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Wir sind unbehaust im Universum "zu Hause"

Einleitung von Herbert Gruhl, 1992

Denn schließlich, was ist der Mensch in der Natur?

Ein Nichts im Hinblick auf das Unendliche,

ein Alles im Hinblick auf das Nichts,

eine Mitte zwischen Nichts und Allem.

Der französische Philosoph Blaise Pascal

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Es hat nur eines Anlaufs von wenigen Jahrzehnten unseres Jahrhunderts bedurft, um Astronauten auf dem Mond landen und Tauchboote auf 6000 Meter Tiefe sinken zu lassen, fernste Objekte im Weltraum millionen­fach zu vergrößern und andererseits winzigste Teilchen sichtbar zu machen, die nur den millionsten Teil eines Millimeters groß sind. 

Und das alles kann fotografiert und auf drahtlose Weise über unvorstellbare Entfern­ungen gesendet werden. So schickte uns die 1970 gestartete Raumsonde <Voyager> auch im Jahre 1990, nachdem sie 1989 den fernsten Planeten unseres Sonnensystems passiert hatte, immer noch scharfe Bilder. Erst nach 40.000 Jahren wird sie wieder einem Himmelskörper im Sternbild der Andromeda nahekommen.

Doch mehr noch als unser Bild vom Universum haben diese plötzlich aufgetauchten technischen Möglich­keiten unsere Vorstellung von der Kleinstlebewelt, von der Innenwelt aller Pflanzen und Tiere revolutioniert. Selbst begabteste Menschen sind den daraus zu ziehenden Folgerungen nicht nachge­kommen, und auch die Philosophen sind nicht mehr auf der Höhe des fundamentalen Erkenntnis­standes. Eine neue Wissenschaft vom Leben, die Ökologie, bemüht sich, die Erkennt­nisse zu ordnen, doch die Menschen können geistig kaum folgen. 

Wir sind heute im Universum "zu Hause", das heißt, wir kennen seine ungeheuren Dimensionen.

In der ganzen Geschichte bis in die neueste Zeit war für den homo sapiens die Sache einfach gewesen: Hier die Erde und darüber der Himmel mit den Sternen. Über diesem Himmelsdach war Raum genug für die Götter, die den Menschen schützten oder bedrohten. Bis etwa 1500 n.Chr. nahmen alle Menschen an, daß sich der ganze Sternenhimmel um unsere Erde drehe, und unter »Gottes Schöpfung« verstand man die Erschaffung der Erde und des Menschen — alles andere war Beiwerk. 

Heute wissen wir, wenn ein Gott im Universum nach der Erde suchte, daß er dieses Sandkorn im All gar nicht finden würde. 

Nehmen wir an, unser Planet wäre ein Körnchen von drei Millimeter Durchmesser, dann wären es schon bis zum nächsten Sandkorn, dem Mars, rund 18,5 Meter und bis zu unserer Sonne rund 35 Meter, die schon etwas größer als ein Fußball wäre.

Ein dänischer Astronom beobachtete 1988 vom Observatorium La Silla in Chile aus eine Supernova, die vor fünf Milliarden Jahren aufleuchtete.13 Das ist der weiteste unter den bisher entdeckten Sternen, da sonst nur eine Galaxie groß genug ist, um in solcher Entfernung noch sichtbar zu werden. Die Astronomen haben den Sternenhimmel viel weiter kartiert, als unser Auge Sterne sieht. Das war auch mit den größten Teleskopen nicht möglich, sondern nur mit dem Radioteleskop, und das haben wir erst seit dem Jahre 1937. Der bis jetzt beobachtbare Durchmesser des Universums beträgt etwa 15 bis 20 Milliarden Lichtjahre. Das Licht legt in einem Jahr rund 9,5 Billionen Kilometer zurück. Diese Zahl ist also mit 20.000.000.000 zu multiplizieren, um auf die ungefähre Verbreitung der Himmelskörper zu kommen.

