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    Anoxie (streßbedingt)   

 

 

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Wir haben gesehen, daß Anoxie durch Medikamente, Tabak und hohe Fettspiegel im Blut der Mutter verur­sacht werden kann. Sie kann auch allein durch den emotionalen Zustand der Mutter ausgelöst werden, unabhängig davon, was sie zu sich nimmt. Furcht, Angst und Schmerz verengen die Blutgefäße, verringern daher die Blutzufuhr zum Fetus und reduzieren den Sauer­stoffgehalt in seinem Blut. Die Angst und der Schmerz der Mutter können den Fetus sogar töten. Es gibt einen Typ von Müttern, die, klinisch gesehen, »psychogene Fehlgeburten« haben, das heißt, ihre Fehlgeburten haben keine organische Grundlage, sondern werden durch ihre emotionale Verfassung verursacht.

Wie können Emotionen ein Kind töten? 

Man weiß, daß diese Frauen extrem hohe Streßspiegel haben. Individuen mit hohen Schmerzspiegeln produzieren selbst schmerzbetäubende Substanzen: Serotonin und Endorphin. Mütter mit Fehlgeburten haben oft ungewöhnlich hohe Serotoninspiegel; Serotonin neigt dazu, die Blutgefäße zu verengen, was den Sauerstoffspiegel so weit senken kann, daß beim Fetus der Tod eintritt. Haesslein und Niswander stellen fest:

»Die Angst der Mutter kann ebenfalls eine wesentliche Ursache für pränatale neurologische Schädigungen des Fetus sein. Es ist beobachtet worden, daß bei einer Gravida (Schwangeren), die angsterregenden Reizen ausgesetzt wird, eine Abnahme des ute-rinen Blutstroms und gleichzeitige Veränderungen im fetalen kardiovaskulären System eintreten, die mit fetaler Asphyxie einhergehen.«24) 

Bei Tierversuchen stellten Greiss und Gobble25 fest, daß die Auslösung eines übermäßigen Adrenalin­aus­stoßes bei trächtigen Schafen eine »starke uterine Vasokonstriktion« verursachte, die so weit ging, daß beinahe die gesamte Blutzufuhr zum Fetus abgeschnitten war. Myers26, der mit Rhesusaffen arbeitete, fand, daß eine fetale Asphyxie eintrat, wenn die Muttertiere psychologischem Streß unterworfen wurden. Die Folgerungen für Menschen wie Tiere sind klar: Die Wirkung des Stresses der Mutter auf den Fetus kann alle Arten von Problemen nach sich ziehen, vom leichten neurologischen Schaden bis zum Erstickungstod.

24)  Haesslein und Niswander, op. dt., S. 245.
25)  Greiss, F. C. und Gobble, F. L., »The Effects of Sympathctic Nerve Stimulation on the Uterine ascular Bed«, in: American Journal of Obstetrics, 97, S. 962-967, 1967.
26)  Myers, R.E., »Production of Fetal Asphyxia by Maternal Psychological Stress«, in: Journal of Biological Sciences, 12, 1, S. 51-61, 1977.


Nachgewiesene oder korrelierte Wirkungen von streßbedingten emotionalen und psychologischen Störungen der Schwangeren auf den sich entwickelnden Fetus und das Neugeborene:

1. Anoxie (streßbedingt)
Gehirnschäden  Gehirnlähmung  Krippentod  Epilepsie  Lern- und Verhaltensprobleme  Geistige Störungen  Geistige Retardation  Psychogener Abortus

2. Angst
Autismus  Emotionale Störungen in der Kindheit   Verminderter Widerstand gegen Infektionen  Erhöhte Streß- und Adrenalinspiegel  Überregbarkeit im Säuglingsalter

3. Blutdruck und Herzschlag
Übererregbarkeit  Abnormale Herzfrequenz  Verringertes Geburtsgewicht  Nahrungsmangel  Sauerstoffmangel

4. Hormonale Störungen
Wachstumsstörungen   Schilddrüsenüberfunktion Schilddrüsenunterfunktion Niedrige Streß-Schwelle Neurologische Schäden Frühgeburt Sexuelle und Geschlechtsanomalien verhaltensmäßige strukturelle Totgeburt

5. Unerwünschte Schwangerschaft
Mißbildungen   Spontaner Abortus  Totgeburt

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    Angst   

Angst ist Primärfurcht, das heißt, eine Furcht, die von einem früheren Trauma her in das gegenwärtige Leben einsickert. Sie ist die Gesamtsumme der Mobilisierungsprozesse des Körpers gegen das Aufsteigen von Urschmerz in das Bewußtsein. Das Bewußtwerden des Urschmerzes ist das Bedrohliche, und alle Verdräng­ungs­kräfte des Systems werden aufgeboten, um es zu verhindern. Wenn diese Verdrängungskräfte ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind, bricht Entsetzen durch und wird als amorphe Angst erlebt. Doch das ist nur das erste Stadium eines Primais. Ein Bewußtsein, das von frühem Urschmerz überwältigt wird, ist von einer Psychose bedroht. Das System ist klug genug, dies rasch durch seine Schleusensysteme zu verhindern. Mangelhafte Schleusen sind das eigentliche Problem. Angst ist somit ein Signal für nahenden Urschmerz. Sie ist der nicht verknüpfte physiologische Aspekt des frühen Erlebnisses. Wenn die Szene als ganze ins Bewußtsein eindringt, verwandelt sich die Angst in Urschmerz, dann in reines Feeling, und schließlich wird sie ausgeschaltet.

