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Mario-Keßler-2007: Biografie-Flechtheim

 Kapitel 4 : Futurologie, Ökologie und Sozialismus, 1970-1998

3- Ist die Zukunft noch zu retten?

 

(3) 194-195

In einem Gespräch mit Adelbert Reif hatte Ossip Flechtheim 1973 auf eine Gefahrenquelle für die demokratische Willensbildung hingewiesen: auf die Tendenz zur nachlassenden Aktivität der Bürger. Ohne aktive Beteiligung sterbe die Demokratie ab. Demokratie sei nicht nur ein Recht, um das hart gekämpft worden sei.

"Demokratie ist auch eine Pflicht, eine außerordentlich schwere Verpflichtung, die uns mehr abverlangt, als nur alle vier Jahre ein paar Minuten zum Ausfüllen des Wahlzettels aufzuwenden. Demokratie - ernst genommen - heißt ja ständiges Dabeisein, um sich zu informieren, mit anderen zu diskutieren, in Parteien, Gewerkschaften oder kirchlichen Verbänden, in Selbstverwaltungskörpern oder Interessenvertretungen mitzuarbeiten. Das alles erfordert große persönliche Opfer an Zeit, an Kraft, an Anstrengungen der verschiedensten Art, die der moderne Mensch, vor die Alternative zwischen politisch-gesellschaftlicher Mitbestimmung und dem vielfältigen Angebot von Zerstreuung und Vergnügen gestellt, oft wenig bereit ist, aufzubringen."[144]

Ein anderes, bisher noch ungelöstes Problem jedweder Parteidemokratie ist die bereits von Robert Michels untersuchte Tatsache, dass ursprünglich demokratische Parteien durch ihre bürokratische Struktur der Tendenz nach oligarchisch werden. Flechtheim selbst schrieb, „daß die Parteien als Patronage-, Dienstleistungs-, Quasi-Staatsorgane höchstens Ideologien, nicht aber zukunftsorientierte Strategien zu produzieren vermögen“145 oder ihre politische Programmatik zugunsten der Ämterpatronage vernachlässigten.146

Er suchte seinen Teil zu leisten, um diesen Tendenzen zu begegnen, und dies, insbesondere nach der Emeritierung, nicht nur als Theoretiker: So war er von 1974 bis 1996 Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte.147 Dabei nahm er sich besonders der in vielen Ländern verfolgten Kriegsdienstverweigerer an.148 Aktiv setzte er sich für die linken Dissidenten im Sowjetblock ein. In Andrej Sacharow sah Flechtheim den Repräsentanten eines human-sozialistischen Dritten Weges, der allein der Sowjetunion Chancen eröffne, ihre politischen, ökonomischen und ethnischen Spannungen zu überwinden. Flechtheim teilte dessen Warnungen vor einem unkontrollierten Wettrüsten, das in einen Nuklearkrieg umschlagen könne, und vor der Bedrohung durch den Hunger. Doch vor allem würdigte Flechtheim Sacharows mutigen Kampf für einen demokratischen Sozialismus in der Sowjetunion, der die Bürgerfreiheiten erweitern statt einengen müsse. Ebenso beachtenswert fand Flechtheim die frühen Appelle Sacharows für die Verbesserung des Umweltschutzes und für eine Kontrolle der Geohygiene, so des Baikalsees.149 „Die Probleme der Geohygiene sind sehr schwierig und vielfältig, sie sind eng verflochten mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen.“ Sie könnten, so Sacharow, nur international gelöst werden, was allein ein Minimum an Offenheit auf Seiten der sowjetischen Politiker erfordere.150

Nicht zuletzt fanden sich ausgewiesene oder ausgereiste DDR-Dissidenten im Haus in der Rohlfsstraße ein, darunter Rudolf Bahro, dessen Buch <Die Alternative> in seinen sozialistischen wie ökologischen Vorstellungen Anklänge an Flechtheims Ideen aufwies.151 Flechtheim hatte den noch in DDR-Haft gehaltenen Bahro 1978 als Vordenker eines zukunftsträchtigen Sozialismus-Modells gewürdigt.152 Er nahm im Zusammenhang mit Bahros Inhaftierung auch zur Forderung nach einem Bertrand-Russell-Tribunal für die DDR Stellung. Ein solches Tribunal erscheine "zunächst einmal recht plausibel. Nachdem ein solches Tribunal für die Bundesrepublik stattgefunden hat, kann man sehr wohl an eine Parallel-Aktion für das 'andere Deutschland' denken." Gegen ein solches Tribunal könne aber sprechen, "daß es unter gewissen Umständen zu einem Instrument des kalten Krieges werden könnte."153

144 Ossip K. Flechtheim im Gespräch mit Adelbert Reif, abgedruckt in: Ausblick in die Gegenwart, Zitat S. 116.
145 Ossip K. Flechtheim, Einführung zu: Ders. (Hg.), Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland, S. 27.
146 Ossip K. Flechtheim, Die Institutionalisierung der Parteien in der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Politik, N.F., 9, 1962, S. 97f.
147 Vgl. Patricia Block, Menschen im Diesseits: Ossip K. Flechtheim, in: Diesseits. Zeitschrift für Humanismus und Aufklärung, 8, 1994, Nr. 27, S. 15.
148 Vgl. Flechtheims Broschüre: Für Sozialismus und Gewaltfreiheit, Kiel/Lübeck 1979, die vom Verband progressiver Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer herausgegeben wurde.
149 Ossip K. Flechtheim, Weder Kapitalismus noch (Sowjet-)Kommunismus. Zum Fall Sacharow, in: Das da, Nr. 4, April 1976.
150 Andrej Sacharow, Wie ich mir die Zukunft vorstelle. Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit, Zürich 1973, S. 36.
151 Besonders im dritten Teil von Bahros Hauptwerk. Vgl. Rudolf Bahro, Die Alternative, Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln 1977, Neuausgabe Berlin 1990.
152 Ossip K. Flechtheim, Ökosozialismus? Sozialismus heißt heute Global-, Human- und Ökosozialismus, in: Der Bahro-Kongreß. Aufsätze, Berichte und Referate, Berlin 1978, S. 92
153 Ossip K. Flechtheim, Sachliche Analyse erwägenswert (Russell-Tribunal), in: Zitty, Nr. 13/1979, S. 14.

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Es fällt auf, dass Flechtheim sich in seinen Zukunftsvorstellungen über die Sowjetunion kein einziges Mal auf den antisozialistischen Dissidenten Andrej Amalrik bezog.154 Dieser hatte in seinem Essay <Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?> einen Zerfall des Landes aufgrund von Hochrüstung und Krieg, eine Integration der baltischen Staaten in ein kapitalistisches Osteuropa und eine "freiwillige Wiedervereinigung" der DDR mit der Bundesrepublik für die achtziger Jahre als Möglichkeit erwogen.155

Sein eigenwilliges Beharren auf sozialistischen Zielvorstellungen brachte Flechtheim in Westdeutschland und Westberlin keine Verfolgung, doch auch nur begrenzte Anerkennung ein. Typisch sei, schrieb er Anfang 1979, „daß kein Staatsorgan mir je eine Ehrenbezeugung hat zukommen lassen (auf die ich auch ganz gern verzichte).“156 Dies aber sollte sich im gleichen Jahr ändern: Durch ein Schreiben des Bundespräsidialamtes wurde Flechtheim das Bundesverdienstkreuz angetragen. Flechtheim wies jedoch den Orden zurück. In einem Brief an den ihm gut bekannten Bundespräsidenten Walter Scheel begründete er am 19. Juni seine Ablehnung des Verdienstkreuzes: 

„Ich kenne so viele Fälle, wo es an Menschen verliehen worden ist, die eine für mich untragbare Vergangenheit haben. Ich könnte es nicht ertragen, dieselbe Ehrung zu erhalten wie Menschen, die sich im Dritten Reich schwerster Missetaten schuldig gemacht haben.“ 

Er hoffe, der Bundespräsident verstehe diese Gründe für die Ablehnung und bleibe Flechtheim auch nach seinem bevorstehenden Ausscheiden aus seinem Amt weiter verbunden. Dies sei für Flechtheim auch deshalb wichtig, da bald ein Bundespräsident an Scheels Stelle trete, „mit dem ich wohl kaum einen Briefwechsel werde führen können wie mit Ihnen.“157

In den Jahren 1979-1981 verschärfte sich die weltpolitische Situation im Zusammenhang mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, der Krise in Polen und dem Konfrontationskurs des neuen US-Präsidenten Ronald Reagan. In diesem Zusammenhang ist die Kanzlerkandidatur des CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß für die 1980 fälligen Bundestagswahlen zu sehen. Der dynamische, hochbegabte, doch von keinerlei Skrupeln geplagte Politiker war in der Vergangenheit durch seine Vorliebe für antikommunistische Diktaturen, so in Spanien, Paraguay und Chile, hervorgetreten. 

