Start   Weiter

5. Das Wesen der Spannung

 

 

41-48

In der Terminologie der Primärtherapie gibt es keine Neurose ohne Spannung. Damit meine ich unnatür­liche Spannung, die beim psychisch normalen Menschen nicht vorkommt, nicht die natürliche Spannung, die jeder von uns braucht, um in Gang zu bleiben. Unnatürliche Spannung ist chronisch, sie ist der Druck verleugneter oder nicht aufgelöster Gefühle und Bedürfnisse. 

Wenn ich von Spannung spreche, meine ich immer die neurotische Spannung. Was der Neurotiker anstelle von realen Gefühlen empfindet, sind Grade von Spannung. Bei weniger Spannung fühlt man sich gewöhnlich gut; bei mehr Spannung fühlt man sich schlecht. Was der Neurotiker mit seinem Verhalten bezweckt, ist, sich besser zu fühlen.

Woher kommt diese Spannung, und was ist ihre Funktion? 

Ich glaube, diese Spannung ist als Teil der Neurose ein Überlebens­mechanismus, der den Körper zur Bedürfnisbefriedigung antreibt oder den Organismus davor schützt, katastrophale Gefühle zu empfinden. In beiden Fällen versucht er, die Kontinuität und Integrität des Organismus aufrechtzuerhalten. Wenn wir zum Beispiel nichts zu essen bekommen, wird Spannung erzeugt, die uns elektrisiert, so daß wir uns Nahrung suchen und das Bedürfnis befriedigen. Wenn wir nicht im Arm gehalten oder angeregt werden, spornt uns das Bedürfnis zur Tat an. 

Wenn das Bedürfnis in unseren ersten Monaten und Jahren andauert, wird die Nichtbefriedigung schmerzhaft und unerträglich, und um den Schmerz zu unterdrücken, wird das Bedürfnis unterdrückt — und bleibt als Spannung bestehen. Es wird als Spannung bestehen bleiben, bis die Verbindung mit dem Bewußtsein hergestellt und es aufgelöst wird. Eine unterdrückte Bewegung (aufhören zu rennen, stillzusitzen usw.) wird auch in Form von Spannung bestehen, bis die Beziehung hergestellt und sie aufgelöst wird.

Kurz gesagt, jede kritische Unterdrückung einer Bewegung oder eines Gefühls in jungen Jahren wird ein Bedürfnis, bis es empfunden und artikuliert und dadurch aufgelöst wird.

Die Abtrennung wird aus Furcht beibehalten. Furcht ist ein Zeichen dafür, daß der Urschmerz (das Bedürfnis oder das Gefühl, das Urschmerz hervorrufen kann) dem Bewußtsein nahe ist. Furcht veranlaßt das Abwehrsystem zu handeln und ruft alle möglichen Manöver hervor, um das Bedürfnis fernzuhalten. Furcht ist eine automatische Reaktion, die ein Teil des Überlebensmechanismus ist.

Sie macht den Organismus auf dieselbe Weise bereit, den Schlag abzuwehren, wie wir uns verspannen, wenn wir eine Injektion bekommen sollen. Wenn das System den Schmerz nicht erfolgreich abwehren kann, tritt bewußt Furcht auf — das heißt Angst. Auch Furcht wird gewöhnlich nicht bewußt empfunden. Sie wird ein Teil des allgemeinen Spannungsfundus.

Angst ist empfundene, aber nicht richtig und scharf eingestellte Furcht. Angst wird hervorgerufen, wenn das Abwehr­system geschwächt ist und zuläßt, daß das gefürchtete Gefühl dem Bewußtsein nahekommt. Weil das Gefühl ohne Beziehung ist, ist die Angst oft nicht scharf eingestellt. Die Grundlage der Angst ist die Furcht, nicht geliebt zu werden. Die Mehrzahl von uns wehrt die Angst dadurch ab, daß wir die Art von Persönlichkeit entwickeln, die verhindert zu empfinden, wie ungeliebt wir sind.

