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Teil 1    Der Anfang vom Ende

 

1. Geburtsrechte: Der Beginn des Lebens

 

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Viele von uns glauben, daß ein neugeborenes Kind wenig mehr ist als ein Protoplasma­klümpchen, das sehr wenig fühlt, noch weniger versteht und kaum auf seine Umgebung reagiert. Wahr ist jedoch das Gegenteil. Das Neugeborene fühlt stärker, als es vielleicht jemals wieder fühlen wird; es hat ein weit offenes »sensorisches Fenster«, das es ihm gestattet, so voll und ganz zu reagieren wie vielleicht niemals wieder; und es wird geboren und erlebt sein neues Leben ohne einen trügerischen Schleier von Ideen, was beinahe ohne jeden Zweifel nie wieder der Fall sein wird.

Die meisten Erwachsenen können die Agonie nicht begreifen, in der sich ein Neugeborenes befindet, selbst wenn es weint und sich die Lunge herausschreit. Weil es nicht sprechen kann, tun wir so, als hätte es nichts »gesagt«. Weil es sich nicht verständlich machen kann, tun wir seinen Schmerz als harmlos ab. Wir erwarten eben von Neugeborenen, daß sie sich krümmen und schreien. Ich glaube, wenn Kinder gleich nach der Geburt über Worte verfügten, würden uns die meisten von dem qualvollen Erlebnis berichten, das sie eben durchgemacht haben.

Da das Geburtstrauma erst in jüngster Zeit erkannt wurde, hat beinahe jeder (einige Glückliche ausgenommen, die auf »primitive« Weise zur Welt kamen) den gleichen Urschmerz* und die gleiche Unbewußtheit erlitten. Wir erlebten die Traumata unserer eigenen Geburt, beobachteten die Geburt unserer Kinder, sahen sie voll Schrecken schreien und wußten nicht, was sie litten oder daß wir vor ihnen gelitten hatten. In einer Art von ironischem, sich selbst fortsetzendem Zyklus verursacht der unbewußte Urschmerz unserer eigenen Geburt noch mehr Schmerz, mehr Neurose und mehr Unbewußtheit. 

* Janov unterscheidet zwischen Schmerz (pain) und Urschmerz (Pain). In dieser Übersetzung wird nur ausdrücklich »Urschmerz« gesagt, wo ein Mißverständnis möglich wäre (A.d.Ü.).

Da das Geburtstrauma unzugänglich ist, sind wir alle — Eltern, Ärzte, Schwestern und Krankenhaus­verwalter — blind für die schädlichen Verfahren, die angewandt werden, um Kinder zur Welt zu bringen. Eben weil ein wichtiges Segment unserer eigenen Wirklichkeit gegen das Bewußtsein abgeblockt ist, sind wir uns der vollen Wirklichkeit eines Säuglings nicht bewußt. Deshalb sehen wir, aber wir nehmen nicht wahr, wir beobachten, aber wir fühlen nicht, wir sehen zu, aber wir können nicht mitempfinden.

Die Bedeutung des Geburtstraumas hervorzuheben, mag vielen Erwachsenen als übertrieben melo­dramatisch erscheinen. Es ist schwer, sich den damit verbundenen Schmerz vorzustellen. Um das Leiden eines Neugeborenen wirklich zu erleben, müssen wir unserem eigenen Leiden näherkommen — und das kann zu nahe, das heißt unbehaglich, für uns sein. Deshalb kann man sich das Geburts­trauma nicht recht vorstellen; es kann nur wiedererlebt werden.

Man kann sich nicht vorstellen, was es heißt, stundenlang durch heftige Kontraktionen gequetscht zu werden, in einem unnachgiebigen Geburtskanal steckenzubleiben oder von der Hand einer Schwester wieder in den Kanal hinauf geschoben zu werden, durch die Überdosis eines Anästhetikums beinahe zu ersticken, in einer dicken Flüssigkeit fast ertränkt zu werden, nach Luft zu ringen, von der Metallzange eines Arztes kräftig am Kopf gepackt und unsanft herausgerissen zu werden — und dann in einem kalten Zimmer mit dem Kopf nach unten zu hängen, von einem Fremden kräftige Klapse zu bekommen und von dem einzigen Menschen entfernt zu werden, den das Neugeborene kennt.

Was für ein Gefühl muß das sein, sich in einer neuen Welt zu befinden, in einem metallischen Gestell, von jedem menschlichen Kontakt abgeschnitten, nachdem man beinahe gestorben ist, in einer Welt, wo jeder Anblick und Laut vollkommen neu und oft bedrohlich ist, wo blendende Lichter einen daran hindern, diese neue und seltsame Umgebung wahrzunehmen? Tatsächlich werden diese frühen Erlebnisse zu den denkwürdigsten — oder sollte ich sagen undenkwürdigsten — unseres Lebens, denn kein Säugling kann den traumatischen Urschmerz integrieren und im Bewußtsein bewahren. Deshalb kann der gesamte Geburts­vorgang, von der Empfängnis und Schwangerschaft bis zur Entbindung und der Zeit unmittelbar danach den Ursprung späterer psychischer und physischer Krankheiten bilden.

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Wie geht das vor sich? Durch welche Mechanismen?