Bis dahin erhält die Angst einen Teufelskreis aufrecht. Um sie zu vermeiden, greifen wir zu äußeren Hilfsmitteln Medikamenten, Alkohol, Tabak und Essen. Um sie zu verarbeiten, muß unser System übermäßige Mengen von Streßhormonen produzieren. Für die Schwangere ist diese Situation doppelt gefährlich.

Man hat beobachtet, daß ängstliche Mütter während der Schwangerschaft mehr Medikamente verlangen und während der Entbindung mehr Medikamente brauchen. Sie haben häufiger höhere Streßhormon- und höhere Adrenalinspiegel im Blut, was sowohl die Mutter als auch das Kind »hyperisiert«. Ängstliche Mütter neigen dazu, mehr zu rauchen und zu trinken, und die gesunden Nahrungsmittel, die sie wirklich zu sich nehmen, werden aufgrund der Angst nicht richtig ausgewertet. Es besteht eine geringere Widerstandsfähigkeit gegen Infektionen, die sich auf den Fetus auswirkt, und eine erhöhte Motilität der Gebärmutter, die den Fetus mißhandelt.

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Autismus kann ebenfalls mit dem Streß der Mutter zusammenhängen. Eine Studie, die 1977 der Versammlung der American Association of Psychiatrie Services for Children vorgelegt wurde, zeigte, daß mehr als zweimal so viele Mütter von autistischen Kindern selbst psychiatrische Probleme hatten als Mütter normaler Kinder. Daraus läßt sich nicht folgern, daß Streß die einzige Ursache des Autismus sei, aber Alan J. Ward stellte fest, daß »ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz von Müttern autistischer Kinder während der Schwangerschaft >Familienstreitigkeiten< hatte«.27

Ward war der Meinung, daß seine Untersuchungsergebnisse die Vorstellung einer Verbindung zwischen pränataler Angst seitens der Mutter und Kindern mit höheren Angstniveaus, höheren Graden von emotionalen Störungen und geringerem Entwicklungstempo bestätigten.

Viele Studien haben eine Korrelation zwischen emotionalen Störungen der Mutter und Übererregbarkeit, Ruhelosigkeit, Erbrechen und Ernährungsproblemen beim Neugeborenen festgestellt.

Lester Sontag, ein führender Experte auf dem Gebiet der Streßwirkungen auf Neugeborene, schreibt:

»Ein solcher Säugling (der von einer emotional gestreßten Mutter geboren wurde) ist von Anfang an ein hyperaktives, reizbares, körperlich unruhiges, schreiendes Kind ... Er entleert seine Eingeweide ungewöhnlich häufig, erbricht die Hälfte der aufgenommenen Nahrung und ist allgemein lästig. Er ist in jeder Hinsicht ein neurotischer Säugling, wenn er geboren wird — das Ergebnis eines unbefriedigenden fetalen Milieus.«28

27)  Berichtet in Science News, Bd. 112, 3. Dezember 1977, S. 374.
28)  Zitiert in Montagu, op.cit., S. 164.

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Das System einer ängstlichen Mutter läuft selbst ständig auf Hochtouren. Streß wühlt uns buchstäblich auf. Für einen winzigen Fetus, der hilflos in der Fruchtblase schwimmt, wird durch diese Aufgewühltheit seine Umgebung in etwas verwandelt, was mehr einem Sturm auf See gleicht als dem sanft wiegenden Kissen, das sie sein sollte. Offensichtlich beginnt der Dialog zwischen Mutter und Kind bei der Empfängnis und nicht erst bei der Geburt, und dieser Dialog ist von Streß und Aufruhr gekennzeichnet, wenn die Mutter ängstlich und erregt ist. Montagu liefert eine klare und einfache Erklärung dafür, wie die Verfassung der Mutter auf ihr werdendes Kind übertragen wird:

»Eine schwangere Frau ... kann einen Teil ihrer Emotionen mit ihrem Kind teilen. Das kommt daher, daß jede Emotion zum Teil physisch ist und durch Veränderungen in ihrem Körper ausgedrückt wird, die auf ihr Kind übertragen werden können. Der Beginn einer Emotion ist die anfängliche Wahrnehmung — beispielsweise, daß ein Feuer wütet und eine Gefahr darstellt. Das zweite Stadium ist eine Reihe von physischen und chemischen Veränderungen im Körper, die unmittelbar auf die Wahrnehmung der Gefahr folgen ... Diese Veränderungen sind ganz spezifisch und von zweierlei Art: chemische Substanzen, die von den Nervenenden hergestellt, und Hormone, die von den endokrinen Drüsen ausgeschüttet werden.

Diese Substanzen — Chemikalien und Hormone — sind es nun, die die Verbindung zwischen der Wahrnehmung der Gefahr durch die Mutter und ihren Auswirkungen auf das Wachstum und die Entwicklung ihres Kindes herstellen. Wenn diese Substanzen in ihren Blutstrom übergehen, sind sie auch schon unterwegs zum Blutstrom des Kindes. Sobald sie die Plazenta durchquert haben und die Wanderung durch sein System beginnen, empfängt das Kind in einer sichtbaren, meßbaren Form die Kraft, die als subjektives Gefühl in der Mutter entstand. Und durch diese Chemikalien und Hormone kann es beeinflußt werden.«29

Eine neurotische Mutter trägt die Gefahr - das »Feuer« - in sich. Unbewußter Urschmerz ist ein ständiger innerer Aktivator der chemischen Substanzen und Hormone, von denen Montagu spricht. Er ist die »sichtbare, meßbare Kraft«, die die Schranke der Plazenta überschreitet und die Veranlagung des sich im Innern entwickelnden Kindes ändert.