154 Flechtheim erwähnte allerdings, dass sich der französische KP-Chef Georges Marchais am 23. Februar 1977 zu einer Fernsehdiskussion mit Amalrik bereit gefunden hatte und dabei die Verhaftungen wegen abweichender Meinungen überall, auch in der Sowjetunion, verurteilte. Vgl. Ossip K. Flechtheim, Weltkommunismus im Wandel, erweiterte Neuauflage, Berlin 1977, S. 264.
155 Andrej Amalrik, Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben? Ein Essay, Zürich 1970, S. 73.
156 Ossip K. Flechtheim, Heute noch skeptischer als 1962, in: Henryk M. Broder/Michel R. Lang (Hg.), Fremd im eigenen Land. Juden in der Bundesrepublik, Frankfurt 1979, S. 134.
157 NL Flechtheim, Mappe Biographisches: Brief an Bundespräsident Walter Scheel vom 19. Juni 1979. Gemeint war Carl Carstens als Nachfolger Scheels.

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Viele Gegner von Strauß sprachen ihm die Qualitäten eines demokratischen Staatsmannes ab, auch Ossip Flechtheim. „Eine Regierung Strauß“, befürchtete er, „würde wohl alles tun, die zweifellos vorhandenen demokratischen Elemente zugunsten von bürokratisch-technokratischen und plutokratischen Momenten abzubauen. Wir haben schon heute eine Fülle von (eigentlich verfassungswidrigen!) Gesetzesbestimmungen, die, von den 'rechten' Juristen voll ausgeschöpft, ausreichen, Westdeutschland über Nacht in einen Polizeistaat zu verwandeln.“ 

Natürlich sei Strauß mit Hitler nicht vergleichbar. „Er wird kaum zum dritten Mal einen Zwei-Fronten-Krieg riskieren. Auch nur die Sowjetunion frontal anzugreifen, dürfte er sich wohl hüten. Freilich würde Strauß, ähnlich wie seinerzeit der amerikanische Außenminister Dulles, wahrscheinlich eine Politik <am Rande des Krieges> betreiben.“158 Die Bundesrepublik unter Strauß wäre schon angesichts ihrer Größe und wirtschaftlichen Macht eine echte Gefahr für alle „fortschrittlichen Kräfte“ in Europa - „diese könnten aber ihrerseits doch vielleicht sogar eine Strauß-Regierung in ihre Grenzen verweisen und so verhüten helfen, daß der Neo-Cäsarismus den Endsieg davonträgt.“159

Auch ohne Strauß, der als Kanzlerkandidat scheiterte, könnte, so Flechtheim wenig später, der Rüstungswettlauf zu einer Eigendynamik führen. Diese könne eskalieren und in einen Atomkrieg münden, der die Menschheit auslöschen würde, wie es Mordecai Roshwald (Das Ultimatum) oder Horst-Eberhard Richter (Alle redeten vom Frieden) in ihren ebenso beeindruckenden wie bedrückenden Anti-Utopien beschrieben hatten.160

Ob zu den von Flechtheim so benannten „fortschrittlichen Kräften“ die an Moskau orientierten westdeutschen Kommunisten zählten, war innerhalb der Linken heftig umstritten. Während der Studentenrevolte hatte sich Flechtheim in die Diskussionen um die Wiederzulassung einer kommunistischen Partei in der Bundesrepublik eingeschaltet. Ein solcher Schritt sei notwendig, auch wenn diese Partei zum „Befehlsempfänger der SED“ würde. Für eine unabhängige Linke sei aber die Existenz einer solchen Partei kaum von Bedeutung.161 

Noch im Frühjahr 1968 hatte Flechtheim, zusammen mit Emst Bloch, Wolfgang Abendroth, Werner Hofmann und Helmut Ridder, den (von der DDR geforderten) Gießener Kreis, eine prokommunistische Wahlinitiative, unterstützt.162 Doch die strikte Befürwortung des sowjetischen Einmarsches in Prag durch die neu gebildete Deutsche Kommunistische Partei (DKP) stieß auf Flechtheims heftigen Protest. Zukünftig sollte er sein Verhältnis zu Kommunisten ebenso von deren Haltung pro oder contra Prager Reformexperiment abhängig machen, wie er nichtkommunistische Kräfte nur dann als demokratisch anerkannte, wenn sie einen Trennungsstrich zu jeder Art antikommunistischer Diktatur, sei es in Chile, Spanien oder Südafrika, zogen.163

158 Ossip K. Flechtheim, Die Bundesrepublik unter Strauß. Auf dem Weg zum Neo-Cäsarismus?, in: Strauß - eine Karriere. Über den manchmal unaufhaltsamen Aufstieg des Franz-Josef Strauß und seine Pläne, Berlin 1980, S. 153f.

159 Ebenda, S. 159.

160 Ossip K. Flechtheim, Von Thomas Morus zu George Orwell, in: Dieter Hasselblatt (Hg.), Orwells Jahr. Ist die Zukunft von gestern die Gegenwart von heute?, Frankfurt etc. 1983, S. 25f.

161 Ossip K. Flechtheim, Sympathie mit Prag. Prof. Flechtheim zu aktuellen Problemen des Sozialismus (Interview), in: Der Telegraf vom 15. August 1968.

162 Sie sollte unter dem Namen Aktion Demokratischer Fortschritt bei der Bundestagswahl 1969 antreten. Dazu kam es nicht mehr. Vgl. Günter Platzdasch, Fechten’s die Enkel besser aus?, in: Neues Deutschland vom 4./5. Juni 2005.

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Zu Beginn der achtziger Jahre sah Flechtheim in der an Moskau und Ostberlin orientierten DKP dann einen politischen Gegner. Dies betraf besonders ihre Hochschul- und Gewerkschaftspolitik, die das Gemeinschaftswerk <Der Marsch der DKP durch die Institutionen> zu analysieren suchte, doch auch scharf kritisierte. Flechtheim steuerte lediglich den 20-seitigen historischen Teil bei, der die Gewerkschaftspolitik der KPD in der Weimarer Republik behandelte.164 Seine Beteiligung an diesem Buch stieß auf Kritik. Die seit Mitte der siebziger Jahre deutlichen politischen Differenzen mit Wolfgang Abendroth verstärkten sich.165 

Dieser sah in der DKP einen potentiellen Bündnispartner und hoffte, sie könne durch Einbindung in gemeinsame Aktionen der Linken allmählich zu einer unabhängigeren Position gegenüber der SED gelangen.166 Einerseits sprachen sich die Autoren Flechtheim, Rudzio, Vilmar und Wilke gegen die Entfernung von Kommunisten aus dem öffentlichen Dienst aufgrund ihrer bloßen Gesinnung aus. Andererseits war für sie die DKP eine Organisation, die kein Interesse an einer demokratischen Ordnung habe. Eine Entwicklung der Partei in Richtung des damals viel diskutierten Eurokommunismus sei Voraussetzung für eine Kooperation in Friedens- oder Gewerkschafts­fragen.167 

Schließlich erklärte Flechtheim auf einer Veranstaltung der Humanistischen Union, nur der einleitende Abschnitt stamme von ihm, "man habe seinen Namen für die Verfasserangabe verwendet, ohne daß er die Beiträge der anderen Autoren vorher gekannt hätte."[168] Er hoffe, schrieb er an anderer Stelle, die Bundesrepublik würde ihre wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Beziehungen zur DDR verstärken - damit müsse ein Abbau des Antikommunismus im Westen und der Abgrenzungs­politik im Osten einhergehen. Ob ein solches neues Verhältnis beider deutscher Staaten "zu einer neuen staatlichen Einheit führen könnte, mag dahingestellt bleiben."169 

163 Vgl. hierfür als Beispiel seinen Artikel: Die kleinen Gegner der großen Stamokap, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 25. Februar 1973.

