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16  Sexualität, Homosexualität und Perversionen 

 

Arthur Janov 1970

 

 

237-260

Die Primärtheorie macht einen Unterschied zwischen Sex als Akt und Sex als Erleben. Der Sexualakt umfaßt alle offenkundigen Handlungen, die Menschen beim Liebesspiel und Geschlechtsverkehr ausführen. Das sexuelle Erleben ist der Sinn dieser Handlungen. 

In der Neurose kann das Erleben des Akts ganz anders sein als der Akt selbst. So kann ein heterosexueller Akt auf homosexuelle Weise mit homosexuellen Phantasien erlebt werden. Und ein homosexueller Akt zwischen einem <Kerl> (männlicher Mann) und einer <Tunte> (weiblicher Mann) kann als heterosexuell erlebt werden. Ich würde das Wesen des Akts nach dem subjektiven Erleben charakterisieren — eine Unterscheidung, die wichtig ist, wenn es darum geht, wie sexuelle Funktionsstörungen und Perversionen zu behandeln sind.

Natürlich gibt es Leute, die den Sexualakt mechanisch ausführen, ohne auch nur das geringste sexuelle Gefühl dabei zu empfinden, wie zahllose frigide Ehefrauen bezeugen können. Was dem Sex Bedeutung verleiht, ist also das vollständige Empfinden der gesamten Situation; was diese Bedeutung ändert, ist die neurotische Bemühung, dem Akt einen symbolischen Wert abzugewinnen.

Nach der Hypothese der Primärtheorie tauchen früh im Leben versagte und blockierte Gefühle später in symbolischer Form wieder auf. Im Sexualleben bedeutet das, daß der Akt (gewöhnlich auf dem Wege über die Phantasie) als Befriedigung des Bedürfnisses empfunden wird.

Hierfür verschiedene Beispiele. 

Ein dreißigjähriger Patient litt an Impotenz. Er büßte seine Erektion ein, sobald er in seine Frau eindrang. Der Mann hatte eine gefühlskalte, anspruchsvolle >boshafte< Mutter gehabt, die ihm nur Befehle erteilte. Da er damals nicht begreifen konnte, daß er Warmherzigkeit von irgend jemandem verdiente, verleugnete er jedes Bedürfnis nach Warm­herzigkeit oder erkannte es nicht. Er heiratete eine Frau, die sehr aggressiv und ebenso anspruchsvoll war wie seine Mutter, aber sein Leben in die Hand nahm, so daß er sich passiv verhalten konnte. Wenn sie miteinander schliefen, war es nicht mehr, als ob er Geschlechtsverkehr mit einer Frau habe: Er war der kleine Junge, der symbolisch von der Mutter geliebt wird. Der symbolische Aspekt des Akts (Inzest) verhinderte, daß er wie ein Erwachsener funktionierte.


Dieser Mann hatte seine frühen Bedürfnisse nach Warmherzigkeit verleugnet (nicht erkannt) und suchte diese mütterliche Zärtlichkeit bei anderen Frauen. Frauen waren Symbole der Mutterliebe, und der Geschlechtsakt mit ihnen war symbolisch; das Funktionieren war beeinträchtigt. Natürlich, wenn Frauen nur erwachsene Frauen wären, wären sexuelle Funktionsstörungen nicht zu erwarten; die Probleme entstanden, weil sie zu Mutter­symbolen wurden.

Wie jedes Organsystem funktionieren Geschlechtsorgane auf reale Weise, wenn die Person real ist, und auf irreale Weise, wenn die Person irreal ist.

Bei jedem Akt des Neurotikers ist ein doppeltes System am Werk: das reale System mit seinen Deprivationen und Bedürfnissen und das irreale System, das diese gewöhnlich unbewußten Bedürfnisse symbolisch zu befriedigen versucht. So hat das irreale Selbst reifen Geschlechtsverkehr, während das innerliche Kind versucht, geliebt zu werden. Weil sich der Neurotiker um Kindheitsliebe bemüht, muß er unbewußt seine Partner zu Elternfiguren (jemand Irrealem) machen. Es ist nicht überraschend, wenn der Betreffende dann impotent ist oder von seinem Körper auf andere Weise im Stich gelassen wird.

Ein weiteres Beispiel: 

Ein Mann konnte von seiner schönen Frau erst erregt werden, wenn sie ihm von anderen Männern erzählte, mit denen sie schlafen wollte. Ausführliche Beschreibungen der Penisse anderer Männer stimulierten ihn — er wurde sexuell erregt durch den Gedanken an männliche Geschlechtsorgane. Die Beziehung zu seiner Frau war vom Standpunkt der Primärtheorie im wesentlichen homosexuell. Er hatte keine Beziehung zu ihr, sondern zu seinem Bedürfnis, das früh im Leben verleugnet worden war und nun in der symbolischen Präokkupation mit Geschlechtsorganen auftauchte.

Dieser Mann hatte einen schwachen und unfähigen Vater, der nie mit ihm sprach, geschweige denn ihn an sich drückte oder auf den Arm nahm. Wenn er etwas wollte, mußte er zu seiner Mutter gehen, die dann den Vater darum bat. Das heißt, nur über seine Mutter kam er an den Vater heran, und das war es im wesentlichen, was er beim Geschlechtsverkehr tat. Das Bedürfnis nach seinem Vater war immer da, aber weil es verleugnet war, wurde es in Form eines Penis symbolisiert. Die Beziehung, die er beim Geschlechtsverkehr herstellte, war also das Symbol väterlicher Liebe, nicht seine Frau. Er mußte sein Bedürfnis nach seinem Vater erst aus dem Weg räumen, ehe er wirklich heterosexuell sein konnte.

Ein letztes Beispiel: Beim Geschlechtsverkehr hatte eine Frau Phantasievorstellungen, sie werde beherrscht, herumkommandiert und gegen ihren Willen festgehalten. Ihre Empfindung beim Akt war die eines hilflosen Kindes, eines Opfers des Sexus und nicht eines gleichberechtigten Partners. Diese Frau hatte einen brutalen und sadistischen Vater, der sie <Hure> genannt hatte, als sie noch Teenager war.

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Er verbot ihr, mit Jungens auszugehen und machte sich über ihr Make-up lustig. Sie verleugnete ihren Wunsch nach Vaterliebe, aber beim Geschlechts­verkehr machte sie sich zu einem hilflosen Opfer (ihres Vaters), damit sie überhaupt etwas fühlen konnte.

In all diesen Fällen ist der Sexualakt symbolisch, ein Versuch, alte Bedürfnisse aufzulösen. Die Person empfindet die Situation nicht, in der sie sich befindet, weil sie sie mit einer Phantasie verbindet. Für manche Frauen wird der Akt also Liebe bedeuten, für manche Männer Männlichkeit, Macht oder Rache. Die Funktion der Phantasie beim Geschlechtsverkehr ist die Wieder­erschaffung des frühen Kampfes zwischen Eltern und Kind. Der entscheidende Unterschied ist indes, daß beim Geschlechtsverkehr die Person das bekommt, wovon sie sich immer vorstellte, daß es das Ende ihres lebenslangen Kampfes darstellen würde: geküßt, geherzt, gestreichelt und geliebt zu werden und fühlen zu können. Der Neurotiker sorgt symbolisch dafür, daß dieser Kampf >gut aus-geht<, indem er ihm ein phantasiereiches Ende verleiht, das es in Wirklichkeit nie hätte geben können. Eine Frau drückte es so aus: »Meine Phantasien beim Geschlechtsakt sind ein gutes Beispiel dafür, daß ich im Geist und nicht mit dem Körper lebte. Ich konnte nicht einmal spüren, was unterhalb meiner Taille vor sich ging.«

Wenn die Person ihr ursprüngliches Bedürfnis empfinden kann, hat die Phantasie keine weitere Funktion. Als der impotente Mann des ersten Beispiels sein Bedürfnis nach einer anständigen, menschlichen und fürsorglichen Mutter empfand, brauchte er nicht mehr nach Ersatz zu suchen. Seine Frau war keine Mutter mehr für ihn, denn er fühlte, was seine Mutter in Wirklichkeit war. Sein sexuelles Problem verschwand, denn es beruhte auf einem symbolischen Akt, der keine Beziehung zu dem hatte, was mit seiner Frau vor sich ging. Dasselbe gilt für den Mann, dem Geschichten von großen Penissen erzählt werden mußten. Als er empfand, wie sehr ihm ein Vater vorenthalten worden war, brauchte er das greifbare Symbol seines Vaters nicht mehr.

Die obigen Beispiele zeigen, daß neurotischer Sex symbolischer Sex ist, wobei die Person ihren Partner selten >sieht<. Daß er im Dunkeln stattfindet, erhöht nur den symbolischen Wert. Das Phantasieren mag nicht einmal bewußt sein; der Neurotiker stellt vielleicht die Verbindung zu seinem Partner als Mutter oder Vater her, ohne sich darüber klar zu sein, daß er die Phantasie >auslebt<.

Mit Urschmerz kann man nicht völlig heterosexuell sein. 

Wenn ein Mädchen zum Beispiel die Liebe ihres Vaters will, dann hat sie vielleicht Geschlechtsverkehr mit Männern, um zu versuchen, diese Liebe symbolisch zu erhalten, aber wahrscheinlich wird sie Frigiditätsprobleme haben, denn während das irreale System Geschlechtsverkehr mit Männern hat, versucht das reale System unbewußt nur, im Arm gehalten und (vom Vater) geliebt zu werden.