29)  Montagu, op. dt., S. 159.

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 Lena Mantensson von der Universität Lund in Schweden bezweifelt sogar, daß es so etwas wie eine plazentare Schranke gibt. Beinahe alle Substanzen werden von der Mutter an den Fetus weitergegeben, einschließlich aller atmosphärischen Schmutzstoffe, denen sie ausgesetzt ist. Der Fetus leidet unter dem Smog von Los Angeles, unter Schädlingsbekämpfungsmitteln (Mantensson studiert deren Wirkung auf die Plazenta von Meerschweinchen) und unter den Emissionen von Fabriken.

 

     Blutdruck und Herzschlag   

 

Was während der Schwangerschaft geschieht, kann einen starken Einfluß auf das ausüben, was bei der Geburt geschieht. Der Blutdruck der Mutter bestimmt weitgehend das Wachstum des Fetus. Erhöhungen des Blutdrucks der Mutter während der Schwangerschaft sind von einer Drosselung der Blutzufuhr zum Fetus begleitet. Das bedeutet, daß das Kind mit weniger Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird, was sein Wachstum und seine Entwicklung schwer beeinträchtigt.

Woodson und sein Team30 wiesen nach, daß Fetusse, die dem Streß eines hohen Blutdrucks während der Schwangerschaft ausgesetzt waren, den Sauerstoffmangel, der während der Wehen eintritt, weniger gut ertrugen und daß sie auch eine häufigere und stärkere Verlangsamung der Herzfrequenz während der Wehen zeigten als die Neugeborenen, deren Mütter während der ganzen Schwangerschaft normale Blutdruckwerte gehabt hatten. Der Fetus wird eindeutig durch das beeinflußt, was im Blut seiner Mutter vorgeht, aber fühlt und erlebt er auch traumatische Veränderungen in diesem Blut? Offenbar ja.

30)  Woodson, Blurton, Woodson, Da Costa, Pollock, und Evans, »Fetal Mediators of the Relationships between Increased Pregnancy and Labor Blood Pressure and Newbom Irritability«, in: Early Human Development, 1979, 3/2, 127-139.

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Ein Patient schrieb:

»Am Weihnachtstag vor mehreren Jahren erwachte ich mit einem Gefühl tiefen Leidens und von Todesahnungen erfüllt. Mein Puls war auf 40 Schläge in der Minute gesunken. Meine Mutter hatte mir ein Buch mit farbigen Naturaufnahmen geschickt, das Der Geburtstag der Sonne hieß. Von Schmerz überflutet, las ich: >Der Geburtstag des Sohnes<.

Ich lag auf meinem Bett und sah mir zerstreut die Bilder an. Unter einem der Bilder des Buches stand: >Alle Wesen brauchen Wasser zum Leben. < Ich blätterte um und sah ein zweiseitiges Farbfoto einer riesigen Sturmwoge in einem Taifun. Was als nächstes geschah, war eine Eruption des frühesten Schmerzes, den ich in den mehr als drei Jahren erlebte, in denen ich Primais hatte. Ich spürte den Schmerz aus dem Becken kommen, nicht aus dem Bauch. Ich schmeckte blutiges Fruchtwasser. Dann sah ich überall Rot — nur noch Rot. Ich erlebte eine völlige Schwere­losigkeit wieder und wußte mit Sicherheit, daß ich starb und daß meine Mutter starb.

Mein >Schreien< klang nicht wie das eines Babys, es war mehr wie der rauhe, mißtönende Schrei eines verwundeten Tieres. Das ging so ungefähr dreißig Minuten lang weiter und weiter. Plötzlich waren die Feelings weg, und ich war verwundert über das, was ich gerade durchgemacht hatte.

Später rief ich meine Mutter an und sagte: >Einige Zeit, bevor ich geboren wurde, hattest du eine Blutung. Wie kurz vor meiner Geburt war das?<

Sie antwortete: >Woher weißt du, daß ich geblutet habe?< >Ich bin sicher, daß du geblutet hast. Jetzt möchte ich nur wissen, wann das war.<

>Es war ungefähr zwei Wochen vor deiner Geburt<, sagte sie. Da ich sechs Wochen zu früh geboren wurde, fällt die Entstehung dieses Traumas in das erste Drittel der letzten drei Monate. Alles, was ich aus meinem Erlebnis folgern kann, ist, daß ein Kind im Schoß weiß, was seine Mutter fühlt - zumindest während des letzten Drittels der Schwangerschaft.«

 

Eine andere direkte emotionale Beziehung zwischen Mutter und Fetus kommt durch den Herzschlag der Mutter zustande. Wir wissen, daß der Herzschlag der Mutter vom Fetus »gehört« (erlebt) wird. Das rhythmische Schlagen des Herzens ist ein tröstlicher Laut — solange die Schläge rhythmisch und im richtigen Tempo zu hören sind.