164 Ossip K. Flechtheim, Die KPD und die Gewerkschaften in der Weimarer Republik, in: Ders. Wolfgang Rudzio/Fritz Vilmar/Manfred Wilke, Der Marsch der DKP durch die Institutionen. Sowjetmarxistische Einflußstrategien und Ideologien, Frankfurt 1980, S. 44ff. Für eine scharfe Kritik der DKP vgl. Herbert Mies, DKP und Gewerkschaften. Klarstellungen zum Buch „Der Marsch der DKP durch die Institutionen“, hg. vom Parteivorstand der DKP, o.O., April 1981,31 S.

165 Sie waren zum ersten Mal auf der Linzer Tagung zur Geschichte der Arbeiterbewegung 1975 sichtbar geworden, als Abendroth den Stalinismus als „unvermeidlich [...] barbarische Variante“ einer im Kern positiven Gesellschaftsentwicklung ansah, während Flechtheim den sozialistischen Charakter des Sowjetkommunismus grundsätzlich in Frage stellte. Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung („XI. Linzer Konferenz“ 1975), Wien 1978, Zitat S. 189, sowie Hermann und Gerda Weber, Leben nach dem „Prinzip Links“. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin 2006, S. 266.

166 Trotz dieser Differenzen blieb die Freundschaft zwischen beiden Männern bestehen. So die mündliche Information von Prof. Frank Deppe an den Verfasser, 8. Oktober 2004, und die briefliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Abendroth vom 13. April 2006.

167 Nur wenige Jahre später zeigten die innerparteilichen Auseinandersetzungen um die Politik Gorbatschows, dass es in der DKP tatsächlich politisch unterschiedliche Strömungen gab, die rudimentär schon vor 1985 existierten. Vgl. Georg Fülberth, KPD und DKP 1945-1990. Zwei kommunistische Parteien in der vierten Periode kapitalistischer Entwicklung, 2. Aufl., Heilbronn 1992, S. 164ff.

168 Dies nach einer Mitteilung in: Die Neue vom 23. Mai 1981.

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1980 glaubte Flechtheim, in der neuen Umweltpartei <Die Grünen> und speziell ihrem Westberliner Ableger <Alternative Liste> eine politische Wirkungsmöglichkeit zu finden. Er trat der AL, wie sie meist genannt wurde, bei. Ein Jahr später kandidierte er für sie bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, zusammen mit dem Rechtsanwalt Otto Schily. Er hatte indes nicht die Absicht, das eventuell gewonnene Mandat anzunehmen. Doch Flechtheim wurde nicht gewählt.170

Er hoffte, die damaligen programmatischen Grundsätze der Grünen und der AL Basisdemokratie, Ökologie, Pazifismus und soziale Gerechtigkeit könnten in politisches Handeln umgesetzt werden. Dass die Grünen, anders als die Studentenbewegung, mehrheitlich zur Gesellschaft eher „in einem komplementären und nicht in einem oppositionellen Verhältnis standen“ und auf die Reformfähigkeit der Gesellschaft zugunsten von mehr sozialer Gerechtigkeit setzten, kam Flechtheim entgegen.171 Richard Löwenthals Befürchtungen, dass das Politikverständnis der Grünen mehr der Verzweiflung denn der Hoffnung entspringe und eher ein romantischer Rückfall hinter die Postulate der Aufklärung und der Arbeiterbewegung denn deren Fortentwicklung sei, teilte Flechtheim nicht.172 Sogar einen Kulturpessimisten wie Herbert Gruhl, der den Grünen angehörte, zitierte er zustimmend.173

Auf die Möglichkeiten, aber vor allem die Risiken der Nutzung von Kernenergie reagierte Flechtheim spät. Erst nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl wurde seine Skepsis gegenüber der Atomwirtschaft zur entschiedenen Ablehnung, wenngleich er diese nicht so scharf und grundsätzlich vortrug wie seit langem Robert Jungk.174

 

169) Ossip K. Flechtheim, Quo vadis, Germania?, in: Hans-Jürgen Degen (Hg.), Was soll bloß aus Deutschland werden? Deutsche über die Zukunft ihres Landes, Berlin 1982, S. 107.
170) Vgl. Elisabeth Endres, Auf dem Dritten Weg. Zum Tod von Ossip K. Flechtheim, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. März 1998.
171) Dies nach dem Urteil von Manfred Görtemaker, Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 2005, S. 219. Hingegen schrieb Karl Dietrich Bracher, mit den Grünen „verkehrten sich geradezu die Fronten: die ausgezogen waren, die .heile Welt* [...] zu zerstören, verlangten nun emphatisch nach ihrer Bewahrung vor den Folgen der Zivilisation. Linke wurden zu Wertkonservativen und verteidigten mit dem Begriff der <Lebensqualität> den Status quo gegen die Gefahren des materiellen Fortschritts.“ Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, München 1985, S. 313.
172) Vgl. Richard Löwenthal, „Meine Heimat ist die deutsche Arbeiterbewegung“, in: Hajo Funke (Hg.), Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil, Frankfurt 1989, S. 415. Teilweise auffallend ähnlich äußerte der radikal-marxistische Soziologe Leo Kofler seine Kritik an den Grünen, die er freilich auch als „Straßenkehrer des Kapitalismus“ ansah. So der Titel eines Aufsatzes von 1989, Wiederabdruck in: Leo Kofler, Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, hg. von Christoph Jünke, Hamburg 2000, S. 224ff.
173) Ossip K. Flechtheim, Ist die Zukunft noch zu retten?, Hamburg 1987, hier und im Folgenden (so nicht anders gekennzeichnet) zit. nach der Heyne-Taschenbuchausgabe München 1990 (mit einem Vorwort von Oskar Lafontaine), S. 120f.
174) Vgl. Robert Jungk, Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, München 1977.

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Dass Flechtheim keine gründlichen naturwissenschaftlichen Kenntnisse hatte, erwies sich hier als Mangel. So blieb es bei allgemeinen Aussagen der Art, dass die Grünen „einen Weg zwischen der bloßen ökologischen Reparatur im Sinne der Altparteien und einer utopischen Vision des Ausstiegs aus der Industriegesellschaft weisen“ würden.175

Er erlebte nicht mehr den Weg der Grünen in die Anpassung an den gesellschaftlichen Status quo der Bundesrepublik, den er selbst so kritisch sah. Auch konnte der Futurologe Flechtheim das vorläufige Scheitern eines großen Projekts der Grünen kaum vorhersehen: des Projekts einer multikulturellen Gesellschaft. Zwar blieb Flechtheim dieser Idee gegenüber bemerkenswert zurückhaltend und hat sie in seinen Schriften nicht erörtert. Doch hielt er allgemein daran fest, dass das Zusammen­leben verschiedener Kulturen in einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft notwendig und auch denkbar sei. Indes erweist sich beispielsweise das Zusammenleben von Migranten und Nichtmigranten, von Muslimen und Nichtmuslimen, auch auf lange historische Sicht, in Europa als weit schwieriger als erhofft. 

Auf welche Weise ein humanes Miteinander und ein Dialog verschiedener Kulturen möglich ist, kann am Beginn des 21. Jahrhunderts für keine westeuropäische Gesellschaft vorausgesagt werden. Flechtheim sah die Spannungen zwischen verschiedenen ethnischen Gemeinschaften als Erbteil kolonialer und imperialistischer Unterdrückung und Ausbeutung. So richtig dies war, so einseitig war es auch: Zwar hatte Flechtheim bereits 1970 davor gewarnt, dass sich die „Unterklassen“ der Dritten Welt „ihrer Armut mehr und mehr bewußt werden, und sie werden sich daher gegen diese auflehnen - mit oder ohne Erfolg.“176 Dass diese Auflehnung einem militanten politischen Islam in die Hände arbeiten kann, zeigte sich in voller Klarheit in den Jahren seit Flechtheims Tod.

