Kapitel 16         Start     Weiter

Homosexualität  

 

 

260-279

Der homosexuelle Akt ist kein sexueller Akt. Er beruht auf der Verleugnung der realen Sexualität und dem symbolischen Ausagieren eines Bedürfnisses nach Liebe durch Sex. Eine echt sexuelle Person ist heterosexuell. Der Homosexuelle hat gewöhnlich sein Bedürfnis erotisiert, so daß er höchst sexuell zu sein scheint. Wird er seines sexuellen Objekts, seines Geliebten, beraubt, ist er wie ein Süchtiger ohne seine Bezugsquelle; ohne seinen Geliebten ist er im Urschmerz, der immer da ist, aber sexuell abgeleitet wird. Doch nicht Sex, sondern Liebe ist das Ziel.

Von allen Neurotikern steht der Homosexuelle gewöhnlich am stärksten unter Spannung, denn er hat sich von seinem realen Selbst besonders weit entfernen müssen. Die Spannung kann ihn zu Alkohol, Drogen und zwanghaftem Sex treiben, ohne daß diese Auslaßventile reichen. Viele Homosexuelle, die bei mir waren, berichteten von psychosomatischen Beschwerden. Die Gewalttätigkeit Homosexueller ist die Folge von Selbstverleugnung. Wenn ein Mensch nicht sein kann, was er ist, dann ist er wütend.

Ich würde jeden Akt als homosexuell definieren, der zwischen zwei Menschen stattfindet und so erlebt wird, als spiele er sich zwischen Angehörigen desselben Geschlechts ab. Wenn ein Mann mit einer Frau schläft, aber währenddessen völlig versunken ist in eine Phantasie über Männer, dann würde ich den Vorgang homosexuell nennen. Die Gebärden, die man ausführt, sind weniger entscheidend als die innere Situation. Wenn jemand mit einem Angehörigen des gleichen Geschlechts schläft, bedeutet das, daß er sich totaler im symbolischen Verhalten engagiert. Da gibt es keinen abgespaltenen oder fragmentierten Teil von ihm, der ihn antreibt, an der Heterosexualität festzuhalten; er hat den Kampf aufgegeben und wird noch mehr das, was er nicht ist.

Es gibt Männer und Frauen, die eine homosexuelle Ehe fuhren, aber sich der Tatsache gar nicht bewußt sind. Ein effeminierter Mann sucht sich eine maskuline Frau als Gefährtin aus — er mag, wie ein Patient berichtete, es vorziehen, beim Geschlechtsakt auf dem Rücken zu liegen mit der Begründung, so sei es bequemer für ihn — ohne auch nur einmal zu erkennen, daß er im Grunde mit einem Mann Geschlechtsverkehr hat. Es gibt eine Art von besonderem Radar, das diese Menschen dazu treibt, einander zu finden.

Der Mann mit einem unbewußten Bedürfnis nach einem liebevollen Vater, doch zu ängstlich, um homosexuellen Impulsen nachzugeben, wird sich statt dessen mit einer männlichen Frau einlassen. Er wird sich an diese maskulinen Aspekte von ihr halten, so daß sie der Handwerker im Haus sein wird, das Finanzielle erledigt, den Wagen fährt und so weiter. Der springende Punkt ist, daß ein Neurotiker jeden zu etwas machen kann, was er nicht ist. So kann ein Mann im Geist eine Frau zu einem Mann machen, genau wie er einen Polizisten zu seinem Vater und eine Lehrerin zu seiner Mutter machen kann. Das Bedürfnis gewinnt die Oberhand.

Jemand, der beim Geschlechtsakt phantasieren muß, ist seinen Gefühlen näher als jemand, der seine Phantasie auslebt. Die Phantasie bedeutet zugleich, daß ein Bedürfnis seelisch erkannt wird — genauer gesagt, daß das Symbol des Bedürfnisses erkannt wird. Es auszuleben bedeutet totale Unterdrückung des Bedürfnisses und seiner Symbole.

Nach meiner Erfahrung kann Homosexualität ihren Ursprung haben in einer Reihe von Permutationen der Familien-Interaktion. Ein homosexueller Junge kann einen schwachen Vater, einen tyrannischen Vater oder gar keinen Vater haben. Worauf es ankommt, ist, daß der Junge ein Bedürfnis nach einem liebevollen Vater hat. Es besteht kein Anlaß, die spezifischen Beziehungen durchzugehen, die der Junge gehabt hat. Erreicht werden muß nur das Bedürfnis. Das Bedürfnis ist es, das in der Homosexualität ausagiert wird.

Viel hängt von dem Kind selbst ab. Wenn es von Natur aus ein athletischer Typ ist, wird es vielleicht die robuste Person werden, die der Vater haben möchte. Ist es schwach und unkoordiniert, wird es vielleicht völlig abgelehnt, weil es nicht mit den Bedürfnissen des Vaters übereinstimmt. Wenn seine Mutter ein wenig warmherziger ist, wird dieses Kind ihr vielleicht näherstehen; ist die Mutter kalt, wird das Kind wohl verzweifelt versuchen, wie sein Vater zu sein. Es ist nicht eine bestimmte Familienkonstellation, die Homosexualität erzeugt.

Ein Junge, der einen brutalen, trinkenden Vater hat, wird sich vielleicht gegen alles Maskuline wenden. Ein anderer Junge, dessen Vater genauso ist, beschließt vielleicht, er wolle ein so anständiger Mann werden, wie es sein Vater nicht war. Wenn eine Mutter Männer haßt, hat vielleicht auch ihre Tochter etwas gegen Männer. Wenn eine Mutter eine abscheuliche Person ist, hat ihre Tochter vielleicht etwas gegen Frauen. 

Es gibt keine Formel, die eine spezifische Neurose erklärt. Die innere Reaktion des Kindes auf das, was geschehen ist, muß verstanden werden.

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Das sich daraus ergebende Verhalten des Kindes ist gewöhnlich keine bewußt durchdachte Entscheidung. Eine allmähliche Ansammlung von Erfahrungen zwingt ihm ein bestimmtes Vorstellungsbild auf, um die verdrängten Bedürfnisse seiner Eltern zu befriedigen. Praktisch bedeutet das, daß das Kind sein muß, was seine Eltern brauchen, damit sie (und demnach auch das Kind) sich vorübergehend wohlfühlen. Wenn seine Mutter keine Aggressivität ertragen kann und glaubt, Männer seien sexuelle Bestien, dann wird das Kind an ihrer Einstellung und ihrem Verhalten bald merken, daß es ratsam ist, weder aggressiv noch sexuell zu sein.

Weil das kleine Kind nicht begreifen kann, daß sein Vater ein Sadist oder seine Mutter Lesbierin ist und alles Männliche haßt, glaubt es mit der Zeit, daß alles, was es instinktiv tut, verkehrt sei. Es wird vielleicht seine natürlichen Neigungen immer mehr verleugnen, bis es eines Tages vollständig invertiert ist.

Viele Homosexuelle scheinen sich über das, was so offenkundig ist, nicht klar zu sein - sie sind auf der Suche nach Ersatz. Viele verherrlichen die homosexuelle Liebe als die einzig wahre Liebe und zitieren zum Beweis vielleicht die Griechen. Aber es ist irreale Liebe irrealer Menschen. Was der sexuellen Suche des Homosexuellen solche Intensität verleiht, ist das Bedürfnis, sich endlich geliebt zu fühlen und so der nagenden Spannung ein Ende zu bereiten.

»Nach jedem sexuellen Kontakt war ich leicht unbefriedigt und ich wußte nie, warum«, sagte mir ein ehemaliger Homosexueller. »Ich glaubte, hinter einem Penis her zu sein, einem größeren, einem besseren — bis ich ihn bekäme. Dann brauchte ich immer mehr und mehr. Nachdem ich gefühlt hatte, wie sehr ich meinen Vater wollte, wußte ich, daß es gar kein Penis war, den ich wollte. Vermutlich bin ich ein jämmerlicher Schwuler« geworden, weil ich nie nach diesem Mistkerl jammern konnte.« Dieser Patient sagte, sein unmännliches Verhalten als Teenager sei ein ständiger Schrei nach dem gewesen, was nie kam — die Hilfe seiner Eltern.