Wir wissen nun, daß die Traumata vor, während und nach der Geburt, das heißt die perinatalen Traumata, als Einprägungen oder Prägungen* in das sich entwickelnde Nervensystem des Fetus und des Neugeborenen eingegraben werden.

Die Geburtseinprägung bestimmt somit physiologische und neurologische Reaktions­tendenzen, sie formt die spätere Persönlichkeit und den physiologischen Typus und ist bestimmend für die Art von Pathologie, die wir schließlich entwickeln. Ob wir unstete Reisende, zwanghafte Arbeiter, starke Raucher, unmäßige Esser, Alkoholiker oder Asthmatiker sein werden, ob wir aggressive und ehrgeizige, optimistische oder deprimierte, pessimistische und niedergeschlagene Typen sein werden, ob wir zu Krebs, Epilepsie, Psychosen oder gar Selbstmord neigen werden — all das kann durch diese ersten kostbaren Stunden der Geburt vorausbestimmt werden. Schwangerschafts- und Geburtserlebnis können diktieren (und diktieren), wie wir in unserem übrigen Leben agieren und reagieren.

Ich betone das Geburtstrauma nicht, weil es das einzige Trauma ist, das Neurosen verursacht, sondern weil es so oft für den Beginn von Neurosen verantwortlich ist. Ich hebe es auch hervor, weil wir uns im allgemeinen der ungeheuren Wirkung der pränatalen und Geburtserlebnisse auf unser Leben nicht bewußt sind. Wenn es einen einzelnen Schmerz gibt, der eine Neurose auslöst, ist es gewiß der Kampf um Leben und Tod des Geburtsvorgangs. Dieser erste Schmerz kann die neurotische Spaltung einleiten — und leitet sie ein —, denn er zwingt das kaum entwickelte Verdrängungssystem des Neugeborenen, aktiv zu werden, um ihm entgegenzuwirken: dem neuen Ich wird der Zugang zu den tief begrabenen, von der Geburt herrührenden Gefühlen verwehrt, die zu bedrohlich sind, um integriert zu werden. Diese Spaltung nennen wir Neurose, und diese frühen Kräfte des Urschmerzes sind es, die der neurotischen Persönlichkeit Fortbestand verleihen.

Ich stehe mit meiner Einschätzung der Bedeutung des Geburtserlebnisses nicht allein da. Das Folgende schrieb ein Wissenschaftler im Journal of the American Medical Association: 1) 

»Die Gefahren, die dem Fetus drohen, erreichen einen Höhepunkt während der Stunden der Wehen. Die Geburt ist das gefährlichste Erlebnis, dem die meisten Individuen jemals ausgesetzt sind. Der Geburtsvorgang ist selbst unter optimalen, kontrollierten Bedingungen ein traumatisches, potentiell verstümmelndes Ereignis für den Fetus.«    (Kursivschreibung durch den Autor.)

*  Im Amerikanischen »imprints« (Anm. d. Red.)
1)  Abraham Towbin, »Organic Causes of Minimal Brain Dysfunction«, in: Journal of the American Medical Association, 217, No. 9, 30. August 1971, 1213.

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Alle Geburtserlebnisse sind nichtverbal. Es gibt keine Worte, mit deren Hilfe man sich solcher Erlebnisse erinnern könnte, denn der Teil des Gehirns, der benötigt wird, um Erlebnisse zu beschreiben, entwickelt sich im Individuum erst lange, nachdem die Erlebnisse eingeprägt worden sind. Daher kann keine Erklärung, Ermahnung oder Konditionierungstechnik das ursprüngliche Erlebnis ändern. Der Urschmerz ist in jeden Teil des physiologischen Systems eingeschrieben, und nach ebendieser Einschreibung müssen wir suchen, um »Rettung« zu finden. Es wäre ebenso schwierig, sich durch Erklärungen von frühem Schmerz zu befreien, wie es schwierig wäre, sich auf Wunsch von der Sprache zu befreien. Beide werden früh im Leben eingeprägt und werden zu einem integralen Teil unserer Physiologie.

 

   Geburtstrauma: Grundlage des »kollektiven« Unbewußten 

 

Wie werden die schmerzhaften perinatalen Erlebnisse in das verwandelt, was wir ein »Unbewußtes« nennen? Entweder durch die neurochemischen Prozesse oder durch Verdrängung. Die meisten von uns können sich aus gutem Grund nicht daran erinnern, welcher Art ihre Geburt war. Das Gehirn enthält chemische Stoffe, die durch Schmerz dazu angeregt werden, die Erinnerung an das Trauma zu löschen. Man beachte aber, daß uns diese Stoffe nicht vom Trauma selbst befreien, sondern nur von unserer Erinnerung und der bewußten Wahrnehmung. Nichts kann die tatsächliche Einprägung des Traumas ändern.

Wenn es kein System von Repressoren im Nervensystem gäbe, wären die meisten von uns entweder bei der Geburt gestorben, oder wir würden beinahe ununterbrochen von Schmerz überflutet werden. Wir wären überwältigt von einer Masse von Input, der unsere Fähigkeit zu denken, uns zu konzentrieren, das Relevante auszuwählen — kurz, mit der Welt um uns her fertig zu werden — auslöschen würde. 