Im Jahre 1989 wurde ein System entdeckt, das aus rund 2000 Galaxien besteht, die einen Raum von 500 Millionen Lichtjahren Länge und 200 Millionen Lichtjahren Breite einnehmen. Zum Vergleich: Die Galaxie, in der wir wohnen, unsere Milchstraße, hat »nur« eine Länge von 100.000 Lichtjahren. Eine einzelne Galaxie kann aus 100 Milliarden Sternen bestehen, von denen einzelne dreißigmal schwerer sein können als unsere Sonne.

Erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts entdeckte Edwin Hubble, daß sich die Materie im Weltall ständig weiter ausdehnt. Die Galaxien streben mit einer Geschwindigkeit auseinander, die in etwa 20 Milliarden Jahren zur Verdoppelung der Abstände führt. Die Materie muß also ursprünglich eine unvor­stell­bare Dichte auf kleinstem Raum besessen haben. Daraus entwickelte sich die Vorstellung vom Urknall, die 1948 erstmalig in einem Aufsatz von George Gamow dargelegt wurde.(14)

Nach bisherigen Annahmen erfolgte der Urknall vor 17 bis 20 Milliarden Jahren.15 Beim Urknall müssen Temperaturen von über einer Milliarde Grad Celsius für einige Minuten geherrscht haben, wobei sieben Prozent der Protonen und Neutronen zu Heliumkernen fusionierten, alles übrige war fast nur Wasserstoff. 

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Die expandierenden Wasserstoffwolken erfüllten den Kosmos, ihre Schwerkraft führte zu wirbelnden Zusamm­en­ballungen in rotierenden flachen Scheiben, die sich zu den heutigen Galaxien entwickelten. In ihnen entstanden die einzelnen Sterne mit ungeheurem Massendruck und Temperaturen von Millionen Grad, wobei die Fusion weiterging und die übrigen 91 Elemente in einer »chemischen Evolution« entstanden. 

Das Universum ist also übersät mit Fusionskraft­werken. Würde ihr atomares Feuer nicht hier und da den Weltraum »erwärmen«, dann hätte nirgendwo organisches Leben entstehen können. Aber das Leben konnte auch nie in solchen Feuerbällen entstehen, sondern nur in gehörigem Abstand von ihnen, dort, wo die Temperaturen nie stark um den Gefrierpunkt des Wasser schwanken, also auf Planeten, die in entsprechender Distanz um ihren Fixstern kreisen. 

Weil die Planeten kalt sind und kein Licht aussenden können, bleiben sie im Weltraum unsichtbar. Ihre Zahl und Masse kann nur annähernd auf Grund der Gravitations­verhältnisse und anderer Kriterien errechnet wer­den. Die Zeitschrift <American Scientist> kam in einer umfangreichen Untersuchung 1979 auf 10 Billionen erdähnlicher Planeten im Universum.16 Aber innerhalb eines Radius von 1000 Lichtjahren um uns, in der Milch­straße, könnte es von einem bis zu hundert erdähnliche Planeten geben. 

Um dort Leben überhaupt möglich zu machen, müssen zunächst die Sonnen diffizile Bedingungen erfüllen, aber auch der in Frage kommende Planet.

Ein kritischer Punkt ist der Abstand des Planeten von der Sonne. Bei unserer Erde entstünde bei 5 Prozent geringerer Entfernung zur Sonne ein zu hoher Treibhauseffekt, bei 1 Prozent höherer Entfernung aber eine permanente Eiszeit. Erforderlich ist auch eine bestimmte Neigung der Planetenachse und eine entsprechende Rotation.

Die Bedingungen, welche auf der Oberfläche des Planeten selbst herrschen müssen, um die Evolution des Lebens überhaupt möglich zu machen, sind von weit komplizierterer Art. Darauf kommen wir im nächsten Kapitel zurück. Unsere Frage lautet an dieser Stelle zunächst: 

Gibt es menschenähnliche Wesen, mit denen wir in Kontakt kommen könnten? Da genügt es nicht, wenn es sie vielleicht gegeben hat oder geben wird, sondern sie müßten zu einer eng begrenzten Zeit gelebt und noch dazu eine der unseren entsprechende technische Zivilisation besessen und auch unsere radiotelegrafische Technik entwickelt gehabt haben.

