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11.  Bedeutung der Forschung für den Menschen 

 

 

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In den vorherigen Kapiteln haben wir zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen angeführt. Es ist nun an der Zeit, die Bedeutung dieser Forschung für die menschliche Entwicklung herauszuarbeiten. Zunächst einmal können wir feststellen, daß früher Schmerz das ganze Leben des betroffenen Menschen zu beeinflussen vermag. Späteres Verhalten kann auf Schmerzen beruhen, die das Kind in den ersten Lebensmonaten, ja sogar in den ersten Lebens­stunden erfahren hat. Ein Kind kann in den ersten Lebensjahren seinem eigenen Selbst entfremdet, gleichsam aus sich selbst verbannt werden. Richtige Stimulierung ist für die Entwicklung eines Organismus absolut entscheidend; mangelnde Stimulierung kann schwerwiegende Dauerschäden nach sich ziehen.

In den ersten Lebensmonaten ist ein Säugling auf seine Mutter angewiesen. Er braucht ihre Milch, ihre Körperwärme, die Weichheit ihres Körpers und ihre Güte. Die Urerlebnisse unserer Patienten haben mich erkennen lassen, daß ein Kleinkind bereits sehr früh den Körper seiner Mutter von dem seines Vaters zu unterscheiden vermag. Es braucht zunächst seine Mutter, gewöhnlich bis zur Entwöhnung; anschließend können ihm beide Eltern die Zärtlichkeit und körperliche Zuwendung geben, die es benötigt. Das heißt nun freilich nicht, daß der Vater in den ersten Lebensmonaten keine Rolle spielt; allerdings fällt ihm keine primäre Rolle zu, was den Körperkontakt angeht.

Wenn den Bedürfnissen eines Kleinkindes nicht entsprochen wird, dann wird es schon sehr bald nach Ersatzbefriedigungen suchen und seine wahren Bedürfnisse symbolisch erfüllen – symbolisch, weil beliebig andere Menschen nicht seine Eltern sind und beim Auftreten seiner starken Bedürfnisse nicht zugegen waren. Ein Junge kann im Alter zwischen zehn und zwanzig einem Mann begegnen, der ihm die von seinen Eltern versagte Gefühlswärme entgegenbringt. Dann wird der Junge unter Umständen auf Männer fixiert, eine Einstellung, die seinem ganzen späteren Sexualverhalten ihren Stempel aufdrücken kann.

Weit häufiger erfahren Jugendliche zum erstenmal echte Gefühlswärme in der Verliebtheitsphase der Adoleszenz.

In dieser Zeit setzen sich bei Jugendlichen sexuelle Fixierungen fest, weil ihre ersten Umarmungen, Zärtlichkeiten und Küsse mit sexuellen Regungen einhergehen. Doch alle Sexualität der Welt kann die frühe Versagung rein asexueller Bedürfnisse nicht kompensieren. 

Ich habe immer wieder betont, daß man seine Vergangenheit nicht »wettmachen« kann; man kann sie nur voll durchleben. Es nützt nichts, wenn man versucht, seine Vergangenheit zu vergessen, oder wenn man sich auf die Gegenwart konzentriert, denn das gesamte Körpersystem reagiert unterhalb der Bewußtseinsschwelle ständig und automatisch auf die Vergangenheit.

 

Ein Kind wird durch die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse nicht verwöhnt. Ein gesundes Kind kann nicht mit übermäßiger Nachsicht behandelt werden, weil es selbst dieses Verhalten nicht gestatten würde. »Verwöhnte« Kinder sind neurotische Kinder, denen etwas fehlt. Gewöhnlich fordern sie nur deshalb die falschen Dinge, weil sie nicht wissen, was ihnen fehlt. Durch die Befriedigung jedweden Bedürfnisses wird ein Kind nicht verwöhnt, sondern gleichsam vervollständigt. Die Bedürfnis­befriedigung und die damit verbundene Vervollständigung verhelfen dem Kind zur Natürlichkeit des Selbstseins und ermöglichen ihm das Durchlaufen eines seinem Gefühl entsprechenden Reifungsprozesses. Ein Vater, der es sich zur Aufgabe macht, seinen Sohn »zu einem Mann zu machen«, beschwört damit lediglich die Gefahr herauf, daß sein heranwachsender Sohn neurotisch überspannte Anstrengungen unternimmt, der Junge zu werden, der er niemals gewesen ist. Nur wenn man sein Kind so lange Kind sein läßt, wie es seinem Bedürfnis entspricht, ist die Gewähr gegeben, daß es auf natürliche Weise das Erwachsenen­alter erreicht.