Die Persönlichkeit entwickelt sich als ein Schutz. Die Funktion der Persönlichkeit ist es, die Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Das bedeutet, daß es versuchen wird, das zu sein, was <sie> wollen, damit es schließlich geliebt werden kann. Der Versuch, <sie> zu sein, ist das, was Spannung erzeugt. Man selber zu sein eliminiert die Spannung. Man selber zu sein bedeutet, daß man heil und gesund ist, daß Leib und Seele harmonieren. Nehmen wir an, ein kleiner Junge hat das Bedürfnis, von seinem Vater auf den Arm genommen zu werden, aber der Vater glaubt, daß <Männer> Kinder nicht auf den Arm nehmen und küssen. Der Junge, der seinem Vater zuliebe ein Mann zu sein versucht, verleugnet sein Bedürfnis und legt ein patziges Verhalten an den Tag. Diese patzige Persönlichkeit erzeugt und bindet Spannung gleichermaßen. 

Dann wächst dieser Junge heran und hat ein Magengeschwür und wird zur Psychotherapie geschickt. Irgendwann zu Beginn der Behandlung bezeichne ich ihn als Schwulen. Jetzt ist er ängstlich. Ich bin ihm auf die Spur gekommen — das heißt, ich habe die Aufmerksamkeit auf sein unterdrücktes Bedürfnis gelenkt, das sich vielleicht in latente homosexuelle Gefühle verwandelt hat. Er wird womöglich wütend sein, weil ich ihn so bezeichnet habe, aber diese Wut ist ein Schutz für die reale seelische Verletzung — eine Abwehr, um das reale Bedürfnis nicht zu empfinden. Seine Wut ist eine Art und Weise, die Spannung loszuwerden. Der Grund, warum der Junge überhaupt patzig wurde, war, daß er von seinem Vater geliebt werden wollte, aber diese Motivation ist schön längst verschüttet. Erlaubt man ihm nicht, patzig zu sein, muß er dem Verlust von Liebe und Zustimmung ins Auge sehen — der ureigenen Hoffnungslosigkeit.

Jedes Verhalten in der Gegenwart, das auf früher verleugneten (unbewußten) Gefühlen beruht, ist symbolisch. Der Betreffende versucht dann, durch irgendeine gegenwärtige Konfrontation ein altes Bedürfnis zu befriedigen.

42


Jedes gegenwärtige Verhalten, das auf diesen unbewußten Bedürfnissen beruht, nenne ich symbolisches Ausagieren. In diesem Sinne ist beim Neurotiker das symbolische Ausagieren die Persönlichkeit. Seine Körperhaltung, sein Aussehen und sein Gang sind Verhaltensweisen, mit denen er auf alte, verschüttete Gefühle reagiert.

Allein die Herstellung der Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart kann der chronischen, neurotischen Spannung ein Ende bereiten. Andere Aktivitäten mildern die Spannung vorübergehend, lösen sie aber nicht auf. Meiner Ansicht nach gibt es keine angeborene oder fundamentale Spannung oder fundamentale Angst. Das sind nur Entwicklungen, die sich aus frühen neurotischen Umständen ergeben. Ein Neurotiker ist in Spannung, ob er sich der Tatsache bewußt ist oder nicht.

Neurose ist kein Synonym für Abwehr. Neurose ist ein umfassenderer Begriff, der darauf hinweist, wie die Abwehrmechanismen miteinander verknüpft sind; neurotische Typen sind einfach die besondere Konstellation der Abwehrmechanismen einer Person. Da ein Neurotiker im täglichen Leben alle möglichen Abwehrmechanismen anwenden mag, kann es keinen reinen Typus geben. Gewöhnlich wird er sich für einen Stil entscheiden (zum Beispiel überintellektuell zu sein), den wir der Bequemlichkeit halber eine bestimmte Art von Neurose nennen können. Jede Neurose bedeutet, daß ein irreales System vorhanden ist, das reale Gefühle in Spannung verwandelt. Die meisten menschlichen Gefühle und Bedürfnisse sind sich ziemlich gleich. Kompliziert wird erst die Art und Weise, wie wir uns gegen sie wehren. Doch brauchen wir uns mit diesen Kompliziertheiten nicht zu befassen, wenn wir an das herankommen können, was darunter liegt.