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Neurotische Herzschläge neigen dazu, schneller - »hastiger« - und weniger rhythmisch zu sein, was etwas mit der Einprägung »hastiger« Reaktionen zu tun haben mag, die das Kind von Geburt an beibehält. Untersuchungen zeigen, daß Menschen, die man auffordert, einen Rhythmus zu schlagen, bei dem sie sich am wohlsten fühlen, etwas wählen, was ungefähr ihrem eigenen Herzschlag entspricht. Konditioniert durch den Herzschlag der Mutter in utero, empfindet das Kind diesen Rhythmus als normal. Es gibt Beweise dafür, daß ein sehr schneller Herz- und Atemrhythmus in das Unbewußte des Fetus eingeprägt wird, was sich dann darauf auswirkt, wie schnell das Nerven­system in Zukunft reagiert, das heißt, wie reizbar das Kind ist, wie schnell der Erwachsene seinen Wagen fährt und wie er sein allgemeines Lebenstempo einstellt.

Montagu beschreibt ein interessantes Experiment, das »schlüssig beweist, daß ein Neugeborenes, das die Laute eines normalen Herzschlags hören kann, ruhiger und gesünder ist und rascher zunimmt, als wenn es (den Herzschlag) nicht hören kann«.31 Das Experiment befaßte sich mit Neugeborenen, aber man kann mit Sicherheit annehmen, daß die Wirkungen auf das Kind in utero qualitativ ähnlich sind.

Bei dem Experiment, das sechzehn Wochen dauerte, wurden im Saal der Neugeborenen eines Krankenhauses zwei Lautsprecher angebracht, die die Töne eines echten, normalen Herzschlags wiedergaben. Dieser Herzschlag wurde Tag und Nacht in vierwöchigem Wechsel ständig ausgesandt, das heißt, er wurde vier Wochen abgespielt, vier Wochen ausgeschaltet, dann wieder vier Wochen abgespielt und schließlich wieder vier Wochen abgeschaltet. Während der ganzen Zeit wurden das Gewicht der Säuglinge und die Häufigkeit ihres Weinens regelmäßig aufgezeichnet. Alle am Experiment beteiligten Säuglinge waren »normal« und blieben unmittelbar nach der Geburt vier Tage lang im Saal.

Die Resultate waren völlig eindeutig. Die Laute des Herzschlags förderten die Gewichtszunahme und verringerten die Häufigkeit des Weinens bei allen Säuglingen, die sie während ihres viertägigen Aufenthalts hörten. Es wurde auch beobachtet, daß diese Säuglinge tiefer und regelmäßiger atmeten als die anderen.

31)  Montagu, op. dt., S. 191.

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Um zu sehen, was geschieht, wenn die Qualität der Laute verändert wird, erhöhten die Wissenschaftler die Frequenz von 78 auf 128 Schläge pro Minute. Das Ergebnis war eine merkliche Zunahme des Weinens und der Ruhelosigkeit bei den Säuglingen.

Montagu und seine Mitarbeiter nehmen an, daß die Gewichtszunahme bei den Säuglingen, die den Herzschlag hörten, darauf zurückging, daß sie weniger weinten: ihre Energien wurden zum Wachsen verwendet, während die Energien der anderen Säuglinge durch Weinen vergeudet wurden. Ich bin sicher, daß die Implikationen für das Kind in utero genau dieselben sind. Ein beruhigender Herzschlag fördert alle Wachstumsprozesse des Fetus einfach dadurch, daß er sie ohne Ablenkung ablaufen läßt. Ein streßhafter Herzschlag dagegen lenkt die Energien des Fetus vom Wachsen ab und verbraucht sie durch Streß. Es ist tatsächlich wahr, daß wir alle »zum Schlag einer anderen Trommel marschieren«.

 

Ein Mitglied unseres Stabes lieferte die folgende Beschreibung dessen, was seinem Gefühl nach »Bruchstücke« seiner frühesten Erlebnisse im Mutterschoß sind:

»Die Feelings und Empfindungen, die ich beschreiben will, scheinen in Wirklichkeit mehr zusammenhanglose Informationsfragmente zu sein als die Feelings und Empfindungen eines zusammenhängenden Erlebnisses. Ich glaube, das kommt daher, daß ich nur Bruchstücke meiner Geburt und der Zeit unmittelbar davor erlebt habe und daß vieles davon noch unzugänglich ist. Soweit sind die Bruchstücke offenbar nicht sehr klar, abgesehen davon, daß sie einen ungeheuren Einfluß auf mich haben.

Neulich hatte ich ein Feeling, als ich bemerkte, daß meine linke Hand dieses Rab-dab-rab-dab-Geräusch machte, während sie auf den Teppich schlug. Ich machte die Bewegung mit der linken Hand so, daß der erste Schlag der stärkere >Rab<-Laut war, und der leichte Nachschlag, der darauf folgte, war der schwächere >Dab<-Laut. Das geschah ganz unwillkürlich. Ich war mir nicht bewußt, damit angefangen zu haben oder beschlossen zu haben, es zu tun. Zu irgendeinem Zeitpunkt bemerkte ich einfach, daß ich dieses Geräusch machte und daß es mit dem, was ich fühlte, synchron war, ja, daß es dazu neigte, das Feeling zu verstärken.

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Es fiel mir auf, daß das Geräusch einem Herzschlag ähnelte, aber ich hörte auf, darüber nachzudenken, ob das so war oder nicht, und ließ mich einfach von dem Feeling tragen. Danach fragte ich meine Frau, die bei mir saß, während ich das Feeling hatte, ob sie das Trommelgeräusch an etwas erinnere. Bevor ich meine Frage beenden konnte, antwortete sie mit einem wissenden Lächeln: >Es klang wie ein Herzschlag.< Das wissende Lächeln kam daher, daß sie schon oft gehört hatte, wie meine Fingerspitzen diesen besonderen Rhythmus trommelten, aber ich selbst hatte es offenbar nicht bemerkt.