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Es gibt eine kollektive Unbewußtheit des Geburtsschmerzes, weil uns diese Unbewußtheit zu überleben hilft. Das ist die wahre Bedeutung unseres »kollektiven« Unbewußten. Ich glaube, daß man in dem Unbewußten, das heute von Theoretikern und Forschern auf dem Gebiet der Psychologie postuliert wird, nichts anderes erkennen wird als den gemeinsamen, verdrängten Urschmerz sehr frühen Erlebens.

Freud meinte, das Unbewußte sei permanent und unveränderlich, weil er Erwachsene beobachtete, die auf etwas Zwingendes, Unaufhörliches und offenbar Unzugängliches reagierten. Da er keine Instrumente (keine Technologie) besaß, um festzustellen und zu messen, was es war, mußte er eine ätherische Kraft (das Es) anstelle einer konkreten Kraft (Schmerz) postulieren. Tatsächlich ist das Unbewußte ohne Zugang zu den Traumata des Lebensbeginns unveränderlich, ätherisch und zeitlos. Der Urschmerz ist endlos. Er bringt etwas hervor, was einem »Perpetuum mobile« beim Menschen am nächsten kommt: die »Maschine« unseres Körpers wird durch die Traumata, welche die Geburt umgeben, in ständige Bewegung versetzt.

 

   Bedeutung und Gültigkeit  

Die Verschlüsselung der mit der Geburt verbundenen Traumata hat aus mehreren Gründen eine besondere Bedeutung. Erstens ist das Nervensystem des Neugeborenen »naiv«: die Abwehrmechanismen arbeiten noch nicht mit voller Wirksamkeit, um es für das, was auf es eindringt, abzustumpfen und unempfindlich zu machen. Zweitens haben perinatale Traumata einen übermäßig hohen Belastungswert, weil es beinahe immer um Leben oder Tod geht. Der Belastungswert des Traumas ist Teil der Einprägung und bleibt eine unveränderliche Kraft.

Bei einer traumatischen Geburt ist das System des Kindes in großer Gefahr, und jede geringste Anstrengung dient dem Kampf ums Überleben. Die hochgeladene Prägung dieses Kampfes ist buchstäblich ein elektrischer Sturm, der das ganze Leben lang als Restspannung im Körpersystem zurückbleibt. Drittens ist die Geburtsprägung besonders wichtig, weil sie tief und zentral im Gehirn und im Nervensystem kodiert und bald vom sich entwickelnden Kortex und durch spätere Erlebnisse übergeleitet wird.

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Wir wissen, daß Geburtstraumata signifikant sind, wenn sie auftreten, aber woher wissen wir wirklich, daß sie auftreten? Was für Beweise haben wir, um das Geburtstrauma als gültiges Phänomen darzustellen? Es gibt viele Arten von Beweisen subjektiver und objektiver Natur, und ein großer Teil dieses Buches wird sich mit ihnen beschäftigen. Aber eine Frage ist vor allem von zentraler Bedeutung für die Feststellung der Gültigkeit des Geburtstraumas, und zwar die Frage der neurologischen Adäquatheit. Besitzen der Fetus und das Neugeborene ein adäquat entwickeltes neurologisches System, um Traumata zu registrieren, zu kodieren und zu speichern? Viele Fachleute glauben noch, sie besäßen es nicht. Neurologische Beweise deuten nun jedoch darauf hin, daß die Schmerz vermittelnden Strukturen tiefer im Gehirn gelagert sind und sich schon vor der Geburt entwickeln. Es wurde nachgewiesen, daß Kinder, die ohne Kortex geboren wurden, auf schmerzhafte Reize reagieren. Wir brauchen keine Gedanken und keinen Kortex, um zu leiden.

Der bekannte Neurophysiologe Dr. Paul Yakovlev schrieb ausführlich über den Reifungsprozeß des mensch­lichen Gehirns und Nervensystems. Er erklärt den Myelinisierungsprozeß, das heißt den Prozeß, durch den Nervenfasern reifen. Der Verlauf oder das Schema der Myelinisierung ist ein zuverlässiger Index für die Gehirnreifung, und das innere Gehirn des Fetus ist in den späteren Stadien der Schwangerschaft bereits ausreichend myelinisiert (gereift), um Reaktionen zu vermitteln und Information zu kodieren. In der späteren Schwangerschaft ist das innere Gehirn auch reif genug, um viszerale Reaktionen zu vermitteln.2

Kurz, das neugeborene Kind ist ein menschliches Wesen mit einem hoch reaktiven und hoch sensibilisierten Nervensystem. Manche Bereiche seines Nervensystems sind bei der Geburt voll entwickelt und funktions­bereit, andere kaum oder gar nicht. Das Neugeborene reagiert auf Traumata mit den adäquatesten Teilen seines Nervensystems. Da bei der Geburt noch kein voll entwickelter Kortex vorhanden ist, nehmen diese Reaktionen nicht die Form von Worten oder Ideen an.

2)  Yakovlev, P.I., »Morphological Criteria of Growth and Maturation of the Nervous System in Man«, in: Journal of Mental Retardation, 39, Research Publications, A.R.N.M.D., 1962.

