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Lesebericht zum Buch "Himmelfahrt ins Nichts"

Von Dr. Fritz Reheis, Rödental bei Coburg

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Ursprünglich in: Forum Politik-Unterricht. – 5 (1992), 3, Seite 98-100

Jahr der Erstpublikation: 1992  - Datum der Freischaltung: 2019

https://fis.uni-bamberg.de/handle/uniba/45447 

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"Ich habe 15 Jahre nach Auswegen gesucht und wohl um die tausend Vorschläge von Zeitgenossen geprüft, die solche gefunden zu haben vorgaben oder auch nur vortäuschten. Alle griffen zu kurz, erwiesen sich als einseitig und verkannten außerdem die Schwierigkeit jeder politischen Umsetzung."

So Herbert Gruhl in seinem neuen Buch "Himmelfahrt ins Nichts" mit dem Untertitel "Der geplünderte Planet" (S. 9). Es will eine Art Fortsetzung des 1975 erschienenen Bestsellers "Ein Planet wird geplündert" sein.

Die neue Botschaft lautet: Jetzt ist es endgültig zu spät. Die Begründung erstreckt sich auf über 400 Seiten. Sie beginnt mit einem Rückblick auf die natürliche Evolution, auf die Entfaltung des Lebens, auf die Entstehung von Hochkulturen und schließlich des technischen Zeitalters. Hier findet der Sündenfall statt, die Kultur beginnt das Fließgleichgewicht der Natur zu zerstören, die Gotteskinder spielen sich als Götter auf und programmieren so das zwangsläufige Ende der Gattung.

Heute sind bereits alle Brücken hinter uns abgebrochen, der letzte Akt der Tragödie beginnt. Gigantische Katastrophen werden über den Planeten hereinbrechen, die explodierende Weltbevölkerung wird den Planeten mit rasender Geschwindigkeit kahlfressen, Völker werden im Kampf um die letzten Ressourcen übereinander herfallen. Unsere technischen Apparate, Chemie und Atomenergie, werden uns nichts mehr nützen, sondern ihr ganzes Risikopotential auf einmal freisetzen. Offen ist lediglich das genaue Datum. (s. S. 10 und 376 ff).

An solche Szenarios haben wir uns mittlerweile gewöhnt. Es ist zu fragen, worauf die These von der Unausweichlichkeit der "Himmelfahrt ins Nichts" letztlich basiert.

Gruhl führt die natürliche und kulturelle Evolution gleichermaßen auf ein ''Gesetz der gleitenden Fügungen" zurück. So wie in der Atmosphäre ein ewiger Kampf zwischen Hoch- und Tiefdruckgebieten tobt, eine chaotisch-unberechenbare Bewegung, aus der sich das Wetter immer wieder neu zusammenfügt, so tobt im Bereich des Lebendigen der Kampf des Lebens (S. 134).

Gruhls wichtigster Zeuge ist Friedrich Nietzsche: "Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden (ist) ein Feststellen von Grad- und Kräfteverhältnissen", ist "Kampf'. Und weiter: "Jedes Dasein hat seinen Daseinswillen: im Kampf sich zu erhalten und seinen Lebensraum zu erweitern." (S. 136) Die Alternative lautet: Überwältigung oder Unterwerfung, Fressen oder Gefressenwerden. Sobald aber eine Bewegung auf keinen Widerstand mehr stößt, läuft sie ins Leere, löst sich auf, verschwindet sie. Die Tragik der siegreichen Überwältiger und Fresser besteht darin, irgendwann einmal keine Widerstände mehr zu spüren, sich einem "statischen Zustand des Wohllebens" anzunähern und damit den Tod ihrer Kultur einzuleiten (S. 142).

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Im Zeitalter der technischen Kultur geschieht dies totaler denn je. Nach einem langen Anlauf des Geistes erreicht dieser Geist des klugen Tiers "Mensch" eine neue Stufe. Die Stufe der technischen Zivilisation in Europa. Erfindungen explodieren, und gleichzeitig werden die durch neue Produktionstechniken möglich gewordenen Überschüsse, die in früheren Hochkulturen unproduktiv als Gaben für die Götter verschwendet wurden, wieder in die Produktion gesteckt. Die "rationelle abendländische Ökonomie" wird geboren - und das Schicksal der Gattung Mensch nimmt seinen verhängnisvollen Lauf. Das euroamerikanische Zeitalter, das vor 200 Jahren begann, ist ein Zeitalter der dramatisch wachsenden Überschüsse: Überschüsse an Produkten, an Unnötigem, aber auch an Menschen, die nicht mehr ernährt werden können (S. 156).

Freiwilliger oder erzwungener Verzicht auf weitere Steigerung der Produktion, von Konsumgütern wie von Kindern, muß scheitern. Denn: "Von ihrem Ursprung aus sind die Geschöpfe der Natur auf Ausbreitung und Verdrängung aus, um ihre Verluste scheren sie sich wenig." (S. 355).

Wahrlich konsequent gedacht! - und dennoch erstens eine intellektuelle Zumutung für jeden, der sich ernsthaft mit sozialwissenschaftlichen Entwicklungs­theorien befaßt hat, und zweitens ein Paradebeispiel für die Ideologie des modernisierten Rechtsradikalismus.