Ein normales Kind weint und wimmert nicht unentwegt. Mit Wimmern signalisiert das Kind seine Unzufriedenheit und sein Unbehagen. Manche Eltern geraten in Wut und Verzweiflung durch ein ständig wimmerndes, scheinbar durch nichts zu beruhigendes Kind. Doch die Unzufriedenheit des Kindes hat ihren Grund in einer unzureichenden Bedürfnisbefriedigung während einer früheren Lebenszeit; diese Versagung hinterläßt im Kind ein vages Unbehagen, das sich auf die verschiedensten Dinge ausrichtet. Ganz Ähnliches geschieht, wenn ein Kind in den ersten Lebensmonaten starken Angstzuständen ausgesetzt ist, die es überlasten, wenn es beispielsweise in einem dunklen Zimmer allein gelassen wird; dann blockiert es die Angst, weil sie zu groß ist, als daß sie integriert werden könnte, und verschiebt sie später auf Dinge, die an sich nicht furchterregend sind.

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Wer die Bedeutung der Primärtheorie einigermaßen verstanden hat, der dürfte wissen, daß ein Kind, das in der Schule durch chronisches Fehlverhalten auffällt, dem Einfluß seiner Vergangenheit unterliegt. Wenn es sich Tagträumen überläßt, wenn sein Geist abschweift und seine Aufmerksamkeit zu wünschen läßt, dann allein deshalb, weil früh erfahrener Schmerz seinen Geist aus der Gegenwart ablenkt. Seine Tagträume nehmen das Kind voll in Anspruch, weil sein Schmerz allumfassend ist. Darauf sollte man nicht mit Spott und    Bestrafung reagieren, sondern mit Einfühlung und Verständnis. Wer Verständnis aufzubringen vermag, der wird ausagierende Kinder als von Schmerz gepeinigte menschliche Wesen behandeln und nicht als Quertreiber, denen »ordentliches Verhalten eingebleut« werden muß.

Was Bestrafung angeht, so ist es völlig unangebracht, Kinder zu bestrafen, weil man ihnen durch Strafe nichts beibringen kann. Man mag einwenden: »Aber was ist, wenn mein Kind auf die Straße läuft? Sollte es dafür nicht bestraft werden?«  Man überstrapaziert zwar den Begriff, wenn man ein scharfes »Nein« als Bestrafung bezeichnet, doch auf jeden Fall ist es keine sonderlich wirksame Lehrmethode, ein kleines Kind, das auf die Straße läuft, auszuschimpfen oder ihm ein »Nein« nachzubrüllen. Ehe es überhaupt dazu kommt, daß ein Kind auf die Straße rennt, kann man ihm bereits erklären, wie gefährlich das ist und daß es sich Verletzungen zuziehen kann. Wenn das Kind alt genug ist zu laufen, kann es für gewöhnlich auch einfachere Erklärungen verstehen. Wenn es zu Boden fällt und sich weh tut, kann die Mutter ihm zu verstehen geben, daß es noch weitaus empfindlichere Schmerzen zu gewärtigen hat, wenn es auf die Straße läuft. Wenn die Mutter jedoch selbst unter starken rückständigen Ängsten leidet, dann wird der Vortrag dem Kind wahrscheinlich eher Angst und Schrecken einjagen als ihm die Gefahren seiner Handlungs­weisen vor Augen führen. Das Kind erhält nur dann eine wirksame Erziehung, wenn die Eltern selbst nicht von Ängsten erfüllt sind.

Doch Eltern bestrafen ihre Kinder vor allem aufgrund des Mißverständnisses, daß derartige Erziehungs­methoden den Charakter bilden; diese Eltern sollten zumindest wissen, daß sie ihren Kindern nach jeder Bestrafung sofort Liebe und Zuneigung widmen müssen. Damit wird zwar die »Lektion« nicht aufgehoben, doch das Kind wird davor bewahrt, von dem Gefühl überwältigt zu werden, es sei »ungeliebt«.