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Was aber sehr wohl geschehen kann, ist, daß die auftretenden Traumata und frühen Funktionsstörungen im Kortex nach seiner vollen Entwicklung vertreten sind. Das Entscheidende ist: während das System des Neugeborenen ausreichend entwickelt ist, um Schmerz zu registrieren, zu speichern und zu verdrängen, ist es noch nicht weit genug entwickelt, um ihn zu verarbeiten und zu integrieren.

Daß der Fetus und das Neugeborene auf Schmerzreize voll reagieren können und reagieren, ist ein elementarer Über­lebens­faktor. Es ist auch sinnvoll, daß der Fetus und das Neugeborene die Verdrängungs­fähigkeit besitzen, lebens­bedrohenden Schmerz zu blockieren, bis ihre Systeme reif genug sind, um ihn zu integrieren. (Tatsächlich ist, wie später noch gezeigt werden soll, die Plazenta selbst eine chemische Fabrik, die schmerzbetäubende Mittel herstellt.) Die Integration des Schmerzes muß auf das Erscheinen der höheren Gehirnzentren warten, aber die Reaktion auf Schmerz geht schon von den ersten Lebenswochen in utero an vor sich. Schmerzintegration erfordert Bewußtsein, Wahrnehmung und komplexe neurologische Funktionen; die Reaktion auf Schmerz ist ohne Bewußtsein, ohne Wahrnehmung und mit nur den primitivsten neurologischen Strukturen möglich.

 

Die Entdeckung: Theorie und Wirklichkeit 

 

Ist das Geburtstrauma eine Wahrheit — eine Wirklichkeit —, oder ist es nur eine Theorie? Offen gesagt, ich wehrte mich tatsächlich gegen die Vorstellung des Geburtstraumas, als meine Patienten anfangs behaupteten, ihre Geburt wiederzuerleben. Ich hatte zwei Jahre lang Patienten beobachtet, die ihr Geburtserlebnis nachvollzogen, und auch nachdem sie mir erklärt hatten, was sie ihrer Ansicht nach durchmachten, zögerte ich noch, ihnen zu glauben. Ich wurde in meinem Zögern bestärkt durch die neuro-pathologische Abteilung eines lokalen neuropsychiatrischen Instituts, wo man mir erklärte, daß so etwas unmöglich sei: das Nervensystem eines Fetus, hieß es, sei nicht reif genug, um auf seine eigene Geburt zu reagieren, sie zu kodieren und zu speichern. Ich diskutierte daher mit meinen Patienten und gab ihnen zu verstehen, daß ihre Erlebnisse wahrscheinlich eher symbolisch als buchstäblich aufzufassen seien.

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In den späten sechziger Jahren war von keiner Theorie die Rede, derzufolge man seine eigene Geburt wieder­erleben könne, daher konnte der Gedanke diesen Patienten auch nicht »suggeriert« worden sein. Und meine »Suggestionen« versuchten ja gerade, ihnen ihre Erlebnisse auszureden. Aber die Geburts-Primals gingen weiter. Zu viele Patienten hatten sie zu oft, als daß man sie hätte ignorieren oder bagatellisieren können.

Schließlich trat unserem Stab ein Neurologe bei, ein Schüler Dr. Yakovlevs, der wußte, daß das Nerven­system des Fetus imstande ist, Traumata zu kodieren und zu speichern. Wir begannen zunehmende und überzeugende Beweise dafür in unserer eigenen Forschungsarbeit zu sehen. Die Veränderungen, die mit den Patienten nach Geburts-Primals vor sich gingen, waren dramatisch und quantifizierbar. Patienten, die Geburts-Primals durchmachten — im Gegensatz zu solchen, die andere, weniger lebensbedrohende Ereignisse betreffende Primals hatten —, wurden an komplizierte elektronische Instrumente angeschlossen. Die Messungen ergaben eine signifikante Erhöhung aller vitalen Funktionen während des Geburts-Primals — die Körpertemperatur stieg um drei Grad (Fahrenheit), die Pulsfrequenz und der Blutdruck erreichten doppelte Werte, und die Hirnwellen-Amplituden zeigten einen heftigen Ausschlag — und eine signifikante Verminderung dieser Funktionen nach dem Primal.

Durch das Geburts-Primal wurden wir allmählich gewahr, daß das, was wir beobachteten, eine direkte Beziehung zwischen der Symptomatologie des Erwachsenen und dem Geburtstrauma darstellte. Die Patienten zeigen zunächst ein bestimmtes Symptom — eine Migräne, einen Kolitisanfall, sogar die Anfänge eines epileptischen Anfalls —, aber mit der geschickten Hilfe eines Thera-peuten stellt der Patient die Verknüpfung zum ursprünglichen motivierenden Trauma und dem Feeling*, das es begleitete, her. Dabei geschieht das Erstaunliche, daß die Symptome mit dem Erlebnis des verknüpften Feelings verschwinden. Wenn sich die Person nur abreagierte (d.h. die Emotion fühlte, ohne sie mit dem ursprünglichen Erlebnis zu verknüpfen), wäre das nicht der Fall.

* Der englische Begriff Feeling wird verwendet, da nach Ansicht des Autors sein Bedeutungsumfang durch das deutsche Wort »Gefühl« nicht erfaßt wird. Siehe auch Janov und Holden: Das neue Bewußtsein, 1977 (A.d.Ü.).