Ein anderer Patient, dessen Eltern innerlich »tot« und völlig gefühllos waren, sagte: »Ich weiß jetzt, warum ich immer so versessen war auf oralen Geschlechts­verkehr. Ich habe wohl buchstäblich versucht, irgend jemandem ein bißchen Leben abzusaugen.« Sowohl männliche als auch weibliche Homosexuelle erklären nach der Primärtherapie übereinstimmend, daß jeder ihrer früheren homosexuellen Kontakte offenbar bedeutete: »Mammi (oder Pappi), liebe mich!« 

Wenn wir dem beipflichten können, daß Homosexualität in den meisten Fällen dieses Bedürfnis nach elterlicher Liebe ist, dann können wir sagen, das Ziel der Homosexualität sei Heterosexualität. Ich glaube nicht, daß diese Behauptung schlicht Semantik ist. Sie bedeutet, das Ziel jeder Neurose ist, daß einem der Urschmerz abgenommen werde, um ein realer, fühlender Mensch werden zu können. Wenn der Urschmerz verschwunden ist, müßte demnach auch die Homosexualität verschwinden, und das kommt tatsächlich vor.

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Ebenso geht daraus hervor, daß noch so viele heterosexuelle Akte den homosexuellen Zustand nicht ändern können, solange der Urschmerz nicht gefühlt ist. Das Schlafen mit Dutzenden von Frauen beseitigt, glaube ich, das verzweifelte Bedürfnis eines Mannes nach seinem Vater nicht. Das bedeutet, daß noch so viel Umarmen, Küssen und Streicheln, sei es von Frauen oder von Männern, eine vorhandene sexuelle Abweichung nicht ändern werden.

Was der Homosexuelle empfinden mag, wenn er von einer Frau geküßt wird, ist etwas Symbolisches — Vaters Liebe. Diese Küsse befriedigen das reale Bedürfnis nicht; übrigens die Küsse eines Mannes ebenso wenig. Küsse und Zärtlichkeiten von Frauen können bei einem männlichen Homosexuellen die Homosexualität sogar vertiefen, indem sie vorübergehend das Bedürfnis nach einem Vater verdecken. Die Warmherzigkeit von Frauen verhindert dann, daß er den Urschmerz fühlt, und genau das braucht er, um heterosexuell zu werden.

Würde der homosexuelle Mann männliche Liebe brauchen, wenn er früh im Leben von seiner Mutter richtig geliebt worden wäre? Ich glaube nicht. Er braucht männliche Liebe, weil ihm beide Elternteile, jeder auf seine Weise, ihre Liebe vorenthielten. Er strebt nach männlicher Liebe, weil ihm aus einer Vielzahl von Gründen ein Vater, der ihn nicht liebte, den Kampf aufzwang.

 

Selbst wenn ein Junge zu einem späteren Zeitpunkt — zum Beispiel als Zehnjähriger — einen überaus liebevollen Stiefvater erhält, dann glaube ich nicht, daß es einen großen Unterschied machen würde. Wenn dieser Junge bisher sich selbst und seine Bedürfnisse verleugnen mußte, zum Beispiel, um bei einem sadistischen Vater am Leben bleiben zu können, dann wird ein liebevoller Stiefvater, der später in Erscheinung tritt, diese Vergangenheit nicht ungeschehen machen können.

Das bedeutet, daß der Junge, der jetzt eine liebevolle Umgebung hat, immer noch seine frühen Urschmerzen verspüren muß. Dieser Punkt wird auch auf anderen Gebieten als der Homosexualität bestätigt. Patienten, deren Eltern im Laufe der Jahre »weicher« geworden sind, können die durch frühere Verletzungen hervorgerufene Spannung und Neurose nicht ungeschehen machen. Die Vergangenheit steht der Gegenwart immer im Weg. Wenn jemand die Liebe in der Gegenwart ganz fühlen könnte, bedeutet es, daß er ganz fühlen könnte. Aber für den Neurotiker bedeutet, ganz zu fühlen, daß er zuerst seinen gesamten Urschmerz fühlt, denn der steigt auf, wenn er fühlt. Erst nachdem er den Urschmerz gefühlt hat, kann er die gesamte gegenwärtige Liebe akzeptieren.

Solange die alten Verleugnungen vorhanden sind, werden sie immer zu verzerrtem und pervertiertem symbolischem Verhalten führen. Homosexuelle Ehen können zum Beispiel jahrelang bestehen. Beide Partner erwecken den Eindruck, zufrieden zu sein und geliebt zu werden, und dennoch ist eine hochgradige Spannung und Homosexualität (Neurose) vorhanden.

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Warum? Weil homosexuelle Liebende sich symbolisch und nicht tatsächlich befriedigen. Gewöhnlich versuchen sie, einer aus dem anderen Vaters Liebe herauszuholen. Wenn sie dieses reale Bedürfnis fühlen, entfällt die symbolische Suche. (Homosexuelle Ehen sind im allgemeinen unbeständig, eben weil sie symbolische Arrangements sind, die die Partner nicht auf die Dauer befriedigen können.) Homosexualität ist nicht eine besondere Krankheit; sie ist nur ein anderer Weg zur Befriedigung des entbehrten und oft verleugneten Bedürfnisses.

Eine »normale« Beziehung einzugehen, ohne daß die Neurose aufgelöst ist, vertieft die Lüge nur; es bedeutet, so zu tun, als habe man das Bedürfnis nach der Liebe des Vaters aufgegeben, aber das ist nicht möglich, solange das Bedürfnis vorhanden und real ist. Die einzige Möglichkeit, sich von diesem Bedürfnis zu befreien, ist, es zu fühlen.

 

   Identität und Homosexualität    

 

Wenn jemand nicht sein kann, was er ist, dann muß er nach seiner Identität suchen. Er wird von vornherein dazu verurteilt sein, sie nie zu finden, denn sie ist nichts anderes als das reale, fühlende Selbst, das sich nicht zum Ausdruck bringen durfte. Die Suche nach der Identität ist also ein neurotisches Unterfangen, das nicht-fühlende Menschen in Angriff nehmen, die es gewöhnlich nötig haben, etwas oder jemanden außerhalb ihrer selbst zu finden, der ihnen sagt, was oder wer sie innerlich sind. Der postprimäre Patient würde zum Beispiel nicht an einer Identitätskrise leiden. Weil er fühlt, hat er keinen Grund sich zu fragen, wer er eigentlich ist.

Die Primärtheorie behauptet, daß ein Kind nur dann, wenn es nicht es selbst sein darf, bewußt oder unbewußt die Verhaltens­weisen, Ideale, Einstellung und Manieriertheit anderer Menschen kopieren muß. Ein von normalen Eltern aufgezogenes Kind wird sich nicht mit ihnen identifizieren. Sie werden es auch nicht wollen. Vielmehr wird es seine eigenen Eigenschaften haben.

Um das oben Gesagte klarer zu machen, können wir die Frage stellen: »Würde ein Junge, der in eine nur aus Frauen bestehenden Welt hineingeboren wird, feminin sein?« Ich glaube nicht. Wenn er geliebt würde und er selbst sein dürfte, würde er meiner Ansicht nach maskulin sein. Wären die Frauen, die ihn aufziehen, jedoch neurotisch, würde derselbe Junge aller Wahr­schein­lichkeit nach feminin werden.

Menschen, die sich mit der Frage: »Wer bin ich?« abquälen, tun es, weil sie jemand anderes sein mußten, um das zu erhalten, was wie elterliche Liebe aussieht. Alle ihnen aufgezwungenen Verhaltensweisen wirken verwirrend auf ihre sogenannte Identität.