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Das Erleben ist nicht sexuell. Es ist infantil; die Frau versucht, ihre früheren Deprivationen aufzulösen. Eine frigide Frau erklärte: »Ich glaube, statt mich mit Essen vollzustopfen, stopfte ich mich mit Penissen voll, ein Versuch, mich ganz von der Liebe erfüllt zu fühlen.« Und sie fugte hinzu: »Jetzt weiß ich, warum ich beim Geschlechtsverkehr nie wirklich fühlen konnte; hätte ich mich wirklich gehen lassen und gefühlt, dann hätte ich den ganzen Urschmerz, wie ungeliebt ich war, empfunden. Ich hätte das empfunden, was ich durch Sex zu erlangen versuchte. Meine Sinnestäuschungen verhinderten das.«

Sexuelle Probleme werden schlimmer, wenn ein kleiner Junge starke Bedürfnisse sowohl nach einem Vater als auch nach einer Mutter hat. Beim Geschlechtsverkehr mit Frauen verhält er sich vielleicht wie ein kleiner Junge und überläßt der Partnerin (dem Muttersymbol) die Führung. Währenddessen hat er womöglich homosexuelle Phantasien. Das gleiche gilt für eine Frau, der die Liebe ihrer Mutter vorenthalten wurde. Solange dieses Bedürfnis nicht befriedigt wurde, muß es unweigerlich jeder heterosexuellen Aktivität im Wege stehen.

Bedürfnisse aus der Vergangenheit haben die Oberhand über gegenwärtige. Es ist kaum ein Wunder, daß eine so große Zahl von Frauen frigide ist, wenn man das kleine Kind bedenkt, das noch in so vielen dieser Frauen steckt. Sie brauchen einen freundlichen Vater und sind wütend und enttäuscht, wenn ein Mann reifen Sex will, statt ihnen zuerst väterliche Liebe zu bieten. Wenn man erkennt, daß da ein erschrecktes kleines Mädchen ist, das Angst vor seinem Vater (und Männern) hat, dann wird klar, wie schwierig später eine warmherzige, unbeschwerte und hingebungsvolle Sexualbeziehung sein wird. Für kleine Mädchen gibt es keinen erwachsenen Sex.

 

   Liebe und Sex   

 

Eine Reihe von Frauen sagt: »Ich kann nur mit jemandem ins Bett gehen, den ich liebe.« Bei neurotischen Frauen kann das bedeuten: »Um die natürlichen Gefühle meines Körpers zu genießen, muß ich meinem Verstand einreden, daß es etwas mehr bedeutet als das, was es ist. Damit ich fühlen kann, muß ich geliebt werden.« Hier kommt wieder unbewußt das Bedürfnis nach Liebe als Vorbedingung für das Fühlen zum Ausdruck.

Wenn ein Mensch früh im Leben geliebt worden ist, dann braucht er nicht zu versuchen, aus Sex Liebe herauszuholen; Sex kann dann sein, was er ist — eine intime Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich zueinander hingezogen fühlen. Bedeutet das, daß Sex etwas von Liebe Getrenntes ist? Nicht unbedingt. Ein gesunder Mensch wird nicht dauernd herumrennen, um jeden in sein Bett zu zerren.

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Er wird sein Selbst (und das schließt seinen Körper ein) mit jemandem teilen wollen, den er gern mag. Aber er oder sie wird dieser Beziehung nicht irgendeinen mystischen Liebesbegriff voranstellen. Sex wird ein natürliches Erlebnis einer Beziehung sein wie alles andere auch. Sex braucht nicht durch Liebe >gerechtfertigt< zu sein. Wenn eine neurotische Frau ihre Gefühle unterdrückt hat, wird sie, was immer sie auch glaubt, was bei einer Liebesbeziehung vor sich geht, wahrscheinlich Sex nicht voll genießen können, aber wenn sie normal ist, wird sie es nicht nötig haben, aus Sex etwas Besonderes zu machen. Sie wird nicht an einem Begriff wie Liebe festhalten; sie wird nicht dauernd hören müssen: »Ich liebe dich«, um sich ihres physischen Selbst zu erfreuen.

Wenn ein Kind nie Liebe von seinen Eltern erhalten hat, wird es von der Aussicht auf Sex vielleicht sehr erregt, weil es glaubt, endlich zu bekommen, was es braucht. Infolgedessen werden er oder sie recht impulsiv sein, sich nicht die Zeit nehmen, empfängnisverhütende Mittel anzuwenden, weil all diese alten verleugneten Bedürfnisse so stürmisch empordrängen. Das Ergebnis kann eine unerwünschte Schwangerschaft sein — eine unerwünschte Folge eines verzweifelten Impulses, dringende Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn jemand indes seine Bedürfnisse nach elterlicher Liebe empfunden hat, dann scheint das Sexuelle alles Hektische zu verlieren. Es wird ein erfreulicheres Gefühlserlebnis.

Früh im Leben von den Eltern geliebt zu werden, ist der einzige Schutz vor späterer Promiskuität. Allzu viele benachteiligte Mädchen werden zu dem Glauben verleitet, sie würden geliebt, wenn sie als Teenager Geschlechtsverkehr haben, weil sie diesen Glauben brauchen. Tragischerweise ist das oft das erste warme Gefühlserlebnis und die erste körperliche Zärtlichkeit ihres Lebens.

Wahre Liebe ist es, wenn ein Junge und ein Mädchen sich mögen und sich als das akzeptieren, was sie sind - und dazu gehört ihr Körper. Neurotiker nutzen die Körper von anderen aus, um alte Bedürfnisse zu befriedigen. Das schließt von vornherein eine gleichberechtigte Beziehung des Gebens und Nehmens aus. Allzu oft stellt der neurotische Junge Beziehungen her zu Teilen (den Geschlechtsteilen) eines Mädchens; er kann sie nicht als vollständige Person behandeln. Diese Spaltung ist der Heilige- oder Hurenkomplex genannt worden — brave Mädchen sind körperlos (nichtsexuell), und böse Mädchen sind nur sexuell.

Normale Frauen brauchen nicht durch Phrasen verführt zu werden. Sie werden Geschlechtsverkehr haben, wenn die Beziehung es verlangt. Eheberater kennen zahllose Frauen, die behaupten, ihren Mann zu lieben, aber dennoch beim Geschlechtsakt nichts fühlen. Eine frigide Frau kann nicht liebevoll sein, weil sie sich nicht ganz hingeben kann. Nur eine voll sexuelle Person kann liebevoll sein.

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Man könnte diese Ausführungen bekritteln und auf eine Reihe sogenannter Neurotiker hinweisen, die den Sexus sehr zu genießen scheinen. Doch eben diese Neurotiker sind in starker Spannung, die sie vielleicht im Geist erotisiert und mit dem Etikett >Sexus< versehen haben, wobei die Sache kaum mehr Inhalt erhält als ein kräftiges Niesen. Als Beweis dafür erwähne ich die Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit der Patienten, die in den ersten Therapiewochen ihre Spannung verlieren, ebenfalls für eine Weile ihren Sexualtrieb verlieren. In manchen Fällen verschwindet er für einige Wochen völlig. Außerdem haben sowohl Männer als auch Frauen, die vor der Behandlung glaubten, ziemlich sexuell zu sein, ausgesagt, daß sie keine Ahnung hatten, was ein wirkliches sexuelles Gefühl sei, bis sie in der Primärtherapie wieder fühlen gelernt hatten. 

Insbesondere Frauen, die behauptet hatten, nicht frigide zu sein, berichteten, wie anders ihre Orgasmen nach der Therapie geworden seien — in der Regel ein erfüllteres, mehr konvulsives Erleben. Ein Mann drückte es so aus: »Bei mir spritzte der Orgasmus immer aus dem Penis. Jetzt scheint mein ganzer Körper dabei beteiligt zu sein.« Der ganze Körper kann >beteiligt< sein, wenn jedes Quantum früherer Unterdrückungen (jede Verleugnung des Selbst) wiedererlebt und aufgelöst worden ist. Diese Verleugnungen brauchen nicht sexuell gewesen zu sein; der Körper macht keinen Unterschied zwischen seinen Selbstverleugnungen. Wird ein Teil des fühlenden Selbst unterdrückt, dann bedeutet es, daß die Sexualität unterdrückt wird.

 

  Frigidität und Impotenz   

 

Nach meinen Beobachtungen von Patienten in den letzten fünfzehn Jahren sind Frigidität und Impotenz stark verbreitet. Das gilt insbesondere für die Frigidität.

Unter Frigidität verstehe ich die Unfähigkeit, ein volles sexuelles Gefühl zu erlangen. Meistens bedeutet das eine Unfähigkeit, eine Klimax zu erreichen. Wie Frauen sich als Folge von Frigidität verhalten, ist je nach der Persönlichkeit verschieden. Manche Frauen werden promiskuitiv in der Hoffnung, einmal den richtigen Mann zu finden, der sie zum Fühlen bringt. Wenn die Schwierigkeit auf die Mutter zurückgeht, wird die frigide Person alles Sexuelle vielleicht einfach ignorieren. Was sie bei ihrem Verhalten empfindet, mag die Hoffnung sein, ihre Würde und Ehre zu wahren und sich damit Mutters Liebe zu erhalten.

