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4. Schmerz und Erinnerung

 

 

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Wenn die erste Spaltung beim Neurotiker auftritt, scheint es zu einer Teilung im Erinnerungssystem zu kommen. Es gibt reale Erinnerungen, die zusammen mit dem Urschmerz gespeichert werden, und Erinnerungen, die mit dem irrealen System assoziiert werden. Die Aufgabe des irrealen Systems ist es, Erinnerungen, die zum Urschmerz führen können, zu sichten, zu filtern oder zu blockieren. 

Jede neue Primärszene zwingt das kleine Kind, mehr von seinem Erleben auszulöschen, so daß jeder große Urschmerz von einer Gruppe von Assoziationen umgeben ist, die vom vollen Bewußtsein abgetrennt sind. Je größer das Trauma, um so wahrscheinlicher wird es sich auf einige Aspekte der Erinnerung auswirken.

Die Hypothese der Primärtheorie lautet, daß diese Erinnerung mit dem Schmerz aufgespeichert wurde und erst wieder hervorgeholt wird, wenn der Schmerz empfunden wird. Primärtherapeutisch behandelte Patienten sind einer wie der andere überrascht, wie die Therapie diese Erinnerungsbank sprengt. 

Eine Patientin begann die Therapie damit, daß sie das, was sie im Alter von sechs Monaten erlebt hatte, wiedererlebte, und an jedem folgenden Tag der Behandlung erlebte sie das nächste Lebensjahr, bis ihr ganzes Leben vor ihr abgerollt war. Bei jeder dieser Sitzungen erweiterte sich ihre Erinnerung sehr stark, ging aber nicht über das Lebensalter hinaus, mit dem sie sich an jenem Tag beschäftigte. Als sie sich ins Gedächtnis zurückrief, wie sie in ihrem Kinderbettchen allein gelassen wurde, da entsann sie sich auch des Hauses, in dem sie damals lebte, wie ihre Großeltern kamen, um mit ihr zu spielen, und wie ihr Bruder sie kniff, während sie hilflos dalag.

Die Erinnerung ist eng verknüpft mit dem Urschmerz. Es wird leicht vergessen, daß diese Erinnerungen zu schmerzlich sind, um integriert und bewußt akzeptiert zu werden. Deshalb wird der Neurotiker in manchen kritischen Bereichen unvollständige Erinnerungen haben. Hier seien einige Sitzungen wiedergegeben, bei denen Patienten Primärszenen wiedererlebten.

 

Erste Szene: Eine 35jährige Lehrerin erlebt die Szene in zunehmender Erregung: »Sie wird über den Flur gefahren. Es ist dunkel. Sie wird auf das Bett gelegt. Sie ist allein. Es ist schrecklich ... Oh! (Hier krümmt sie sich zusammen, als ob sie einen Schlag in den Magen bekommen habe.) Mein Gott! Ich werde für drei Jahre ins Bett gesteckt. Ich kann's nicht ertragen! Ich kann's nicht ertragen!«

An diese Szene erinnerte sie sich im vierten Monat der Therapie. Als sie an jenem Tag kam, war sie erregt und wußte nicht, warum. Als sie über ihre Gefühle zu sprechen begann, nahm ihre Unruhe zu, und zuerst redete sie in der dritten Person: »Sie wird über den Flur gefahren.« Als sie sich dann plötzlich zusammen­krümmte, ging sie von der dritten Person in die erste über: >ich< — es war der Übergang vom gespaltenen Selbst zum einzigen Selbst. Die Worte: »Ich kann's nicht ertragen!« schrie sie und wand sich dabei im Urschmerz. Der Tag, von dem sie sprach, war der Tag, an dem sie entdeckte, daß sie an einer rheumatischen Herzerkrankung litt und im Alter von fünf Jahren für drei Jahre ins Bett gesteckt wurde. Es war eine so verhängnisvolle Erfahrung, daß sich das Kind spaltete, um sie erträglich zu machen, und seitdem sah es sich selbst so tun, als ob es lebe, als ob es zwei Menschen seien. Es war, als ob es sagte: »Es widerfährt nicht mir; es widerfährt ihr.«