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Die einzige Person, mit der man sich identifizieren kann, ist man selbst. Wenn man nicht man selbst ist, muß man nach sich suchen. Eine Frau sagte zu mir: »Ich fuhr letztes Jahr nach Europa, um mich zu finden, aber da war ich nicht.«

Eine Folgerung aus der primärtheoretischen Ansicht von der Identität würde sein, daß ein alleinstehender Elternteil, der ein liebevoller Mensch ist, sowohl einen Jungen als auch ein Mädchen erfolgreich großziehen kann. Eine Frau kann einen Jungen großziehen, der ein wirklicher Junge werden wird, ohne männliche Vorbilder oder einen Vaterersatz zu haben, denen er nacheifert. Einige Mütter werden ein Kind mit einem kalten oder brutalen Vater aufwachsen lassen, weil sie glauben, ein Junge brauche einen Vater und könne ohne ihn sexuellen Schaden erleiden. Wahrscheinlicher ist, daß ein Junge unmännlich wird, wenn er bei einem solchen Vater bleibt, als wenn er gar keinen Vater hätte.

Ich glaube nicht, daß in pathologischer Hinsicht ein großer Unterschied besteht zwischen einem Jungen, der sich mit einem sehr männlichen Mann identifiziert, und einem, der sich mit Frauen identifiziert. Der Unterschied zwischen einem rabaukenhaften Homosexuellen und einer »Tunte« scheint nur in der unterschiedlichen Richtung der Flucht vor dem Urschmerz zu bestehen und weniger mit dem Grad des Urschmerzes zu tun haben. Wenn ein Rabauke sich tätowieren läßt, Motorrad fährt, sich einen Bart stehen läßt und Gewichtheben betreibt, dann kann das ein Zeichen dafür sein, daß er sich noch nicht selbst fühlt und sich mit dem identifizieren muß, was er für maskulin hält. Er mag immer noch nach Vaters Liebe trachten und auf verschiedene Weise versuchen, dem wirklichen Mann gleich zu sein, den Vater haben wollte. 

Die Tunte mag die Sache mit Vater aufgegeben und dann versucht haben, Mutters Interessen und Gewohnheiten zu kopieren. Der Rabauke, der vielleicht von seinem Vater nicht geliebt wurde, könnte immer noch von Männern verführt werden, die Gesellschaft von Männern vorziehen und in mancher Beziehung dem weibischen Homosexuellen ähnlich sein. Er kommt sich unter Umständen nicht männlicher vor als die Tunte und mag schlechter dran sein, weil er sich mehrfach verstellen muß.

Auf weniger augenfällige Weise übernehmen viele Männer und Frauen, die sich nicht selbst fühlen können, die Aufmachung oder das Bild von dem, was sie sein möchten. Ein Mann spielt sich vielleicht mit einem gewaltigen Schnurrbart, Stiefeln oder sportlicher Kleidung auf, während eine Frau, die feminin zu erscheinen versucht, dekolletierte Kleider oder enge Hosen trägt. Eben das Bedürfnis, ein »Bild« zu projizieren, kann ein Hinweis sein auf ganz entgegengesetzte innere Gefühle, und bei diesen verschütteten Gefühlen findet man oft auch sexuelle Funktionsstörungen.

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Nach meiner klinischen Erfahrung kann zwar ein Mann eine gute maskuline Fassade aufbauen, aber der Versuch, ein richtiger Kerl zu sein, wird oft durch Impotenz oder homosexuelle Phantasien oder Ängste vereitelt. »Der Kampf«, so drückte es ein ehemals bärtiger Patient aus, »bestand darin, meinen Bart lange genug zu behalten, um mich wie ein Mann zu fühlen, so daß ich ihn dann nicht mehr brauchen würde. Damals verstand ich das nicht, aber jetzt ist es mir klar.«

 

    Bisexualität und latente Homosexualität    

 

Seit Freud hat eine Reihe psychologischer Schulen postuliert, der Mensch sei im Grunde bisexuell. Es wird behauptet, jeder von uns sei teils heterosexuell, teils homosexuell. Das Ziel eines guten Abwehrsystems wäre es dann, die latenten homosexuellen Neigungen zu unterdrücken und angemessene Beziehungen zum anderen Geschlecht herzustellen. Diese Schulen glauben also, daß Homosexualität in der Adoleszenz normal sein mag, bis die Jugendlichen die sogenannte genitale Entwicklungsphase erreichen. Auch homosexuelle Träume werden von einigen dieser Schulen als normales Verhalten angesehen. Ich glaube, daß es sich weniger um Bisexualität, als vielmehr um Neurose handelt. So viele von uns haben die Liebe beider Elternteile entbehrt, daß oft noch ein Bedürfnis nach der Liebe beider Geschlechter zurückbleibt. Dieses Bedürfnis scheint so allgemein zu sein, daß man versucht sein könnte, Bisexualität als ein generelles Phänomen anzusehen.

Ich glaube nicht, daß es eine entwicklungsgeschichtlich begründete homosexuelle Anlage beim Menschen gibt. Wenn das so wäre, würde der geheilte Patient immer noch seine homosexuellen Bedürfnisse haben, doch das ist nicht der Fall. Postprimäre Patienten, die vorher latent oder offen homosexuell gewesen waren, berichten von keinen homosexuellen Neigungen, Phantasien oder Träumen. Nach der Art und Weise zu urteilen, wie männliche und weibliche Geschlechtsteile zusammenpassen, erscheint es einleuchtend, daß es, ein gesunder Körper vorausgesetzt, nur Heterosexualität gibt. Wenn wir bedenken, daß der Geschlechts­verkehr zwischen Mann und Frau der Kernpunkt des Lebens ist, ist es schwer, eine logische Erklärung für das Grundmotiv der Bisexualität zu finden.

Ein Patient erzählte mir von seinen Erfahrungen: »Bei der Arbeit wurde ich gewöhnlich durch die Kollegen erregt. Wenn einer sich bückte, konnte ich mich einfach nicht davon abhalten, seinen Hintern anzusehen. Wenn ich dicht neben dem Chef stand, konnte ich kaum hören, was er sagte, weil ich auf seine Lippen starrte und überlegte, was für ein Gefühl es wohl wäre, ihn zu küssen. Ich glaubte, jeder sei ein bißchen homosexuell, deshalb schob ich alle diese Gedanken beiseite und konzentrierte mich darauf, an Mädchen zu denken.«

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Dieser Mann hatte ein großes Bedürfnis, von seinem Vater in den Arm genommen und geküßt zu werden. Allerdings war er sich dieses Bedürfnisses nicht bewußt, denn er haßte seinen Vater, der die Familie im Stich gelassen hatte, als der Junge zehn war. Man könnte sagen, daß seine latenten homosexuellen Bedürfnisse damals der realste Teil von ihm waren und sein heterosexuelles Verhalten der am wenigsten reale, denn es war nur ein So-Tun, als ob er keine Männer wollte. Latent im Neurotiker sind also die unaufgelösten Bedürfnisse. Wenn sie voll gefühlt werden, dann sind sie nicht mehr lange vorhanden, weder latent noch anderweitig.

Wenn zum Beispiel ein junges Mädchen früh im Leben die Warmherzigkeit und Liebkosungen der Mutter entbehrt hat, würden wir sagen, sie habe latente Bedürfnisse nach weiblicher Liebe. Wird sie später von einer anderen Frau verführt, die freundlich und liebevoll ist, dann werden die latenten Neigungen in offenes Verhalten umgesetzt. Der Unterschied zwischen dem latenten und dem offenkundigen Homosexuellen wäre dann nur das Handeln, nicht das Bedürfnis. Was das Handeln bei vielen latenten Homosexuellen verhindert, mag auf Angst, gesellschaftlicher Mißbilligung, religiösen Überzeugungen usw. beruhen. Es mag sein, daß zu einem kritischen Zeitpunkt niemand aufkreuzt, um das latent homosexuelle Mädchen zu verführen; in diesem Fall bleiben die Neigungen latent. Manchmal werden diese latenten Neigungen erkannt, und zu anderen Zeiten sind sie der Person absolut unbekannt, die eifrig damit beschäftigt sein mag, diese Latenz auszuagieren, statt sie zu fühlen. Wenn im sozialen Milieu dieser Person Homosexualität verurteilt wird, etwa in einer streng religiösen Familie, dann ist es wahrscheinlich, daß die latente Neigung nicht erkannt wird. Das Bedürfnis bleibt verborgen und erzeugt Spannung.