Solange Urschmerzen vorhanden sind, muß sich der Neurotiker gegen sie verspannen. Seine Persönlichkeit ist die von ihm heraus­gefundene, mehr oder weniger stabilisierte Art und Weise, wie er sich wehren kann. Die Urschmerzen zu beseitigen heißt, die Persönlichkeit zu <beseitigen>.

Stellen wir uns das mit Hilfe der Energie vor. Wir wissen durch das Gesetz von der Erhaltung der Energie, daß Energie nicht vernichtet werden kann; sie kann nur umgewandelt werden. Ich sehe die ursprünglichen Urgefühle als eine im wesentlichen neuro-chemische Energie an, die in kinetische oder mechanische Energie umgewandelt wird und ständige physische Bewegung oder inneren Druck erzwingt. Das Ziel der Primärtherapie ist, diese umgewandelte Energie wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückzu­verwandeln, so daß keine innere Kraft mehr vorhanden ist, die den Menschen zu zwanghaftem Tun antreibt. Dieses Druckgefühl ist der Grund, warum so viele Neurotiker unruhig oder erregt sind, warum sie nicht stillsitzen können, warum sie dauernd etwas tun müssen. Wir dürfen nicht vergessen, daß Spannung ein körperliches Phänomen ist. Jedes neue blockierte Gefühl oder unbefriedigte Bedürfnis erhöht den inneren Druck, der sich auf das ganze System auswirkt.

43


Es ist möglich, Spannung mechanisch abzureagieren — Tennis oder Handball zu spielen oder zu laufen. Die meisten Menschen, die mit <Nerven>-Energie laufen, laufen sich ihre Spannung tatsächlich ab. Aber es gibt keine Möglichkeit, diese Urgefühle <abzulaufen>, deshalb scheint die Spannung perpetuiert zu sein. Ich vergleiche solche Leute, die eifrig damit beschäftigt sind, Spannung abzulaufen, mit einem Huhn, dem der Kopf abgeschlagen ist und das sich immer noch bewegt. Der Neurotiker ist in einer Beziehung kopflos, bis er die Beziehung zwischen dem, was sein Körper tut, und dem spezifischen Grund für dieses Tun herstellen kann.

Wegen des Ausmaßes der körperlichen Reaktionen auf Spannung gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, sie zu messen. Ein Forscher, E. Jacobson, definiert Spannung mit Hilfe von Muskelkontraktur*. Er glaubt, Spannung bereite den Körper auf irgendeine Art Fortbewegung (Flucht) vor, und das führe zu einer Verkürzung von Muskelfasern. Die Veränderungen der Muskelfasern habe eine Erhöhung der Volt- oder elektrischen Spannung zur Folge, die dann durch ein elektronisches Instrument, den Elektromyographen, gemessen werden kann. Allerdings ist der Elektromyograph noch ein ungenaues Instrument, das ganz geringe Veränderungen der Muskelfasern nicht messen kann. Dennoch weist Jacobson nach, daß sich Spannung auf unsere gesamte Muskulatur auswirkt und das Individuum stark beansprucht, ob es wach ist oder schläft. Das trägt zur Erklärung bei, warum der Neurotiker so oft beim Aufwachen erschöpfter ist als beim Schlafengehen.

Spannung ist nicht nur ein totales Phänomen, sondern tendiert auch dazu, sich auf verletzliche Bereiche zu konzentrieren. Bei seinen Untersuchungen fand Malmo, daß bei den meisten Menschen bestimmte Organe Zielgebiete sind, die unter Streß eine Erhöhung des Spannungsniveaus aufweisen**.

Wenn zum Beispiel jemand auf der linken Seite des Nackens chronische Schmerzen hat, würde eine Streßsituation einen viel größeren Spannungszustand auf dieser Seite erzeugen als auf der rechten.