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Wir fanden noch weitere Beweise für die Gültigkeit des Geburts-Primals. Während des Wiedererlebens der Geburt machten die Patienten keine heftigen Bewegungen und weinten nicht. Sie waren dazu nicht imstande. Ebensowenig konnten sie sprechen, schreien oder sich in der Art von Säuglingen bewegen. Wir konnten aus ihren salamanderartigen Schwimmbewegungen nur folgern, daß ihr ganzer Körper vom primitiven Nervensystem eines Neugeborenen gelenkt wurde — einem System, das noch nicht für die Laute, die koordinierten Bewegungen und das Weinen eingerichtet ist, wie sie für einen sechs Monate alten Säugling typisch sind. Neugeborene weinen nicht auf die gleiche Art wie Säuglinge. Dieses erste Luftholen und Jammern um Leben ist höchst einzigartig und bleibt höchst einzigartig, wenn es wiedererlebt wird.

Bei der Beobachtung dieser Geburtserlebnisse sahen wir (oft mit großer Bestürzung), wie Anoxie (Sauerstoff­mangel) die unversehrt auf dem Boden liegenden Patienten überwältigte, wie sie nach Luft rangen und rot und blau im Gesicht wurden, während die frühe Einprägung von ihnen Besitz ergriff — und genau dasselbe Trauma reproduzierte, das vor Jahrzehnten aufgetreten war. Manche Patienten konnten solche Primais wochen- und monatelang haben, bevor sie erkannten, was geschah. Erst nach einer merklichen Auflösung des Geburtsschmerzes, nach einer nahezu vollständigen bewußten Verknüpfung damit, wußten sie mit Sicherheit, was sie wiedererlebt hatten. Und dann strömten ihnen die tiefsten Einsichten zu, mit einer Mühe­losigkeit und Stärke, die nicht vorgespiegelt sein konnten.

Wir können nicht ignorieren, was die Patienten selbst über ihre Geburtserlebnisse berichten. Hunderte von ihnen beschrieben das gleiche allgemeine Erlebnis so, daß an seiner Gültigkeit kaum gezweifelt werden kann. Wir haben von Geburts-Primals Filme gedreht und Videoaufzeichnungen gemacht und sie in Zeitlupe abgespielt, damit sie von Gynäkologen betrachtet und auf ihre Echtheit geprüft werden konnten. Die Gynäkologen kamen übereinstimmend zu dem Schluß, daß die Bewegungen, Gesichts­ausdrücke, Atmungsschemata und Laute alle die eines Neugeborenen waren.

Während er einen dieser Filme sah, sprang Frederic Leboyer, der berühmte französische Gynäkologe und Pionier der Bewegung für nichttraumatische Entbindungs­methoden, erregt auf und erklärte: »Ich bin gerechtfertigt! Hier ist endlich der Beweis!«

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Wir wollen das Geburtserlebnis im Hinblick auf seine physischen, emotionalen, psychischen und geistigen Wirkungen auf uns untersuchen. Wir werden von den Patienten selbst hören, was das Wiedererleben eines frühen Traumas für das eigene Leben bedeuten kann. Es wird zweifellos überraschend sein zu sehen, daß das, was mit einem winzigen Baby vor Jahrzehnten während seiner ersten Lebensstunden geschah, lebenslange Folgen haben kann — daß der größte Teil des Lebens eine Wiederholung dieses Geburts­ereignisses sein kann, entwickelt und erweitert durch die höheren Bewußtseinsebenen, aber nichtsdestoweniger eine Wiederholung. Und es wird ebenso überraschend sein zu sehen, wie das Wiedererleben dieses Ereignisses das menschliche System befreit, wie es durch nichts anderes befreit werden kann.

 

Das Folgende ist die Geschichte einer Frau namens Laura, die gefilmt wurde, während sie Geburts-Primals hatte. Sie begann die Sequenz nach einer Therapie von beinahe einem Jahr:

 

»Mein Vater nahm mich oft zum Angeln mit. Das Fangen des Fisches erregte mich, aber wenn ich dann tatsächlich sah, wie der Fisch um sich schlug und kämpfte und starb, wurde mir übel. Mir war deshalb so unbehaglich, daß ich nicht mehr angeln gehen mochte. Neulich fing ich wieder an, an das Angeln zu denken, und wurde von dem Zappeln und Kämpfen des Fisches verfolgt. Das löste mein erstes Geburts-Primal aus, aus dem ich viele Erkenntnisse über mein Leben gewann.

Zorn ist mein Leben lang meine Abwehr gewesen. Er begann im Mutterschoß als ein Mittel; am Leben zu bleiben. Tatsächlich war diese Aggressivität das einzige, was mich am Leben erhielt. Ich kämpfte und rang darum, mich bei der Geburt verständlich zu machen — zu verstehen zu geben, daß ich starb. Später begann ich zu denken, daß meine Mutter sehr dumm ist. Aber immer, wenn irgendwer etwas tut, was mir dumm vorkommt, werde ich einfach verrückt. Ich werde wütend, wenn mich jemand nicht auf der Stelle versteht. Auch wenn sie mich nur mißverstehen, denke ich immer, sie sind dumm. Ich muß verstanden werden mit der gleichen Dringlichkeit, mit der es nötig war, daß meine Mutter meine Notlage bei der Geburt verstand.

