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1. Das Problem

Janov-1970

 

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Eine Theorie ist die Bedeutung, die wir bestimmten beobachteten Abläufen in der Realität zuschreiben. Je näher die Theorie der Realität kommt, um so stichhaltiger ist sie. Stichhaltig ist eine Theorie, die uns in die Lage versetzt, Voraussagen zu machen, weil sie mit der Natur dessen, was beobachtet wird, übereinstimmt.

Seit den Tagen von Freud müssen wir uns auf nachträglich aufgestellte Theorien stützen, das heißt, wir haben uns unserer theoretischen Systeme bedient, um zu erklären, was vorher geschehen war. Da die zu beobachtenden Daten immer komplexer wurden, haben uns unsere Beobachtungen in ein Labyrinth verschiedener theoretischer Systeme oder Schulen geführt. 

Heute ist die Psychotherapie zersplittert und spezialisiert; die Neurose hat sich im Lauf des letzten halben Jahrhunderts in so vielen Formen entwickelt, daß nicht nur das Wort <Heilung> unter Psychologen nicht mehr erwähnt wird, sondern das Wort <Neurose> selbst in eine Reihe von Problembereichen zerlegt wurde. 

So gibt es Bücher über Empfindung, Wahrnehmung, Lernen, kognitive Vorgänge usw., aber keines darüber, was getan werden kann, um den Neurotiker zu heilen. 

Neurose scheint das zu sein, was jeder, der einen Hang zur Theorie hat, darunter versteht — Phobien, Depressionen, psycho­somatische Symptome, Funk­tions­untüchtigkeit, Unentschlossenheit.  

Seit Freud haben sich die Psychologen mit Symptomen befaßt, nicht mit Ursachen. Was uns fehlt, ist eine einheitliche Struktur, die konkrete Richtlinien dafür bietet, wie Stunde um Stunde in der Therapie mit Patienten zu verfahren ist.

Ehe ich auf das kam, was sich zur Primärtherapie auswuchs, wußte ich im großen und ganzen, was ich von meinen Patienten erwartete. Dennoch störte mich der Mangel an Kontinuität zwischen den einzelnen Sitzungen, der auch einige meiner Kollegen stört. Es schien Flickwerk zu sein, was ich tat. Wann immer sich eine undichte Stelle im Abwehrsystem eines Patienten zeigte, war ich da und legte den Finger auf die Wunde. Einmal analysierte ich vielleicht einen Traum; an einem anderen Tag ermunterte ich zu freiem Assoziieren; in der nächsten Woche konzentrierte ich die Aufmerksamkeit auf frühere Geschehnisse; und zu anderen Zeiten hielt ich den Patienten im »hier und jetzt«.

Wie viele meiner Kollegen war ich verblüfft über die Komplexität der Probleme, die ein leidender Patient bietet. Die Voraussag­barkeit, dieser Eckstein einer stichhaltigen theoretischen Betrachtungsweise, wich oft einer Art erleuchteter Zuversicht.

Mein unausgesprochenes Glaubensbekenntnis war: mit genügend Einsicht wird der Patient früher oder später sich selbst gut genug kennen, um sein neurotisches Verhalten unter Kontrolle zu bekommen. Jetzt glaube ich indes, daß die Neurose wenig mit Wissen an sich und mit Wissen von ihr zu tun hat.

Neurose ist eine Krankheit des Gefühls.  

Ihr Kernpunkt ist die Unterdrückung des Gefühls und seine Umwandlung in einen ausgedehnten Bereich neurotischen Verhaltens. Die verwirrende Vielfältigkeit neurotischer Symptome, von Schlaflosigkeit bis zur sexuellen Perversion, hat uns annehmen lassen, daß es mehrere Arten von Neurose gebe. Aber unterschiedliche Symptome sind nicht unterschiedliche Krankheitseinheiten; alle Neurosen gehen auf dieselbe spezifische Ursache zurück und sprechen auf dieselbe spezifische Behandlung an.

Genial, wie er war, hinterließ uns Freud zwei höchst verhängnisvolle Vorstellungen, die wir als absolut wahr ansahen. Die eine ist, daß es kein Anfangsstadium der Neurose gebe — mit anderen Worten, als Mensch geboren zu werden heißt, neurotisch geboren zu werden. Die andere Vorstellung ist, daß der Mensch mit dem stärksten Abwehrsystem notwendigerweise derjenige ist, der in der Gesellschaft am besten funktionieren kann.

Die Primärtherapie baut auf der Annahme auf, daß wir nur als wir selbst geboren werden. Wir werden nicht neurotisch oder psychotisch geboren. Wir werden einfach geboren.

Die Primärtherapie hat den Abbau der Spannungsursachen, des Abwehrsystems und der Neurose zu Folge. So zeigt die Primär­therapie, daß die gesündesten Menschen jene sind, die abwehrfrei sind. Alles, was ein stärkeres Abwehrsystem aufbaut, verstärkt die Neurose. Und zwar geschieht das durch die Einschließung der neurotischen Spannung in Schichten von Abwehr­mechanismen, die es dem Betreffenden vielleicht ermöglichen, äußerlich besser zu funktionieren, aber bewirken, daß er von innerer Spannung heimgesucht wird.

Ich tröste mich nicht mit der Rationalisierung, daß wir in einem Zeitalter der Neurose (oder Angst) leben, so daß damit zu rechnen ist, daß die Menschen neurotisch sind. Ich meine vielmehr, daß es noch etwas über das verbesserte Funktionieren in sozial annehmbarer Weise, über eine Linderung der Symptome und ein gründlicheres Verständnis der eigenen Motivationen hinaus gibt.

Es gibt eine Seinsweise, die ganz anders ist als das, was wir uns vorgestellt haben: ein spannungsloses, abwehrfreies Leben, bei dem man ganz und gar man selber ist und tiefes Gefühl und innere Maßstäbe kennenlernt. Das ist die Seinsweise, die durch die Primärtherapie erreicht werden kann. Die Menschen werden sie selber und bleiben sie selber.

Das bedeutet nicht, daß Patienten nach einer Primärtherapie nie wieder durcheinander oder unglücklich sein werden. Es bedeutet, daß sie, was immer sie auch durchmachen mögen, trotzdem ihren Problemen in der Gegenwart realistisch gegen­übertreten. Sie bemänteln die Realität nicht länger mit Vorwänden; sie leiden nicht unter chronischen, unerklärlichen Spannungen oder Ängsten.

Die Primärtherapie ist auf einem ausgedehnten Bereich von Neurosen einschließlich Heroinsucht erfolgreich angewandt worden. Die Sitzungen in der Primärtherapie stehen zueinander in Beziehung, und meist kann der Therapeut den Verlauf der Therapie voraussagen. Die Implikationen dieser Behauptung werden immer wichtiger werden, denn wenn wir Neurosen auf eine geregelte, systematische Weise heilen können, dann werden wir vielleicht auch imstande sein, jene Faktoren auszumachen, die Neurosen verhindern.

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