Viele frigide Frauen stellen fest, daß sie nur dann zu einer Klimax gelangen, wenn sie masturbieren. Das ist ein gutes Beispiel für die Ausrichtung auf die eigenen Bedürfnisse statt auf den Partner. Frauen, die das tun, haben oft schon seit der Pubertät masturbiert, gewöhnlich begleitet von derselben Art von Phantasie.

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Der Penis mag in diesen Fällen nur symbolisch für Bedrohung, Entehrung, Überfall usw. stehen und wird wegen seiner Bedeutung vermieden (was gewöhnlich unbewußt ist).

Ein Beispiel: Eine Frau bekommt von einer prüden Mutter alle möglichen Mythen über Sexus, Männer und Moral aufgetischt. Sie hört Sprüche wie: »Männer sind Tiere und haben nur eins im Sinn. Sie werden dich lieben und dann verlassen.« Zusätzlich zu dem, was die Tochter hört, gibt es einen Beweis in Gestalt eines brutalen Vaters. Das Mädchen läßt sich von dem überzeugen, was Mutter gesagt hat. Sie versagt sich jedes sexuelle Erlebnis bis zur Ehe und entdeckt dann, daß sie frigide ist. Ihrem Arzt klagt sie, daß ihre Vagina anästhesiert zu sein scheine. Ich glaube, daß diese Frau in ihrer Vagina nichts Sexuelles mehr empfindet. Sie empfindet Furcht, die auf der Verleugnung des sexuellen Gefühls beruht. Es braucht nicht unbedingt bewußte Furcht zu sein, aber da sie nicht zu ihrem Vater gehen konnte und ihr nur die Mutter das bißchen Liebe bieten konnte, das es zu Hause gab, assoziierte sie freie Sexualität mit dem Verlust der Hoffnung auf Mutters Wohlwollen. Damit gab sie ihrer Mutter zuliebe fast buchstäblich einen Teil ihres fühlenden Selbst auf.

Bildlich gesprochen, gehörte ihre Vagina ihrer Mutter. Nicht zu fühlen wurde für die Tochter die Art und Weise, wie sie Mutter das Bild des unständigen Mädchens< bot, auf das diese stolz sein konnte. Nachdem sie indes die Hoffnungslosigkeit gefühlt hatte, je die elterliche Liebe zu erringen, kam es zu einer Fülle von vaginalen Empfindungen, was bei vielen meiner Patientinnen der Fall ist.

Wieso vermochte die Frau dadurch, daß sie die Hoffnungslosigkeit fühlte, je die Liebe ihrer Mutter zu erhalten, ihre Vagina zu fühlen? 

Weil sie versucht hatte, bei jedem sexuellen Kontakt diese Liebe zu finden — indem sie das >brave< (das heißt frigide und asexuelle) kleine Mädchen war, das ihre Mutter wollte. Ihre Mutter würde nur das >brave< Mädchen lieben. Daß sie auf diese Liebe verzichtete, befreite sie von dem Kampf zu versuchen, sie symbolisch durch ihre frigide Vagina zu erhalten. Eine ehemals frigide Frau erklärte ihre Frigidität im Licht ihrer abgeschlossenen Primärtherapie: »Ich wuchs in einer sehr religiösen Familie auf, in der Sexuelles nie erwähnt, geschweige denn verurteilt wurde. Zwar war die Rede von >liederlichen< Frauen und Promiskuität — und das reichte, um mir vor Sexuellem Angst zu machen. Um später die sexuellen Gefühle meines Körpers akzeptieren zu können, mußte ich mir einbilden, daß ich während des Geschlechtsaktes jemand anderes sei. Oft wollte mein Geist gar nicht erkennen, was mein Körper fühlte, deshalb erfand ich Szenen, daß ich festgehalten und vergewaltigt würde. Dann und nur dann konnte ich sexuell fühlen.«

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Eine andere Frau brauchte Phantasien von Cunnilingus durch eine andere Frau. Sie heiratete einen effeminierten Mann, der diese Art des Geschlechts­verkehrs vorzog, so daß ihr die Phantasie stark erleichtert wurde. Nach Ansicht der Primärtherapie ist die Phantasie — das heißt, das Empfinden während des Sexualakts — ein Versuch, die realen Bedürfnisse, von Mutter geliebt und geküßt zu werden, zu befriedigen. Die Befriedigung der Bedürfnisse ruft die Fähigkeit hervor, sexuell und (schließlich) heterosexuell zu fühlen. Aber die irreale Phantasie kann niemals reale Bedürfnisse befriedigen, so daß das symbolische Verhalten sich ständig wiederholt und zwanghaft wird. Als der Mann dieser Frau versuchte, mit dem Penis in sie einzudringen, wurde sie völlig frigide, und der Geschlechtsverkehr war äußerst schmerzhaft. Mit seiner unnachahmlichen >Sprache< sagte ihr der Körper, daß Urschmerz in ihm sei.

Wir dürfen Frigidität nicht einzig und allein einer falschen Sexualerziehung oder schlechten sexuellen Erfahrungen zuschreiben. 

Viele junge Mädchen haben sich so abgeschlossen, daß sich ihre spätere Frigidität voraussagen läßt. Wenn sich ein junges Mädchen abgestumpft hat und kaum irgendwelche Empfindungen spürt (etwa wie das Essen schmeckt), dann wird es aller Wahrscheinlichkeit nach später auch sexuellen Empfindungen gegenüber abgestumpft sein. Das bedeutet, sie wird eine recht intensive Stimulierung brauchen, um auf dem Gebiet, das ihr als verboten hingestellt wurde, überhaupt etwas zu fühlen. Das halte ich für den Grund, warum Frigidität ein so häufiges Problem ist. Eine unterdrückte Frau muß unweigerlich in gewissem Grade frigide sein. Selten wird eine Frau nach der Primärtherapie nicht ein völlig anderes Sexualgefühl haben, selbst wenn sie nicht wegen eines offenkundigen Sexualproblems zur Therapie gekommen war.

Um dem Leser eine Vorstellung von der Komplexität der Frigidität zu vermitteln, zitiere ich, was eine ehemals frigide Frau nach einem Monat Primärtherapie sagte:

»Etwas, das ich in dieser Therapie lernte, ist, wie mein Körper dabei behilflich war, meine Gefühle zu blockieren. Ich war frigide, deshalb dachte ich bei mir, meine zusammengepreßte Vagina müsse mein Abwehrmechanismus gegen irgendwelche damit zusammenhängenden Gefühle sein. Ich kam von einer Gruppensitzung nach Hause, zog meinen Schlüpfer aus und öffnete meine Vagina mit den Händen, so daß sie weit offen stand. Dann überließ ich mich dem, was dabei zu fühlen war. Zu meiner Überraschung kam mir eine Erinnerung in den Sinn, und gleichzeitig spürte ich einen Schmerz um meine Vagina. Plötzlich lag ich in meinem Babykörbchen; meine Mutter legte mich trocken, war grob dabei und kniff meine Vagina. Ich erinnere mich, daß sie sie immer kniff, wenn sie mich wickelte. Ich spürte, wie sich meine Vagina verschloß, um den Schmerz nicht zu spüren. Am nächsten Tag hatte ich den ersten schmerzlosen Geschlechtsverkehr mit meinem Mann.«

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Das ist der Punkt, auf den Wilhelm Reich hingewiesen hat (daß der Körper eine Abwehr aufbaut). Indes hätte diese Frau noch tagelang ihre Vagina manuell öffnen können ohne nennenswertes Ergebnis, hätte sie nicht schon viele Urschmerzen empfunden, die den Weg bereitet hatten für ihre Erinnerung an das Kinderkörbchen. Die hergestellte Verbindung, nicht die physische Manipulation ihrer Vagina war entscheidend gewesen. Daß sie die Vagina manuell öffnete, trug dazu bei, einen bestimmten Abwehrmechanismus auszuschalten, ähnlich wie das Lockern eines verspannten Bauchs durch tiefes Atmen Gefühle heraufbringt.

Diese Situation erinnert mich an das, was einem impotenten Mann widerfuhr. Bei einem seiner Urerlebnisse wurde er gedrängt, seiner schrecklichsten Phantasie nachzugehen — dem Inzest mit seiner Mutter. Bei der Phantasie kam ihm eine Erinnerung, daß sie ihn allein im Kindergarten gelassen hatte. Ihm war unbehaglich zumute (und jetzt begann er diese schmerzliche Szene wiederzuerleben). Um sich besser zu fühlen, begann er mit seinem Penis zu spielen. Beim Urerlebnis stellte er die Verbindung her, daß er sich einsam fühlte und wollte, daß seine Mutter mit seinem Penis spielte. Er wollte, daß sie zurückkäme, damit er sich besser und nicht so allein fühle. Später verwandelte sich das in eine Phantasie, daß er Geschlechtsverkehr mit seiner Mutter haben wollte. Als er älter wurde, machten ihm diese Phantasien Angst. Aus irgendeinem ihm unbekannten Grunde wurden sie zu homosexuellen Phantasien, die anhielten, bis er erwachsen war. Während seines Urerlebnisses fühlte er schließlich, was es bedeutete: »Mach dir keine Sorgen, Mama, nicht dich will ich. Männer will ich.«

Dieser Mann litt seit Jahren unter homosexuellen Phantasien infolge eines Geschehnisses im Kindergarten. Offensichtlich hatte nicht dieses Geschehnis allein die Wendung herbeigeführt, vielmehr wurde er früh in seinem Leben so vernachlässigt und häufig alleingelassen, daß dieses Geschehnis entscheidend wurde. Seine homosexuellen Phantasien, so schmerzlich und lästig sie waren, dienten dazu, etwas noch Unerträglicheres zu verbergen — inzestuöse Gefühle gegenüber seiner Mutter.