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Die letztere besitzen wir selbst erst seit reichlich 50 Jahren! Wenn unsere Signale überhaupt vernommen werden sollen — von verstanden werden ist noch gar nicht die Rede — dann müßten die fernen Hörer just zu der Zeit, wenn die Signale dort eintreffen, die gleiche Technik praktizieren. Und wir könnten heute umgekehrt nur solche Signale vernehmen, die zu einer Zeit dort abgeschickt worden sind, daß sie exakt jetzt die Entfernung bis zu uns überwunden hätten.

Gaston Fischer vom <Observatoire cantonal> in Neuchâtel untersuchte die Chancen für Kontakte mit jenen zeitversetzten Doppel­gängern.16  

Wir Erden­bewohner haben jetzt gerade erst einige Jahre unser »Zivilis­ations­fenster«, wie er es nennt, zum Weltraum geöffnet. Nehmen wir an, es bliebe 1000 Jahre offen, dann müßte auf unsere Botschaft innerhalb dieser Zeit auch eine Antwort eintreffen; die Zivilisation dürfte also höchstens 500 Lichtjahre von uns entfernt sein. Innerhalb dieses Radius liegen 5 Millionen Sterne. Gemäß obiger Rechnung könnten darin 0,5 bis 50 erdähnliche Planeten kreisen.

Fischer nimmt den in seiner Sicht absolut unwahrscheinlichen Fall an, daß es 100 sind. Und er unterstellt, daß bis zum Erreichen der radiotechnischen Zivilisation jeweils eine Milliarde Jahre für die biologische Evolution nötig gewesen ist; dann ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß zwei Zivilisationsfenster für 1000 Jahre auf einer Skala von einer Milliarde Jahren gleichzeitig offenstehen, 1:10 Millionen. Und wären es 100 Planeten, dann erhöhte sich die Chance, auf ein offenes Fenster zu treffen, auf 0,0006. 

»Wir gelangen daher trotz sehr optimistischer Annahmen mit Sicherheit zu dem Resultat, daß die Chancen zum Erreichen eines Kontakts mit einer anderen Zivilisation im Universum quasi inexistent sind.«17

Das weitere Problem ist, daß diese unbekannten Wesen sicherlich eine uns völlig fremde »Sprache« hätten. Zu einem »Gespräch« kann es allein schon darum nicht kommen, weil zwischen Frage und Antwort jeweils mindestens Jahr­hunderte liegen würden. Wir könnten also höchstens erfahren, daß es auf einem bestimmten Planeten intelligente Wesen gibt, die imstande sind. Radiosignale auszusenden. 

Hinfliegen könnten wir auch dann nicht, da wir nie mit der Lichtgeschwindigkeit von 300.000 Kilometern in der Sekunde reisen werden.

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Aufgrund der dargestellten Realitäten ist davon auszugehen, daß wir allein im Weltraum bleiben werden. Selbst wenn es auf irgendeinem Planeten vernunft­begabte Lebewesen zu irgendeinem Zeitpunkt geben sollte, so werden wir sie weder zu Gesicht bekommen, noch entzifferbare Funksignale mit ihnen austauschen können, abgesehen davon, daß sie ihre besondere Sprache hätten, wo es doch schon auf unserer Erde rund 2000 davon gibt!

Warum wir die Frage nach bewohnten Planeten jetzt so wichtig nehmen, liegt daran, daß wir wissen möchten, ob irgendwo noch Leben bleibt, das unserem ähnlich ist, wenn wir Menschen verschwunden sein werden. Und selbstverständlich würden unsere Kenntnisse über die Evolution des Lebens sprunghaft erweitert, wenn wir irgendwo eine Parallelentwicklung studieren könnten. 