Zum ersten:

Wenn Gruhl die Überproduktion von Autos und all dem anderen Zivilisationsschrott mit der Überproduktion von Kindern auf eine Stufe stellt, indem er beide auf dieselbe Triebkraft, das Ausdehnen-Wollen des Lebensraums, zurückführt, unterschlägt er, daß die erste Art der Überproduktion in den Macht- und Reichtumszentren der Welt geschieht und deren Überlegenheit zum Ausdruck bringt, die zweite in den Armutsregionen der Welt und der Verzweiflung der don Lebenden geschuldet ist, daß also die eine Aktion, die andere Reaktion ist: Und wenn Gruhl die Überproduktion von Gütern und Menschen in einem Atemzug anprangert, abstrahiert er davon, daß die maßlosen Güterproduzenten dabei für sich, d.h. pro Kopf, hundenmal mehr Naturressourcen beanspruchen als die maßlosen Menschenproduzenten, daß also das Fehlverhalten der beiden Gruppen in Bezug auf die ökologischen Auswirkungen doch höchst unterschiedliche Dimensionen hat.

Zur intellektuellen Abwegigkeit der Gruhlschen Argumente kommt noch hinzu, daß sie gegenüber denjenigen, die auf die Kinderproduktion verwiesen sind, reichlich zynisch ist: Und schließlich: Wenn Gruhl als Akademiker mit geisteswissenschaftlicher Grundbildung die Evolution der Natur derart bruchlos in die Evolution der Kultur übergehen läßt, menschliches Verhalten also rein biologisch erklärt, den Unterschied instinktgeleiteter Verhaltensprogramme und zumindest potentiell vernunftgeleiteter Handlungskonzepte wegdefiniert, so übergeht er großzügig alles, was von Aristoteles bis Kant, von Hegel bis Marx und Habermas an geistesgeschichtlichen Fundamenten gelegt worden ist.

Gruhls einziger Lehrmeister heißt Friedrich Nietzsche. Zum zweiten: Die politische Funktion dieses biologischen Determinismus offenbart sich dort am klarsten, wo sich Gruhl über die multikulturelle Gesellschaft ausläßt. So wie im Bereich des Naturgeschehens ein fortwährender Abbau der Energie­potentiale, die Entropie, stattfindet, so ist der Bereich des Kulturgeschehens durch einen permanenten kulturellen Identitätsverlust gekennzeichnet.

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In beiden Welten bedeutet für Gruhl Vermischung immer Verwarmung, Entwertung, Untergang. Ein Vorgang, der nur gebremst, nicht gänzlich verhindert werden könne. So betrachtet ist das Streben nach maximaler kultureller Identität nichts anderes als die Kehrseite des sparsamen Umgangs mit Energie. Die Forderung nach einer multikulturellen Gesellschaft dagegen "eine waschechte kommunistische Idee", so wie die Kommunisten auch in Sachen Naturzerstörung den Kapitalisten noch um einiges voraus gewesen seien.

Modernisierter Rechtsradikalismus zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, daß er an die Stelle der Würde der Menschen die Identität der Kulturen als geistigen Ausgangspunkt setzt. Hier gerät Gruhls Biologismus sogar in gefährliche Nähe zu jener Auffassung, die die Evolution von Tier und Mensch nicht nur als Kampf um Lebensraum interpretierte, der maximale Geschlossenheit und Stärke der kämpfenden Parteien notwendig mache, sondern zudem den jeweiligen Sieger noch den höheren moralischen Wert zusprach, der sie zur Unterwerfung der Schwächeren geradezu verpflichtet.

Bezeichnenderweise betont Gruhl immer wieder, daß er in der Bevölkerungsexplosion die größte aller Gefahren sieht und dort, bei den Verlierern des globalen Lebenskampfes, am dringendsten Umkehr vonnöten sei. Haben die Sieger also ein höheres moralisches Recht, zu überleben und sich fortzupflanzen?

Gruhls Buch eignet sich auf alle Fälle als ideologische Schützenhilfe für den Bau der Festung Europas. Wer den Zustand unseres Planeten und unserer Gattung weniger ideologisch diskutieren will, wäre gut beraten, Natur- und Kulturgeschichte sauber auseinanderzuhalten, letztere etwa als · "Beitrag des Menschen" (Meyer-Abich) zur ersteren zu begreifen und die Spezifik dieses Beitrags, die Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit, herauszuarbeiten.

Dabei würde sich erweisen, daß für die Geschichte des Menschen - nicht für die der Tiere! - nicht der Kampf um Lebensraum, sondern die Kategorie Arbeit elementar ist. Und daß nicht das Gottspielenwollen des Menschen am naturgesetzlichen Ende eines Zeitalters, sondern eine immer anachronistischer werdende Form der Organisation dieser Arbeit uns an den Rand unserer Existenz gebracht hat.

Zur "Himmelfahrt in, Nichts" gäbe es tatsächlich eine Alternative: Statt die Überschüsse dazu zu verwenden, immer mehr zu produzieren und zu konsumieren, könnten wir einfach weniger und lustvoller arbeiten, das Leben also mehr genießen. Nicht der Beginn des Verzichtens ist angesagt, sondern das Ende.

Aber die gnadenlosen Gesetze des Marktes vermehren uns diese Alternative. Er hat uns in ein totalitäres Gefangenendilemma getrieben. Zur Auflösung eines solchen Dilemmas bedarf es keiner neuen genetischen Ausstattung des Menschen, sondern "lediglich" einer übergeordneten Institution, die den konkurrierenden Gefangenen die Möglichkeit des Kooperierens eröffnet.

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Dr. Fritz Reheis, Rödental b. Coburg

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