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Schimpansenmütter nehmen ihre Jungen auf den Arm, nachdem sie ihnen einen Klaps versetzt haben; dieser Beweis von Zuneigung schwächt keineswegs die Wirkung des Erziehungs­mittels, mit dessen Hilfe die Affenmütter ihren Jungen etwas beizubringen versuchen. Wir müssen uns klarmachen, daß es für kleine Kinder beängstigend ist, wenn ihre Eltern wütend auf sie sind. Kleinkinder können ihre Gefühle nirgendwo unterbringen, sondern sie allenfalls abspalten. Kindern zu sagen, daß man wütend oder enttäuscht über sie sei, daß man sie künftig nicht mehr beachten werde usw., kann verheerende Folgen haben.

Von Schimpansen und sogenannten primitiven Menschen können wir eine Menge über Kindererziehung lernen. Das Leben der Schimpansen werde ich weiter unten behandeln. Auf der King-William-Insel in der Arktis lebt ein von der weißen Zivilisation unberührter Eskimo-Stamm. In dieser Stammeskultur sind die Kinder gleichsam Tyrannen. Sie können mitten in der Nacht aufwachen und lauthals zu trinken verlangen, und die Eltern haben nichts Eiligeres zu tun, als aufzustehen und ihnen Tee zubereiten, ohne zu klagen und zu murren. Man erwartet einfach, daß die Säuglinge Forderungen äußern und daß die Erwachsenen sie erfüllen. Die Erwachsenen lachen und spielen stundenlang mit den Kindern, und die Kleinen entscheiden, wann sie genug haben – im Gegensatz zu unserer Gesellschaft, wo die Eltern entscheiden, wann das Kind genug hat. Auf ein Kind in sogenannten zivilisierten Gesellschaften muß es tatsächlich ziemlich verwirrend wirken, wenn es selbst das Gefühl hat, mit seinen Eltern noch nicht genug herumgespielt und getollt zu haben, und wenn ihm dann gesagt wird: »Halt, halt, jetzt ist es genug!« und überdies von ihm erwartet wird, daß es sich damit einverstanden erklärt. Es wäre weitaus besser, wenn die Eltern ihm erklärten: »Ich habe genug. Ich bin müde. Ich weiß, daß du mehr möchtest, doch ich kann nicht mehr.«

Der kleine Eskimo wird mit völliger Nachsicht behandelt, und dennoch wächst er unter genauso schwierigen Umständen auf wie alle anderen Menschenkinder. Vielleicht setzten unsere Schwierigkeiten und Probleme ein, als wir das sogenannte »primitive« Leben aufgaben und anfingen, den Leuten beizubringen, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Heute müssen wir sie anhalten, die bisherigen Erziehungsregeln zu vergessen, damit sie mit ihren Kindern wieder natürlich umgehen können.

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Um bei den sogenannten primitiven Stämmen und »primitiven Emotionen« zu bleiben: Auf den Philippinen gibt es einen Volksstamm, die Tasadai, der in seinen Höhlen noch wie in der Steinzeit lebt. Bis vor kurzem hatte dieser Stamm keinen Kontakt zur Umwelt. Die Stammesangehörigen sind keine Jäger, sie töten keine Tiere, sie sind vielmehr Sammler, die sich vor allem von Früchten ernähren. Für mich sind sie das Ur-, das Primärvolk.

Sie haben keine Waffen, kennen keine Aggression und keine Bestrafung. Sie arbeiten bei allen anfallenden Aufgaben zusammen, ohne daß irgend jemand einem anderen Befehle erteilt. Vor ihren Kindern haben sie großen Respekt; sie berühren, streicheln und herzen die Kleinen ausgiebig. Die Kinder sind weder aggressiv noch »verwöhnt«. Sie wimmern und weinen nicht. Der Stamm hat keine Religion und keinerlei religiöse Rituale. Er hat noch nicht einmal Worte für Wut, Haß und Feindseligkeit. Die Tasadai sind innerlich wie äußerlich im wahrsten Sinne des Wortes »schöne Menschen«. Angesichts ihres völligen Mangels an Kontakten zur Welt außerhalb ihres Lebensraumes wird uns klar, was Menschen von Natur aus sein können, wenn sie allein gelassen werden.

Ihr Lebensstil erübrigt jedes Wort über Kindererziehung. Die Familie lebt fast immer zusammen. Der Vater nimmt seine kleinen Kinder mit, wenn er zum Fischen geht. Er brüllt sie nicht an, kritisiert sie nicht und befiehlt ihnen nicht, wo sie zu stehen haben, daß sie ruhig sein sollen usw. Der Grundsatz des Stammes ist leben und leben lassen. Vermutlich werden wir diese Menschen für naiv und kindisch halten, weil sie so vertrauensvoll sind. Bis heute leiden sie noch nicht unter jener schleichenden Paranoia, die darin besteht, niemandem zu trauen. Doch wir können sicher sein, daß sie viel »erwachsener« und mißtrauischer sein werden, wenn sie erst einmal von der »zivilisierten« Gesellschaft, die sie entdeckt hat, eine Zeitlang ausgebeutet worden sind.