Der Anhänger des Ökosozialismus war den 1980 auf Linkskurs befindlichen AL und Grünen sehr willkommen. Er erhielt eine Reihe von Anfragen zur Mitwirkung an verschiedenen Publikationen. So arbeitete Flechtheim 1982 an einem von Petra Kelly und Jo Leinen edierten Band zur Nach- und Abrüstungsproblematik mit. Überraschend tendierte er darin zu einer Interpretation des Systemgegensatzes im Sinne der Äquidistanz. Damit revidierte Flechtheim teil- und zeitweise seine frühere, nach 1968 sehr kritische Haltung gegenüber dem Sowjetkommunismus. „Die Gefahren der Rüstung und des Rüstungswettlaufs“, schrieb er nun, „fordern das Emstnehmen der Möglichkeiten eines einseitigen Rüstungsstops und Rüstungsabbaus, der Bereitschaft, auf manche Machtposition im internationalen Machtkampf zu verzichten, ja, die überlegene Produktivität des Westens in den Dienst der Hebung des Lebensstandards der Massen im Osten und Süden zu stellen.“177

"Also lieber <rot> als tot?", fragte Flechtheim zugespitzt. "Jawohl, auch das, zumal 'rot' heute eher 'Ungarisierung' oder 'Finnlandisierung', nicht aber Workuta (von Auschwitz spricht man ja in unserem 'Vaterland' nicht gern!) als Risikofaktor enthielte, eine Entmilitarisierung und Neutralisierung eher zu einer 'Öster­reichisierung' führen dürfte und uns dem Endziel eines (West-?)Europa näherbrächte, das liberal, demokratisch und ökosozialistisch wäre - liberal in der Kultur, demokratisch in der Politik und ökosozialistisch in der Wirtschaft.“178

175 Flechtheim, Ist die Zukunft noch zu retten?, S. 126.
176 Flechtheim, Futurologie, S. 379.
177 Ossip K. Flechtheim, Funktioniert die Logik des kleineren Übels noch?, in: Petra Kelly/Jo Leinen (Hg.), Prinzip Leben. Ökopax - die neue Kraft, Berlin 1982, S. 75.

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Beide deutsche Staaten seien, so Flechtheims vage Wortwahl, „im Prinzip als gleichwertig zu betrachten“; wohl seien sie, „langfristig und global gesehen, mangelhaft und verbesserungsbedürftig, andererseits erscheinen sie immer noch als kleinere Übel, verglichen mit den zahlreichen terroristischen Despotien in der Türkei, in Guatemala, Argentinien oder Südkorea“; Flechtheim nannte Nordkorea nicht.179

Hier liegt eine Unterschätzung des nach wie vor diktatorischen Charakters der DDR vor. Diese zeitweilige Haltung teilte Flechtheim mit zahlreichen Grünen und auch Sozialdemokraten. In der Hochphase des Reaganschen Antikommunismus wie angesichts der scheinbar endlosen Immobilität der Sowjetunion unter Breshnew war er von der Furcht ergriffen, der Westen könne unter der Losung Lieber tot als rot! die Spannungen derart eskalieren, dass diese mit friedlichen Mitteln nicht mehr zu lösen seien. Dies sei auch Ausdruck einer immer reaktionäreren Innenpolitik vieler westlicher Länder, besonders der USA und der Bundesrepublik; erneut warnte Flechtheim vor Tendenzen des Neocäsarismus.180

In einem bitterbösen Beitrag für die Zeit ließ Flechtheim am 30. Januar 1983 den 93-jährigen Hitler aus einem Genfer Versteck wieder auftauchen. Die jüngste Entwicklung erfülle ihn mit neuer Hoffnung, so Hitler. "Immer mehr Militärs und Politiker meinten jetzt, der Krieg werde wieder führbar. Daß ein moderner Krieg natürlich große Verluste mit sich bringen würde, wäre nicht zu bestreiten, liege aber vielleicht sogar im Interesse der Erhaltung der Art. Entscheidend sei nur, daß eine Elite überlebe, nicht zuletzt deshalb, um wieder neue Kriege führen zu können."181

John Herz teilte die Besorgnisse seines Freundes über die Kriegs- und Rüstungspolitik. Er befürchtete einen fortschreitenden Auflösungsprozess der bürgerlichen Demokratie in den USA. "Dieses Land, auf das man früher doch einige Hoffnungen setzen konnte, wird mir immer widerlicher“, schrieb Herz am 24. Februar 1985 an Flechtheim. Reagans antikommunistische Hetze werde von den Leuten blindlings geglaubt. "Am übelsten sind die neokonservativen Juden um den <Commentary> herum (die sich noch Democrats nennen - Democrats der traditionellen, liberal-progressiven Sorte gibt’s kaum noch)."182 Doch lebe und kämpfe Herz für jede verbleibende Chance zur Verbesserung der Verhältnisse, so Flechtheim.183 

Auch in Westdeutschland machten Herz wie Flechtheim bedenkliche Erfahrungen. Lili Flechtheim notierte, sie seien unangenehm überrascht gewesen, als sie 1984 bei der Buchvorstellung von John Herz’ Autobiographie von Düsseldorfer Schülern gefragt wurden, warum man denn der Dritten Welt überhaupt helfen solle. Sollten die Menschen dort nicht selbst für sich sorgen? John Herz konnte nur daran erinnern, wie viele Amerikaner ab 1945 den besiegten Deutschen geholfen hatten zu überleben.184

178 Ebenda.
179 Ebenda, S. 73.
180 Flechtheim, Quo vadis, Germania?, S. 103f.
181 Ossip K. Flechtheim, Warum ich Führer werden mußte. Die fiktive Erscheinung des Adolf Hitler - fünfzig Jahre nach der Machtergreifung, in: Die Zeit, Nr. 5/1983, S. 54.
182 NL Flechtheim, unbezeichnete Mappe: Brief von John H. Herz vom 24. Februar 1985.
183 Ossip K. Flechtheim, John H. Herz zum 70. Geburtstag, in: europäische ideen, Nr. 41/1978, S. 3.

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Diese widersprüchlichen Entwicklungstrends wollte Flechtheim noch einmal in einem Buch zusammenfassen. Er konzentrierte sich ab 1984 fast ganz auf diese Aufgabe. Zwar kam er immer noch Bitten zu Vorträgen nach. Vor allem in der Berliner Urania, der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sprach er oft. 1985 beteiligte er sich noch an der Vorbereitung eines Symposiums, das die FU im November diesen Jahres in Erinnerung an Otto Kirchheimer ausrichtete. Er schrieb jedoch keinen Beitrag für den dann erscheinenden Konferenzband, der mit dem Hauptreferat von John Herz eingeleitet wurde.185

Überhaupt nahm die Zahl von Flechtheims Veröffentlichungen in Zeitschriften und Sammelbänden nun allmählich ab. Es fällt auch auf, dass er zu direkt aktuellen politischen Fragen weniger häufig Stellung nahm als früher, sich stattdessen auf langfristige globale Probleme konzentrierte. Allerdings blieb er auf dem Buchmarkt weiterhin mit Neuerscheinungen vertreten: Zwischen 1985 und 1988 kamen die Abschnitte über Karl Marx, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aus dem Buch <Von Marx zu Kolakowski> als selbständige Ausgaben in zum Teil erweiterter Form heraus.186  

Flechtheim konnte im März 1984 seinen 75. Geburtstag bei recht guter Gesundheit begehen. Doch glaubte er, dass ihm vielleicht nicht mehr unbegrenzt viel Zeit zur Verfügung stehen könnte.

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1987 erschien <Ist die Zukunft noch zu retten?>, Flechtheims letzte Monographie.187

Er sah das Buch als Summe seines Schaffens und gewissermaßen als Vermächtnis an die jüngste, die übernächste Generation an. 

Es ist im besten Sinne populär geschrieben, voller Informationen, doch ohne Anmerkungsapparat und unter weitgehendem Verzicht auf die Wiedergabe komplizierter wissenschaftlicher Debatten. Im Vorwort dankte Flechtheim zwei Menschen, die ihm mehr als alle anderen geholfen hatten, dieses Buch zu schreiben und zu vollenden: seiner Frau Lili und seinem Freund John Herz, auf dessen Autobiographie <Vom Überleben> er ausdrücklich hinwies. 