Dieser Latenzbegriff mag wichtig sein, um Verhaltensweisen wie Sucht und Alkoholismus zu verstehen, bei denen die Quote von latenten homosexuellen Neigungen unter Männern und Frauen übermäßig hoch ist. Das heftige Verlangen nach irgendeiner Art von körperlicher Befreiung, etwa Alkohol, scheint unvermeidlich bei denjenigen, die diese Neigungen verleugnen. Der offene Homosexuelle hat wenigstens scheinbaren Bedürfhissen nachgegeben und findet von Zeit zu Zeit das, was er Liebe nennt. In dieser Hinsicht ist er in seiner Irrealität konsequent. Der Trinker und der Rauschgiftsüchtige zahlen offenbar einen hohen Preis dafür, daß sie überhaupt keine Bedürfnisse anerkennen wollen. Das Bedürfnis nach Liebe irgendeiner Art von einem Gleich­geschlechtlichen mag bei der latenten Person ebenso stark sein wie bei dem konsequenten Homosexuellen. Wenn so getan wird, als ob es nicht da wäre, ändert das gar nichts daran.

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Die Person, etwa die Frau in dem oben erwähnten Beispiel, die ein Bedürfnis nach ihrer Mutter hatte, mag Frauenklubs oder Reitklubs beitreten, eng mit Frauen befreundet sein, übermäßig viel trinken und doch ihr Bedürfnis nicht erkennen.

Der männliche Alkoholiker sieht paradoxerweise sein Trinken oft als einen Maßstab für seine Männlichkeit an. Das Trinken verschleiert sein Bedürfnis weiterhin, bis er möglicherweise den Punkt erreicht, an dem er »keinen Schmerz fühlt«. Wenn dann die Furcht nicht mehr gefühlt werden kann, mag es sein, daß er schließlich tut, was er vielleicht schon jahrelang tun wollte — den Arm um einen Mann legen und ihn an sich drücken.

Wir können vielleicht sagen, der wesentliche Unterschied zwischen dem latenten und dem offenen Homosexuellen bestehe darin, daß dem latenten eingebleut worden ist, sich wie ein Mann (oder gegebenenfalls wie eine Frau) zu verhalten. Seine Vorstellungen sind umgewandelt worden, so daß sie dem, was er innerlich fühlt, nicht einmal mehr nahekommen. Er merkt gar nicht mehr, daß er ein Leben der Lüge führt. Aber offenbar gibt es keine Möglichkeit, diese latenten Gefühle ebenso zu vertreiben wie Vorstellungen. Obwohl der Alkoholiker glaubt, er brauche keine Wärme und Liebkosungen, findet er es nötig, Wärme aus einer Flasche zu saugen, bis er schließlich den Knoten im Bauch lockern kann und ihm für ein paar Augenblicke innerlich warm ist. Abend für Abend geht er vielleicht aus dem Haus in eine Anti-Urschmerz-Station (eine Bar), ohne zu erkennen, daß er Urschmerz hat. Aber wenn ihm auch diese symbolische Verhaltensweise genommen wird, könnte sich seine Neurose verschlimmern.

Ich glaube, wenn wir alle die latenten Neigungen in uns als das erkennen könnten, was sie sind — ein Bedürfnis nach elterlicher Liebe —, und sie nicht als eine Art merkwürdige Perversion ansehen würden, dann könnten wir große Fortschritte erzielen bei einem der entscheidenden sozialen Probleme, mit dem wir uns abplagen.

 

    Zusammenfassung   

 

Ich glaube, es ist wesentlich für uns, daß wir abweichendes Sexualverhalten als Teil einer totalen Neurose ansehen und nicht als besonderes, bizarres Tun, abgetrennt von dem, was die Person als Ganzes ist. Doch glaube ich nicht, daß es zur Behandlung dieser Person eines Fachmanns für Homosexualität bedarf, ebenso wenig wie ein Spezialist erforderlich ist für die Behandlung jeder anderen Flucht vor dem Urschmerz. Homosexualität zu behandeln bedeutet nicht, entweder maskulines oder feminines Verhalten herbeizuführen. Für mich bedeutet es, reales Verhalten herbeizuführen. Vielleicht haben wir versucht, Kategorien und Abstraktionen zu verwenden, und haben nicht gesehen, daß wir nur Menschen behandelt haben, die unterschiedliche Möglichkeiten herausgefunden haben, um sich vor Schmerzen zu schützen.

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Viele Homosexuelle sind teilweise deshalb nicht zur Psychotherapie gekommen, weil wir Fachleute dazu neigen, Homosexualität als nicht behandelbar anzusehen, als ob es eine besondere Krankheit wäre, die besondere Kenntnisse erforderte. Ich halte Homosexualität in keiner Weise für anders als jede andere Art Neurose, abgesehen von der Schwere des pathologischen Befundes. Das bedeutet, daß wir, wenn wir eine Neurose heilen können, imstande sein sollten, jede Neurose zu heilen.

Die Psychotherapie hat eine Reihe von Versuchen unternommen, sexuelle Abweichungen zu behandeln. Da die Gesprächstherapie versagt hat, haben wir uns oft lediglich bemüht, dem Homosexuellen behilflich zu sein, sich mit seinem Leiden abzufinden und sorgenfreier damit zu leben. Gegenwärtig scheint bei den Fachleuten die Anwendung von Konditionierungsmethoden Anklang zu finden.

Weil die Konditionierungsmethoden abweichendes Sexualverhalten tatsächlich manchmal ändern, sieht es in einigen Fällen so aus, als sei eine Heilung erreicht. Das trägt dazu bei, unser Verständnis von Heilung zu komplizieren — wenn wir nämlich nur das offene Verhalten in Betracht ziehen. Wenn wir in Betracht ziehen, was sich unterhalb des Verhaltens befindet, und den weiterhin hohen Spannungspegel ermessen, finden wir vielleicht, daß wir nur die sexuelle Gewohnheit modifiziert haben, um sie mit dem Wertsystem des Therapeuten mehr in Einklang zu bringen.

Es ist besser, den latenten Homosexuellen zu behandeln, ehe er offenen homosexuellen Genuß erlebt hat. Sobald er diese Ersatzbefriedigung gefunden hat, ist es wahrscheinlicher, daß er glaubt gefunden zu haben, was er wirklich will, und weniger wahrscheinlich, daß er überhaupt zur Behandlung kommt. Trotzdem meine ich, daß er noch behandelt werden kann, selbst wenn er schon eine Reihe von Jahren homosexuell war. Höchstwahrscheinlich wird er zur Behandlung kommen, wenn er seinen Geliebten verloren hat. Ohne ihn leidet er. Er wird vielleicht trinken, reisen, in eine andere Stadt ziehen — immer auf der Flucht vor diesem entsetzlichen Schmerz, der alles überschattet. Wenn der Homosexuelle seine Flucht unterbricht und seinen Urschmerz tatsächlich fühlt, dann kann er, glaube ich, erfolgreich behandelt werden. Ich habe festgestellt, daß homosexuelle Gewohnheiten, die jahrelang bestanden, angesichts der Realität dahinschwinden. Der Homosexuelle hat ein symbolisches Selbst ohne reale Grundlage. Es verflüchtigt sich zusammen mit dem Urschmerz, weil es in erster Linie nur eine Phantasie war.