Viele frigide Frauen (und impotente Männer) stellen fest, daß es nach ein paar Drinks mit dem Geschlechtsverkehr besser klappt. Das liegt daran, daß Alkohol Urschmerzen betäubt und es damit weniger notwendig macht, daß das irreale System den Körper kontrolliert. Es darf nicht vergessen werden, daß das irreale System die Urschmerzen in Schach halten muß. Sind die Urschmerzen gelindert oder betäubt, ist weniger Kontrolle nötig. Bei minimaler Kontrolle kann sich der Körper mehr gehen lassen. Was bedeutet Gehenlassen? Weniger mentale Kontrolle über die Gefühle des Körpers.

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Leider betäubt Alkohol auch die Empfindungen beim Geschlechtsverkehr, so daß das Erleben nicht so inhaltsreich ist, wie es sein könnte. Sexus bedeutet, den Körper zu fühlen, nicht ihn zu kontrollieren. Wenn dieser Körper alte Gefühle zurückhält, dann bedeutet Gehenlassen, einige dieser Gefühle freizulassen. So werden manche Frauen im Bett zu >Hyänen<, krallen sich fest, kratzen und beißen und erwecken den irrigen Eindruck, sie seien sexuell leidenschaftlich. Leidenschaft ist gewiß vorhanden, aber sie ist nicht sexuell. Es ist unterdrückte Wut, die ausbricht, wenn j der Körper zu fühlen beginnt. Hier sehen wir wieder, daß Fühlen eine Sache des Alles oder Nichts ist. Überhaupt zu fühlen heißt, alles zu fühlen. Es mag sein, daß Sex für den Neurotiker halb Gewalttätigkeit ist, und vielleicht ist die Neben­einanderstellung von Sex und Gewalttätigkeit in Kinoreklamen kein Zufall. Aber es ist nicht unbedingt Gewalttätigkeit, die verdrängt wird. Manche Frauen, die gleich nach dem Höhepunkt ihres Sexuallebens weinen, bringen verdrängte Traurigkeit zum Ausdruck. Welche Urschmerzen auch verdrängt werden, die Person kann volle Sexualität erst empfinden, wenn alle vergiftenden neurotischen Gefühle aus dem Weg geräumt sind.

Sexuelle Frigidität ist nicht nur ein Problem sexueller Gefühle; sie ist ein Problem des Fühlens. Frei fühlen zu können bedeutet, sexuell frei zu sein. Unterdrückt zu sein bedeutet, sexuell unterdrückt zu sein — selbst, wenn das sexuelle Funktionieren angemessen zu sein scheint. Wenn jemand zur Primärbehandlung kommt und sagt, er habe lediglich ein sexuelles Problem, dann erfahren wir seine anderen Ängste und Unterdrückungen bald. Wenn umgekehrt jemand wegen anderer Probleme kommt, dann müssen wir sexuelle Probleme vermuten. Das Problem befällt nicht nur Teile von uns; die betroffenen Teile sind untereinander verbunden und voneinander abhängig.

In der konventionellen Therapie bin ich Frauen behilflich gewesen, ihre puritanischen Einstellungen zum Geschlechtsleben zu \ verstehen, und habe sie oft über sexuelle Methoden beraten, aber es hat selten genützt. Durch das Fühlen von Urschmerzen in der Primärtherapie scheinen sexuelle Probleme ohne jede Diskussion über Methoden zu verschwinden. Der Weg zur Vagina führt offenbar nicht über den Kopf.

Der Neurotiker hat ein ganzes Warenlager von Urschmerzen, die verhindern, daß neues Wissen den Körper zum Fühlen bringt. Sexuelles Wissen wird also mental bleiben, bis der Körper befreit ist.

Die Frau eines Arztes, die ich vor Jahren behandelte, pflegte sich in ein Arbeitslager des Civilian Conversation Corps in der Nähe ihres Hauses zu schleichen und mit fünf oder sechs Männern hintereinander zu schlafen. Sie war einfach auf der Suche nach dem richtigen Mann, der sie in Schwung bringen könnte. Aber kein Mann konnte sie in Schwung bringen, denn sie selbst hatte erfolgreich abgeschaltet.

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Und nur sie selbst konnte sich wieder in Schwung bringen. Obwohl diese Frau intelligent war und wußte, daß ihre Ausflüge in das Arbeitslager vergeblich und gefährlich waren, obwohl ich sie daraufhingewiesen hatte, was sie in Wirklichkeit tat, war sie nicht davon abzubringen. Sie hatte Bedürfnisse, die sie unablässig antrieben. Sie kannte die Gefahren und verstand, warum sie es tat, aber sie hörte damit nicht auf, weil ihre Bedürfnisse nicht aufhörten. Sie wollte fühlen.

Ich glaube, es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß durch eine liberale Sexualerziehung die Einstellung eines Menschen zum Sexus geändert und aufgrund der geänderten Einstellung Sexualprobleme gelöst werden können. Wieviel Erziehung jemand erhalten haben und wie liberal er in sexuellen Fragen geworden sein mag, sexuelle Funktionsstörungen werden so lange anhalten, bis sich diese neuen Einstellungen aus dem Körper und seinen Gefühlen heraus entwickeln.

Auch kulturelle Faktoren müssen bei sexuellen Problemen berücksichtigt werden; die allgemeine Unterjoch­ung der Frauen — die Meinung, sie seien auf der Welt, um Männer glücklich zu machen — hat bestimmte Begriffe hervorgebracht wie etwa die >weibliche< Mentalität. Bei der Vorstellung, daß Frauen Männer glücklich machen sollten, ist stillschweigend mitinbegrifFen, daß Männer ihnen überlegen seien und Frauen für ihren Mann leben sollten. Das ist wiederum reine Neurose. Niemand kann für einen anderen oder durch ihn leben, ohne krank zu sein — und so wollen leider viele Männer ihre Frauen haben. Niemand kann einen anderen Menschen zum Fühlen bringen, und dazu gehört auch, sich >glücklich< zu fühlen. Es ist die Aufgabe der Menschen zu leben.

Neurotiker glauben, Frauen müßten mit Romantik umgeben werden — gedämpftes Licht, besondere Redensarten und Drinks —, um erregt zu werden. Statt also zur Sache — dem Sex — zu kommen, wird ein Kampf aufgeführt, bei dem die Frau verführt wird. Eine Frau, die diese Verführung nicht braucht, die kein Hehl aus ihren sexuellen Wünschen macht, wird allzu oft als unmoralisch angesehen. Teilweise ist der Grund dafür, daß Männer, die sich ganz unmännlich fühlen, zu glauben scheinen, wenn sie Frauen gegenüber aggressiv sind — um sie sexuell zu erobern —, dann würden sie irgendwie richtige Männer. Wenn ein Mann eine Frau beherrscht, wird er sich dadurch ebenso wenig männlich fühlen, wie sich ein Erwachsener wichtig vorkommen wird, wenn er ein Kind beherrscht. In einer nichtgespaltenen, nichtneurotischen Gesellschaft wird es diese Kluft zwischen Männern und Frauen nicht geben. Sie werden gleichberechtigt sein und dieselben Bedürfnisse und Gefühle haben. Es wird keine männliche oder weibliche Mentalität geben, denn das wäre eine gespaltene Mentalität.

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   Perversionen   

 

Es gibt Zeiten, da eine Person mehr als eine mentale Phantasie beim Sex braucht. Ein Mann zieht vielleicht ein Kleid an, legt Make-up auf, geht die Straße hinunter und weiß doch, daß er ein Mann ist. Aber sollte er ein Kleid anziehen und tatsächlich glauben, er sei ein Mädchen, dann hat er einen gewaltigen Schritt auf dem Weg zur Irrealität getan. Innerer Druck kann bewirken, daß ein Mann nicht nur Phantasien hat, er würde während des Geschlechtsakts geschlagen, sondern daß er wirklich gepeitscht werden muß, um zum Orgasmus zu gelangen.

Perversion bedeutet, daß die Last früherer Verleugnungen für die übliche Methode des Betreffenden, damit fertig zu werden, zu groß geworden ist und ihn für den Augenblick des Rituals in ein fast totales symbolisches Verhalten gestürzt hat — vielleicht einen momentan psychoseähnlichen Zustand.

Ein Mann, den ich behandelt hatte, mußte von einer Frau gefesselt und geschlagen werden, um eine Erektion zu erreichen. Obwohl dieses Ritual eine Reihe psychologischer Aspekte aufwies, schien es hauptsächlich aus der Beziehung zu seiner sadistischen Mutter herzurühren, die ihn ständig schlug und mißhandelte. Offenbar mußte er seine alte Mutter-Sohn-Beziehung auf fast buchstäbliche Weise wiedererschaffen, und dabei hatte er dieselbe unbewußte Hoffnung wie Vorjahren, wenn er genug geschlagen wurde, .werde er Friede, Freude und Freundlichkeit finden.

Dieses masochistische Ritual war ein umschriebenes Drama und symbolisierte eine ganze Schar früherer Erlebnisse, die der Betreffende ersatzweise aufzulösen versuchte. Den Kernpunkt des Rituals bildet die Hoffnung - die Hoffnung, jemand möge sein Leiden sehen und es beenden. Offenbar sind richtiges Blut und blaue Flecken nötig, damit manche Eltern auch nur merken, daß ihre Kinder Hilfe brauchen. 