 

184)  NL Lili Flechtheim, Mappe Jahresrundbriefe 1953-1995: Brief vom 12. Februar 1985. Vgl. Eckard Hohlwein, Weltbildern der Jüngeren verbunden, in: Landtag intern [Düsseldorf] vom 13. November 1984, S. 18, und Helmut Hirsch, Chancen einer globalen Weitsicht. John Herz’ Autobiographie: Illusionslos - doch nicht ganz hoffnungslos, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Februar 1985. Beide Berichte nehmen auf die Lesung im Gymnasium Bezug, erwähnen aber nicht den Konservatismus der Schüler. Vgl. zur Rezeption von Herz’ Autbiographie auch Alfons Söllner, Deutsch-jüdische Identitätsprobleme. Drei Lebensgeschichten intellektueller Emigranten, in: Jahrbuch Exilforschung, Bd. 3, München 1985, S. 349ff.

185)  John H. Herz, Otto Kirchheimer, Leben und Werk, in: Wolfgang Luthardt/Alfons Söllner (Hg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis, Opladen 1989, S. 11 ff. Vgl. bereits John H. Herz/Erich Hula, Otto Kirchheimer. An Introduction, in: Otto Kirchheimer, Politics, Law, and Social Change. Selected Essays, hg. von Frederick S. Burin u. Kurt L. Shell, New York 1969, S. IXff.

186)  Ossip K. Flechtheim, Rosa Luxemburg zur Einführung, Hamburg 1985 (2. Aufl. 1986); ders., Karl Liebknecht zur Einführung, Hamburg 1985 (2. Aufl. 1986); ders./Hans-Martin Lohmann, Marx zur Einführung, Hamburg 1988 (4. Aufl. 2003).

187)  Die 1991 erschienenen Bücher <Vergangenheit im Zeugenstand der Zukunft> und <Ausschau halten nach einer besseren Welt> sind Sammlungen früherer Aufsätze.

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Er erinnerte seine Leser daran, dass bereits um 1950 in den USA erste warnende Stimmen auftauchten, die vor einem Raubbau an der Natur warnten und eine Politik des Umweltschutzes anmahnten. Flechtheim verwies auf damals wenig beachtete Arbeiten von Fairfield Osborn und William Vogt (der sogar vom Großindustriellen Bernard Mannes Baruch unterstützt worden war!).188 Er widmete das Buch seinen Enkelkindern Johannes und Julia.189

<Ist die Zukunft noch zu retten?> enthält eine starke anthropologische Komponente. Der Mensch sei ein zwiespältiges Wesen, schrieb Flechtheim. "Leben und Tod, Hunger und Liebe, die Last der Arbeit und die Lust der Libido, Aggression und Sympathie sich selber und seinen Mitmenschen gegenüber, Streben nach Solidarität, Genossenschaft und Brüderlichkeit, aber auch der Drang nach Herrschaft und Macht wohnen in derselben Brust." (S. 17)

Eindringlich wiederholte Flechtheim die Botschaft seines Lebens: Der mögliche Dritte Weg zwischen etatistischem Kommunismus und ungehemmtem Privatkapitalismus in Richtung eines demokratischen Sozialismus müsse rechtzeitig beschriften werden.

Dieser Sozialismus sei nicht mit der Überplanung der osteuropäischen Gesellschaften zu verwechseln. „Denn es gibt keinen Plan“, zitierte Flechtheim Günter Anders,190 „dessen Durchführung sich nicht im Raume des Ungeplanten vollzöge, und was aus diesem Raume des Unkalkulierbaren in die Plandurchführung hinein brechen könnte, das läßt sich nur schwer, oft überhaupt nicht kalkulieren.“ (S. 69) Im Streit der Ideologien sei die Idee einer geplanten und sozialisierten Wirtschaft, trotz ihrer nachlassenden Attraktivität, noch immer für viele Menschen mit Sozialismus identisch.

Allerdings lasse sich ein ökosozialistisches oder ökohumanistisches System nicht nur durch wirtschaftliche Systemveränderungen erreichen. "Ein grundlegender Wandel in der Politik, Gesellschaft und Kultur muß hinzukommen. Schließlich muß sich der Produzent und Konsument von einem egoistischen <homo oeconomicus> zu einem dem Gemeinwohl verpflichteten <zoon politikon> entwickeln.“ (S. 140) „Ein optimales Verhältnis von Freiheit und Gleichheit scheint nur in einer Gemeinschaft möglich, die auch auf Brüderlichkeit und Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit und Solidarität beruht.“ (S. 144) Davon sei nicht nur der immer noch diktatorische Kommunismus Moskauer oder Pekinger Spielart weit entfernt. 

Auch die westlichen Parteien eines „Spätparlamentarismus“ würden mehr und mehr zum Spielball bloßer „Pressionsgruppen“ werden, die Parteien und Fraktionen unterwanderten und die politische Willensbildung letztlich lahmlegten. Die Parteiführer seien nur noch an Posten und Patronage interessiert. (S. 149)

 

188 Fairfield Osbom, Our Plundered Planet, Boston 1948, deutsche Übersetzung: Unsere ausgeplünderte Erde, Zürich 1949; William Vogt, Road to Survival (with an Introduction by Bernard M. Baruch), New York 1948. Doch ist auch Scott Nearing hier zu nennen, der überdies einer der Pioniere des von Flechtheim propagierten Gedankens einer Weltföderation war. Vgl. Scott Nearing: The Next Step. A Plan for Economic World Federation, Ridgewood, N.J. 1922. 

Osborn bei detopia  + Vogt bei detopia  +  wikipedia  Bernard_Baruch 

189 Von nun ab werden Zitate aus <Ist die Zukunft noch zu retten?> durch in Klammern gesetzte Seitenzahlen nachgewiesen. Zitiert wird nach der Taschenbuchausgabe von 1990.

190 Günter Anders, Was ist Planung?, in: Robert Jungk/Hans Joachim Mundt (Hg.), Modelle für eine neue Welt, München 1964, S. 47f.

(3) 203 / 204

Stärker als in früheren Veröffentlichungen strich Flechtheim das große kulturelle Erbe der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung heraus. Ihr vor allem sei die „Entwicklung einer sich demokratisierenden Kultur“ vor 1914 zu danken gewesen. All dem bereitete die Nazidiktatur ein Ende. Nach 1945 wurden die demokratischen Neuansätze in der Bundesrepublik zum großen Teil unter der Übermacht einer restaurativen Entwicklung begraben, die den von Medienkonzemen unabhängigen Zeitungen kaum Platz ließen. Monopole auf dem Meinungsmarkt seien aber „für die politische Kultur einer Demokratie bei weitem gefährlicher als noch so anfechtbare Kapitalzusammenballungen im übrigen Bereich der Wirtschaft.“

Unmittelbarer als der Produzent von Autos oder Zigaretten könne ein Pressekonzern durch den Inhalt der Ware Zeitung die politische Kultur beeinflussen. (S. 160f.) 

"In der Vergangenheit“, so Flechtheim, "haben Sozialisten als Abhilfe gegen eine undemokratische Machtkonzentration in der Wirtschaft immer wieder die Verstaat­lichung von Großunternehmen vorgeschlagen. Trotz mancher negativer Erfahrungen in Ost und West ist auch heute eine Verstaatlichung der wichtigeren Produktionsmittel, soweit sie gefährliche Machtzusammenballungen darstellen oder ein auf Grund- oder Kapitalbesitz beruhendes arbeitsloses Einkommen ermöglichen, als Übergangsmaßnahme nicht unbedingt auszuschließen. Freilich setzt sie stets demokratische Selbstverwaltung voraus, so daß man eher von Vergesellschaftung oder Sozialisierung als von Nationalisierung sprechen sollte. Vergesellschaftung würde in diesem Zusammenhang den Übergang des Eigentums auf den Staat, die Gemeinde, aber auch auf andere öffentlich-rechtliche Körperschaften und Institutionen bedeuten, vor allem aber auf Produktivgenossenschaften und Gilden, Gewerkschaften und Stiftungen."