Ich brachte dann dieses Trommeln mit den Fingerspitzen mit dem sonderbaren Geräusch in Verbindung, das ich in der Kehle mache. (Er machte ein sehr ungewöhnliches und unbeschreibliches Geräusch tief in der Kehle, das vage dem Geräusch eines Herzschlags in einem Monitor ähnelte.) Ich war von diesem Geräusch immer fasziniert gewesen, hatte es aber nie wirklich mit etwas in Verbindung gebracht. Jetzt fiel mir auf, daß ich nur mit den Fingerspitzen trommelte, wenn ich das Geräusch in der Kehle aus dem einen oder anderen Grund nicht machen konnte — beispielsweise wenn ich ein Feeling habe und weine.

Aber beides, das Geräusch in der Kehle und das Trommeln mit den Fingerspitzen, fühlt sich innerlich gleich an - beides scheint dasselbe elementare Feeling auszudrücken oder zu verstärken. Beides scheint auch auf irgendeine Weise mit meinen Erlebnissen bei und vor der Geburt verbunden zu sein, ebenso wie meine sehr starke Phobie vor dem Tod durch einen Herzanfall. Ich habe diese Verbindungen noch nicht klar gefühlt, daher kann ich Ihnen nur erzählen, was ich von meiner Geschichte >weiß<. Was ich zu sagen versuche, ist, daß ich diese exakten Verbindungen zwar noch nicht gefühlt habe, daß ich aber deutlich spüre, daß es Verbindungen gibt.

Während der letzten Stadien der Schwangerschaft litt meine Mutter an Toxämie. (Als ich sie als Erwachsener fragte, was Toxämie sei, sagte sie, sie trete auf, wenn Abfallprodukte des Kindes das Blut der Mutter vergiften, was medizinisch gesehen nicht ganz richtig ist.) Jedenfalls wurde, um ihren Zustand zu bessern, beschlossen, die Wehen künstlich einzuleiten. Zehn Tage, bevor ich geboren wurde, bekam sie zwölf Injektionen eines Wehen auslösenden Mittels in Abständen von einer Stunde. Aber ich rührte mich noch immer nicht!

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Bis heute werde ich von einer Injektion oft ohnmächtig. Wenn ich als Kind in der Schule meine Spritzen bekam, bemerkte die Schwester jedesmal, wie blaß mein Gesicht wurde, und sie führte mich rasch hinaus an die frische Luft. Ein Zahnarzt rammte mir einmal sein Knie gegen den Brustkorb, weil er glaubte, mein Herz sei stehengeblieben, nachdem er mir eine Injektion gegeben hatte.

Es ist nicht der Nadelstich — ich kann mir ohne weiteres Blut abnehmen lassen —, es ist das Gefühl, daß eine fremde Flüssigkeit in meinen Blutstrom eindringt. Von diesem Gefühl der einströmenden Flüssigkeit kann ich noch ohnmächtig werden. Als Erwachsener wurde ich Alkoholiker, und jetzt fühle ich, daß der Alkoholismus eine Methode war, mein System ständig zu vergiften, so wie es schon vor meiner Geburt vergiftet worden war.«

*

 

    Hormonale Störungen    

 

Hormone steuern und regulieren die Tätigkeit von Zellen. Hormondrüsen stellen Sekrete her, die im Blutkreis­lauf zu ihren Zielsystemen befördert werden. Jedes Hormon hat eine spezifische Funktion: es »sagt« der Zellgruppe, was zu tun ist und wie es zu tun ist. Wachstumshormone helfen den Zellen zu wachsen und sich zu differenzieren; Geschlechtshormone geben den Geschlechtszellen den Auftrag, männlich oder weiblich zu sein. Und Streßhormone helfen den Zellen, auf Streß zu reagieren und ihn zu bewältigen.

Das Hormonsystem der Mutter ist ein Spiegel ihrer emotionalen Verfassung. Es ist einer der Hauptwege, auf dem die Mutter ihren Schmerz weitergibt. Wenn eine Mutter chronisch nervös, deprimiert oder erregt ist, befinden sich ihre Hormone — die unaufhörlich in ihren Blutstrom und damit in den Blutstrom ihres Kindes ausgeschüttet werden — nicht im Gleichgewicht. Ihr Kind erhält ständig eine Über- oder Unterversorgung mit den verschiedenen Hormonen.

* Deutsch: Gefangen im Schmerz, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1981.

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In meinem vorausgegangenen Buch Prisoners of Pain* habe ich beschrieben, wie sich Hormone unter Streß ändern, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß wir bald genaue Messungen des Schmerzes der Mutter und des Grads der Störung ihrer Hormonfunktionen haben werden. Eines geht aus unseren Langzeitstudien klar hervor: es gibt eine Störung der Hormonfunktionen, wenn Urschmerz vorhanden ist, und eine Normalisierung vieler wichtiger Hormonsekretionen, wenn der Urschmerz durch die Primärtherapie aus dem System »extrahiert« wurde. Manchmal dauert es Jahrzehnte, bis die Symptome erscheinen, aber wenn bei der Mutter Abweichungen vom Normalen bestehen — ob es sich um eine offen erkennbare Krankheit handelt oder nicht —, wirken sie sich auf den Fetus aus. Der Fetus lebt nicht mehr in einer »normalen« Umgebung. Wir können ein gestörtes Kind verstehen, das zu Hause ein schlechtes Milieu hatte, aber es ist schwieriger zu begreifen, daß der Fetus ebenso durch ein schlechtes biochemisches Milieu gestört wird.