Wir können von »primitiven« Gesellschaften lernen. Als gutes Beispiel erwähne ich das »Kindertragegerät« der Indianer. Ich glaube, daß die Mutter ihr Kleinkind wann immer möglich auch auf dem Rücken (oder an ihrer Brust) tragen sollte. Auf den Kinderwagen sollte man verzichten. Sobald das Kind aufrecht sitzen kann, sollte man statt des Kinderwagens besser eine Tragevorrichtung benutzen, wenn man das Kind mit sich nehmen will, denn auf diese Weise ist eine ständige, auf Körperwärme und -kontakt beruhende Stimulierung durch Mutter oder Vater gewährleistet. 

* (d-2010:)  wikipedia  Tasaday  Medienente, Marcos-Ente

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Eine solche Vorrichtung vermittelt dem Kind buchstäblich die Gewißheit, daß es mit Mutter oder Vater verbunden ist. Außerdem hat das Kind so die Gelegenheit, alles zu sehen und zu hören, was die Eltern tun, und erfährt damit ein Maximum an Stimulierung, mehr jedenfalls, als wenn es passiv in seinem Kinderwagen liegt. Eine Tragevorrichtung fördert eine eher aktive als passive Lebenseinstellung und, was noch wichtiger ist, vermittelt jene rhythmische Schaukelbewegung, die entscheidend für das kleine Lebewesen ist, wie wir aus Untersuchungen an Primaten wissen.

Die Schaukelbewegung, die das Kind empfindet, wenn es von den Eltern getragen wird, gleicht in gewisser Weise jenem Schaukeln, das der Fötus im Mutterleib erfährt. Es steht außer Frage, daß es einen Lebensrhythmus gibt, und es hat den Anschein, daß das Kleinkind diesen natürlichen Rhythmus eher auf den Schultern seiner Eltern als in einem Kinderwagen verspürt.

Nach meiner Ansicht haben wir den Kinderwagen seit Jahrzehnten aufgrund des Mißverständnisses benutzt, daß es sich beim Kind lediglich um ein »Ding« handelt und nicht um einen von Bedürfnissen erfüllten Organismus, der ständige Stimulierung verlangt.

Eltern fügen ihrem Kind vermutlich den größten Schaden zu, wenn sie es in ein Internat stecken. Einerlei wie man rational zu ihnen steht, Internate sind für gewöhnlich Abladeplätze für unerwünschte Kinder. Sie sind die Friedhöfe der Kindheit, weil sie dem Kind nur selten Gelegenheit geben, wirklich Kind zu sein. In Internaten wird den Kindern vielmehr Selbstsicherheit, Disziplin und Gefühlsunterdrückung beigebracht. Kinder brauchen eine Mutter und einen Vater, an die sie sich wenden können, und dies ist in Internaten unmöglich. 

Viele unserer hochgradig gestörten Patienten wurden in ihrer Jugend auf Schulen außerhalb ihres elterlichen Wohnortes geschickt.

Unter der Disziplin, die den Kindern in diesen Schulen andressiert wird, versteht man gewöhnlich, daß jemand etwas klaglos tut, was er eigentlich gar nicht möchte. Wir haben es also mit einer für neurotische Situationen charakteristischen Tugend zu tun – nämlich ohne Widerspruch etwas auszuführen, was jemand anders wünscht. Disziplin fordern Leute, die in Kinder kein Vertrauen setzen. Solche Leute glauben, Kinder müßten darin eingeübt werden, bestimmte Handlungen auszuführen, sonst wären sie nicht dazu bereit. Wahr ist freilich, daß die Kinder dazu angehalten werden müssen, sich neurotisch zu verhalten.

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Doch die beste Disziplin überhaupt besteht darin, sich nach seinen eigenen Wünschen zu verhalten, denn ein Kind, das Zugang zu seinen Gefühlen hat, hilft anderen, verhält sich rücksichtsvoll und ist in der Lage, zum Besten einer Gruppe zu handeln. Ein neurotisches Kind hat zu starke Bedürfnisse, als daß es sich so verhalten könnte. Darum muß es auf dem Wege der Disziplin von seinen Bedürfnissen abgebracht werden, darum bedarf es äußerer Kontrolle.

