eingegeben hat) richtet sich nicht nur gegen das transzendente Absurde. Er spekuliert nicht minder kühn gegen das Konkret-Absurde unserer gesellschaftlichen Einrichtungen an, gegen das Heillose der eigenen familiären und sozialen Herkunft.

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Auch diese möchte der Sterbende mit seiner endlich beinahe lebensmächtigen Hoffnungslosigkeit vergiften. Er sieht seinen Tod — oder seinen wütenden Lebensrest — als revolutionären Angriff auf das Bestehende, ohne sich dabei einer bestehenden revolutionären Kraft anzuschließen, von denen keine seinem prekären Absolutismus genügt. Es ist sein Tod als solcher, der das Tödliche dieser Gesellschaft herausarbeiten soll, indem er es einsehbar und unabweislich macht. Dieser Tod wird nicht nur die Ruhe der Eltern und ihrer Gesellschaft stören; er wird nicht nur ihre Schuld exponieren (diesen Schuldspruch spricht Z. am Ende, nachdem er ihn erst als allgemeine Anklage in der Luft hängen ließ, mit gezielter Schärfe aus). Mehr noch: er wird es ihnen (nicht auf einmal, aber wenn die Opfer, von denen er nur eins unter vielen ist, ein kritisches Quantum erreicht haben) unmöglich machen, mit sich selbst zu existieren. Er wird, als »passiver Revolutionär«, einzig dadurch zum Untergang des Abendlandes beigetragen haben, daß er NICHT GEGEN die Revolution war. Eine Gesellschaft, die nicht leben gelernt hat, stirbt, sie ist schon gestorben; es fehlt nur, daß der Tod, zu dem sie verurteilt ist, offenbar wird.

 

    Leiden eines Knaben   

 

Diese Offenbarung schleudert Z.s Buch dem Leser vor die Füße. Und damit sie durch keine jenseitige Hoffnung gemildert werde, spricht sie mit dem Todesurteil über eine Gesellschaft auch das über ihren Gott aus. Der Gott, der diese Gesellschaft gedeihen ließ, den wiederum sie als Schöpfer ihrer Ausflüchte nötig hat, soll nicht sein. Da er an dem System hängen muß, das ihn erzeugt, reicht ein guter Haß wohl für die Zerstörung beider Welten aus. Denn Er soll kein unbegrenzter, er soll ein lokaler Gott sein», ein Gott der »Goldküste« — absolut nur in seiner Borniertheit, im übrigen nur das relative Böse, das durch den Abbruch aller Beziehungen zu ihm aufgehoben werden kann. Es ist erschütternd, wieviel Scharfsinn Z. darauf verwendet, die Begrenztheit, die Regionalität Gottes nachzuweisen — als führe ihm hier unerkannt die absurde Hoffnung die Hand, im Universum möge das Übel ähnlich begrenzbar sein, wie (er hofft es noch immer) an seinem Körper. Ja, bis auf die letzte Seite — und Z.s letzte Tage, als sich der von Metastasen Zerfressene zu einer »Schlafkur« ins Spital begeben wollte — bleibt das Gutartige seines Lebenswunsches erkennbar.

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Er stellt sich nur so entsetzlich böse, um ja nicht der alten fatalen Artigkeit verdächtig zu sein. Aber seine Hoffnung benützt die Formen äußerster Verkehrung — den Gottesfluch — verstohlen mit. Denn was bedeutet jene tollkühne Spekulation, das Universum mit seiner Misere anzustecken, anderes als den extrem gewordenen Mitteilungswunsch eines auf den Tod Vereinsamten? Die Feier des Lebens per se auf Kosten des eigenen — was verbirgt sie anderes als die letzte Bitte um Fortpflanzung; was spricht sie anderes aus, als — zum Fluch verkehrt — den Wunsch der Liebe?

Der dieses Buch geschrieben hat, entwarf in ihm — wie immer er sie gewendet haben mag — eine Strategie des Überlebens. Wenn alle Stricke reißen, soll wenigstens das Eine von ihm übrigbleiben: eine durch­dringende Einsicht. »Ich werde tot sein, und ich werde gewußt haben, warum«. Es mag eine vergiftete Einsicht sein — aber lieber stellt Z. seine ganze Existenz als Müll dar, der uns zu schaffen machen und die Welt belasten kann, ja im Grenzfall zerstören würde, als daß er diese Existenz einfach zu nichts werden ließe.