 

    Die Schilddrüse   

Die Schilddrüse regelt das Wachstum, die Entwicklung und den Stoffwechsel. Sie steuert alle Prozesse, die Protoplasma, die Grundsubstanz des Lebens, aufbauen und abbauen. Deshalb sind Veränderungen der Schilddrüsentätigkeit so wichtig. Chronischer Streß kann die Ausscheidung der Schilddrüse der Mutter verändern, die ihrerseits die ganze Stoffwechsel-»Einstellung« des Fetus verändert. Die Schilddrüse des Kindes beginnt wenige Wochen nach dem Eintritt der Schwangerschaft mit der Produktion und Sekretion von Thyroxin, so daß sie durch eine Störung auf Seiten der Mutter während des größten Teils der neun Schwangerschaftsmonate beeinträchtigt wird.

Wenn die Mutter an einer Hypothyreose leidet (das heißt, wenn ihre Schilddrüse zu wenig Thyroxin produziert), ist sie chronisch müde und besitzt weniger Ressourcen, um Streß zu bewältigen. Ihr Kind kann dann »müde geboren« werden: die Hypothyreose ist als die »normale« Stoffwechselsituation eingeprägt. Es ist, als wären die Lebensprozesse des Kindes dafür konditioniert worden, in Zeitlupe abzulaufen. (Es kann allerdings auch sein, daß das System des Kindes stärker arbeitet und zu viel Hormon ausschüttet, um das Defizit der Mutter auszugleichen.)

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 Folgen der Hypothyreose können eine größere Tendenz zur Passivität im späteren Leben, das Aufgeben unter Streß und eine Haltung des »Wozu?« sein, die alles bestimmt, was man tut. (Die Hypothyreose ist als klinischer Zustand nicht immer erkennbar. Es kann eine nur leichte Reduktion der Hormonausschüttung vorliegen, die genügt, um die Persönlichkeit zu formen, aber bei Untersuchungen nicht feststellbar ist.)

Ebenso kann eine an Hyperthyreose, das heißt eine an Schilddrüsenüberfunktion, leidende Mutter diese an das werdende Kind weitergeben. Es wird schon im Schoß auf »Hyper« eingestellt, so daß die Prädisposition für einen Herzanfall in den mittleren Vierzigern oder Fünfzigern eingeprägt werden kann, lange bevor das Herz des Kindes seinen eigenen ersten Schlag tut. Das Kind kann sogar anders auf sein Geburtstrauma reagieren - drängender -, denn es ist schon Wochen oder Monate vorher »hyperisiert« worden. Es drängt stärker voran, weil es mehr »Drang« in Form von Thyroxin mitbekommen hat. Der an Hyperthyreose leidende Erwachsene richtet sein Leben oft so ein, als wären Schwung und Druck notwendig. Er hält sein manisches Tempo für richtig. Sein Leben wird zu einer einzigen Rationalisierung seiner während der Schwangerschaft eingeprägten Erlebnisse.

Bevor man mir vorwirft, etwas Wesentliches außer acht zu lassen, will ich rasch hinzufügen, daß es mir darauf ankommt, die Wirkung früher Traumata auf die Entwicklung hervorzuheben. Meine Absicht ist es, darzustellen, was uns vierzehn Jahre Beobachtung gelehrt haben, und auf ein Gebiet aufmerksam zu machen, das sehr lange übersehen wurde. Selbstverständlich kann es andere Gründe für hormonale Störungen im späteren Leben geben, und ein wichtiger unter ihnen kann die Vererbung sein. Aber auch erbliche Prädispositionen könnten spezifische Traumata benötigen, um sich offen bemerkbar zu machen, und umgekehrt können die Tendenzen ohne diese Traumata latent bleiben.

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    Geschlechtshormone    

 

Es gibt nun eine ganze Reihe von Untersuchungen, die zeigen, daß Streß während der Schwangerschaft Schemata der sexuellen Funktionen verändern kann. Bei einem unlängst durchgeführten Tierversuch zeigte es sich, daß Streß des Muttertiers in Form von konditionierter Angst, zu engem Lebensraum, Bewegungseinschränkung und Temperaturextremen die Struktur der Organe oder das Sexualverhalten der Nachkommen dauerhaft veränderte. Weibliche Nachkommen litten an Unregelmäßigkeiten der Eierstöcke, empfingen weniger häufig, hatten eine größere Anzahl von Fehlgeburten und brachten weniger lebensfähige Junge zur Welt. Die gestreßten Muttertiere zeigten ein stark reduziertes Pflegeverhalten und produzierten nicht genug Milch. Das Sexualverhalten männlicher Ratten mit gestreßten Müttern war so weit feminisiert, daß sie zu keiner normalen Kopulation fähig waren.