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Ich konnte nie etwas über mir ertragen — etwas, was mich überwältigte. Mein Körper scheint sich an etwas zu erinnern, was ich nicht wirklich erklären kann. Es kommt mir vor wie ein elementares Überleben. Ich weiß, daß ich ohne zu atmen und beinahe tot geboren wurde. Meine Mutter sagte, ich atmete überhaupt nicht und war blau. Auch die Schläge des Arztes halfen nichts; man mußte mir eine Spritze geben. Davon muß mir übel geworden sein, denn Übelkeit scheint mir meine erste Reaktion auf beinahe alles zu sein. Bei jeder Katastrophe bekomme ich so einen komischen Geschmack im Mund. Das scheint das Aufputsch­mittel zu sein, das sie mir bei der Geburt gaben. Ich rieche es eigentlich eher, als daß ich es schmecke. Sobald ich diesen Geruch spüre, werde ich ganz wirr im Kopf und konfus.

Es scheint so, als hätte ich alles getan, was ich tun konnte, um meiner Mutter zu sagen, daß ich bereit war, geboren zu werden; ich wußte nicht, was ich sonst noch hätte tun sollen. Und jetzt scheine ich in gewissen Situationen nie zu wissen, was ich tun soll. Ich glaube, ich bin aus zwei Gründen verwirrt: erstens, weil offenbar nichts, was ich bei der Geburt tat, funktionierte, und zweitens, weil die Spritze, die ich bekam, jede Fähigkeit zu denken, so primitiv sie auch gewesen sein mag, auslöschte. Sie benebelte meinen Geist oder was ich eben davon hatte, so daß ich mich nicht konzentrieren oder einen Sinn erkennen konnte. Ich war immer sehr leicht verwirrt. Es braucht nicht viel, um mich aus der Fassung zu bringen.

Ich nehme an, ich war bei der Geburt verwirrt, weil ich nicht die Verstandeskraft hatte zu begreifen, was vorging. Verwirrung hat bei mir immer zu Untätigkeit geführt. Ich bin leicht überwältigt und dann verwirrt. Eine lange Einkaufsliste verwirrt mich, und wenn ich zwei Befehle auf einmal bekomme, drehe ich durch. Am Morgen aufstehen, das bedeutet, den ganzen Tag meine Leiche herumschleppen. Ich habe einfach keine Lust, etwas zu tun. Mein Körper sagt mir immer: <Du hast schon eine Menge Arbeit getan, und jetzt brauchst du Ruhe!> Aber wenn ich nichts tue und die Zeit vergeude, habe ich das Gefühl, ich vergeude mein Leben, und dann werde ich erregt und nervös. Ich werde immer in zwei Richtungen gezerrt. Ich habe von Anfang an nie gewußt, was ich tun soll. Mein Zyklus ist: nichts tun — mir Sorgen machen — mich schuldig fühlen — versuchen, etwas zu tun. 

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Ich habe mein ganzes Leben lang nach jemandem gesucht, der für mich Entschlüsse faßt. Ich will, daß andere meine Entscheidungen treffen, weil ich mit meinen eigenen Entscheidungen ursprünglich nichts erreicht habe.

Ich habe mich viel mit Wahrsagerei, Tarot-Karten, Astrologie und übernatürlichen Erscheinungen beschäftigt. Das hing alles mit einem Gefühl von <ich weiß nicht, was ich tun soll> zusammen. Ich konnte mich wenigstens auf die Karten verlassen, daß sie es mir sagen. Ich wartete auf ein göttliches Zeichen vom Himmel. Es scheint, je mehr Schmerz ich fühle, desto mehr Magie suche ich. Ich brauche etwas Einfaches, nicht Verwirrendes von außen. Wenn ich elend und allein bin — wenn ich mit niemandem zurechtkomme und niemanden in meinem Leben habe und einfach sterben möchte —, fange ich an, die Karten anzusehen und auf ein Zeichen zu hoffen. Ich brauche das I-ching oder die Tarot-Karten, um von diesem Pessimismus loszukommen. Es ist der schlimmste Grad von Pessimismus, denn in diesen Augenblicken ist alles öde und finster. Ich habe keine Interessen, keine Ziele und keinen Ehrgeiz. Ich möchte einfach verfaulen. Ich war immer abergläubisch und habe mich darauf verlassen, daß mystische Dinge mein Leben leiten. Jetzt sehe ich das ganze Schema so klar. Ich konnte Menschen vom Beginn meines Lebens an nicht vertrauen, deshalb mußte ich Dingen vertrauen.

Ich weiß, ich habe mein Leben lang das Gefühl gehabt: <Nichts, was ich tue, ist gut genug> — seit der Geburt, als nichts, was ich tat, gut genug war. Dann verstärkte es meine Mutter noch dadurch, daß ihr nichts recht war, was ich tat — von der Art, wie ich mein Bett machte, bis zu der Art, wie ich mich kleidete.