»Mars« wollte leben bis zum letzten Augenblick und darüber hinaus. Erst sein Krebs, von dem er sich umsonst zu befreien suchte, führte ihm vor Augen, wie gern er immer hätte leben wollen. und wie wenig er jemals gelebt hatte; was Leben hätte sein können. Wer an diesem Manuskript die Reife vermißt, muß sich daran erinnern, daß diesem Toten nicht einmal die Unreife vergönnt war. Hier ist ein Mann mit sogenannten normalen Neigungen zweiunddreißigjährig gestorben, ohne mit einer Frau geschlafen zu haben.

Daß er nicht einmal darin ein Einzelfall ist, wäre schon Grund zur Empörung — zur einzigen sittlichen Entrüstung, die ich in unserer Gesellschaft für legitim halten kann. Sie müßte sich gegen das Lebens­verhindernde in uns selbst richten — und eben dies tut, in der schärfsten und privatesten Form, dieser Bericht eines Sterbenden. Der Leser mag immer noch finden, daß dieses Buch nicht harmloser ausgefallen wäre, wenn es die »kleine« Erfahrung vor die auffällige Spekulation gesetzt hätte; daß es vielleicht erst in dieser Form ganz »persönlich« genannt werden könnte. Schön und gut. Aber daß dieser junge Mensch die Voraussetzungen für eine solche persönliche — und das muß heißen: sinnliche — Existenz entbehrte, ist eben das Leid, das er uns hier klagt und an dem er gestorben ist.

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Seine Würde sucht er darin, das tiefste Leid nicht als Leid, sondern als Zorn zu äußern. Es ist der Tod zu Lebzeiten, gegen den Z. protestiert und dem er das einzige entgegenhält, was er wirklich erfahren hat: daß es ein Leben — ein gepeinigtes, unvollständiges, aber immerhin ein Leben — vor dem Tode geben muß; wenn es nicht anders geht, ein Leben im Sterben, als Agonie. Sein Zorn deckt nirgends ganz seine Bitte um Gerechtigkeit zu, seinen Wunsch, fair zu sein. Dieser alte verdächtige Wunsch kämpft bis zum letzten Augenblick mit dem elementaren Bedürfnis, sich auszudrücken, seine Wünsche endlich einmal anzumelden.

Aber selbst diese Wünsche sind, wenn man ihr Schneidendes von innen betrachtet, eher leise und seltsam bescheiden. Z. schreibt an einer Stelle, daß es — um den Krebs zu aktivieren — nur gerade von allem etwas zuviel gegeben habe. Etwas zuviel der verlogenen Stille, der institutionellen Gefühllosigkeit, der familiären Belastung. Seine Lebensart war ihrer Qualität nach nicht notwendig tödlich. Es war das Quantum, das Zuviel des Nicht-Menschlichen, was sie in die Todeskrankheit umschlagen ließ. Darf man darauf schließen, daß etwas mehr an Phantasie, an Zuwendung, an körperlicher und seelischer Aufmerksamkeit dieses Leben gerettet hätte, auch unter bürgerlichen Umständen? Man darf und muß es wohl.

Z. hat die Hintertür zum Mitmenschlichen nur so vehement zugeschlagen, weil er wußte, daß sie auf diese Weise nicht zu verschließen war. Der Leser bleibt eingeladen zum Widerspruch angesichts dieser radikalen Todesgestik. Er ist schon allein deshalb legitim, weil er, kräftiger als diese, zur Tat verpflichtet; weil er hier und jetzt gelebt werden kann und also muß. 

Der hier sterben mußte, ist nicht das Opfer eines Schicksals, er ist an uns gestorben; an dem, was uns, von einer Gelegenheit zur andern, zum ganzen Menschen fehlte. Er ist daran gestorben, daß er sein Leben nicht teilen, nicht mitteilen lernte, bis es zu spät war. Was ihm also gefehlt hat, war derjenige und diejenige, die ihm Teilung und Mitteilung rechtzeitig abverlangt hätten. 

In einer unheilbaren Gesellschaft ist sein Tod keine Ausnahme, sondern der Normalfall. Wir werden weiter so sterben, solange wir weiter so leben. Das ist das wirklich Erschütternde an diesem Buch.

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