Ich glaube nicht, daß kleine Kinder einen Unterschied machen zwischen männlicher und weiblicher Liebe.

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Menschliche Wärme ist das, was sie brauchen, nicht die besonderen Liebkosungen einer Frau oder die Umarmungen eines Mannes. Was Neurose erzeugt, ist meiner Ansicht nach die Gegenwart von jemandem, der liebevoll sein sollte und es nicht ist. Der Kampf um Liebe setzt, glaube ich, Abweichungen jeder Art in Gang. Wenn ein Kind bei seinen Umarmungen und Küssen und in seinem allgemeinen Verhall zu seinen Eltern immer spontan sein könnte, dann würden zweifellos keine Umwege nötig sein.

 

 

    elizabeth   

 

Als ich Elizabeth kennenlernte, war sie lesbisch. Sie sah aus wie ein Mann und ging auch so. Sie war Meth-süchtig (Aufputschmittel). Jetzt hat sie eine völlige Kehrtwendung vollzogen und ist Bewährungshelferin für Drogenabhängige, deren Schicksal sie so genau kennenlernte. Ihre Lösung des Frigiditäts­problems hat für viele andere Menschen Bedeutung, bei denen dieses weitverbreitete Problem besteht.

 

Mein Name ist Elizabeth. Ich wurde vor sechsundzwanzig Jahren im Süden der Vereinigten Staaten geboren und habe einen Zwillingsbruder, außerdem eine anderthalb Jahre jüngere Schwester. Mein Vater ist Professor für Ingenieurwesen. Meine Mutter hat immer zwischendurch mal gearbeitet, um etwas dazu zu verdienen.

Ich erinnere mich, daß ich zum ersten Mal mit viereinhalb Jahren merkte, daß etwas mit mir nicht stimmte. Ich war sozusagen gegen alles allergisch: Staub, Federn, Blumen, Pelze und stärkehaltige Nahrungsmittel. Wir zogen nach Kalifornien, als ich sechs war. Etwa zu der Zeit begann ich das Kleingeld zu stehlen, das auf der Herrenkommode meines Vaters lag, um mir im Laden an der Ecke Süßigkeiten zu kaufen. Manchmal beschwindelte ich auch meine Schwester um ihr Taschengeld. Damals stopfte ich mich wirklich mit Süßigkeiten voll.

Die Schulzeit verbrachte ich zuerst hauptsächlich damit, aus dem Fenster zu starren und die Umwelt zu vergessen, in der mir nie etwas widerfuhr. Ich flüchtete mich in eine Phantasiewelt, in der ich dafür sorgen konnte, daß mir etwas widerfuhr — zum Beispiel konnte ich mir einen Prinzen ausdenken, der mich durch den Wald verfolgte und mich schließlich einholte und in seine starken, warmen Arme nahm.

Als ich sieben war, schickten mich meine Eltern für kurze Zeit zu einem Psychiater. Damals sagte meine Mutter, der Grund sei, daß ich mich immer beschwert hätte: »Mammi, du liebst mich nicht.« Später sagte sie, ein weiterer Grund sei gewesen, daß ich im Haus meiner Freundin Kleingeld gestohlen hätte. Die Diagnose des Arztes lautete, ich sei ein Kind, das sehr viel Liebe brauche und auch geben könne.

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In der fünften Klasse unterstützte meine Lehrerin meine künstlerischen Neigungen. Ich malte schrecklich gern Bilder von Hopi-Indianern. Ich verwendete leuchtendes Orange und Türkis und Purpurrot. Fast alle Bilder stellten Hopi-Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm dar. Den Gesichtern konnte ich nie einen Ausdruck geben. Malen war das einzige, was ich gern tat, als ich klein war. Nachdem ich ein paar Preise gewonnen hatte, schickten mich meine Eltern auf eine Kunstschule. Ich war überfordert. Man versuchte, mir Form und Linie beizubringen. Meine einzige Freiheit war mir genommen worden. Meine Eltern hielten mich für kreativ. »Alles, was sie anrührt, verwandelt sich in Gold«, pflegten sie zu sagen. Es war kein Vergnügen mehr. Es war eine Aufgabe. Meine Hände wurden starr. Sie wollten nicht mehr tun, was ich von ihnen wollte. Ich spürte, daß ich für meine Eltern vollkommen sein mußte, damit sie mir Aufmerksamkeit schenkten.

Meine Eltern verbrachten ihre Freizeit größtenteils damit, das Haus auszubauen. Wir Kinder mußten schon in sehr jungen Jahren »Pflichten übernehmen«. Es gab immer so verdammt viel Arbeit, die erledigt werden mußte. Einige Freunde der Familie pflegten unser Haus »die Arbeitsfarm« zu nennen. Wenn es mir mal gelang, wegzugehen und zu spielen, dann fühlte ich mich dauernd »schuldig«, weil ich immer irgend etwas nicht erledigt hatte, das ich dann fertigmachen mußte, wenn ich nach Hause kam. Mein Schlafzimmer machte ich nie sauber. Es war so kalt und ein solches Durcheinander, ein schreiendes Durcheinander. Es nahm mir das Schreien ab.

Als Teenager hatte ich die übliche Menge von Freundinnen und Freunden, war aber mehr mit Mädchen als mit Jungen zusammen. Ich schwärmte immer für die beliebtesten Mädchen in der Schule. Meine »beste« Freundin, Roberta, war hinreißend und eiskalt. Wir machten uns gegenseitig schwer Konkurrenz. Wir spielten »Frauen«, nähten uns selbst schicke und sexy Kleider. Wir trugen Büstenhalter mit Polstereinlagen. Dauernd probierten wir irgendeine Wundermethode aus, damit unsere Brüste wüchsen. Unsere kleinen Busen waren für uns beide eine Demütigung. Wir hatten Doppelrendezvous, gingen gemeinsam auf Parties, betranken uns und machten überhaupt alles zusammen. Wir liebten uns und haßten uns gleichzeitig. Meine Eltern glaubten, der Umgang mit Roberta mache mich ausschweifend.

Als ich fünfzehn war, ging ich für ein Jahr in den Osten der Vereinigten Staaten, weil meine Mutter nicht mit mir »fertigwerden« konnte. Dort nahm mich eine Schulkameradin, Stacy, unter ihre Fittiche. Es war eine dicke Freundschaft zwischen uns. Später wurde unser Verhältnis, durch Korrespondenz und kurze Besuche quer über den Kontinent aufrechterhalten, zu einem lesbischen.

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Als ich aus dem Osten zurückkehrte, schickten mich meine Eltern in eine andere Oberschule und hofften, meine Freundschaft mit Roberta werde einschlafen. Sie tat es. Statt dessen freundete ich mich mit Janet an. Die meiste Zeit quasselten wir über intellektuellen Quatsch. Wir hielten uns gegenseitig für klug. Wir wußten über alles Bescheid. Sie nannte mich ihr »alter ego«.

Gewöhnlich machte ich mich auf die Jagd nach einem schwer zu erobernden Jungen, und wenn ich ihn hatte, ließ ich ihn sitzen. Als ich siebzehn war, gab ich meine Jungfräulichkeit preis, weil man das nun mal tut. Ich fühlte überhaupt nichts dabei. Aber nachdem er mir nachgesetzt und mit mir geschlafen hatte, ließ er mich sitzen. Da hatte ich wirklich das Gefühl, mißbraucht worden zu sein. Ich tat mein Bestes, den Schmerz zu verbergen.