Damit seien politische Entwicklungen auch gegen den Willen der Wirtschafts- und Mediengewaltigen im Westen, ebenso wie gegen die Spitze der Nomenklatura im Osten durchsetzbar. (S. 201)

Die "Megakrise" unserer Zeit zeige sich im Übergang zu einer neuen Entwicklungsphase der westlichen Gesellschaft. Im Zeitalter des „Hochkapitalismus“, das bis etwa 1973 währte, hätten Rüstungsanstrengungen und Wiederaufbau in Europa, die technische Revolution, der Druck der Arbeiterbewegung wie die Herausforderung aus dem Osten zu einem ungeheuren Wirtschaftsboom geführt, dessen Wachstums grenzen die Ölkrise und der Kampf um Naturressourcen deutlich gemacht habe.191 Die „heutige katastrophale Situation auf dem Arbeitsmarkt“ widerspiegele die seitdem wachsenden wirtschaftlichen Probleme. Das Wort von der Zweidrittelgesellschaft bringe noch nicht einmal drastisch genug zum Ausdruck, dass inmitten der reichen westlichen Industrieländer das Anwachsen der Armut mit der Vergrößerung des Reichtums Schritt halte.

 

191 Damit plädierte Flechtheim für eine Strukturierung der Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, die dem wirtschaftlichen Wandel der siebziger Jahre entscheidende Priorität einräumt. Ähnlich taten dies später u.a. Walter Laqueur, Eric Hobsbawm und Konrad Jarausch. Vgl. Walter Laqueur, Europe in Our Time. A History 1945-1992, Harmondsworth 1992, bes. S. 415ff.; Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998, bes. S. 503ff.; Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004.

(3)  204 / 205

Entstanden sei eine Unterklasse, für die der Kapitalismus keinerlei Verwendung mehr habe. Wie lange er sie durch Brot und Spiele auf niedrigster Kulturstufe noch ruhigstellen könne, wisse man nicht. Doch sei „die kapitalistische Produktionsweise“ dafür nicht allein verantwortlich; vielmehr habe der durchgreifende Einsatz von Computern in der Wirtschaft zahllose Arbeitsplätze überflüssig gemacht. Eine Alternative sei die Beschäftigung der Menschen in Sozialprogrammen oder bei der Behebung von Umweltschäden. 

Doch seien solche Programme nicht profitorientiert, daher gebe es kaum Unterstützung dafür aus der Privatwirtschaft. Vielmehr werde die Zahl der Arbeitsplätze im
Sozialbereich vermindert. Ein Bereich an staatlichen Leistungen werde jedoch immer weiter ausgebaut: „Zum Schutz der bestehenden Besitz- und Machtverteilung schafft der Staat in dem Maße, wie er sich von der Demokratie weg und zum Polizei- und Militärstaat hin entwickelt, Arbeitsplätze bei der Polizei, bei den Gerichten und Gefängnissen und nicht zuletzt beim Militär.“ (S. 138) Die Staatswirtschaft des Ostens stoße immer mehr an ihre Grenzen; auch der sowjetische Block bekomme seine spezifischen Wirtschaftsprobleme nicht mehr in den Griff und stehe außerdem vor riesigen politischen Herausforderungen. (S. 137)

Zwar strebe keine der beiden Supermächte die militärische Vernichtung ihres Gegners an; deutlich sei, dass dies im Atomzeitalter auch zur Selbstvemichtung führen würde. Dabei schrecke die Sowjetunion eher als die USA vor militärischen Abenteuern zurück. Angesichts ihrer wirtschaftlichen Schwäche zöge sie die Erhaltung des Status quo vor. Der Weltkapitalismus scheine aber so stark geworden zu sein, dass ihm gegenüber „der etatistische Osten zu weitgehenden Konzessionen bereit ist.“ (S. 187) Wie weit diese Konzessionen reichen würden, ob sie den Zusammenhalt oder gar die Existenz des Sowjetblocks gefährden könnten, sei offen.192 Die Sowjetunion sei jedenfalls bislang zur Lösung elementarer Probleme, die die Freiheit des Einzelnen beträfen, unfähig. Der Missbrauch der Psychiatrie gegen politische Gegner sei dort "kein Ausnahmefall, sondern an der Tagesordnung", schrieb Flechtheim, der zu einer sehr kritischen Haltung gegenüber Moskau zurückgefunden hatte.

Über Michail Gorbatschow urteilte er zurückhaltend. Ob dessen Reformpolitik erfolgreich sei, wisse man noch nicht. Zwar könne sich die Sowjetunion „vorsichtig auf ein demokratisches System zubewegen“, doch würde dies eine dauerhafte internationale Entspannung voraussetzen. (S. 186) Bislang würden jedoch noch immer viele Bürgerfreiheiten systematisch verletzt. 

Noch kritischer sah Flechtheim die Lage in der DDR. Er nannte, was die Verletzung der Menschenrechte betraf, den zweiten deutschen Staat in einer Reihe mit Südafrika, Chile, Uganda und Kuba und stellte ihn nicht mehr mit der Bundesrepublik auf eine Stufe, wie er dies kurzzeitig getan hatte. (S. 153) Sollte jedoch die DDR - bei allen auch unvorhersehbaren Risiken - sich zu einer Liberalisierung entschließen und die Bundesrepublik darauf verzichten, daraus einseitig politisches Kapital zu schlagen, dann könnten beide deutsche Staaten eine wichtige Rolle im Ringen um eine Humanisierung der Ost-West-Beziehungen spielen. 

 

192 Auch Rudolf Bahro (Die Alternative, S. 397) hatte 1977 geschrieben, niemand könne auch in Moskau, Leningrad oder Kiew sagen "<wie spät es ist> und wie schnell die Uhr läuft. Bei dem Charakter unseres [östlichen] Überbaus ist es die Regel, daß lange angehäufter Zündstoff 'plötzlich' aufflammt, weil die sich zuspitzenden Widersprüche keine Organe haben, in denen sie sich rechtzeitig äußern können.“

(3) 205 / 206

Ob eine Veränderung der politischen Beziehungen beider Staaten in eine Wiedervereinigung einmünde, sei durchaus offen, doch wäre dies „für alle Beteiligten nicht mehr so wichtig.“193 Denkbar sei eine konföderative Struktur als Vorstufe zu einem Zusammenwachsen beider Staaten, die als Modell einer europäischen Einigung dienen könne. (S. 220)

Trotz der kritischen Passagen über die Sowjetunion und die DDR überwogen in diesem wie in so vielen Texten Flechtheims die Hoffnungen auf Veränderungen dieser Länder in Richtung auf einen demokratischen Sozialismus im Sinne des Dritten Weges. Die Fehlentwicklungen im westlichen Kapitalismus wurden in deutlich schärferer Tonart aufgelistet, wenn auch Flechtheim seine Warnung vor Tendenzen der Faschisierung oder Renazifizierung der Bundesrepublik nicht wiederholte - sie waren spätestens durch den Wechsel der Generationen und den Kulturbruch von „1968“ überflüssig geworden. 

All dies bemerkten die wenigen Leser der DDR, wo auch dieses Buch Flechtheims nicht erschien. Die Rezeption war, trotz der Kritik an Ostberlin, dort freundlich wie nie zuvor: Egbert Joos würdigte das Buch als Ausdruck undogmatischen, linken Denkens. Flechtheim und die kritische Zukunftsforschung seien, so Joos, keineswegs mehr nur als „bürgerlich“ zu qualifizieren, wie es selbst differenzierter denkende ostdeutsche Forscher taten.194 

So wie die Bourgeoisie auf die globalen Menschheitsprobleme widersprüchlich, keineswegs mehr nur aggressiv reagiere, sei die kritische Zukunftsforschung nicht länger nur bloßer Ausdruck bourgeoiser Klasseninteressen.195 Dieter Klein war der Idee des Dritten Weges nahegekommen und lotete die Chancen für einen ffiedensfähigen Kapitalismus aus. Damit ging er, was die USA betraf, weiter als Flechtheim, dessen Urteil über die Washingtoner Politik kritisch wie selten zuvor ausfiel.196

Die Vereinigten Staaten hätten keinen Grund, das Banner des Kampfes für Freiheit und Menschenrechte aufzupflanzen, so Flechtheim. Sie hätten Diktatoren in aller Welt geholfen, die bürgerliche Demokratie zu zerschlagen, wenn deren Verteidiger auch nur vorsichtig von der Gefolgschaft zu Washington abrückten.197  

 

193)  Damit unterschied sich Flechtheim etwa von Wolfgang Seiffert: Der aus der DDR an die Universität Kiel berufene Jurist, der nun politisch rechts stand, setzte 1986 auf eine Herauslösung der DDR aus dem sowjetischen Bündnis als Gegenleistung für finanzielle Zuwendungen an Gorbatschow. Vgl. Wolfgang Seiffert, Das ganze Deutschland. Perspektiven der Wiedervereinigung, München/Zürich 1986.