»Hätten wir die Kenntnis, wie die Bevölkerung eines kosmischen Körpers untergegangen ist, unser Bewußtsein von der Welt wäre gewaltig gesteigert«, schrieb Nietzsche schon 1875. Denn aus eigener Erinnerung oder Erwartung würden wir (wenn einer ganz allein lebte) für unsere Person auch Geburt und Tod nicht kennen, so »wie die ganze Gattung der Menschen sie nicht kennt«. — »Die Unsterblichkeit der Gattung ist die stillschweigende Voraussetzung aller unserer höheren Vorstellungen.«18

Doch soviel wissen wir auch jetzt schon: Es gibt offenbar keine unsterbliche Gattung. Darum fing man um 1970 an, auch über die Lebenschancen der Gattung Mensch auf unserem blauen Planeten nachzudenken. War für den griechischen Dichter Hesiod unsere Erde noch »der fort und fort sichere Ort aller Wesen«, so gilt dies auf unserem Sandkorn heute nicht mehr. Unser Blick geht nach allen Seiten ins Offene, man kann auch sagen ins Leere. Wo ist in dieser wahnsinnigen Unendlichkeit noch eine Wohnung für Götter? Und wo wäre sie auf der Erde? Auf den hohen Bergen, wo in den Augen alter Völker ihr Sitz war, stehen heute Funk­stationen. Deren eine funkt nun schon jahrelang in den Weltraum: Ist da jemand? Und sie bekommt keine Antwort. 

Die früheren heiligen Haine sind auch längst gerodet. »Wann werden wir die Natur entgöttert haben«, rief Nietzsche 1881 aus. Wir können ihm antworten: Heute, nach hundert Jahren!

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Seit kurzem wissen wir, daß auch die Bahnen der Sterne nicht verläßlich sind. Da die physikalischen Gesetze des einzelnen Atoms wie des Universums die gleichen sind, wurden in beiden Systemen inzwischen Unregel­mäßigkeiten entdeckt, »Unschärfe­relationen«, wie Heisen­berg es nannte. Die »VDI-Nachrichten« veröffent­lichten am 15.9.1989 einen Artikel mit der Überschrift »Chaos im Sonnensystem«. Jack Wisdom vom Massachusetts Institute of Technology hatte 1988 die Bahn des Pluto vorausberechnet und Jaques Laskar in Paris die der inneren Planeten einschließlich der Erde. Schon über 100 Millionen Jahre hinweg ist es unmöglich, den Ort der Erde im Sonnensystem anzugeben, und den der übrigen Planeten ebensowenig. Sobald sich eine Ausgangsposition oder Zwischensumme auch nur winzig ändert, vergrößern sich die langfristigen Abweichungen, bis sie schließlich nicht mehr berechenbar sind. Dennoch sind die Gesetze der klassischen Physik damit nicht aufgehoben.

Nietzsche hatte 1881 auch geschrieben: 

»Hüten wir uns schon davor, zu glauben, daß das All eine Maschine sei; es ist gewiß nicht auf ein Ziel konstruiert. Wir tun ihm mit dem Wort <Maschine> eine viel zu hohe Ehre an. Hüten wir uns, etwas so Formvolles wie die zyklischen Bewegungen unserer Nachbar-Sterne überhaupt und überall vorauszusetzen; schon ein Blick in die Milchstraße läßt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen gibt, ebenfalls Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen. Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermöglicht: die Bildung des Organischen. Der Gesamt­charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos.«19

Der gleiche Gedanke wird im Fragment 157 desselben Jahres fortgeführt: 

»... es gab nicht erst ein Chaos und nachher eine harmonischere und endlich eine feste kreisförmige Bewegung aller Kräfte: vielmehr alles ist ewig, ungeworden: wenn es ein Chaos der Kräfte gab, so war auch das Chaos ewig und kehrte in jedem Ringe wieder.«20

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Wir kehren zum Sandkorn Erde zurück. Wie wir bisher verkleinern mußten, um die Dimensionen überhaupt unserem Vor­stellungs­vermögen anzunähern, so müssen wir sie nun vergrößern. Dieses Sandkorn läßt sich auch — wie der Kosmos — in seine Bestandteile zergliedern und immer weiter und weiter zergliedern. Eine winzige Quantität auf der Erde heißt Mensch (nicht die Gattung Mensch, sondern ein einzelner Mensch). Dieser sieht sich, wenn er ein Grübler ist, zwischen den beiden Unermeßlichkeiten schwebend.