Mit achtzehn war ich wirklich verwirrt, verloren und elend. Nichts konnte mich richtig befriedigen. Es schien etwas zu geben, was ich wollte, aber ich wußte nicht, was es war und wo es zu finden war. Eines Abends kam es zu einer Krise, und ich rannte ins Schlafzimmer meiner Eltern und fragte, ob ich bitte zu einem Psychiater gehen könne. Sechs Monate lang legte ich mich dann einmal in der Woche auf die Couch. Neulich fand ich eine Liste mit Punkten, über die ich mit ihm hatte reden wollen:

mein Interesse an Semantik
fühle mich wie eine Amöbe
Glück?
mir ist ständig nach Heulen zumute
Lehrer mögen mich nicht
Freßsucht - Apathie
Menschen analysieren
Ältere Jungen - Männer
meine Egozentrik
mein Haß auf die Gesellschaft.

Nichts änderte sich, nur daß ich jemanden gefunden hatte, der mir zuhörte. Mein Vater ging auch zu einem Psychiater. Das führte dazu, daß meine Eltern sich scheiden ließen. Mich erschütterte das wirklich. Ich konnte es einfach nicht glauben. Mein Vater heiratete wieder. Dann ging ich für ein Jahr in das College, an dem mein Vater unterrichten sollte. Da hatte ich eine andere »beste« Freundin. Bonnie und ich waren unzertrennlich. Sie war so sanft und ätherisch und für mich wie Poesie. Wir liebten uns heiß und innig.

Als ich anschließend nach Kalifornien zurückkam, wurde die Lage immer schlimmer. Es ging wirklich bergab mit mir. Meine Mutter hatte wieder geheiratet, und sie wollten nicht, daß ich bei ihnen wohnte. Meine Schwester hatte auch geheiratet und ließ mich bei sich wohnen. Inzwischen hatte ich ganz aufgehört, mit Männern zusammenzusein. Ich hatte nie etwas gefühlt, wenn ich mit Männern schlief, und außerdem interessierte ich mich jetzt mehr für Lesbierinnen. Tagsüber zog ich mich ganz normal an und arbeitete in einer Bank.

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Abends ließ ich mein Haar herunter und mischte mich unter die Lesbierinnen in dem hiesigen Lesbentreff. Allerdings ließ ich meinen Gefühlen auch bei Frauen nicht ganz freien Lauf. Ich traf mich mit einer Lesbierin, Mary, die genau denselben Teint wie meine Mutter hatte. Wir knutschten eine Menge, aber unterhalb der Taille ließ ich nichts zu. Bei mir klappte es wirklich weder mit Jungen noch mit Mädchen.

Ich sprach mit meiner Stiefmutter darüber. Sie war die einzige Freundin, die ich hatte. Sie sagte es meinem Vater, und sie fuhren mit mir zu Dr. Janov. Ich erinnere mich an unser erstes Gespräch. Auf seine Fragen antwortete ich immer nur: »Ich weiß nicht.« Es wurde beschlossen, daß ich in seine Stadt ziehe und intensiv mit der Therapie beginne.

Es klappte ganz gut. Ich konnte dabei eine Stellung behalten. Ich hörte auf, mich mit Mädchen zu treffen, und verabredete mich statt dessen mit Jungen: nur waren die Jungen meist ältere Männer. Einer war ein fünfzigjähriger Philosophieprofessor und ehemaliger Geistlicher. Ich schlief mit ihm und hatte gleichzeitig Rendezvous mit seinem zwanzigjährigen Sohn. Ich fand, daß ich ganz gut »funktionierte«, und zog wieder nach Los Angeles. Kurze Zeit wohnte ich bei meiner Mutter und dem Stiefvater, dann fand ich Arbeit und nahm mir eine eigene Wohnung. Fast jeden Sonntagabend bekam ich Weinkrämpfe. Ich kam mir immer so unvorbereitet auf Montag vor. Mir schien, daß ich nie meine Arbeit am Wochenende erledigen konnte. Statt dessen war ich ausgegangen, hatte mich herumgetrieben und meine Schwester oder Freunde besucht.

Eine meiner besten Freundinnen war Hildie. Ich kannte sie, seit ich sechs war. Sie war von Zeit zu Zeit mein »Stabilisator«. Ich hatte auch einen »platonischen Freund«, Raymond. Wir wanderten viel, machten Autofahrten, gingen zusammen essen und ins Kino. Sex war tabu, was mich betraf. In der Beziehung reizte er mich nicht. Ungefähr sechs Monate lang ging ich zu einem Psychiater. Nur war immer er es, der redete und predigte. Ich konnte kaum je den Mund aufmachen. Es klappte einfach nicht. Als ich hörte, daß Dr. Janov wieder nach Los Angeles zog, beschloß ich, wieder zu ihm zu gehen und nahm an einer Gruppensitzung teil.

Ich war an Pillen gewöhnt. Mein Arzt hatte sie mir zum Abnehmen verschrieben, als ich siebzehn war. Fünf Tage in der Woche nahm ich täglich eine, und am Wochenende stopfte ich mich mit Essen voll. Ich sagte zu Dr. Janov: »Ich nehme Pillen, um das Leben nicht zu fühlen ... Mit Pillen fühle ich weniger ... Ich bin so empfindlich dem Leben gegenüber, daß ich es nicht ertragen kann. Ich brauche Pillen, um das Leben zu dämpfen. Die Pillen bewirken, daß ich mir tot vorkomme. Musik klingt blechern. Ich komme mir vor wie in einer Eierschale.« Jeden Morgen war es, als ob ich sagte: »Heute werde ich nicht leben, aber ich werde den Tag überstehen.«

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Mit der Pille konnte ich mein Gewicht halten, mich aufs Essen stürzen, wann immer ich wollte, und verhindern, daß ich fühlte, was mir widerfuhr. Das ging ungefähr sieben Jahre lang so. Eines Morgens wurde mir klar, daß ich den Tag ohne die Pille nicht überstehen würde. Da hatte ich das Schlamassel. Ich war süchtig. Ich wußte, daß Art an diesem neuen Begriff der Urerlebnisse arbeitete. Ich hatte das Gefühl, er könne mir helfen, deshalb gab ich die Pillen auf. Ein paar Wochen später gab ich das Rauchen auf. Ich hatte ein paar Einzelstunden bei Art, und er schien mich auf etwas vorzubereiten.

Am Nachmittag des 17. September 1967 schrieb ich: »Helfen Sie mir den Schmerz zu fühlen ... Ich habe es so satt, gar nichts zu fühlen ... Ich bin überzeugt, daß der Schmerz mich wenigstens erkennen lassen wird, daß ich am Leben bin ... Denn ich komme mir wirklich tot vor.«

An jenem Abend berichtete ich bei der Gruppensitzung von einer Szene, die sich ein paar Abende zuvor abgespielt hatte. Raymond hatte mir Nacken und Schultern massiert, und dabei war mir plötzlich eingefallen, wie sehr ich es entbehrt hatte, von einem meiner Eltern im Arm gehalten zu werden. Der Doktor bat mich, mit Steve, einem Gruppenteilnehmer, ein kleines i Psychodrama zu spielen. Ich lag auf dem Bauch auf dem Fußboden. >Steve begann mir eine Gutenachtgeschichte zu erzählen und rieb dabei meine Schultern. Ich wollte mich entspannen und es genießen, aber statt dessen geriet ich in Spannung. Als er mir über das Haar strich und den Nacken streichelte, wurde ich erregt, aber voll Angst, und rückte ein Stück weg. Als er fortfuhr, mein Haar und den Nacken sanft zu streicheln, stieg die Spannung. Dann konzentrierte ich mich auf Steves Hände, und ganz plötzlich wurden sie die Hände meines Vaters. Ich sagte: »Mein Gott, das sind ja die Hände von meinem Vater ... Ich liege im Bett, und das Laken ist ganz verkrumpelt.« Da lag ich und wurde so klein, daß ich mir vorkam, als wäre ich sechs Monate alt, und mein Vater war es, der mich streichelte ... Ich war so erregt, daß ich glaubte, ich würde einen Orgasmus haben ... Dann ließen seine Hände von mir ab, und ich verlor die Selbstbeherrschung — ich begann, in mich hineinzufallen ... Ich wurde in mich hineingesaugt ... Ich fiel und fiel ... Ich glaubte, ich würde ewig fallen ... Rote und weiße Lichter flammten auf, und ich hörte ein Brausen und Donnern .. . Ich zerbarst in Millionen Stücke ... Ich wußte, daß ich sterben werde ... Das war mein Ende ... Ich spürte, daß ich durch elektrischen Strom getötet wurde ... Dann fand ich im Innersten meines Seins die Kraft zu schreien ... Als ich schrie, war ich mir undeutlich bewußt, daß ich mich in Krämpfen auf dem Boden umherwälzte ... Ich warf etwas um ... Dann hörte ich auf, mich zu wälzen und sagte, ich wollte einen Orgasmus ... 