 

* E. Jacobson, »Electrophysiology of Mental Activities«, American Journal of Psychology, Bd. 44 (1952), S. 627-694; »Variation of Blood Pressur with Skeletal Muscie Tension and Relaxation«, Annals of International Medicine, Bd. 15 (1940), S. 1619; »The Affects and Their Pleasure - Unpleasure Qualities in Relation to Psychic Discharge Processes«, in R. M. Loewenstein (Hg.), Drives, Affects, and Behavior, New York 1953.

** R. B. Malmo in A. Bachrach (Hg.), Experimental Foundations of Clinical Psychology, New York 1962, S. 416.

44


Obwohl Spannung der innere Druck ist, der eine Folge der Verleugnung von Gefühl ist, tritt sie bei jedem von uns anders auf. Sie kann eine Zitterigkeit sein, eine Knotenbildung der Bauchmuskeln, eine Verhärtung der Skelettmuskulatur, eine Brustbeklemmung, ein Zähneknirschen, ein Unwohlsein, das Gefühl eines drohenden Verhängnisses, ein Anfall von Übelkeit, ein Kloß im Hals und Kribbeln im Magen. Spannung läßt den Mund nicht stillstehen, die Kiefer sich zusammenpressen, die Lider zittern, das Herz hämmern, den Geist dahinrasen, die Füße zappeln, die Augen unruhig werden. Spannung ist unerträglich und zeigt sich auf mannigfache Weise.

So viele von uns stehen unter Spannung, daß wir zu der Überzeugung gelangt sind, das sei nun einmal eine der Mißlichkeiten des menschlichen Daseins. Leider hat indes eine Reihe von psychologischen Theorien ihre Hypothesen auf die Unvermeidbarkeit von Spannung gestützt. Das Freudsche System zum Beispiel setzt eine fundamentale Angst voraus, die wir mit Abwehrmechanismen umgeben müssen, wenn wir gesund bleiben wollen. Ich glaube, diese Angst ist einzig und allein eine Funktion der Irrealität der Person. 

Eine Reihe von Experimenten, sowohl mit Tieren als auch mit Menschen, ist durchgeführt worden, bei denen ein Summer ertönte, sobald der Versuchs­person oder dem Versuchstier ein leichter elektrischer Schock versetzt wurde. Später rief der Ton des Summers dieselbe Art von voraus­empfundener Gefahr und hohem physischen Aktivierungsniveau hervor. Experimente dieser Art nennt man Konditionierung der Versuchsperson auf etwas, das gewöhnlich keine Gefahr bedeutet — einen Summer. Die Versuchspersonen können auch dekonditioniert werden, indem der harmlose Stimulus (Summer) mit einer Belohnung oder Nicht-Schock-Situation gekoppelt wird.

Auch die Primärtheorie befaßt sich mit Schock. Oft ist dieser Schock eine frühe Erkenntnis, die katastrophal wäre, wenn sie voll empfunden würde. Der Schock wird verdrängt und ausagiert und ruft noch Jahre nach der Gefahr ein spannungsgeladenes Verhalten hervor. Ein Sechsjähriger, dessen Eltern ihn verachteten (das wird gespürt, denn ein solcher Haß wird selten offen gezeigt), mag physisch und psychisch in großer Gefahr sein, aber ein Sechsunddreißigjähriger, der jetzt begreift, daß seine Eltern ihn verachten, ist tatsächlich nicht mehr in Gefahr — obwohl ein Großteil seines Verhaltens als Erwachsener auf der Furcht vor diesem Gefühl beruht.

Um zu verstehen, warum jemand dreißig Jahre, nachdem er eine schockierende Erkenntnis gehabt hatte, noch darauf reagiert, müssen wir bedenken, daß das kleine Kind sehr reizoffen ist. Es ist abwehrlos, und das bedeutet, daß es auf eine direkte, fühlende Weise wahrnehmen kann. Was es in seinen ersten Monaten oder Jahren wahrnimmt, ist vielleicht unerträglich. Deshalb geht es in Deckung. Es mögen sich Symptome bei ihm zeigen, oder es stumpft seine Sinne ab, doch die schmerzhafte Wahrnehmung ist immer noch da und wartet darauf, empfunden zu werden.