194)  Vgl. Dieter Grohmann, Futurologie und Ethik. Eine kritische Analyse philosophisch-ethischer Probleme in der bürgerlichen Zukunftsforschung, Diss. A, Universität Halle-Wittenberg 1977. 

195)  Vgl. Egbert Joos, Futurologie - eine Theorie der Vergangenheit? Zu einigen Aspekten der historischen Entwicklung kleinbürgerlich-demokratischen kritischen Zukunftsdenkens sowie seiner aktuellen sozialtheoretischen und bündnispolitischen Relevanz, Diss. A, Technische Universität Dresden 1988, bes. S. 71 ff, 148ff.

196)  Dieter Klein <Chancen für einen friedensfähigen Kapitalismus?>, Berlin [DDR] 1988.

197)  Dies zeigen die - drei Jahrzehnte zu spät gekommenen - Enthüllungen der Rolle von US-Außenminister Henry Kissinger bei der Unterstützung der Militärdiktatur in Argentinien, deren systematische Folterungen marxistischer und bürgerlich-demokratischer Gegner Kissinger guthieß. Vgl. Der Spiegel, Nr. 13/2006, S. 114f. Das hielt Kissinger nicht davon ab, genau zum Zeitpunkt, an dem dies in der internationalen Presse diskutiert wurde, die westliche Demokratie zu rühmen, so bei einer Preisrede für Otto Schily im New Yorker Leo-Baeck-Institute. Vgl. LBI News, Nr. 84, Winter 2006, S. 2.

(3)  206 / 207

Vor allem „das sogenannte Verteidigungsministerium“, zumal sein Minister Caspar Weinberger, sei eine wirkliche Gefahr.198 Er kalkuliere einen gewinnbaren Atomkrieg als Möglichkeit ein. (S. 101) Dagegen würde sich nicht nur rationale Kritik erheben. Das militärische Muskelspiel und die Ausbeutung der Dritten Welt könnten deren verelendete Massen und auch entschlossene Minderheiten innerhalb des Westens dazu bringen, mit Terrorakten die Regierungen unter Druck zu setzen.

Es unterliege keinem Zweifel, so Flechtheim 1987, dass die Gefahr des Terrorismus stark zunehme. "Eine Minderheit innerhalb der Minderheiten reagiert ihre Verzweiflung mit sinnlosem Terror ab und richtet mit Hilfe der modernen Vernichtungstechnik verheerende physische und psychische Schäden an. So wird ein fehlerhafter Kreislauf in Gang gesetzt, da die Machthaber mit immer schärferen Repressionen antworten. [...] Von ihrem Standpunkt aus scheint ein Maximum an Staatsterror und Repression rational und zweckdienlich, da sie sich so ihrer <Feinde> entledigen zu können glauben. Sie übersehen dabei, daß ihre Repressions­maßnahmen auf unerwarteten Widerstand stoßen und den Gegner stärken können, insbesondere wenn sich die Terrorapparate verselbständigen und ihre Handlanger die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen ihrer Untaten verkennen." (S. 157) 

Die Konflikte verschärften sich dadurch, dass der Marxismus-Leninismus als diesseitig und rational ausgerichtete Heilslehre wohl abgedankt habe. "Heute deutet manches darauf hin, daß der Islam als irrationale Heilslehre bei einem Teil der Weltbevölkerung wieder stärkeren Anklang findet." (S. 183)

Einmal mehr sei "ein neuer Mut zur Utopie" gefragt, gerade wenn es um das Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zueinander gehe. (S. 197) Die für eine Demokratie unabdingbare Gerechtigkeit sei aber noch nicht garantiert, wenn in einer Gemeinschaft Recht herrsche, denn dieses sei "keineswegs einfach unabhängig von wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen", so Flechtheim. (S. 144) Die westlich-demokratischen Gesellschaften verkörperten gewiss die höchste bislang erreichte Zivilisationsstufe. "Der Arbeiterbewegung gelang es, den Staat zu Sozialleistungen zu verpflichten, die ihm die Bezeichnung 'Wohlfahrtsstaat' einbrachten." Doch könne sich das Großkapital in den Parteien und Parlamenten, doch auch in der Exekutive und der Bürokratie besser durchsetzen als die Organisationen der Arbeitnehmer.

Keineswegs neu war Flechtheims Rat: "Wollen die arbeitenden Massen etwas durchsetzen, so müssen sie auf die Straße gehen, d.h. die 'Ruhe und Ordnung' gefährden. Die Konzernherren können die 'Entscheidungsträger' unter vier Augen für ihr Anliegen gewinnen." Dabei teilten die Lohnabhängigen aufgrund ihrer relativen Privilegierung gegenüber den Massen der Dritten Welt, doch auch aufgrund ihrer geistigen Abhängigkeit von den herrschenden Medien, durchaus viele Wertvor­stellungen der kapitalistischen Oberschicht. (S. 147)

 

[198]  Ein Nachruf zitiert Weinberger mit den Worten, die Idee eines Raketenschilds im Weltraum sei "kein Einjahresprogramm für Gelegenheitssoldaten." 
        David Stout: <Caspar Weinberger dies at 88>, NYTimes vom 29.03.2006.

(3) 207 / 208

Hier zeige sich auch die zwiespältige Wirkung des Fernsehens. Dieses könne der analphabetischen Bevölkerung in weiten Teilen der Dritten Welt durchaus als Wegweiser in die Moderne dienen. Andererseits halte es die Arbeitslosen in den westlichen Ländern zu Hause fest und verhindere, dass diese auf der Straße für eine humanere Gesellschaft demonstrierten. Noch stärker als in Europa würden die Fernsehprogramme in den USA die Konsumenten geistig zu Kindern zurück verwandeln; hier schloss sich Flechtheim dem Urteil von Neil Postman an. (S. 163)

Die Schlussfolgerungen, zu denen Flechtheim gelangte, waren nicht neu, und dies deutete auf Grenzen der Futurologie als Instrument der Analyse hin. Er hielt drei "Zukünfte" menschlicher Entwicklung für denkbar. Ein globaler Krieg würde das Ende der heutigen Zivilisation bedeuten. Dies könne bis zur Totalvernichtung der Menschheit, aber auch zum Rückfall in ein neues Steinzeitalter oder, analog der Entwicklung nach dem Zusammenbruch Westroms, zu einem neuen "Finsteren Zeitalter" führen.199 

Denkbar sei auch eine allmähliche Veränderung der Gesellschaft zum Schlechteren, entweder hin zu einem totalen Überwachungsstaat, vor dem Orwell und Huxley einst gewarnt hatten, oder zu einem neocäsaristischen Regime. In beiden Fällen würden die Menschen durch Brot und Spiele auf niedriger Kulturstufe sowie durch Beschwörung eines äußeren Feindes ruhiggestellt werden.