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Noch einmal fiel ich in mich hinein und spürte, wie mein Körper durch elektrischen Strom getötet wurde, und ich schrie und wälzte mich auf dem Boden ... Dann legte ich mich auf den Rücken, und eine kühle Brise wehte über mich hinweg. Ich öffnete die Augen und schaute mich um ... Dann sagte ich sehr ruhig: »Ich war der Schmerz.« Ich lebte. Ich hatte überlebt. Ich hatte die brüchige Eierschale zerbrochen und war jetzt in mir selbst.

Später wurde mir klar, daß das meine Primärszene gewesen war. Als Baby und auch später bin ich kaum je im Arm gehalten worden. Indes sagt mein Vater, er pflegte mich »zu liebkosen und zu streicheln«, als ich ein Baby war. Das stimmt, und genau da habe ich abgeschaltet. Ich wurde nur dann in den Arm genommen, wenn mein Vater mich »liebkoste und streichelte«, als ob ich eine Frau wäre. Ich wurde gerade genug berührt, um zu wissen, daß sie da waren, aber nicht genug im Arm gehalten, um zu wissen, daß ich da war. Der quälende Urschmerz war das Bedürfnis, im Arm gehalten zu werden, um zu überleben. Statt dessen wurde ich von meinem Vater auf die Folter gespannt, in höchste Erregung versetzt, und dann blieb ich mir selbst überlassen. Als Baby muß man sehr viel im Arm gehalten werden, so daß man weiß, wo man anfängt und die Welt aufhört. Ich schaltete ab, denn wenn ich noch länger dagelegen und gefühlt hätte, dann wäre ich zerbrochen. Statt dessen trat die erste Spaltung bei mir auf. Seit dem Tag war ich in Spannung. Ich war so verkorkst, daß ich nicht einmal meine Spannung fühlen konnte. Ich wurde das Symbol dessen, was ich nicht fühlen konnte, weil ich zu klein war — gespalten.

Am nächsten Morgen war ich gegenüber allem überempfindlich. Meine Beine waren noch verspannt, und es fiel mir schwer, mich aufrechtzuhalten. Meiner Umgebung war ich mir sehr bewußt. Ich wollte langsamer sprechen und langsamer gehen. Der große Ausbruch war vorbei. Es gab nichts zu sagen und nichts, wohin ich mich wenden konnte. Bisweilen war ich ganz benommen von alledem - und dann entsetzlich traurig über den Verlust des Kampfes. Mein ganzes Leben war ein Kampf um die Liebe meiner Eltern gewesen, den ich durch meine Freunde ausagiert hatte. Es war alles ein großer Betrug.

Meine Arbeit im Krankenhaus, Telefonanrufe entgegennehmen und mit kreischenden alten Damen Termine ausmachen, wurde unerträglich. Ich kündigte.

Das erste Urerlebnis begann mir verständlich zu werden, als ich es noch einmal versuchte, diesen ersten Urschmerz zu fühlen und nur den Schmerz vom Nichts fand. Ja, mein Leben war leer - ich hatte nichts gehabt. Ich war eine große Heuchlerin gewesen. Um das Totsein nicht zu fühlen, war ich dramatisch geworden. Jetzt konnte mein Gesicht nicht mehr diese saugende Verzerrungen — schaut nur, wie lebendig ich bin — vornehmen. Zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich mich lebendig. Ich begann damit, die Veränderungen, die stattfanden, aufzuschreiben.

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Alles wurde für mich real. Die Farben waren lebhaft. Landschaften sahen wie Gemälde aus. Ich sah die Welt nicht mehr durch ein Teleskop. Meine Ohren waren sehr empfindlich, und ich konnte nicht viel Lärm ertragen. Meine Hände hingen locker herab, denn es gab nichts mehr, woran sie sich festhalten mußten. Eine solche Befreiung! Ich war wirklich frei. Ich schrieb: »Ich beginne aufzublühen. Heute beginne ich aus meinem Kokon herauszukommen! Mir gefällt es, geboren zu sein. Es gibt so viel zu lernen ... vor allem: jetzt ist jetzt.« Mir war, als wäre ich fünf Jahre alt. Alles war so neu. Ich schrieb: »Ich kann jetzt schlucken, denn ich habe ein Kehle, die mich verbindet.«

Es folgten weitere Urerlebnisse. Ich fühlte zum Beispiel die Kälte meines Körpers. Die Kälte kam vorn Warten auf die Wärme meiner Eltern. Nach diesem Urerlebnis besserte sich meine Blutzirkulation. Meine Hände und Füße waren zum erstenmal in meinem Leben rosa und warm. Es kamen noch viele Urerlebnisse, bei denen ich nach meinen Eltern verlangte. Art ließ mich nach Mammi und Pappi rufen, und wenn ich rief, war ich erfüllt von dem Gefühl, wie sehr ich sie wollte und dann von dem Gefühl, daß sie nicht kommen. Dieses Gefühl des Verlangens nach ihnen bestand bis zum Ende der Behandlung. Jedesmal, wenn ich das Verlangen fühlte, war es auf einem tieferen Niveau, umfassender und realer. Als ich fühlte, was ich wirklich verlangte und wollte, brauchte ich mich nicht mehr mit Essen vollzustopfen, um die Leere, weil ich nicht bekam, was ich wollte, zu füllen. Darum hatte ich immer so viel essen müssen — ich war nie befriedigt. Und zwar deshalb, weil es nicht das Essen war, was ich wollte. Aue hatte ich meinen Bauch nie gefühlt, deshalb fühlte ich nie, wenn ich satt war. In dieser Therapie sind einige »Träume in Erfüllung gegangen«. Während ich ein Vielfraß war, träumte ich davon, eine schlanke Figur zu haben. Doch ich glaubte, nie aus diesem Teufelskreis von Fressen und Diäthalten ausbrechen zu können. Jetzt esse ich, was ich will und wann ich will und habe dabei eine tadellose Figur.

Ich war frigide. Ich war sehr für Küssen und Umarmen und Knutschen, aber ich fühlte nie etwas in meiner Vagina. Während dieser Therapie traf ich mich eine Zeitlang regelmäßig mit einen wirklich warmherzigen Mann, aber meine lebenslange Verhaltensweise Männern gegenüber blieb weiterhin bestehen. Wenn wir zusammen schliefen, konnte ich meinen Gefühlen einfach nicht freien Lauf lassen, und ich wollte so dringend einen Orgasmus fühlen. Art sagte: »Sie glauben, Sex ist Liebe; Sie wollen gar keinen Sex; Sie wollen immer noch Ihren Pappi.« Das stimmte. Das Gefühl kam aus meinen Zehenspitzen — dieses Sehnen nach meinem Vater. Ich sparte mich für Pappi auf; ich hätte mich für ihn einfrieren lassen. Dann kam dieser warme Ausbruch meiner Vagina. Zwei Tage später ging ein weiterer Traum in Erfüllung — ich erlebte einen totalen Orgasmus.