Der Forscher kam zu dem Schluß: »Pränataler Streß scheint daher die spätere Fortpflanzung nicht durch eine Störung der postnatalen Erziehungsbedingungen zu beeinträchtigen, sondern durch Veränderung des Fetus, und zwar möglicherweise durch eine Änderung des hormonalen Milieus.«32

Warum werden die Hormone verändert? Weil starker Streß große Mengen von Steroiden freisetzt, das heißt von Streßhormonen, die von den Nebennieren ausgeschüttet werden. Störungen, die in den Geschlechts- und Nebennierenhormonen zu der Zeit auftreten, in der beim Fetus die Geschlechtsdifferenzierung stattfindet, beeinträchtigen diese Differenzierung:

»Pränataler Streß kann daher den Austausch von Geschlechts- und Nebennierenhormonen zwischen der Mutter und dem Fetus oder das Gleichgewicht dieser Hormone im Fetus allein während eines kritischen Stadiums der hypothalamischen Differenzierung beeinflussen und damit reproduktive Dysfunktionen im Erwachsenenstadium verursachen.«33

32)  Herrenkohl, L. R., »Prenatal Stress Reduces Fertility and Fecundity in Female Offspring«, in: Science, Bd. 206, Nov. 1979, 1097-1099.
33)  Herrenkohl, op. cit.

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Besonders bemerkenswert ist, daß die Entwicklung des Hypothalamus, einer unserer wichtigsten Hirnstrukturen, bei dieser Untersuchung eine Rolle spielte. Das bedeutet, daß viele unserer lebens­wichtigen Funktionen — vom Hormonausstoß bis zu Schmerzschwellen und Wachstums- und Geschlechts­schemata — während dieser ersten neun Monate dauerhaft ungünstig verändert werden können.

Es ist nachgewiesen worden, daß das weibliche Geschlechtshormon Östrogen männliche Ratten für das ganze Leben feminisiert, wenn es ihnen unmittelbar nach der Geburt injiziert wird. Wird dasselbe Hormon später gegeben, ruft es keine solche Veränderung hervor. Es gibt kritische Zeiten, in denen ein hormonales Ungleichgewicht katastrophal und prototypisch sein kann. So müssen hormonale Änderungen, die selbst in der frühen Kindheit stattfinden, nicht lebenslange Verhaltensmuster auslösen, während ein hormonales Ungleichgewicht im Laufe der Schwangerschaft lebenslange Prädispositionen und Störungen zur Folge haben kann.

Bei einer anderen Studie34 stellte sich heraus, daß Frauen, die synthetische Geschlechtshormone wie Progestin einnahmen, um eine Fehlgeburt zu verhindern, später maskulinisierte Kinder zur Welt brachten: bei 18 Prozent der von diesen Frauen geborenen Mädchen war eine Maskulinisierung der Genitalien festzustellen, und sowohl weibliche wie männliche Säuglinge zeigten ein gesteigertes aggressives Verhalten. Der Forscher wies darauf hin, daß exzessive Hormone in Verbindung mit der Umwelt dazu beitragen könnten, das Problem zu erklären.

Progesteron, ein weibliches Hormon und Bestandteil von schwangerschaftsverhütenden Pillen, kann ebenfalls später die Männlichkeit oder Weiblichkeit des Kindes beeinflussen, wenn es Schwangeren verabreicht wird. Eine unlängst an der University of Columbia durchgeführte Studie ergab, daß Mädchen, die Progesteron erhielten, sehr »feminin« waren — die jungen Männer aber auch. Wenn man bedenkt, daß Zehntausende von Progesteron-rezepten zur Verhütung von Fehlgeburten ausgeschrieben werden, begreift man die mögliche Gefahr für die Kinder.

34)  June Machover Reinish, Rutgen University. Ursprünglich berichtet in: Science, Nachdruck in: Sdence News, 14. März 1981, Bd. 199, S. 166.

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Wichtige neue Informationen über dieses Thema lieferte Gunter Dorner, der Leiter des Instituts für Endokrinologie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. 

Dorner untersuchte die Beziehungen zwischen Verhalten und Ereignissen im Mutterschoß, im besonderen hormonale Änderungen bei der Mutter und ihrem Fetus und Veränderungen im Gehirn. Er stellte fest, daß es zu permanenten Veränderungen im Hypothalamus kommt, wenn weibliche Ratten zu wenig Geschlechtshormone haben (die man ihnen künstlich entzog).

Diese Veränderungen beeinflussen später das Verhalten auf spezifische Weise. Wenn die hormonalen Abweichungen stark genug sind, kann eines der Ergebnisse Homosexualität bei den Nachkommen sein. Dorner weist darauf hin, daß weibliche und männliche Homosexualität durch den Mangel oder den Überschuß des männlichen Hormons Testosteron verursacht werden.

»Diese (Hormon-)Wirkungen werden lange vor der Pubertät in den Organismus eingeschrieben. Tatsächlich schon in verschiedenen Stadien des Fetus im Schoß. Sie beeinflussen nicht nur die Form und Gestalt, die der Körper haben, sondern auch die Art, wie er auf hormonale Einflüsse in der Pubertät reagieren wird.«35

Im zweiten Schwangerschaftsmonat beginnt die Geschlechtsdifferenzierung. Vor diesem Zeitpunkt sind im Embryo die Genitalien beider Geschlechter angelegt. Veränderungen der emotionalen Verfassung der Schwangeren während dieser Differenzierungsperiode können das hormonale Gleichgewicht und die Gehirnstruktur des Embryos beeinflussen. Das bedeutet, daß die zukünftige Geschlechtsorientierung teilweise durch Ereignisse etwa im zweiten Schwangerschaftsmonat bestimmt wird. Robert Goy vom Regional Primate Research Center der University of Wisconsin entdeckte, daß Rhesusäffinnen, die während der Trächtigkeit männliche Sexualhormone bekommen, Weibchen gebären, die zur Dominanz in der Gruppe neigen. Sie sind aggressiv, ahmen oft männliches Sexualverhalten durch Aufreiten nach, werden grob und können sogar männliche Genitalien haben,

Bedeutend ist diese Forschung, die eine Veränderung der Geschlechtshormone mit der späteren Entwicklung in Verbindung bringt, insofern als wir bereits Geschlechtshormonveränderungen bei unseren Patienten im Zusammenhang mit der Auflösung von Streß gefunden haben.