Manche Kinder dramatisieren es, indem sie Autos stehlen, andere, indem sie Brände legen, und wieder andere, indem sie sich schlagen lassen. Das ersonnene Ritual des Perversen kann als eine Fortsetzung des unbewußten Rituals angesehen werden, das der Neurotiker in all seinem Erleben während des Tages ausspielt. Bei dem generalisierten Ritual kann er zum Beispiel geschlagen und besiegt agieren, als wollte er sagen: »Tut mir nicht mehr weh, ich bin schon fix und fertig.« 

Der nichtperverse Neurotiker scheint ein mehr generalisiertes statt eines ersonnenen Rituals zu haben. Ein Patient, der Exhibitionist war, versuchte seine Perversion zu beschreiben: 

»Es ist, wie wenn man zu jung ist, um es besser zu wissen, und jemand es systematisch darauf anlegt, einen verrückt zu machen. Meine Mutter haßte Männer. Vielleicht war sie lesbisch. Vermutlich versuchte ich, für sie ein Mädchen zu sein. Schließlich mußte ich fremden Frauen auf der Straße meinen Penis zeigen, um zu beweisen, daß ich kein Mädchen bin. Ich war ziemlich schlimm dran, daß ich so etwas tun mußte.«

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Dieser Mann, verheiratet und Vater von Kindern, hatte gewiß alle sichtbaren Beweise für seine Virilität und Männlichkeit, die er brauchte. Es schien keine Rolle zu spielen. Er mußte sein Ritual fortsetzen, bis er in die Vergangenheit zurückkehrte, die Ursprünge seines Rituals wiedererlebte und all die Art und Weisen, wie er sich verzerrte, um nur ein freundliches Wort von seiner Mutter zu hören.

Obwohl dieser Mann es besser wußte, wurde er durch eine unkontrollierbare Kraft in seinen Akt getrieben. Diese Impulsivität kann uns möglicherweise einen Einblick in Impulsivität im allgemeinen bieten. Die realen Wünsche dieses Mannes — ein Mann zu sein — kamen immer wieder durch, wie sehr ihn seine scheußlichen Erfahrungen auch umgemodelt hatten. Das Ziel seines Rituals war also zu sein, was er war — real. Es scheint keine Rolle zu spielen, was ein Mensch sich selbst sagt, was er tun sollte oder nicht tun sollte, wenn dieses Selbst immer wieder verleugnet worden ist und jetzt auf Befreiung drängt. Ich betrachte Impulsivität als angetrieben durch Spannung, durch alte Gefühle, die den jetzigen impulsiven Akt irrational machen. Der impulsive Mensch handelt nicht nach Gefühlen; er handelt nach verleugneten Gefühlen. Das ist das Gegenteil von spontanem Handeln, das auf Gefühlen beruht. Bei spontanem Verhalten ist die Wahrscheinlichkeit geringer, daß es irrational ist, wie schnell die Reaktion auch sein mag, weil es die Reaktion einer realen Person auf reale Umstände ist.

Offenbar können Perversionen nur von Grund aufgeheilt werden, wenn die in dem Ritual enthaltene Botschaft gefühlt und hervorgerufen wird. Wenn der Exhibitionist zum Beispiel sagen wollte (indem er seinen Penis zeigt): »Laß mich ein Junge sein, Mama«, dann muß er genau fühlen, auf welche erinnerte Szene — das heißt, jedes neue Urerlebnis — wird ein weiteres Stück des exhibitionistischen Rituals beseitigen, bis keine Impulse mehr übrig sind. Jede Szene wird wieder lebendig machen, wie seine Mutter ihn nicht einen Jungen sein ließ (»Faß deinen Penis nicht an. Schlaf nicht mit Mädchen.« Den kleinen Jungen mit Locken herumlaufen lassen. Ihn keinen Sport treiben lassen usw.). Jeder dieser Vorfälle, bei denen seine Mutter ihn zwang, nicht zu sein, was er war (ein Junge), baute die Perversion auf, bis sie ausagiert wurde. Jedes Wiedererleben dieser Szenen baut die Perversion ebenso methodisch und sicher ab, wie sie sich aufgebaut hatte. Während eines Urerlebnisses hielt zum Beispiel ein Exhibitionist seinen Penis hoch und schrie: »Mammi, er ist nicht dreckig. Er ist ganz in Ordnung. Ich bin es, was ich da halte. Laß mich doch mich fühlen.«

Der Exhibitionismus dieses Mannes war, wie jede Perversion, einleuchtend. Er versuchte, real zu sein, indem er seinen Penis zeigte — natürlich war das eine irreale Weise. Doch obwohl seine ganze Vergangenheit darauf ausgerichtet war, ein Mädchen aus ihm zu machen, blieb das Bedürfnis bestehen, zu sein, was er war, wenn auch auf verzerrte Weise.

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Perversionen sind wegen ihrer offenkundigen Symbolik durch die Primärtherapie leicht zu behandeln. Sie sind sozusagen >gebündelte Urerlebnisse<. Gewöhnlich braucht man nicht herumzuraten, was das Bedürfnis ist. Man braucht bloß das Ritual zu unterbinden, dann verwandelt sich die ungeheure Kraft, die das Ritual angetrieben hatte, sofort in ein Urerlebnis — und stellt die richtigen Verbindungen her.

 

  lenny  

 

Lenny ist ein sechsundzwanzigjähriger graduierter Psychologe. Obwohl er jahrelang Psychologie und abnormes Verhalten studiert und seine Kenntnisse in der Behörde, wo er arbeitet, praktisch angewandt hat, half ihm das kein bißchen, seine eigenen, persönlichen Probleme zu überwinden — ein dramatischer Beweis, daß Wissen allein nicht ausreicht, um eine Neurose zu ändern. Wenn Lenny in seinem Ritual war, war er in einer anderen Welt, wo alles, was er über Verhalten gelernt hatte, vergessen war. Lennys Fall hilft uns, Perversionen im allgemeinen und Impulsivität im besonderen zu verstehen.

 

Ich kam zur Therapie, nachdem ich öffentlich meinen Penis zur Schau gestellt und masturbiert hatte. Zu Hause bin ich immer Zwangsmasturbant gewesen, aber das schien meine ganze Spannung nicht zu mildern. Ich ging dazu über, es an Straßenecken zu tun oder in meinem Wagen an Bushaltestellen, wo lauter Frauen standen. Immer, wenn ich lange allein zu Hause war, kam der Impuls über mich, wegzugehen und zu masturbieren. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Ich wurde ein regelrechter Exhibitionist.

Wenn andere Leute nach einer Zigarette oder einem Drink greifen, um ihre Spannung zu mildern, griff ich nach meinem Penis. Ich wußte nur, daß ich, wenn ich allein war, mich schlecht fühlte und mich gut fühlen wollte. Aber mit der Zeit reichten wegen der Art meiner Krankheit Phantasien von Frauen beim Masturbieren zu Hause nicht mehr aus. Meine sämtlichen Symptome vor der Therapie waren physisch — Asthma, Magengeschwüre, Nebenhöhlen­beschwerden, Sekretabsonderung im Nase-Rachenraum und chronische Kopfschuppen (jetzt alles verschwunden). 

Ich war immer körperorientiert. Ich schien etwas Körperliches tun zu müssen. Ich wußte, daß ich kränker wurde, als geistige Bilder während der Masturbation nicht mehr ausreichten. Aber ich wußte nicht, was ich tun sollte. 

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Ich mußte den Ausdruck auf Frauengesichtern sehen — realen, lebendigen Frauen. Ich pflegte eine Straße entlangzugehen und nach einer Frau Ausschau zu halten, deren Gesicht ich während meines Akts beobachten konnte. Manchmal fuhr ich mit dem Wagen und parkte in ihrer Nähe. Während meines Orgasmus sah ich ihr ins Gesicht — ich wollte sicher sein, daß sie mich sah. Ich lebte sozusagen meine Phantasie aus.

Nach dem Orgasmus war ich gewöhnlich unerhört erleichtert, als ob mir ein großes Gewicht abgenommen sei. Ich fuhr dann weg und zur Arbeit, um anderen Leuten zu helfen, als ob nichts geschehen sei. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis ich es wieder tun mußte.

Was als kleine Beutezüge auf der Straße begann, wurde schließlich zu einer Hauptbeschäftigung. Ich verbrachte vier oder fünf Stunden am Tag damit; nichts anderes hatte ich mehr im Sinn. Ich wußte, daß ich auf dem besten Wege war, verrückt zu werden, weil ein Teil von mir wußte, wie irrsinnig das war, während der restliche Teil von mir es einfach tun mußte.

Was geschah, war, daß mein Verstand sich einfach von meinem Körper löste. Ich meine damit, ich tat etwas mit meinem Körper, wovon mein Verstand nichts wußte. Während meiner exhibitionistischen Rituale war ich gleichsam in einem Zustand der Verwirrung. Ich hatte eine verschwommene Vorstellung, wo ich war, aber gleichzeitig tappte ich im dunkeln. Meine Impulse schienen außerhalb meines bewußten Verstandes zu entstehen.