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Es war schön. Ich fühlte jede Zelle meines Körpers. Es war köstlich. Als es vorbei war, fühlte ich mich innerlich und äußerlich gleich. Es war eine solche heitere Gelassenheit. Ich weiß jetzt, daß ich, ohne dieses Schlüsselgefühl, das meine Vagina aufschloß, für den Rest meines Lebens frigide geblieben wäre. Noch so viel Rationalisieren in der üblichen Therapie darüber, warum ich frigide sei, hätte mich nicht dazu gebracht, den Grund zu fühlen. Ich hätte mein Ausagieren mit dem sexlosen Raymond fortgesetzt. Mein Vater und Raymond waren einander sehr ähnlich — intellektuell und unkörperlich. Nur, Raymond konnte ich verstehen, meinen Vater nicht. Raymond schenkte mir sehr viel Aufmerksamkeit; mein Vater nicht. Raymond las mir sogar vor, wie mein Vater es zu tun pflegte, als ich ein Kind war. Raymond war ein gebender Vater. Er befriedigte meine Bedürfnisse — ich brauchte seine nicht zu befriedigen. Mein ganzes Leben lang hatte ich Furcht vor meinem Vater gehabt, als Kind war er mir immer fremd gewesen. Er schien in seinem Arbeitszimmer zu leben. Ich wußte nie, was ich von ihm zu erwarten hatte, wußte nur, daß ich ihn nicht stören durfte. Was es für mich so schwer machte, ihn aufzugeben, ist die Tatsache, daß mein Vater im Grunde ein guter Mann ist. Er ist sehr menschlich — im Prinzip.

Es gab auch einige heftige Urerlebnisse. Eins war das entsetzliche Gefühl, daß meine Eltern mich umgebracht hatten. Sie waren tot und konnten mich nicht leben lassen. Ein weiteres war, daß ich die Sklavin meiner Eltern gewesen sei. Diese Gefühle brodelten in mir und brachen mit erschütternden Schreien hervor. Dann empfand ich eine entsetzliche Wut auf meine Mutter. Sie wollte nicht zulassen, daß ich nach ihr verlangte. Nie spielte sie mit mir. Und ich verlangte so sehr nach ihr. »Bitte, spiele mit mir. Bitte, sei wirklich da.« Man konnte aus ihr nie klug werden. »Bitte, sei ein fühlender Mensch. Bitte, liebe mich. Bitte, bitte, nimm mich in den Arm.« Jetzt fühlte ich den Grund, warum ich mir immer die Freundinnen ausgesucht hatte, die ich hatte. Ich versuchte, sie dazu zu bringen, mich zu lieben, weil ich meine Gefühle für meine Mutter vergraben hatte. Insgeheim kam ich mir so häßlich vor, daß ich mich mit hübschen Freundinnen umgeben mußte. Statt zuzugeben, daß ich mir meiner Mutter gegenüber unzulänglich vorkam, trat ich in einen intensiven Wettbewerb mit Roberta, die kalt, schön und eitel war wie meine Mutter. Janet verlangte wie meine Mutter, daß ich ihr Aufmerksamkeit schenke. Sie saugte mich aus wie meine Mutter, aber wenigstens sprach sie mit mir. Hildie war die gute Mutter, war gescheit und begabt, und mir war sie die liebste. Stundenlang pflegte sie mir zuzuhören, tröstete mich und half mir, wenn ich deprimiert war. Natürlich war ich nie befriedigt, denn sie waren ja nicht meine Mutter.

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Da ich mir immer noch unweiblich vorkam, wechselte ich zu Frauen über, die noch unweiblicher waren als ich. Ich versuchte es mit Lesbierinnen, die die männliche Rolle spielten. Bei Stacy und auch bei Mary konnte ich mich völlig wie eine »Frau« fühlen. Sie waren Frauen, die mich begehrten und bei denen ich mich »weiblich« fühlte. Meine Mutter war gewöhnlich sehr kühl mit mir, es sei denn, sie hatte etwas getrunken. Dann umarmte und küßte sie mich auf so sinnliche Weise, daß es mich abstieß. Ich war schon in der Primärtherapie, als ich eines Morgens um halb drei einen Anruf von ihr erhielt; ich meldete mich und hörte meine Mutter sagen: »Ich liebe dich und vermisse dich entsetzlich.« Ich war verblüfft und hängte ohne ein Wort auf. Später am Tag wurde mir klar, worum es bei der lesbischen Liebe überhaupt geht. Meine Mutter forderte mich spöttisch heraus, damit ich sie lieben sollte! Die Mutter will, daß die Tochter sie liebt - meine Mutter ließ nie zu, daß ich mir hübsch oder weiblich oder wie ein kleines Mädchen vorkam; sie versuchte, mich zu ihrer Mutter zu machen - sie konnte mich nicht lieben, dennoch verlangte sie, daß ich sie liebte: Lesbisch sein heißt also, daß die Tochter die Zurückweisung der Mutter dadurch zurückweist, daß sie zu einer anderen Frau geht und sagt: ich werde dich lieben, wenn du mich liebst - und so beginnt ein symbolisches Ausagieren. Je nach dem Grad der verleugneten Weiblichkeit spielt die Lesbierin die »weibliche« oder die »männliche« Rolle. Diejenige, die die weibliche Rolle spielt, kämpft immer noch darum, sich wie eine Frau zu fühlen. Die Lesbierin in Männerkleidern geht so weit, daß sie sagt: ich will sogar das aufgeben, was von meiner Weiblichkeit noch übrig ist, und für dich (Mutter) ein Mann werden.

 

Gegen Ende der Therapie nahm ich LSD. Ich begann ein sehr tiefes Gefühl zu fühlen; dann flippte ich aus. Ausflippen ist in Wirklichkeit ein Abschalten des Fühlens und ein Hineinflippen in den Verstand. Ich wurde verrückt. Es war die Hölle.

Ich fühlte mich wie in Sartres Bei verschlossenen Türen - ich konnte den Zugang zur Realität nicht wiederfinden. Am nächsten Tag wollte ich mich umbringen, ich fühlte mich zum erstenmal in meinem Leben entsetzlich allein und hatte Angst. Ich konnte der Welt nichts mehr abringen. Ich hatte einerseits Angst vor dem Gefühl, total allein zu sein, weil es mich vernichten könnte, und gleichzeitig hatte ich Angst, mich spontan selbst zu vernichten, wenn ich zu dem Schluß kommen sollte, daß ich es nicht ertragen könnte, es zu fühlen. So fühlte ich das Alleinsein Stück für Stück.

Wochenlang hatte ich das Gefühl, verrückt zu sein. Ich konnte nicht sagen, was real und was irreal war. Eines Abends in der Gruppe lag ich auf dem Fußboden und war mit jeder Zelle meines Körpers ein einziges Verlangen. Tief in mir konnte ich das Wimmern eines Säuglings hören. Mir war, als sei ich zwei Tage alt. Nie hatte ich etwas so total gefühlt, abgesehen vom Orgasmus. Dann bekam ich zeitweise Schwindelanfälle. Dieses gestörte Gleichgewicht hielt an, bis ich zur Vergangenheit zurückkehrte und dieses Verlangen ganz fühlte.

Während der Primärtherapie haben sich bei mir einige körperliche Veränderungen eingestellt, von denen ich hoffe, daß sie von Dauer sind. Meine Allergien sind völlig verschwunden. Meine Haut ist weicher geworden, und meine leichte Akne hat sich gegeben. Meine Brüste sind größer und meine Brustwarzen reifer geworden. Meine Muskeln sind endlich entspannt.

Hat es sich gelohnt? Fühle ich mich wirklich anders, nachdem ich all das durchgemacht habe? Es ist einfach ein Unterschied wie zwischen Leben und Tod. Nur wußte ich nicht, daß ich tot war, bis ich lebendig wurde. Aber nun, da ich lebendig bin, habe ich nichts, wofür ich leben kann. Ich ging zur Therapie, um eine neue Selbstvorstellung zu finden, und gefunden habe ich nur mich. Das Einmalige an der Realität ist, daß sie einen nie im Stich lassen wird.

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