Kinder werden häufig aufgrund der Trennung oder Scheidung ihrer Eltern auf Internate geschickt. Ausgerechnet zu einer Zeit, wenn es auf Hilfe angewiesen ist, wird das Kind fortgeschickt und muß dann selbst sehen, wie es mit seinen beunruhigenden Gefühlen fertig wird. Ohne Gelegenheit zu haben, sein Kleinsein gefühlsmäßig zu akzeptieren, wird das Kind gezwungen, sich erwachsen und selbstsicher zu verhalten.

Ich kann mir für ein Kind keine größere Tragödie vorstellen als die Scheidung seiner Eltern. 

Darum sollten die Eheleute sich Jahre Zeit nehmen, um einander kennenlernen zu können, ehe sie daran denken, ein Kind in die Welt zu setzen. Nicht die Scheidung an sich ist so verhängnisvoll für das Kind, sondern die Ereignisse, die damit verbunden sind – ein neuer »Vati«, der ihm Befehle erteilt; oder mit ansehen zu müssen, daß viele »Vatis« im Hause ein und ausgehen, so daß das Kind sich niemals gefühlsmäßig an einen männlichen Erwachsenen binden kann, ohne den quälenden Eindruck zu haben, daß dies alles keinen Sinn hat.

Häufig hat Scheidung auch zur Folge, daß die Mutter arbeiten gehen muß und das Kind einem Fremden überläßt oder zu einer fremden Schule schickt. Scheidung bedeutet ferner, daß die Mutter überfordert und gereizt ist und sich wegen finanzieller Dinge Sorgen macht. In vielen Fällen ist mit der Scheidung der Verlust des wirklichen Vaters verbunden – des Vaters, der sich dazu entschlossen hat, sein Leben mit einer anderen Frau zu teilen und eine »neue« Familie zu gründen. Das Kind ist dann das hilflose Opfer all dieser Aufregungen. 

Es kann fast jede Art sozialer Belastung ertragen – etwa von einem Ort zu anderen zu ziehen, wenn der Vater eine neue Arbeit antritt –, solange es bei seinen Eltern ist. Doch ohne die einfühlsame Hilfe beider Eltern verstärken solche traumatischen Erfahrungen nur seine Probleme.

Nach meiner Ansicht gibt es stabilisierende Faktoren, mit deren Hilfe das Kind die Widrigkeiten zu ertragen vermag, die aus einer Scheidung resultieren. Wichtig ist, daß es weiterhin im selben Haus und in derselben Nachbarschaft wohnt.

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Das Kind bleibt in der ihm vertrauten Umgebung, hat seine alten Freunde, mit denen es sprechen kann. Wird es auf eine auswärtige Schule oder in ein Jugendlager geschickt, verliert es seine sozialen Bindungen, mit deren Hilfe es sein geistiges Gleichgewicht aufrechterhalten kann.

Während einer Scheidung ist es für ein Kind ungeheuer wichtig, daß es in seiner vertrauten häuslichen Umgebung bleiben kann; wenn es schon beide Eltern nicht mehr haben kann, dann braucht es wenigstens einen liebevollen Elternteil, mit dem es Gefühle austauschen kann, denn nur dadurch verlieren die mit der Scheidung einhergehenden Ereignisse an Gewicht. Wenn es mit dem verbleibenden Elternteil darüber sprechen kann, welche Gefühle all das Unglück und der Verlust des anderen Elternteils in ihm auslösen, dann wird der verheerende Eindruck der Scheidung ein wenig gemildert.

Allzu häufig geschieht es, daß das Kind von dem nun in Streit liegenden Elternpaar innerlich hin- und hergerissen wird. Es wird zum »Verbündeten« des einen oder anderen Elternteils. Es steht vor der Notwendigkeit, sich für einen von beiden zu entscheiden. Es muß sich die Klagen anhören, die die Eltern gegeneinander vorbringen, und hat im allgemeinen die Rolle ihres Eheberaters zu übernehmen, während es in Wirklichkeit lieber ihr kleiner Junge oder ihr kleines Mädchen wäre. Das Kind wird damit selbst zu einem Elternteil. Als Zeuge von Urerlebnissen meiner Patienten, von Urerlebnissen, in deren Mittelpunkt die Scheidung der Eltern stand, kann ich nur noch einmal wiederholen, daß Eheleute sich ihrer Zuneigung sehr sicher sein sollten, ehe sie ihrem Wunsch nach Kindern nachgeben.