Nachdem ich bei der Geburt beinahe getötet worden war, als ich versuchte, aus meiner Mutter herauszu­kommen, wollte ich dann nicht mehr, daß sie mich berührte. Ich hatte Angst vor ihr, ich traute ihr nicht. Seit damals habe ich Frauen nicht annähernd so viel getraut wie Männern. Ich lasse mich nie von jemandem berühren, den ich nicht gut kenne. Ich war im Grunde mißtrauisch und paranoid seit meiner Geburt, glaube ich. Berührung hat mich immer nervös gemacht, aber jetzt weiß ich endlich, warum. Ich möchte nicht in der Gewalt eines anderen sein.

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Es ist sonderbar, beinahe tot geboren zu werden. Ich habe dieses Totsein während des größten Teils meines Lebens ausagiert. Dann brachte ich andere dazu, mich <wiederzubeleben>. Ich lebe durch ihr Lebendigsein, ihre Lebhaftigkeit, ihre Fröhlichkeit in der Hoffnung, daß sie mich aus meinem Totsein herausbringen werden. Aber in der Minute, in der sie gegangen sind, ist wieder alles völlig sinnlos, und ich bin tot. Ich habe mein Leben lang agiert, tot zu sein und durch andere Menschen wieder lebendig zu werden.

Bevor ich zur Therapie kam, hatte ich immerzu das Gefühl, daß ich verrückt werde oder daß ich mich umbringen werde. Ich wußte nie, woher diese Todesgedanken kamen. Auch wenn mein Leben gut ging, hatte ich diese Gedanken — eigentlich besonders, wenn mein Leben gut ging. Es scheint jetzt das gute Gefühl kurz vor der Hölle des Herauskommens (Geboren­werdens) zu sein. Deshalb bekomme ich dieses Gefühl des Unheils, sooft ich mich gut fühle. Ich kann das Leben nicht gut zu mir sein lassen. Ich glaube, viele meiner Depressionen kamen daher, daß ich eine Menge Gefühle aufgestaut hatte, die ich nie herausließ; und ich ließ sie nicht heraus, weil ich nie wußte, was sie waren. Sie hatten keine Worte, damit fing es an. Es ist sehr schwer, sich auszudrücken, wenn die Gefühle, um die es geht, keine Worte haben.

Ich bin in meinem ganzen Leben, wenn ich nicht tun durfte, was ich wollte, einfach verrückt geworden. Eingeengt und einge­schlossen zu sein, das war eine Lebensweise für mich. In der Schule wickelte mich meine Mutter immer in dicke Mäntel ein. Weil ihr kalt war, mußte ich dick vermummt sein. Sie hielt mich immer eingeschlossen; die Mäntel waren nur eine Verlängerung meiner Geburt.

Ich denke, mein Stil war immer: kämpfen, aufgeben, anfangen zu sterben, wieder kämpfen. Bei der Geburt fing ich an, das Bewußtsein zu verlieren, sobald ich aufgab, so wie jetzt in meinem täglichen Leben. Wenn es mir zuviel wird, verzweifle ich, und dann lasse ich alles zusammenkommen, bis ich nicht mehr kämpfen kann. Ich möchte einfach sterben. Dieser Wunsch zu sterben wird zu meinem Ausweg. Dann ist es so, als ob ich in letzter Minute wieder in Schwung käme und weiterkämpfte. Es kann etwas ganz Triviales sein, was den Wunsch zu sterben auslöst. Jetzt sehe ich, warum etwas Triviales das alte Feeling auslösen kann.

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Ich frage mich oft, wie man <beweisen> sollte, was ich durchgemacht habe, aber ich bin nicht sicher, daß das überhaupt jemand kann. Das ursprüngliche Ereignis ist ein Erlebnis und das Wiedererleben auch — mit Denken hat beides nichts zu tun. Der >Beweis< kommt für mich aus den Feelings und den Veränderungen, die eintreten, nachdem ich gefühlt habe. Zum Beispiel, immer wenn ich vor einer Theaterkasse Schlange stand, hatte ich ein Gefühl von überwältigender Ungeduld — ich hätte den vor mir am liebsten geschlagen. Das habe ich jetzt nicht mehr, und ich weiß, daß sich das auflöste durch das Wiedererleben meines ursprünglichen Bedürfnisses, herauszukommen und zu atmen. Sie können sich vorstellen, was es für mich heißt, aus einem Flugzeug auszusteigen. Ich weiß, das Feeling war immer: >Ich muß hier raus, und wenn sich meine Mutter nicht beeilt, sterbe ich.< Meine Mutter konnte sich nicht dazu entschließen, mich zu gebären, und so blieb ich mit diesem Feeling einfach stecken. In letzter Zeit hatte ich tiefere Einsichten. Ein Grund dafür, daß ich nicht rechtzeitig herauskam, war, daß sie mich nicht haben wollte — und das wurde durch ihr Verhalten während meiner ganzen Kindheit bestätigt.

Ich fühle mich jetzt wohler. Das mag nicht sehr dramatisch erscheinen, aber wenn man sich sein ganzes Leben lang nicht wohl gefühlt hat in seiner Haut und nie gewußt hat, warum, ist es eine große Erleichterung, glauben Sie mir. Ich bin auch anderen Menschen gegenüber offener und mitteilsamer. Ich sehe jetzt, daß es nichts zu befürchten gibt. Ich war beherrscht von dieser frühen Angst, die ich auf andere Menschen projizierte. Ich hatte mich einfach immer gefürchtet. Jetzt, wo ich diese Furcht in ihrem tiefsten Ausmaß gefühlt habe, scheint sie verschwunden zu sein. Es ist wie ein riesiges Puzzle, und die Angst ist nun an der richtigen Stelle eingesetzt worden.