»Wir sind irgendwie in der Mitte — nach der Größe der Welt zu und nach der Kleinheit der unendlichen Welt zu. Oder ist das Atom uns näher als das äußerste Ende der Welt?«21) Es deutet alles darauf hin, daß der Mensch tatsächlich — schon in bezug auf das Volumen seines Körpers — eine mittlere Position einnimmt. Rechneten wir soeben mit Billionen Sternen, so müssen wir nun mit Billionen Zellen in unserem eigenen Körper rechnen. Doch das Bewußtsein über diese von der Haut umhüllte Innenwelt ist nicht deutlicher als das Bewußtsein, welches wir vom Universum mit uns herumtragen! »Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst!« ruft Nietzsche aus. 

»Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig hingelegt wie in einem erleuchteten Glaskasten, zu perzipieren? Verschweigt ihm die Natur nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewußtsein zu bannen und einzuschließen! Sie [die Natur] warf den Schlüssel weg: und Wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, daß auf dem Erbarmungs­losen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend.«22

Zwischen diese beiden Unermeßlichkeiten geworfen, müßte der Mensch seine Nichtigkeit erkennen; denn all die angehäuften Erkenntnisse der letzten Jahr­hunderte bestätigen nur immer wieder unsere Nichtigkeit. Und doch sind wir es selbst, die diese Erkenntnisse gesammelt haben wie noch kein anderes Lebewesen. Dieses Bewußtsein verleiht uns ein Gefühl der Einzigkeit, das objektiv völlig unberechtigt erscheint, aber subjektiv wohl nötig ist, um überhaupt leben zu können. 

Denn »vielleicht bildet sich die Ameise im Walde ebenso stark ein, daß sie Ziel und Absicht der Existenz des Waldes ist, wie wir das tun«. So Nietzsche in <Menschliches, Allzumenschliches>23

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Oder: »Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum der Welt fühlt.«24

Wir wollen hier nicht das biologische Wunderwerk eines tierischen Körpers und seiner Organe beschreiben, denn das lernt man immerhin heute noch in der Schule. Es soll nur die Vorstellung dahin erweitert werden, wie unbegreiflich kompliziert und darum störanfällig unser Körper ist, wovon wir im gesunden Zustand nichts ahnen und bei Krankheit vom Arzt auch nur die aller­gröbsten Erklärungen zu hören bekommen.

Im ausgewachsenen Körper findet ein wundervoll gesteuertes Zusammenspiel von 50 bis 100 Billionen Zellen statt. Die Billionen Kernteilchen eines Menschen rotieren und verändern sich ständig mit großer Geschwind­igkeit, so daß sie insgesamt 11 Millionen Kilometer pro Stunde zurücklegen.25 So gut wie unbekannt ist auch die Tatsache, daß im menschlichen Körper etwa 100 Billionen Einzeller »wohnen«. Ihr Gewicht beträgt 1,5 Kilogramm. Es handelt sich um Tausende verschiedener Arten, massiert treten sie im Verdauungstrakt auf, aber 350 Arten auch schon in der Mundhöhle.26 Der menschliche Körper ist ein Kriegs­schauplatz, auf dem ganze Heere von Bakterien unablässig miteinander kämpfen.

 

Im Boden ist das nicht anders. Schon jeder Kubikzentimeter der Humusschicht ist ein kleiner Kosmos von Lebewesen. Nach Angaben von Joachim I. Illies und Wolfgang K. Klausewitz enthält ein Bodenblock von einem Meter Länge, einem Meter Breite und 30 Zentimeter Tiefe in Europa durchschnittlich folgende Lebewesen (siehe Tabelle 1).