(Nicht bei jeder Primärszene sind die Eltern direkt beteiligt. Aber wenn Eltern liebevoll und freundlich sind, dann glaube ich, wird es zu keiner neurotischen Spaltung kommen, wie immer das Trauma auch sein mag. Ich entsinne mich einer Frau, die sich daran erinnerte, wie Bomben auf ihr Kinderheim an der jugoslawisch-italienischen Grenze fielen. Das wichtigste Gefühl war immer noch: »Mama, ich habe Angst. Wo bist du? Komm her und beschütze mich, bitte!« Nach dem Urerlebnis erörterte sie diesen Punkt und sagte, der Krieg sei so bedrückend für sie gewesen, weil niemand da war, der ihr erklären konnte, was er bedeutete, niemand, der ihr Schutz gewährte und ihr ein Gefühl von Sicherheit gab. Unter diesem frühen Streß konnte sie nicht durchhalten.)

Die Szene, die von der an der rheumatischen Herzerkrankung leidenden Frau beschrieben wurde, war vorher nur eine verschwommene Erinnerung gewesen. Sie entsann sich an Malbücher, daß sie im Bett Milch getrunken hatte usw., aber an nichts Substantielles: Der Urschmerz hatte die tieferen Aspekte der Erinnerung in einen versunkenen Bereich mitgenommen. Nachdem sie diese Szene wiedererlebt hatte, berichtete sie, daß sie ihre Beinmuskeln und Fußknochen spürte. Sie wußte plötzlich, warum sie niemals in ihrem Leben auch nur den Wunsch verspürt hatte, sich körperlich zu betätigen. Nicht nur den bewußten Wunsch hatte sie erfolgreich betäubt, sondern auch die Glieder, die das instinktive Verlangen, zu rennen und zu spielen, in die Tat umsetzen sollten.

Es hatte vier Monate der Therapie bedurft, um diese Erinnerung hervorzuholen. Als es dann so weit war, geschah es fast automatisch, als ob der Körper jetzt für einen noch größeren Schmerz bereit sei und imstande sein würde, den Stoß aufzufangen.

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Das Erinnern erfolgte in umgekehrter Reihenfolge zu dem Erleben. Zuerst kam in der Erinnerung die Spaltung zum Ausdruck, so daß die Patientin von <ihr> sprach und von dem, was <ihr> widerfahren war. Dann erinnerte sie sich an Bruchstücke und einzelne Teile des Erlebens: Daß sie über den Flur gefahren und ins Bett gelegt wurde usw. Diese zerstückelten Erinnerungen waren wie eine Zündschnur, eine Erinnerung löste die andere aus bis zu dem einen, vollständigen, explosiven Augenblick, in dem die Spaltung selbst erlebt wurde (als <sie> zu <ich> wurde) und sie wieder eins war.

Zweite Szene: Eine dreiundzwanzigjährige Frau erinnert sich in ihrer zweiten Therapiewoche an folgendes: »Ich war sieben. Ich wurde in ein Krankenhaus oder dergleichen gebracht, um meine Mutter zu besuchen. Ich sehe ihren blauen Morgenrock vor mir und die weißen gestärkten Laken. Ich sehe ihr Haar, das so struppelig war, als ob sie sich gar nicht gekämmt hatte. Ich sitze auf dem Bett ... mehr weiß ich nicht. Das ist alles, woran ich mich erinnere.« Ich dränge sie, sie solle sich ihre Gefühle vergegenwärtigen und die Szene wieder vor sich sehen. Sie fährt fort: »Ich glaube, ich saß neben Mutter. Ich sehe sie an ... Oh! Ihre Augen! Sie weiß nicht, wer ich bin. Mutter ist verrückt; sie ist verrückt!«

Diese Erinnerung erschloß sehr viel. Die Patientin hatte immer geglaubt, sie habe nur geträumt, daß ihre Mutter einmal versucht habe, sie zu töten, aber später konnte sie sich erinnern, daß ihre Mutter tatsächlich einen Nervenzusammenbruch hatte und damals versuchte, ihre Kinder umzubringen. Ihre Erinnerung an die Situation erweiterte sich sofort. Sie wußte nun, daß es eine Irrenanstalt war, in der ihre Mutter untergebracht worden war. Sie hatte sich immer an einzelne Aspekte der Szene erinnert — den Weg zum Krankenhaus, daß sie mit dem Fahrstuhl hinauffuhr usw., aber sie hatte sich nie daran erinnern können, daß sie ihre Mutter tatsächlich gesehen und ihren wahren Zustand erkannt hatte.