Ich scheine so völlig die Beherrschung zu verlieren bei diesen Erlebnissen in der Therapie. Ich lasse einfach meinen Körper gehen, und er scheint zu wissen, was er tut. In dem Augenblick, wo ich es zu verstehen oder zu beherrschen versuche, hört das Erlebnis auf. Das Fühlen dieses ganzen Schmerzes hat ihn mir erträglicher gemacht. Als ich zuerst in der Therapie mit dem Fühlen anfing, wurde mir übel, und ich wollte mich erbrechen. Das kommt jetzt nicht mehr vor. Die Übelkeit war eine Art von ursprünglicher Reaktion auf jedes Feeling. Ich begann mein Leben mit diesem Gefühl, und ich behielt es bis vor kurzem bei. Endlich ist es weg. Es war kein Spaß, diesen ganzen frühen Schmerz durchzumachen, aber es ist bestimmt schön, nicht mehr verrückt zu sein.«

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Viele Wochen später bekamen wir den folgenden Bericht:

»Heute hatte ich das Gefühl, daß ich plötzlich herauskam. Etwas völlig Neues ist geschehen. Beim Beginn der Sitzung war mir kalt. Ich weiß, es war warm im Therapiezimmer, aber ich fror. Ich atmete auch nicht. Ich zitterte und war, wie der Therapeut sagte, blau im Gesicht. Danach hatte ich ständig das Gefühl: >Ich bin geboren, ich bin geboren!< Ich lachte, weil ich dieses Gefühl hatte, während mir bewußt war, daß ich erwachsen war. Sobald ich draußen war, verstand ich mehr über mich selbst. Wie ich schon sagte, war alles in meinem Leben immer eine zu große Anstrengung gewesen. In meinen Zwanzigern konnte ich nicht einmal das Geschirr spülen. Ich saß nur so herum und wartete — worauf, wußte ich nicht recht. Aber jetzt weiß ich es: Ich wartete darauf, daß meine Mutter etwas tat, um mir herauszuhelfen. Ich konnte selbst nichts tun; ich meine, ich tat, was ich konnte, und es half nichts. Deshalb gab ich auf.

Das hatte mich zum Teil von anderen abhängig gemacht — es war eine Art von Unselb­ständigkeit. Gleichgültig, was ich zunächst einmal tat, ich bekam nicht, was ich wollte. Ich mußte darauf warten, daß >sie< für mich bereit waren. Da ich keine Gewalt über mein Leben hatte, hörte ich zu kämpfen auf und wartete einfach. Ich gab es auf, es selbst zu versuchen. Ich wußte nicht, was ich sonst tun sollte. Ich atmete so wenig wie möglich, weil nicht genug Luft da war — und die Schmerzen in meiner Brust sind die direkte Folge davon, daß ich nicht atmete. Endlich war meine Zeit da: blau geboren, ohne zu atmen, mehr tot als lebendig. Aber ich hatte doch einen Augenblick des Triumphes: ich war draußen. Ich hatte es geschafft!

Ich erinnere mich, wie ich einen Streit mit meinem Freund hatte. Ich schlug ihn gegen die Brust, und er packte meine Hand­gelenke und hielt sie fest. Also, ich wurde völlig verrückt. Ich hatte eine Panik und wurde hysterisch. Ich fühlte mich wieder niedergehalten wie bei der Geburt, und das bedeutet für mich Hysterie. Was mir immer geholfen hat, ist, daß ich immer wütend wurde, wenn ich völlig fertig war, und das rettete mich.

Ich habe immer gewußt, daß ich im Elend lebte, aber ich wußte nie, warum. Ich erinnere mich, wie sich meine Leute stritten, als ich klein war. Ich hielt dann immer den Atem an, bis ich blau wurde und das Bewußtsein verlor. Das brachte sie dazu, mit dem Streiten aufzuhören! Ich sehe jetzt, wie prototypisch diese Reaktion war. 

Ich konnte mich beim Sex nie gehenlassen, und deshalb ging ich selten mit jemandem ins Bett. Ich hatte nichts davon. Er war blockiert, aber ich wußte es nicht. Für mich war Sex einfach unangenehm. Jetzt weiß ich, was es war: ich fühlte mich nicht wohl in einer verwundbaren oder gefühlsbetonten Situation. Jetzt, wo ich mich für mich selbst, für mein tiefstes Selbst, geöffnet habe, kann ich Sex in mich aufnehmen, und das angenehme Gefühl, das ich dabei habe, sagt mir, wie sehr ich mich vorher nicht automatisch gehenlassen konnte. Sex war mit der Geburt verwandt — tun, was ich nicht tun wollte; in die Richtung eines anderen gehen. Geschlechtsverkehr haben, wenn ich nicht wollte, brachte immer das ganze alte Geburts-Feeling wieder herauf.«

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Janov 1983