Ein solcher Aufwand in einem einzigen Quadratmeter Boden ist nötig, um letzten Endes auch den Menschen mit Nahrung zu versorgen. Es ist offenbar, wie labil dieses Gefüge der Arten sein muß, das der Mensch mit der Bebauung des Bodens in seinen Dienst gestellt hat. Auch die Humusschicht ist ein Schlachtfeld, auf dem das Prinzip »fressen und gefressen werden« gilt.

Auch das Wasser ist ein belebter Kosmos. In einem Kubikzentimeter Meerwasser befinden sich im allgemeinen 100.000 bis 1.000.000 Mikroorganismen, im Süßwasser etwa ein Zehntel dieser Menge. Die einzelnen sind meist kleiner als 0,005 Millimeter. Diese Viren wirken im Nahrungsnetz des Wassers auf eine noch nicht aufgeklärte Weise mit.27

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Tabelle 1 - Der fruchtbare Boden — ein belebter Kosmos 
 Die Aufstellung gibt die Arten, deren Stückzahlen und Gewichte an, 
die in 0,3 Kubikmeter Mutterboden im Durchschnitt hausen.   Quelle: Klötzli, 203.

Gruppe

Anzahl Einzelwesen
durchschnittlich und im Optimum

Gesamtgewicht in Gramm,
durchschnittlich und maximal

Kleinste Pflanzen

 

 

Bakterien

10 h12  - 10 h15

50 - 500

Strahlenpilze

10 h10  -  10 h13

50 - 500

Pilze

10  h9  -  10 h12

100 - 1000

Algen

10 h6 -  10 h10

1 - 15

Kleinste Tiere (bis 0,2 mm)

 

 

Geißeltierchen

5 * 10 h11  - 10 h12

50 - 100

Wurzelfüßer

1011   - 5 * 1011

10 - 100

Wimpertierchen

  106 - 108

10 - 100

Kleintiere (0,2 bis 2 mm)

 

 

Rädertiere

25.000 - 600.000

0,01 - 0,3

Fadenwürmer

10 h6 - 2 * 10 h7

1-20

Milben

100.000 - 400.000

1-10

Springschwänze

50.000 - 400.000

0,6-10

Größere Kleintiere (2 bis 20 mm)

 

 

Enchytraeiden

10000-200000

2-26

Schnecken

50-1000

1-30

Spinnen

50-200

0,2-1

Asseln

50-200

0,5-1,5

Doppelfüßer

150-500

4-8

Hundertfüßer

50-300

0,4-2

übrige Vielfüßer

100-2000

0,05-1

Käfer mit Larven

100-600

1,5-20

Zweiflüglerlarven

100-1000

1-10

übrige Kerbtiere

150-15000

1-15

Mittelgroße Tiere (20 bis 200mm)

 

 

Regenwürmer

80 - 800

40 - 400

Wirbeltiere

0,001-0,1

0,1-10

Überall da, wo der Mensch glaubte, da wäre nichts mehr, stößt er auf noch winzigere und kompliziertere Formen des Lebens und dessen Verbund. Auf diese verletzlichen Verhältnisse hat er beim Aufbau der tech­nischen Welt aus Unwissenheit nicht die geringste Rücksicht genommen.

Je tiefer wir in die Natur eindringen, so schrieb der Dichter Reinhold Schneider, um so »grandioser erscheint die Tragik des forschenden, suchenden Menschen vor der Ganzheit der in Selbstvernichtung sich fort­gebär­en­den Schöpfung — vor der Unend­lichkeit des Großen wie des Kleinen.« 28

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wikipedia  Reinhold Schneider  (1903-1958, 55)     leopold-ziegler-stiftung.de  reinhold-schneider-und-leopold-ziegler   text zum wesen schneiders 

 

 

   www.detopia.de     Literatur      ^^^^ 

Gruhl 1992 Einleitung