Die Spaltungen, die bei diesen Szenen eingetreten waren, lassen sich mit Zuständen von Amnesie vergleichen, nicht so dramatischen oder vollständigen wie Gedächtnisverlust, worüber man manchmal liest, aber wenn die Situation absolut unannehmbar ist, zum Beispiel Vergewaltigung durch den Vater (einer unserer primärtherapeutischen Fälle), dann mag es große Bereiche geben, in denen der Urschmerz eine Zeitspanne von ein oder zwei Jahren vor oder nach diesem Ereignis ausgelöscht hat. Manchmal können durch Hypnose einige dieser alten Erinnerungen wieder hervorgeholt werden, weil der Faktor Urschmerz dann unterdrückt wird, aber ich glaube nicht, daß mit Hypnose Bereiche und Erinnerungen erreicht werden können, in denen der Urschmerz überwältigend ist. Die in jungen Jahren von ihrem Vater vergewaltigte Patientin konnte zu dieser Erinnerung erst nach etwa dreißig primärtherapeutischen Sitzungen gelangen.

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Ein siebenundzwanzigjähriger Mann entsann sich wieder seiner Kindheit, als er während der Therapie auf eine Erinnerung stieß, die er ganz vergessen hatte, daß er nämlich einmal von einer schwingenden Schaukel verletzt worden war. Die Erinnerung war nicht mit dem Urschmerz vergleichbar, den er damals erlitt. Er erlebte ihn in dieser Reihenfolge: »Ich weiß nicht, warum mir so mies ist. Da ist eine Schaukel, und die wird mich treffen. Tatsächlich haut sie mich um. Nanu? Das kann es doch nicht allein sein. Wo ist Mama? Mama, Mama! Das ist es. Niemand kam. Niemals kam jemand. Ich war immer allein, und niemand kümmerte sich darum, wo ich war. Oh, Mama, Mama, kümmere dich bitte um mich!« 

Er sagte, der Grund, warum er alles vergessen hatte, was damals und in jener Gegend geschah, war, daß er der Tatsache nie ins Auge sehen wollte, wie allein und verlassen er war: »Deshalb vergaß ich die Sache mit der Schaukel einfach.« Die Erinnerung an die Schaukel, die ihn verletzte, war an sich und als solche nicht wichtig. Der Sinn, der den Vorfall umgab, war katastrophal, und dieser Sinn, daß sich nämlich niemand um ihn kümmerte, wurde verleugnet und sein Leben lang in Versuchen ausagiert, Leute dazu zu bringen, sich um ihn zu kümmern. Als er schließlich der Tatsache ins Auge sehen konnte, daß seiner Mutter, die er sich immer als hebevoll vorgestellt hatte, nichts an ihm lag und nie gelegen hatte, da wurde seine Erinnerung an die Schaukel bewußt, total und real.

Die Erinnerungen des Neurotikers sind oft traumähnlich, und es mag ihm ebenso schwer fallen, sich an seine frühe Kindheit zu erinnern, wie es ihm schwer fällt, sich an manche Träume zu erinnern. Ich glaube, damit es eine konkrete Erinnerung gibt, muß es ein konkretes Erleben geben - das heißt, der Betreffende muß völlig beteiligt sein an seinem Erleben und darf es nicht aus Angst oder Erregung abspalten. Manche Patienten sind durchs Leben gegangen, ohne überhaupt gewahr zu werden, was um sie herum vorging. Sie beklagen sich oft darüber, daß ihnen das Leben >nicht widerfuhr<. Es widerfuhr ihrem irrealen Selbst. Sie marschierten durchs Leben und waren gar nicht >ganz da<. Gewöhnlich lebten sie innerhalb einer Art Schranke, die den Stoß des Erlebens auffing und nur durchließ, was angenehm war. Wenn ein Patient der Primärtherapie unter dieser Schranke nachgräbt, kann er erkennen, was einige seiner Erlebnisse und sein Verhalten, die vorher durch den Urschmerz abgestumpft waren, wirklich bedeuteten.