Ich versuchte, dagegen anzukämpfen; mein Beruf und meine Stellung standen auf dem Spiel. Wenn mich der Impuls überfiel, versuchte ich, ihn zu verleugnen, aber es war unmöglich. Mein bewußter Verstand schien sich aufzulösen. Der Zwang in mir wurde täglich stärker, und ich wußte gar nicht, warum. Geistige Verwirrung trat an die Stelle von rationalem Denken, so daß ich nicht einmal bei der Arbeit folgerichtig denken konnte. Während alledem kam ich mir wie zwei Menschen vor. Ich war Schauspieler und Zuschauer. Während meiner Episoden konnte ich Recht nicht von Unrecht unterscheiden. Es war wie ein Zustand, in dem jemand losgeht und fünf Menschen umbringt. Ich war einfach eine weitere unbewußte Person und folgte meinen Trieben.

Jetzt nach der Therapie weiß ich, daß nicht viel fehlte, und ich wäre verrückt geworden. Ich verlor immer mehr die Herrschaft über mein Selbst. Mein Verstand war im Schwinden. Ich war sicher, daß ich eines Tages die Verwirrung nicht würde abschütteln können, und das wäre dann das Ende gewesen. Vermutlich bedeutet das, daß mein Körper und mein Verstand völlig voneinander getrennt gewesen wären und jeder von ihnen etwas anderes täte.

Neurotisch, wie ich war, konnte ich nicht empfinden, was mich impulsiv machte. Es war zu schmerzhaft. Der Schmerz stieg auf, sobald ich allein war, und ich agierte ihn einfach aus. Als der Schmerz bei der Therapie aufstieg, fühlte ich ihn. Das ist der Unterschied zwischen Fühlen und Ausagieren, den ich in der Primärtherapie so gut zu erkennen lernte.

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In der Therapie ließ ich zu, daß der Impuls mich erfaßte. Statt das Fühlen abzuspalten und zu masturbieren, ließ ich schließlich zu, daß mein Verstand dort hinging, wo mein Körper war — und das heißt, zu ziemlich schrecklichen Wahrheiten. Ich erinnere mich meines ersten Urerlebnisses: Als ich kam, fühlte ich meinen Impuls. Auf dem Weg zur Therapie hätte ich fast, als ich eine Straße entlangfuhr, nach einer Frau Ausschau gehalten. Der Therapeut sagte, ich solle dem Impuls nachgeben. Ich hatte ihn steif und fühlte mich schrecklich sexuell. Ich glaubte, ich würde bestimmt zum Orgasmus kommen. Auf dem Höhepunkt des Fühlens begann ich zu schreien: »Nein! Nein! Nein!« Dann sah ich das Gesicht einer Frau. Du lieber Himmel, es war meine Mutter. Ich schrie: »Mammi, ich hab Schmerzen, ich hab Schmerzen!« Dann begann ich zu brüllen: »Laß mich nicht allein, Pappi wird mich umbringen.« 

Ich konnte ihr nie sagen, daß ich solche Angst vor meinem Vater hatte. Da begriff ich sofort, wenn ich meinen Penis exhibierte, wollte ich, daß eine fremde Frau mein beim Orgasmus (vor Angst und Schmerz) verzerrtes Gesicht sieht und erkennt, daß ich Schutz brauche. Aber meine Mutter war es, die von meiner Angst wissen mußte. Aber so, wie sie war, hatte ich es irgendwie nie gewagt, es ihr zu sagen. Sie war selbst zu krank, als daß ich hätte wagen können, ihr zu sagen, daß ich Hilfe brauchte. Deshalb sagte ich es auf ziemlich verrückte Weise an Bushaltestellen.

Der Druck, der mich zu alledem antrieb, war die Angst vor meinem Vater und das Bedürfnis nach Schutz durch meine Mutter. Als ich die Verbindung von all diesem vagen Druck mit dem, was er war, herstellte, brauchte ich nicht mehr auszuagieren. Tatsächlich war gar kein Druck mehr da — nur Schmerz.

Vor der Therapie war mein Verstand nie in Übereinstimmung mit meinem Körper. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich durch die Schule gekommen bin. Noch heute hapert es bei mir mit dem Lesen und der Rechtschreibung. Aber ich war gut im Sport und geschickt mit den Händen — Installations- und Elektroarbeiten und all das. Ich mußte dumm sein, denn als ich gescheit wurde und die geistigen Verbindungen mit all dem Druck, der mich auf die Straßen trieb, herstellte, da zappelte ich in Dr. Janovs Sprechzimmer wie ein Fisch auf dem Trockenen. Diese Gefühle waren wie ein Kraftwerk. Jetzt weiß ich, hätte ich nicht weiter ausagieren können, wäre ich nicht nach meiner Verhaftung gegen Kaution freigelassen worden, sondern hätte im Gefängnis bleiben müssen, dann wäre ich bestimmt verrückt geworden. Ich exhibierte, weil es die einzige Möglichkeit war, um meine Gefühle fernzuhalten, und das wußte ich instinktiv.

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Hätte ich stillsitzen müssen und nichts zu tun gehabt, wäre mir der Kopf geplatzt. So verrückt es klingt, nachdem ich verhaftet worden war und wußte, in welchen Schwierigkeiten ich war, ging ich immer noch los und masturbierte vor Frauen, während mein Prozeß mir noch bevorstand. Ich hatte keine andere Wahl.

Vor der Therapie habe ich mich immer für höchst sexuell gehalten — >Fickbruder< pflegte ich zu sagen. Doch jetzt habe ich diese Orgasmuskrämpfe in Urerlebnisse verwandelt, und mein Sexualtrieb ist viel geringer. Es ist das Umgekehrte von dem, was ich ursprünglich tat. Ursprünglich habe ich meine Urerlebnisse in sexuelle Krämpfe verwandelt, weil ich den Urschmerz nicht empfinden konnte. Perversion ist meiner Ansicht nach asexuell. Ich masturbierte, aber eigentlich wollte ich nur Hilfe. Es war meine Art, >Hilfe!< zu schreien. Was ich tat, hatte keine Beziehung zum natürlichen Sexualtrieb; es war die Perversion eines anderen Gefühls. Viele von uns sind auf unterschiedliche Weise pervertiert. Kaufleute pervertierten ihr Bedürfnis nach Liebe in Geschäfts­abschlüsse. Ich pervertierte meine Gefühle in meinen Penis. Ich wollte weiter nichts, als daß meine Mutter mein Leiden sieht und mir endlich gibt, was mir als Kind gefehlt hatte.

 

  jim  

 

Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und in Alabama geboren. Jetzt lebe ich in Los Angeles, der Stadt, die für mich immer alles das symbolisiert hat, was unpersönlich, teilnahmslos, grob, gemein, oberflächlich, anmaßend, verkrampft und verzweifelt ist. Der Gedanke an Los Angeles oder ein Aufenthalt in dieser Stadt war für mich immer verbunden mit der Gefahr zu fühlen, wie unpersönlich, abgestumpft und oberflächlich mein eigenes Leben war. Jetzt ist es einfach eine schmutzige, nervöse Stadt, die keinerlei Gefühl bei mir erweckt.

Mein Vater ist Berufsoffizier in der Luftwaffe. Außerdem ist er presbyterianischer Prediger und stammt aus einer Kleinstadt in Indiana. Meine Mutter kommt aus Mississippi.

Ich hatte nie ein Zuhause. Meine frühesten Erinnerungen gehen zurück auf die Zeit in Japan, wo mein Vater stationiert war und ich mit vier Jahren von zu Hause weglief. Danach zogen wir alle ein oder zwei Jahre um, reisten in dem Familien-Oldsmobile, der zeitweilig als Schauplatz für Familienkräche diente, ob wir nun in Arizona an Kakteen oder auf der Alaskastraße an Totempfählen vorbeifuhren. Der Wagen war auch der Ort, von dem ich nicht fliehen konnte, wenn meine Mutter beschloß, mich mit einem Gummischlauch zu verprügeln, wenn ich mich schlecht benommen hatte. Den Schlauch versenkte ich schließlich im Abfalleimer eines Badezimmers in einem Motel in Denver.

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All das Reisen hätte ein Spaß sein können für ein Kind; manchmal war es das auch, ungeachtet der Tatsache, daß wir als Familie nie einen glücklichen Augenblick erlebten. Alles war ein Kampf, eine Auseinandersetzung. In welchem Motel wir übernachten würden, welches Fernsehprogramm wir sehen und wo wir anhalten und essen wollten, immer gab es einen Wortstreit. Dasselbe galt für meine ganz persönlichen Entscheidungen, was ich anziehen und wer mein Freund sein sollte, wann ich müde sein müßte, wie ich zu essen hätte und so weiter. Sie war ständig damit beschäftigt, mir zu sagen, was sie für das Beste hielt, und das in einem Tonfall, der besagte: »Mach nur so weiter und tu, was du willst — wenn dir an mir nichts liegt, bitte.« Es war eine verheerend wirkungsvolle Methode, die sie anwandte, damit ich tun und sein sollte, was sie wollte. Ich hatte meine Eltern wirklich gern — mehr als alle anderen Leute auf der Welt. Wenn sie also sagte, sie glaube nicht, daß ich sie liebe, dann sagte sie auch: »Es hat keinen Zweck, daß wir unsere Beziehung fortsetzen« — d. h., sie wird auch mich nicht mehr lieben, es sei denn, ich tue und bin, was sie will. Das ist eine elende Lage für ein Kind, das nicht zu feilschen vermag. Deshalb müssen vor allem sämtliche Entscheidungen, die ich treffe, von ihr bestätigt werden. Wenn ihr nicht gefällt, was mir gefällt, dann muß ich einfach herausfinden, wie ich meine Gefühle verbergen und tun und sein kann, was ihr gefällt.