Man könnte fragen: Warum sind die Eltern so wichtig? Warum führen ein schlechter Lehrer oder Armut nicht zu neurotischen Störungen? Darauf kann ich nur antworten, daß Tausende von uns beobachtete Urerlebnisse um die tiefsitzenden schmerzlichen Erfahrungen der Kindheit kreisten und daß sie fast alle die von den Eltern zugefügten Schädigungen zum Inhalt hatten. Armut kann die Probleme verschärfen, doch sie steht nicht an erster Stelle. Wenn sich in einem Kind Minderwertig­keitsgefühle festsetzen, weil die Eltern es ablehnen, dann kann Armut seine Lage verschlimmern, weil in unserer Gesellschaft die Armen als minderwertig angesehen werden. Ein Kind, das mit anderen Kindern aufwächst, die besser gekleidet sind, die über Geld verfügen, das sie zu ihrem Vergnügen ausgeben können, die Sportwagen besitzen usw., wird in das Gefühl getrieben, es sei nicht so gut wie seine Spielkameraden.

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Doch wenn es das Gefühl hat, es sei wichtig für seine Eltern, wenn die Eltern das Kind schätzen und ihm Achtung entgegenbringen, dann wird das Zusammensein mit reicheren Kindern sicherlich keinen niederschmetternden Eindruck bei ihm hinterlassen. Ohne Frage ist es höchst unangenehm, sechs Monate lang von einem ständig kritisierenden, gefühlskalten, gestrengen Lehrer unterrichtet zu werden. Doch es ist weitaus schlimmer, wenn man jahraus, jahrein mit einem solchen Menschen zusammenleben muß. Wenn die Eltern grausam und gefühllos sind, dann hat das Kind nur die Möglichkeit, seine Gefühle in seinem »Innern« unterzubringen.

Kind zu sein in einer Scheinfamilie ist eine Tragödie. Ein solches Kind wird mit Sicherheit Leiden auf sich nehmen müssen. Angesichts der Launen, Bedürfnisse und Wutanfälle seiner Eltern ist es zur Hilflosigkeit verdammt. Fast jedes Kind, das wir heute sehen, ist eine wandelnde Tragödie. Einige können dies besser verbergen als andere. Manche haben sich ihrem Schicksal »gefügt«. Sie zeigen eine sozial gebilligte Fassade und kommen leidlich zurecht. Andere sind verdrossen und deprimiert. Von diesen beiden Gruppen von Kindern sind diejenigen gestörter, die es in einer Scheingesellschaft »schaffen«. Sie wurden auf so unmerkliche Art zerstört, daß sie ihres Schmerzes nicht gewahr werden. Sie lassen sich auf ihre Krankheit geradezu ein, verschmelzen mit ihr, ohne den Schimmer einer Ahnung, daß sie vernichtet worden sind. Kinder, die sich nicht anpassen, haben die besten Chancen zu gesunden, wenn wir wissen, wie wir sie behandeln müssen.

Eine Mutter übermittelt ihrem Kind mit jedem Wort und jeder Berührung ihre Gefühle. Es kommt nicht darauf an, wieviel sie sagt, und es kommt auch nicht unbedingt darauf an, wieviel Körperkontakt sie ihrem Kind gibt; das Kind nimmt vielmehr das ihren Handlungen zugrundeliegende Gefühl auf und reagiert darauf. Sie (und er, der Vater) ist die Botschaft. Ihr Anleitungen zu geben, das »Wie« zu erklären, ist nur eine schwache Botschaft, die von ihren Urbedürfnissen übertönt wird.

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beth

 

Ich habe drei Kinder. Beverly ist siebeneinhalb, Tom sechs und Don fast zwei Jahre alt. Ich könnte über alle drei eine Menge schreiben, doch ich nehme Beverly heraus, weil ich das Gefühl habe, daß ihre Schwierigkeiten den meinen gleichen. Ich weiß immer, welche »Gefühle« Beverly hat. Ich brauche nur in ihre braunen Augen zu schauen und weiß sofort, was sie fühlt. Seit ich in der Therapie bin, frage ich sie, was sie fühlt, und gewöhnlich bin ich auf der richtigen Spur. 