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Ich möchte meinen, daß Erinnerungen in dem Maße unterdrückt werden, in dem sie ein Widerhall von Umständen sind, die den Urschmerzen der Schlüssel-Primärszene ähnlich sind. Wenn eine neuerliche kränkende Bemerkung eine alte, unterdrückte seelische Verletzung — etwa das Gefühl, dumm zu sein — hervortreten läßt, dann wird dieses Geschehnis vielleicht vergessen oder nur verschwommen erinnert. Wieviel erinnert wird, hängt davon ab, wie ähnlich die Situation und das Gefühl der alten seelischen Verletzung einander sind.

Die Vorstellung, daß das irreale Erinnerungssystem bei der ersten großen Primärszene beginnt, hat mehrere Konsequenzen. Zum Beispiel kann ein Neurotiker ein phänomenales Gedächtnis für Daten, Orte, geschichtliche oder auch Ereignisse aus seinem eigenen Leben haben, und doch wird sein Erinnerungsvermögen vielleicht nur dazu dienen, die irreale Fassade zu stützen, die sagt: »Schau, wie intelligent und bewußt ich bin.«

Die tieferen Aspekte seiner Erinnerung sind womöglich total blockiert. Die Erinnerungen des irrealen Selbst sind selektiv und bleiben im Gedächtnis, um die Spannung zu mildem, um das >Ego< zu stärken. Das bedeutet, daß ein sogenanntes gutes Gedächtnis eines Neurotikers oft nur eine Abwehr realer Erinnerungen ist.

Ein Fall mag dazu beitragen, die Beziehung zwischen Urschmerz und Erinnerung zu klären. 

Eine junge Frau von Anfang Zwanzig kam in der Primärtherapie gut voran, hatte zwei Urerlebnisse gehabt und war recht einsichtsvoll. Am Ende der zweiten Woche hatte sie einen schweren Autounfall. Sie erlitt mehrere Knochenbrüche, und es wurde eine traumatische Gehirn­erschütterung diagnostiziert. Nachdem sie das Bewußtsein wiedererlangt hatte, konnte sie sich an den Unfall nicht erinnern. Ihre Ärzte bezweifelten, ob sie sich je an das Trauma würde erinnern können, und sagten ihr, wenn sie sich in einigen Wochen nicht an den Unfall erinnern würde, bestehe die Wahrscheinlichkeit, daß es nie wieder der Fall sein werde.

Nach mehreren Wochen hatte sie sich so weit erholt, daß sie wieder an der Therapie teilnehmen konnte. Ehe sie kam, hatte sie Magenkrämpfe und drei Tage keinen Stuhlgang gehabt. Nach einem Urerlebnis von einem großen Urschmerz in der frühen Kindheit kam sie automatisch und ohne Anleitung auf ihren neuesten Schmerz — den Autounfall. Das ganze Trauma von Anfang bis Ende erlebte sie in allen Einzelheiten, ohne daß es sie eine bewußte Anstrengung kostete, sich daran zu erinnern. Sie sah den Wagen kommen, hörte den Zusammenstoß, spürte den Schlag auf den Kopf und stieß den schrecklichen Schrei aus, den sie bei dem Unfall nicht auszustoßen vermochte. Über jede Einzelheit des Unfalls konnte sie ohne die geringste Verschwommenheit des Denkens sprechen.

Das ist ein Hinweis darauf, daß die physischen Wirkungen der Gehirnerschütterung vielleicht an dem Gedächtnisverlust gar nicht schuld sind; der begleitende Urschmerz trägt womöglich dazu bei, die Erinnerung an katastrophale Geschehnisse zu unterdrücken.

Wenn diese Annahme zutrifft, wird es möglich sein, einen Menschen durch ein Urerlebnis in Zustände von schwerem Trauma, etwa Vergewaltigung, zu versetzen, so daß er die Erinnerung an das Geschehnis wiedergewinnt.

Ich glaube nicht, daß das Erinnerungssystem eines Neurotikers vollständig sein kann, solange er Urschmerzen hat. Sobald er eine Primärtherapie durchgemacht hat, scheint sein Erinnerungsvermögen erheblich zuzunehmen, und den meisten dieser Patienten fällt es leicht, sich in ihre ersten Lebensmonate zurückzuversetzen und sich an einen Vorfall nach dem anderen zu erinnern. Es ist, als ob das ganze Erinnerungssystem durch das Erleben des Urschmerzes plötzlich weit geöffnet worden sei.

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