Meine Mutter mag keine Männer, das heißt keine maskulinen Männer. Also. Erstens kann ich kein Mann sein, obwohl ich doch, wie alle männlichen Wesen, mit einem Fimmel geboren worden bin, wenn er auch klein war. (Und er ist auch nie richtig groß geworden. Noch nicht.) Durch ihre hartnäckige und tagtäglich zum Ausdruck gebrachte Männerfeindlichkeit hat sie es mit Geschick fertiggebracht, mich zu einem Transvestiten zu erziehen. Ich habe früh begriffen: »Mammi mag mich nicht (wenn ich ich bin). Sie mag mich, wenn ich das bin, was sie mag.« Was kann man schon ändern, wenn man vier, fünf oder sieben ist, abgesehen von der Sexualität; man hat keine Weltanschauungen oder Theorien, die man ändern kann — nur sich selbst. Also ...

Abgesehen von diesem Ausgangspunkt und ständigen Einfluß auf meine Kindheit zitterte ich zweiundzwanzig Jahre lang vor dem entsetzlichen Gespenst der drohenden Scheidung meiner Eltern. (Jetzt, da ich mit der Therapie annähernd fertig bin, werden sie nun endlich geschieden.) Als ich sieben war und wir in Texas lebten, kam mein Vater eines Abends leicht angetrunken nach Hause. Meiner Mutter zufolge war er mehr als leicht angetrunken, und sie schickte sich an, wütend zu werden, zu brüllen und schließlich meinen Pappi zu schlagen, bis sie zu Boden ging und schrie, sie ließe sich nicht so schlagen, und schluchzte, sie werde die Scheidung einreichen. Ich stand die ganze Zeit voller Angst zwischen und neben ihnen. Die beiden bemerkten mich kaum.

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Ich versuchte sogar, sie zu trennen, faßte sie um die Taille und bat sie aufzuhören und sich zu küssen und wieder zu vertragen. Ich war alt genug, um eine Vorstellung zu haben, was »Scheidung« bedeutete: Trennung. Ich war außer mir vor Angst. »Mammi«, fragte ich, »was wird mit mir geschehen, was ist mit mir?« Sie sagte: »Ich weiß es nicht«, und machte sich ans Kofferpacken. Weder sie noch mein Vater scherten sich im geringsten um mich. Ich trottete mit meinem Stoffpferd durchs ganze Haus und murmelte immerzu: »Was wird mit mir geschehen? Was wird ...« usw. Seitdem bin ich immer herumgetrottet und habe gemurmelt — bis zur Primärtherapie.

Als ich am nächsten Tag aus der Schule kam, nachdem ich den ganzen Tag darüber gegrübelt hatte, mit wem ich wohl »mitgehen« würde (Mammi natürlich), stellte sich heraus, daß alles in Ordnung war. (In Ordnung und krank.) Pappi würde es »nie wieder tun«, und Mammi würde nicht weggehen. In den nächsten fünfzehn Jahren spielte sich dieselbe Szene immer wieder ab, und immer sah ich die Trennung voraus, die nie kam, aber doch immer drohte.

Ich habe meinen Vater nicht viel erwähnt, denn er war nicht viel da. Ich habe ihn gehaßt, weil er mich nicht vor Mammis destruktivem Einfluß geschützt hat. Und ich liebte ihn heiß in den wenigen Augenblicken, die wir zusammen verbrachten. Pappi und ich wollten einander lieben, aber wir hatten Angst, unsere Gefühle herauszulassen, weil es so weh tun würde.

Mit einer Neurose und einer Familie wie der meinen mußte ich aufpassen, meinen Gefühlen nicht zu nahe zu kommen. Bleib kühl in der Familie. Außerhalb tue so, als wärest du stark und selbständig. Transvestiten sind nicht mal so »in« wie gewöhnliche Homosexuelle. Da ist ein Unterschied. So war ich ein sehr aktives und einsames Kind. Ich hatte solche Angst vor Mädchen, daß ich erst als Oberschüler und bei meiner dreizehnten Verabredung meiner ersten Freundin einen Kuß gab. Und außerdem war sie älter als ich, was ja klar ist.

Ich habe viel masturbiert, und das unterdrückte meine Spannung ein bißchen, aber ich mußte immer vorsichtig sein, weil meine Mutter stets drauf und dran war, mich zu erwischen. Sie hatte es nicht gern, wenn ich meinen Schwanz anfaßte.

Am Ende meines zweiten Oberschuljahrs stellte ich fest, daß ich durch die wiederholten Wortkämpfe mit meiner Mutter nicht nur redegewandt war und gute Einfälle hatte, sondern auch sehr schnell laufen konnte. Am Ende des vorletzten Schuljahrs war ich Staatensieger im Kurzstreckenlauf und begann, mit Mädchen auszugehen. Am Ende des letzten Schuljahrs war ich wieder Staatensieger, Festredner bei der Abschlußfeier in der Schule, Staatspreisträger für Rhetorik, Journalist, gewöhnlich unbeweibt und auf dem Weg zum College. Ich war unglücklich.

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Schon lange hatte ich, wenn meine Mutter nicht zu Hause war, mir angewöhnt, ihre Kleider anzuziehen — Büstenhalter, Strümpfe, Schlüpfer usw. —, ich agierte meine Phantasie aus, daß, wenn ich so wäre, wie Mammi mich wollte, sie mich schließlich haben wollen und lieben würde. Es war eine miese Sache, um es gelinde auszudrücken, und ein schwieriges Verfahren, um ein gutes Gefühl zu haben, wenn ich meinen Schwanz fühlte.

Ich unterdrückte solche Betätigungen im College. Ich behielt die Phantasie im Kopf und masturbierte einfach, wie alle anderen auch. Die Arbeitslast und die Atmosphäre waren so überwältigend, daß ziemlich bald das Masturbieren nicht mehr viel half. Ich hatte kaum Verabredungen mit Mädchen. Auch der Sport war so todernst, krank, und schwer mit dem Studium in Einklang zu bringen, so daß er auch nicht viel Spannung löste. Aber meine sportlichen Leistungen waren jedenfalls dazu nütze, daß ich in eine gute Studentenverbindung aufgenommen wurde, so daß es im nächstem Jahr etwas geben würde, worauf ich mich freuen konnte. Meine Noten waren nicht umwerfend. Kein Prestige, keine Aufmerksamkeit, keine Befreiung von dem Gefühl, einsam und unbedeutend zu sein.

Im zweiten College-Jahr war ich sportlich sehr aktiv. Der Trainer erwies sich als ein Fanatiker. Er schmiß einen ausländischen Studenten aus der Mannschaft, weil er einen langen Beatle-Haarschnitt hatte. Eine weitere Enttäuschung. Ich war Vermittler. Ich wurde nervös, sauer, hatte den Sport und all den anderen irrelevanten Mist satt, den das College mir eintrichtern wollte.

In dem Sommer hatte ich zum erstenmal in meinem Leben eine Freundin. Sie war der erste Mensch, den ich je an meinen Gefühlen teilhaben ließ. Aber ich konnte mich nie überwinden, es zum Bumsen kommen zu lassen, nicht einmal wenn sie meinen Schwanz in der Hand hatte und wir im Bett waren. Ich wollte ein Mädchen haben, um meinen Schwanz zu fühlen, aber ich wollte ihn gefahrlos fühlen, und sie ließ es dabei bewenden. Aber es war stürmisch. Sechs Monate lang kämpften sie und ich wie verrückt, um unserer gegenseitigen Spannungserleichterung Permanenz und Stabilität zu verleihen. Aber leider schob sie alles auf mich. Ich konnte nirgends Zuflucht suchen und wäre fast verrückt geworden. Ich war so in Panik, daß ich das Studium aufsteckte und begann, meine Tagebücher vom Kierkegaardschen Typ zu schreiben, à la Bob Dylan, Ken Kesey u.a. 

Ich war so in Spannung, daß das Schreiben über Mythos, Existenzbewußtsein und tragische, herrische kleine Leute die einzige Möglichkeit zu sein schien, geistig gesund zu bleiben. Ich versuchte, den Urschmerz niederzuhalten; und ich tat es.

In diesem Stadium machte ich die bemerkenswerte Entdeckung, daß keiner das Recht habe, mir zu sagen, wann ich einen anderen töten soll. Ganz einfach. Aber Einfachheit war mir ebenso wie das Fühlen einfach abhanden gekommen, seit ich begonnen hatte, mir darüber Sorgen zu machen, was mit mir geschehen würde.

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Ich leistete etwas Widerstandsarbeit in Arizona und versuchte herauszufinden, wie sich Politik und Kunst miteinander verbinden lassen. Sollte ich ins Gefängnis gehen wegen Wehrdienstverweigerung, oder auswandern, meine großartigen Bücher für die Welt schreiben und mit neununddreißig sterben? 

Wie macht man beides? Bedeutende Fragen, denen bedeutende Gefühle zugrundelagen — bezogen auf Mammi und Pappi: Das Bedürfnis, das Gefühl zu haben, etwas zu taugen (Mammi); das Bedürfnis, anderen Leuten zu helfen, mit Streiten aufzuhören (Mammi und Pappi); das Bedürfnis nach einem friedlichen und unkomplizierten Zuhause (wir alle zusammen); das Bedürfnis, stark und erfolgreich zu sein (Pappi); und so weiter. Ich schickte meinen Einberufungsbefehl zurück, aber auf sehr unkämpferische Weise. Ich wollte schreiben und studieren, bis sie kämen und mich ins Gefängnis brächten. Sehr passiv.