Meine Mutter ist kaltherzig, ekelhaft, und ich habe das Gefühl, ich sehe genauso aus wie sie. Wenn ich auf Beverly böse bin, habe ich das »Gefühl«, ich sehe aus wie meine Mutter. Ich kann mich nicht erinnern, daß meine Mutter mir sagte, ich solle sie nicht Mammi nennen, doch ich erinnere mich, daß ich das Gefühl hatte, ich sei zu alt dazu, das Wort zu benutzen. Beverly nennt mich »Ma«, und ich erinnere mich auch, daß ich ein komisches Gefühl hatte, als sie mich eine Zeitlang »Mammi« nannte. Ich fragte sie neulich, warum sie nicht Mammi zu mir sagt, und sie meinte, sie wisse es nicht. Ich sagte ihr, ich hätte es lieber, wenn sie mich Mammi nennt, und sie antwortete, daß sie dabei ein komisches Gefühl habe. Ich weiß, daß sie dieses Gefühl hat, weil ich selber nicht in der Lage bin, »Mammi« zu sagen.

Meine Mutter hat mich ständig zur Sauberkeit ermahnt. Ich konnte niemals in einen Sandkasten gehen, weil ich dann Sand in die Schuhe bekommen hätte. Eine Dreckpfütze war für mich abstoßend. Ich getraute mich nicht einmal in die Nähe von Pfützen. Bis auf den heutigen Tag kann ich es nicht vertragen, wenn ich Dreck an meinen Füßen fühle.

Ich habe ein Bild von Beverly, das aufgenommen wurde, als sie drei Jahre alt war. Sie saß in einer Pfütze, doch ihr Gesichts­ausdruck besagte: »Was tue ich hier?« Sie hatte sich nur deshalb in die Pfütze gesetzt, weil ich in der Sonne lag und nicht gestört werden wollte. Das Bild ist so traurig: ein dreijähriges Kind, das nicht weiß, wie es im Dreck spielen soll.

Beverly sagte mir, sie brauche und möchte keine Freunde. Der Grund ist, daß ich es niemals zulasse, daß sie andere Kinder mit nach Haus bringt. Sie stören mich, und Kinder merken das. Sie stören mich, weil auch meine Freunde sich vor meiner Mutter fürchteten; sie ließ sie spüren, daß sie nicht willkommen waren, und so verhalte ich mich ähnlich. Wenn meine Mutter gegenüber meinen Freunden freundlich gewesen wäre, würde ich nicht ständig, wenn Beverly jemand mitbringt, daran denken müssen. Ich möchte wirklich eine nette, warmherzige Mutter sein, doch jedesmal, wenn ich Beverly an mich drücke, habe ich das Gefühl, daß ich heuchele, ein Gefühl, das ich auch bei meiner Mutter hatte.

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Meine Mutter redet ziemlich schnell, und so rede ich auch, zwar nicht zu Beverly, doch zu meinem Mann. Wenn er versucht, mich in den Arm zu nehmen, dann plappere ich irgend etwas daher. Wenn ich versuche, Beverly in den Arm zu nehmen, dann sagt sie: »He, Mammi, erinnerst du dich...?« Ich habe Beverly nur selten auf den Arm genommen. Ich hatte den Eindruck, daß sie sich mir jedesmal entzog, wenn ich sie in den Arm nehmen wollte. Ich frage mich, warum wohl! Wenn ich daran denke, daß meine Mutter mich in den Arm nimmt, dann habe ich das Gefühl, elend und schmutzig zu sein. Wenn ich daran denke, ihre Brust zu berühren, dann erfaßt mich ein Schaudern. 

Ich weiß, daß Beverly das gleiche empfindet, das gleiche »fühlt«. Wenn ich ihr einen Gutnachtkuß gebe, wischt sie sich über den Mund, damit sie keine aufgesprungenen Lippen bekommt. Meine Mutter hat ihren Körper immer vor mir versteckt, und ich dachte mir, wenn ich mal Kinder habe, sollen sie mich anschauen. Das tun sie auch, doch beide, Beverly und Tom, haben das gleiche Gefühl dabei. Sie schauen mich sorgfältig an, doch aus ihrem Blick lese ich, daß sie nicht mögen, was sie sehen. Wenn meine Mutter über andere Frauen sprach, machte sie immer eine Bemerkung über die Form ihrer Brüste, genau wie ich; Beverly hofft, daß sie niemals Brüste »ansetzt«.