45


In einem Fall sah ein Patient im Alter von zweieinhalb Jahren die Leere im Gesicht seiner Eltern. Er begann die völlige Leblosigkeit des Daseins der Menschen in seiner Umgebung und seines eigenen Daseins wahrzunehmen. Er empfand dieses Gefühl nicht vollständig. Er bekam Asthma. Diese Leblosigkeit um ihn herum konnte erst später empfunden werden, als er sie hinter sich gebracht hatte. Denn die Leblosigkeit bedeutete, daß er >tot< sein mußte, um mit seinen Eltern zu überleben. Es bedurfte vieler Urerlebnisse, damit er dieses Gefühl als Ganzes empfinden konnte. Das Empfinden der Leblosigkeit machte ihn lebendig.

Der ursprüngliche psychische Schock rief Furcht hervor. Die Furcht verwandelte das Gefühl in eine generalisierte, vage Spannung. Der oben erwähnte Patient hatte nicht bewußt Angst. Er agierte leblos, und das war ein unbewußtes Mittel, um die Angst zu vermeiden. Seine >toten< Bewegungen und sein ausdrucksloses Gesicht waren die Möglichkeit, die er herausgefunden hatte, um mit seinen Eltern zurechtzukommen. Solange er >tot< war, war er in Spannung, aber nicht voll Angst. Lebendig agieren zu müssen erzeugte Angst. Meist bindet die Neurose (das symbolische Ausagieren) die Spannung, so daß der Neurotiker überhaupt nicht weiß, daß er in Spannung ist*. Der Unterschied zwischen Furcht und Angst ist eine Sache des Kontextes und nicht der Physiologie. Die physiologischen Vorgänge mögen bei Furcht und Angst die gleichen sein, aber mit Furcht reagiert der Mensch auf die gegenwärtige Situation, während er mit Angst auf die Vergangenheit reagiert, als ob sie die Gegenwart wäre. An diesem Punkt, wenn Spannung zu empfundener Angst wird, kommen die Menschen gewöhnlich zur Psychotherapie.

Reale Furcht ist das Gefühl, das Leben sei bedroht. Sie tritt ohne Spannung oder Abstumpfung der Sinne und des Verstandes auf. Bei realer Furcht ist der Organismus durchaus bereit, der drohenden Gefahr entgegenzusehen. Urfurcht stumpft ab, weil sie ein katastrophaler Schrecken ist, und sie bleibt erhalten, weil der Urschmerz (»Sie lieben mich nicht«) erhalten bleibt. Das bedeutet, daß die alte Drohung noch in der Gegenwart vorhanden ist und Furcht in Angst verwandelt. Angst ist die alte Furcht, die zusammenhanglos blieb, weil das Herstellen der Beziehung einen katastrophalen Schmerz bedeutet. (Das wird ausführlicher in dem Kapitel über Furcht erörtert.) Wenn wir auf einen Lastwagen reagieren, der auf uns zufährt, dann ist das Furcht. Das Gefühl, ein Lastwagen könnte auf uns zufahren, ist Angst.

*  Wahrscheinlich kann das kleine Kind zwischen physischen und emotionalen Schädigungen noch nicht unterscheiden, weil sein Denk­vermögen noch nicht genügend entwickelt ist, um feine Unterschiede zwischen einer psychischen und einer physischen Verletzung zu machen. Bis es zwischen beiden unterscheiden kann, hat es seine Urschmerzen vielleicht schon mit Neurose zugedeckt. Zum Beispiel weiß ein kleines Kind womöglich nicht, daß es gedemütigt wird, und fühlt sich nur unbehaglich, wenn seine Eltern etwas auf eine bestimmte Weise zu ihm sagen. Es empfindet dann einen undifferenzierten Schmerz. Unter Umständen wird der Betreffende erst später in der Primärtherapie diese vagen Schmerzen wieder verspüren und imstande sein, ihren Sinn zu begreifen.