Am ersten Tag in der Therapie erzählte ich Art, daß ich zu meinem Vater hätte sagen wollen, er könne mir den Buckel runterrutschen, als er sich weigerte, mir das Geld für die Therapie zu geben. 

»Wirklich?« fragte Art.
Ich sagte: »Nun, lieber wäre mir, er würde mir helfen.«
»Bitten Sie ihn darum.«
»Am Telefon?«
»Bitten Sie ihn einfach darum, gleich hier.«
Ich fing an, aber mir schnürte sich die Kehle zusammen. »Ich will das nicht tun, und Sie wissen auch, daß ich es nicht will.«
»Bitten Sie ihn.«
Ich tat es, und das nächste, was ich wußte, war, daß ich mich auf der Couch hin- und hergeworfen und nach Pappi geschrien hatte, er solle mir helfen, daß ich die Wut in meinem Körper und meiner Seele gefühlt hatte, die ich so lange verdrängt hatte. Als mich die Kraft verließ und ich mich zu entspannen begann, kribbelten meine Hände, als ob die Zirkulation unterbrochen gewesen wäre und sie jetzt wieder »aufwachten«. Die Farben im Sprechzimmer waren leuchtender, wie auf grasigem Hintergrund, nur ohne surrealistische Trennung von Zeit und Raum. Ich spürte meinen Bauch. Und das war erst der Anfang.

Es war genug für einen Tag. Als ich fortging, fühlte ich mich großartig. Am Nachmittag war mir beschissen zumute. Jetzt, da die Spannung erlahmte, begannen andere Gefühle aufzusteigen. Paß auf, was wird geschehen?

Am nächsten Tag erwartete ich das Urerlebnis und versuchte, die Dinge geschehen zu lassen. Das war meine Methode, nichts zu fühlen. Fünf Tage fummelte ich so rum, bis ich schließlich in der Gruppe so voller Spannung war, daß das mit meinem Vater ganz von selbst herausbrach; mein Wunsch, daß er mir helfe.

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Am nächsten Tag kam es zu Tränen, bitteren Tränen. Ich war so verloren gewesen, mein ganzes Leben lang — niemand hatte mich je angehört, und vor allem hatte ich mich so sehr bemüht, etwas zu vollbringen, das Mammi und Pappi glücklich machen würden, so daß sie mich lieben könnten. Unglückliche Eltern haben keine Zeit, ihre Kinder sie selbst sein zu lassen. Liebe erfordert selbstlose Aufmerksamkeit.

Seit jener Zeit habe ich ein Gefühl nach dem anderen durchgemacht. Zorn, Alleinsein, Traurigkeit und sehr subtile Empfindungen von Wärme, Gerüchen, Kälte, Geschmack und Berührung, die mit der Erinnerung in meinem Gedächtnis, zu der sie gehören, verknüpft werden müssen. Es ist ein Prozeß, bei dem man seinen Kopf wieder vollständig mit seinem Körper in Berührung bringe. Es ist das Fühlen all der verdrängten Gefühle, so daß es nichts mehr gibt, das zu fühlen man fürchtet. Es ist die Hölle und es ist wunderbar.

Manchmal sind die Gefühle leicht herausgekommen; manchmal brauchten sie Tage, um sich zu entwickeln, bis die Spannung erlahmte. I«:h machte eine Periode von drei Wochen durch, in denen ich mir ganz verrückt vorkam, wie damals, als meine Freundin mich verlassen hatte. Es war eine völlige Loslösung von dem Fühlen, das bewirkt wird, wenn man jede Sekunde darüber nachdenkt, wvas als nächstes geschehen könnte. Ich kam so weit, daß ich de» unsichtbaren Schutzschild zwischen meinem Körper und der Umwelt fast sehen konnte. Er wurde dicker. Ich nahm an, ein wichtiges Gefühl sei unterwegs. Gut. Ich wollte ihm helfen, herzukommen. Irrtum. Es war eine sehr raffinierte Art und Weise, nicht zu fühlen. Etwas zu steuern, zu erwarten und zu lenken. Eines Morgens kam ich in Arts Sprechzimmer und sprach mit Mammi und Pappi in jener Primärszene, bei der ich zum erstenmal gefragt hatte: »Was soll mit mir geschehen? Laßt euch nicht scheiden.« Ich sagte es und fühlte die Angst wie ein siebenjähriger Junge. Ich hörte auf, und der Schutzschild schrumpfte. Ich entspannte mich. Ich wollte die Dinge einfach geschehen lassen. Später sollte ich dann tiefer in das Gefühl eindringen, und immer mefcr von dem Schild verschwand. Jedesmal, wenn ich jetzt die Primärszene fühle, kann ich es mir erlauben, ein bißchen mehr von tMer Gegenwart zu fühlen. Der Schild ist zerstört.

Was ich als Ergebnis der Primärtherapie erlebe, bin einfach ich. Zunächst Fühlte ich mich auf neurotische Weise stärker. Zum erstenmal im meinem Leben konnte ich etwas freier fühlen, und das lud meine Hoffnungen und Träume auf. Aber Hoffnungen und Träume sind Symptome verdrängter Gefühle. Sie sind die abstrakten Wörter, mit denen wir auf unser Bedürfnis hinzuweisen und es zu bemänteln pflegen. Wenn das ganze Bedürfnis gefühlt worden ist, dann besteht keine Hoffnung mehr, es zu befriedigen. Dann bleibt nur das Lebendigsein.

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Politische Utopie oder künstlerischer Erfolg sind nicht mehr vonnöten. Es gibt nichts dergleichen wie Erfolg oder Versagen. Nur man selbst. Ich. Ich habe es nicht mehr nötig, ein chronischer, tragischer Versager zu sein, damit mich jemand in den Arm nehme — wie meine Eltern es niemals taten — und mich an sich drücke oder mir zuhöre.

Noch habe ich es nicht völlig überstanden. Ein bißchen brauche ich meine Eltern noch. Da ist immer noch mehr Bedürfnis, das gefühlt werden muß. Mit meinem Vater bin ich fast fertig, und von meiner Mutter ist noch ungelöster Rest vorhanden. Noch habe ich gelegentlich einen Traum, in dem ich nackt in der Damentoilette im Supermarkt mit einem Steifen erwischt werde, und kein Platz, wo ich mich verstecken könnte, und ich will ihn auch haben, wenn nur irgendeine freundliche Dame oder meine Mutter so nett wäre, ihn mich fühlen zu lassen. Damit reagiere ich, während ich schlafe, im Kopf das aus, was ich als real fühlen möchte.

Dennoch habe ich mich unglaublich verändert. Meine Stimme ist jetzt fast eine Oktave tiefer, weil die Verbindung zu meinem Bauch wiederhergestellt ist. Ich höre jetzt beim ersten Mal, wenn Leute etwas sagen, und brauche sie es nicht wiederholen zu lassen. Ich tratsche nicht mehr stundenlang mit meinen kranken Freunden über das, was in der Welt vorgeht (habe es nicht mehr nötig). Ich habe ungefähr zwanzig Pfund abgenommen, weil ich nicht mehr esse, um das Gefühl zu vermeiden, daß mein Magen ebenso leer und einsam ist, wie alles andere von mir es war. Ich rauche nicht mehr, was ich mir angewöhnt hatte, als ich den Sport an den Nagel hängte. Zigaretten schmecken jetzt gräßlich. Alkohol enthemmt mich nicht mehr, sondern macht mich einfach tapsig. Das Essen schmeckt. Reale Gegenstände sind nicht länger Symbole, die Gedankengänge und eine Menge Spannung auslösen. Polizisten sind einfach Polizisten und nicht mein Vater. (Ich mag sie jetzt nicht etwa lieber; nur bin ich nicht mehr wütend auf sie.) Das Meer ist einfach das Meer, nicht Vater und Mutter des Lebens; ein zerbrochener Spiegel ist nicht länger das Symbol irischer Kunst; usw.

Titten sind fast bloß Titten. Eine Fotze ist fast bloß eine Fotze. Sie sind längst nicht mehr die Symbole, die sie einst waren, und werden es bald gar nicht mehr sein.

Es geht mir gut genug und ich fühle genug, um zu wissen, was real ist, und es ist ganz anders, als ich erwartet hatte, und als alles, was ich immer gewesen bin.

Ein Ergebnis der Therapie ist, daß alles buchstäblich wird. Geld kommt mir komisch vor, denn es sind einfach kleine Metall­stücke, die wir bei uns tragen+ und gegen Dinge eintauschen. Es ist wie all das irreale Zeug, das keine Relevanz mehr für mein Leben hat. Es ist, als ob Wörter nichts mehr bedeuten, bloß das Fühlen. Mir ist, als ob die Welt, in der ich lebe, eine einzige Pop-Art-Szene wäre — alles Mache.

Ich glaube, daß alle beim falschen Spiel mitmachen, und sie wissen es nicht, weil sie so eifrig spielen. Es langweilt mich sogar, darüber zu schreiben. Endlich bin ich völlig umgeschwenkt. Transvestismus ist eine Sache der Vergangenheit. Mein Leben lang wurde mir gesagt, ich sei geistig nicht gesund, und schließlich glaubte ich es. Jetzt begreife ich, daß die anderen krank sind und ich normal bin.

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