Meine Mutter war so sehr mit ihrer Sorge beschäftigt, mein Vater könne sie verlassen, daß sie keine Zeit mehr erübrigen konnte, sich Sorgen um mich zu machen. Mein Vater bekam immer das größte Stück Kuchen, und wenn nur noch ein Stück übrig war, bekam er es. Meine Mutter sorgte sich so um meinen Vater, daß meine Schwester und ich sie richtig störten. Sie wurde eifersüchtig, wenn wir zu lange mit ihm redeten, und mir geht es ähnlich. Ich möchte, daß mein Mann zuerst mich ansieht, wenn er von der Arbeit nach Haus kommt. Er erhält das Größte und das Beste und das Letzte. Beverly ist bereits ganz ähnlich um ihren Vater besorgt. Sie befürchtet, daß er verunglückt, wenn er trinkt und dann noch Auto fährt. Als Kind hatte ich am meisten Angst davor, daß mein Vater ums Leben käme. Wenn Beverly mit mir oder ihrem Vater spricht, dann redet sie sehr schnell, damit wir ihr aufmerksam zuhören. Mein Mann und ich brauchen uns so sehr, daß wir wütend werden, wenn eines der Kinder uns stört. Meine Mutter wurde immer wütend, wenn ich sie unterbrach, und genau das gleiche passiert auch mir — ich werde böse auf Tom, wenn er Beverly und mich unterbricht.

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Beverly mag weder Eis, Erdnußbutter noch Wassermelonen, und zwar weil sie, wie ich weiß, keinen Geschmack an Speisen finden kann. Sie ist innerlich so verschlossen, daß Speisen ihr nicht schmecken, doch sie ißt nicht so viel, wie ich es tue, weil sie weiß, daß ich sie nicht mehr mag, wenn sie dick würde. Ich lebe immer diät, und sie tut das auch. Wenn ich mir weh getan hatte, dann gab meine Mutter mir immer Plätzchen. Ich erinnere mich, daß meine Mutter, wenn ich weinend nach Hause kam, mir sagte: »Hier, nimm ein leckeres Plätzchen, und dann ist alles vorbei.« Ich sage das überhaupt nicht, dazu bin ich zu gescheit (?), doch meine Kinder haben ein ähnliches Gefühl. Wenn sie Kummer haben, dann essen sie.

Ich habe Beverly gefragt, ob sie zwischen Großmutter und mir irgendwelche Ähnlichkeiten festgestellt habe (sie ist im letzten Sommer sieben Wochen bei meiner Mutter gewesen und hat in dieser Zeit elf Pfund zugenommen). Sie meinte: »Ja, ihr beide regt euch immer über mein Haar auf, doch Großmutter hat nicht so daran gezogen, wie du es tust.« Ich empfinde großes Vergnügen dabei, an ihrem Haar zu ziehen, wenn ich es kämme, weil ich weiß, daß ich es haßte, wenn meine Mutter wegen meiner Haare ständig Theater machte. Mein Haar war für sie das einzig Schöne an mir. Wenn Leute erklärten, wie schön meine Löckchen seien, dann fühlte sie sich wohl. Um es ihr zurückzugeben, ziehe und zerre ich heute an den Haaren meines Kindes. Beverly verabscheut es, wenn Leute nett zu ihr sind. Ich glaube, meine Mutter und mein Vater haben mich nie nett behandelt, und das ist der Grund, warum es mir schlecht geht.

Meine Tochter und ich haben noch zwei weitere charakteristische Eigenschaften. Wenn sie etwas verliert, gerate ich außer mir. Dabei ängstigt sie sich zu Tode und schreit und brüllt. Ich kann mich nicht erinnern, in meinem ganzen Leben irgend etwas verloren zu haben, und ich glaube, das an sich reicht aus, um sich vorstellen zu können, wie schrecklich es war, wenn man bei uns daheim irgend etwas verlor.

Das zweite ist, daß Beverly nicht in den Spiegel schauen kann. Sie schaut sich niemals selbst an. Neulich habe ich ihr gesagt, sie solle es doch tun, daraufhin meinte sie, sie habe ein komisches Gefühl dabei, denn die Leute könnten denken, sie finde Gefallen an ihrem Aussehen. So kaputt ist Beverly. Meine Mutter sagte immer: »Menschen, die sich in Schaufensterscheiben betrachten, wenn sie auf der Straße gehen, lieben sich.« Mir ist es großartig gelungen, mich nicht zu mögen, und Beverly geht es genauso, sie mag sich auch nicht. 

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