46


Ein Säugling und ein kleines Kind empfinden Furcht unmittelbar und verhalten sich entsprechend ihren Gefühlen. Doch mit der Zeit werden neurotische Eltern vielleicht sogar das Bekunden von Furcht beanstanden (»Nun hör schon auf zu weinen. Du weißt doch, da ist nichts, wovor man Angst zu haben braucht«), so daß die Furcht verleugnet wird und dann als weitere Spannung ihren Platz im Urfundus einnimmt. Diese verleugnete Furcht bedeutet, daß der Betreffende nicht unmittelbar und angemessen seinen Gefühlen entsprechend handeln kann. Er muß Furchtobjekte erfinden (Neger, politische Gegner usw.), um seine Gefühle auf sie zu richten und die Spannung zu mildern.

Wenn wir den neurotischen Patienten zwingen, seine Urängste zu empfinden, statt sie auszuagieren, dann können wir ihm helfen, diese Gefühle, die ihn mit Schrecken erfüllen, zu verstehen. An diesem Punkt, an dem wir ihn in seine Ängste versetzen und ihn darüber hinwegbringen, liefern wir ihn seinen Urschmerzen aus.

Eine Untersuchung, über die Martin Seligman in Psychologe Today (Juni 1969) berichtete, steht im Zusammenhang mit dieser Auffassung vom frühen Schock. Seligman beschreibt ein Experiment von R. L. Solomon, bei dem Hunden ein Geschirr angelegt wurde; dann wurden sie Elektroschocks ausgesetzt. Später kamen die Hunde in eine Box mit zwei Abteilungen, wo sie lernen sollten, dem Schock dadurch zu entgehen, daß sie aus dem Schockbereich über ein niedriges Gitter in den Nichtschockbereich sprangen. Es stellte sich heraus, daß etwas <Seltsames> geschah, wenn ein Hund zuerst geschockt wurde, während er noch gefesselt war, so daß er dem Schock nicht entgehen konnte. Denn obwohl er bei der späteren Schockausteilung ungefesselt war und über das Gitter hätte springen können, blieb er im Schockbereich, bis er weggezogen wurde. Andere Hunde, die nicht gefesselt (hilflos) waren, als sie zuerst Schocks erhielten, lernten rasch, sich durch einen Sprung in Sicherheit zu bringen.

In mancherlei Hinsicht ist das kleine Kind in einer unentrinnbaren traumatischen Situation gefesselt und ebenso hilflos wie die angeschirrten Hunde. Auch das Kind kann nichts Angemessenes tun, um dem unaufhörlichen Urschmerz zu entgehen, und oft vermag es auch später nicht zu lernen, wie man sich in gewissen Situationen verhält, um seelische Verletzungen zu vermeiden. Wenn keine Reaktion eines Kindes eine Änderung seiner Lage bewirken kann, dann bleibt ihm oft nichts anderes übrig, als innerlich abzuschalten, so passiv zu sein und zu leiden wie die angeschirrten Hunde, die dem ersten größeren Schock ihres Lebens nicht hatten entgehen können.

Aus Solomons Experiment geht folgendes hervor: Wenn Hunde zuerst in einer Situation geschockt wurden, aus der sie zu entfliehen (oder ihre mißliche Lage zu ändern) vermochten, und erst später gefesselt und dann geschockt wurden, dann lernten sie, wenn sie wiederum geschockt wurden, aber ungehindert reagieren konnten, sich diesem Schock auf normale Weise zu entziehen.

Seligman betont, daß, wenn ein Säugling schreit, weil er Hunger hat, und niemand da ist, der ihn füttert, Schreien zu einer irrelevanten Reaktion wird und mit der Zeit einzig und allein deswegen aufgegeben wird, weil durch Schreien eine schmerzhafte oder unbehagliche Situation nicht geändert wurde. 

Die Primärtheorie weist daraufhin, daß der fortgesetzte Urschmerz, weil die frühesten Bedürfnisse nicht befriedigt werden oder niemals befriedigt wurden, dazu führt, daß die Reaktion unterdrückt wird, bis das Individuum zu seiner Vergangenheit zurückkehrt und wieder zu schreien wagt wie der Säugling.

47-48

 

 

www.detopia.de     ^^^^