Auch eine Entwicklung in den bisherigen Bahnen mitsamt dem Verdrängen der politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme sei nicht auszuschließen. Das Beharren auf dem Status quo sei vielleicht einige Jahrzehnte, doch bestimmt kein Jahrhundert mehr durchzuhalten. (Vgl. S. 187)

Die Hoffnung auf ein drittes Szenario speise sich aus dem wachsenden Widerstand gegen Rüstungswettlauf, Umweltzerstörung und Ausbeutung der Dritten Welt. Politisch durchaus sehr unterschiedliche Kräfte in den verschiedenen Ländern würden sich in diesem Widerstand zusammenfmden. Ihre Zahl nehme, trotz aller gegenläufigen Tendenzen, langsam, doch stetig zu. Über alle Grenzen hinweg gelte es, gemeinsam positive Wertvorstellungen zu entwickeln und zu propagieren, die einer künftigen Gesellschaft zugrunde liegen könnten. "Eine solche Welt würde die vielbeschworenen <Grenzen des Wachstums> nicht so sehr als Bedrohung denn als Chance sehen."200 Diese Gesellschaft beruhe auf verschiedenen Eigentumsformen an Produktions- und Informationsmitteln, dabei spiele das genossenschaftliche Eigentum eine wohl ausschlaggebende Rolle. "Die Einkommen und Verdienste hätten sich so angeglichen, daß es weder Bettler noch Millionäre oder gar Milliardäre gebe." (S. 189) 

Flechtheim sah die neue Gesellschaft als eine Synthese von Global-, Human- und Ökosozialismus, die in allerersten Ansätzen in der Tschechoslowakei 1968 und in Chile vor 1973 sichtbar geworden sei. Sie sei letztlich als Weltföderation verschiedener Gemeinschaften denkbar, wenn die Konkurrenz um Rohstoffe und Absatzmärkte der Vergangenheit angehöre; diesen Aspekt betonte Flechtheim in der Neuausgabe 1995, in der er auch Gedanken über einen funktionierenden Internationalen Strafgerichtshof als menschenrechtliche Institution äußerte.201

 

199 Damit nahm Flechtheim einen von ihm bereits 1970 geäußerten Gedanken auf, als er von einer möglichen lang andauernden Barbarei analog der Periode nach dem Zusammenbruch Westroms sprach (Flechtheim, Futurologie, S. 318).
200 Diese Bemerkungen wiederholte Flechtheim in einem Aufsatz unter dem Titel „Für einen neuen Menschen“, der zuerst in den europäischen ideen (Heft 78/1992) erschien. Nachdruck in: Hannelore Zimmermann (Hg.), Kulturen des Lernens. Bildung im Wertewandel, Mössingen-Thalheim 1995, S. 18ff.

(3) 208 / 209

Er warnte indes vor Idealvorstellungen: Auch wenn es „dem neuen Typ von Welt- und Zukunftsbürger“ gelänge, „sich ein kreativeres und ausgewogeneres Verhältnis zu sich selbst und zu seiner Umgebung zu verschaffen, wird er damit nicht automatisch zum Übermenschen und Genie. Zwar hat Trotzki den Durchschnittsmenschen von morgen mit einem Aristoteles, Goethe und Marx gleichsetzen wollen, und Bertrand Russell sah den Übermenschen der Zukunft hoch über Shakespeare thronen.“202 

Doch bezweifelte Flechtheim selbst Jean Anouilhs Vision, jeder könne in der Zukunft durch Theaterspiel seine Aggressionen abreagieren. Noch weniger wahrscheinlich sei es, dass „zehn oder zwanzig Milliarden Genies die Welt von morgen bevölkern werden.“ Wenn sich die Welt „wirklich in der Richtung entwickelt, die hier skizziert wurde, wird sie nicht im Zeichen des <großen Mannes> oder auch nur des Mannes stehen. Es wird eher eine Welt der Synthese sein“; weniger eine auf Eroberung als auf Bewahrung und Pflege ausgerichtete Welt. (S. 191)

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Flechtheim stieß mit diesem Buch wiederum auf Lob wie Kritik. Beides machte auch den umstrittenen Stand der Futurologie in der Öffentlichkeit der späteren achtziger Jahre deutlich. 

Flechtheim sei "teils Prediger, teils Aufklärer", hieß es im Westberliner Tagesspiegel. Seine "allseitige Fundamentalkritik" sei "von einer als teils recht suggestiv empfundenen Argumentationslogik und einer moralisierenden Weltsicht geprägt." 

Seine naiv-utopische Vorstellung der Zukunft leiste kaum einen Beitrag zu einer mehrheitsfähigen demokratischen Fortentwicklung der Industriegesellschaft.203  

"Das Buch ist auf eine faszinierende Weise erfahrungs- und realitätsgesättigt", schrieb hingegen Wolfgang Sternstein. "Die Gefahren, die dem Menschen, ja der Natur im ganzen, durch den Menschen drohen, werden offen, wenn auch nicht lückenlos so kommen beispielsweise die verheerenden Auswirkungen des Weltwirtschaftssystems kaum in den Blick angesprochen."204 

Auch der Zukunftsforscher wisse nicht, wie die Zukunft aussehe, schrieb Robert Jungk, doch könne er Gefahren und Chancen erkennen und diese mitteilen. Flechtheims "Darstellung unserer Lage versucht nicht nur Voraussicht, sondern auch Übersicht und Einsicht zu stiften. In seiner ruhigen Schilderung der Unruhe, ihrer Ursachen und möglichen Folgen schafft [das Buch] die Voraussetzung zu überlegter humanistisch und demokratisch orientierter politischer Teilnahme, die alleine mögliche Rettung aus immer katastrophaler werdenden Verhältnissen herbeiführen könnte."205

"Wie groß sind nun aber die Aussichten, daß die Zukunft noch gerettet wird?", fragte Flechtheim. Es gebe unerwartete Entwicklungen, die sich jeder Prognose entzögen. „Ausnahmsweise ereignet sich einmal etwas, das aller Erwartung und jedem Kalkül widerspricht. Unter der Oberfläche wirken hie und da Kräfte, die höchstens unsere kühnste Phantasie erahnen kann. Tschechische Reformer erzählen, daß, hätte man 1967 einen Prager Frühling propagiert, sie eine solche Entwicklung für undenkbar gehalten hätten. Und wer hätte vorauszusehen gewagt, daß 1974 in Portugal ausgerechnet Militärs eine Militärdiktatur stürzen und eine radikal-demokratische Revolution einleiten würden? Grenzen solche Entwicklungen nicht an so etwas wie historische 'Wunder'?“ 

Wir wissen nicht, so Flechtheim, ob die Zivilisation "noch durch eine Art von historisch-politischem Wunder gerettet wird dennoch müssen wir alles in unseren Kräften Stehende tun, um ein solches 'Wunder' etwas wahr­scheinlicher zu machen." (S. 227) Hierzu sei der Blick auf große geschichtliche Entwicklungen nötig. (S. 28)

Flechtheim zeige, so Oskar Lafontaine, "daß es immer wieder notwendig ist, aus dem lähmenden Korsett einer 'Machbarkeitsideologie' auszubrechen, Ziele anzusteuern, im demokratischen Dialog weiterzuentwickeln und neben weit vorausgreifenden Zukunftsentwürfen auch konkrete Vorstellungen für die aktuellen Prozesse der Veränderung zu entwickeln.“206 

Als der Kanzlerkandidat der SPD dies Anfang 1990 im Vorwort zur Taschenbuchausgabe von <Ist die Zukunft noch zu retten?> schrieb, schien durch den Fall der Berliner Mauer, die nationale Euphorie und den Triumph der Konservativen jede sozialistische Perspektive ausgelöscht.

Flechtheim suchte denkbare Alternativen zur nunmehrigen Lage auch mit den Ostdeutschen zu diskutieren, die nun Zugang zu seinen Schriften hatten.

 

201) Vgl. Ossip K. Flechtheim, Ist die Zukunft noch zu retten? Weltföderation - der Dritte Weg ins 21. Jahrhundert, hg. von Stefan Mögle-Stadel, Frankfurt etc. 1995, S. 293ff., sowie Flechtheims Geleitwort zu: Maja Brauer, Weltföderation. Modell globaler Gesellschaftsordnung, Frankfurt 1995.

202) Hier bezog sich Flechtheim auf Leo Trotzki, Literatur und Revolution, München 1972, S. 213, worin es hieß: „Der durchschnittliche Menschentyp [der kommunistischen Zukunft] wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“

203) Eduard Gloeckner, Teils Prediger, teils Aufklärer, in: Der Tagesspiegel vom 31. Mai 1987.

204) Wolfgang Stemstein in: Gewaltfreie Aktion, 19, 1987, (Nr. 73/74), S. 80.

205) Robert Jungk, Warnen vor tauben Ohren, in: Die Zeit, Nr. 49/1987.

206) Oskar Lafontaine, Von der neuen Unübersichtlichkeit. Vorwort zur Taschenbuchausgabe von: Ist die Zukunft noch zu retten?, S. 7f. Zwischen Flechtheim und Lafontaine bestand so gut wie kein persönlicher Kontakt. Briefliche Mitteilung Oskar Lafontaines an den Verfasser vom 20. Februar 2006.

(3)  210

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