35)  Berichtet in Playboy, April 1982, S. 146.

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 Zurückblickend können wir also annehmen, daß früher Streß das Hormongleich­gewicht einer Schwangeren ebenso wie das ihres ungeborenen Kindes verändert hat. Wenn die Auflösung von Urschmerz die Sekretion von Sexualhormonen normalisieren kann, müßte seine Entstehung das normale Gleichgewicht stören. Anders gesagt: Wenn die Mutter während der Schwangerschaft »normal« ist, könnten wir auch erwarten, daß sie ein normales Hormongleichgewicht hat. Ist sie dagegen neurotisch oder unter Streß, müßten wir eine Art von Ungleichgewicht erwarten, das sich später im Kind widerspiegeln würde - vielleicht im Grad seiner Maskulinität oder Femininität. Zumindest wird dieses Ungleichgewicht mit dazu beitragen, wie das Kind auf seine spätere Umwelt reagiert.

Wir müssen immer die »kritischen Entwicklungsperioden« in Betracht ziehen, wenn wir von lebenslangen Veränderungen sprechen, die durch hormonale Änderungen während der Schwangerschaft verursacht werden. Bei einem Tierversuch wurde beispielsweise das männliche Sexualhormon Testosteron einer Gruppe weiblicher Ratten zu verschiedenen Zeiten verabreicht.36 Es zeigte sich, daß eine frühe Gabe wenig Wirkung hatte, wogegen eine Verabreichung während einer »kritischen Periode« (in diesem Fall nach neunzehn Tagen) viele dauerhafte Veränderungen bewirkte, unter anderem:

  1. Änderungen im Bau der äußeren Genitalien (ein hoher Prozentsatz der Ratten hatte veränderte Vaginen).

  2. Änderungen des funktionellen Zustands der Ovarien.

  3. Abnormales weibliches und männliches Sexualverhalten.

Die Schlußfolgerung der Wissenschaftler lautet: »Die Daten unterstützen die Vorstellung von einer bestimmten pränatalen Periode, während derer zirkulierendes Androgen die Entwicklung von Geweben beeinflußt, die weibliches Sexualverhalten bei der Ratte vermitteln.«

36  Huffman, Linda und Hendricks, Shelton E., »Prenatally Injected Testosterone Pro-pionate and Sexual Behavior of Femal Rats«, in: Physiology und Behavior, 1981, Bd. 26, S. 773-778.

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Es scheint eine permanente Veränderung der sexuellen Charakteristika und Tendenzen zu geben, sobald während der Schwangerschaft in das innere Milieu eingegriffen wird.

Eine Schwangere kann, wie unsere Untersuchungen gezeigt haben, diese Art von Veränderung ohne Fremd­injektionen durchmachen. Wieder entdeckten wir, daß Urschmerz die Funktion der Sexualhormone stört und daß seine Auflösung die Hormonausschüttung normalisiert. Die sexuelle Abweichung bei der Mutter kann ein signifikanter Faktor für die spätere (psychologische) sexuelle Abweichung des Kindes sein. Darunter ist nicht einfach nur zu verstehen, daß das Kind homosexuell wird. Es handelt sich vielmehr um eine gewisse Charakterveränderung, so daß die betreffende Person abnormal aggressiv, passiv, übersexualisiert oder abwegig in der Wahl der sexuellen Objekte wird. Wir dürfen selbstverständlich die Bedeutung späterer Kindheitserlebnisse nie unterschätzen, aber die Grundtendenzen, auf die sich diese Erlebnisse stützen, sind von Anfang an da.

Weibliche Nachkommen können durch den Streß der Mutter, der den Hormonausstoß ändert, auf eine sehr direkte Weise beeinflußt werden. Während des letzten Drittels der Schwangerschaft steigen der Östrogen- und der Progesteronspiegel der Mutter als Vorbereitung auf die Niederkunft. Von ihren anderen Funktionen abgesehen, scheinen diese Hormone einen schmerzstillenden Faktor zu enthalten, der radikal abfällt, sobald die Wehen beginnen. Dieser Abfall kann unbewußt die biologische Erinnerung an dieselbe Situation während der Geburt der Mutter wecken, als ihr Blutstrom ebenso stieg und sank wie der ihrer Mutter.

So wird ein Trauma hervorgerufen, das die Entbindung schmerzhaft und traumatisch machen kann. Das heißt, es wird eine Primäranlage von Urschmerz der Situation hinzugefügt, die sich aus den Geburtserinnerungen der Mutter selbst ergibt. Das scheint auch bei schmerzhaften Menstruationen der Fall zu sein: der monatliche Zyklus schafft das Geburtsschema der Hormonausschüttung nach, mit einem Anstieg in der Mitte und einem Absinken beim Beginn der Periode. Wir haben in vielen Fällen eine Regulation der Periode festgestellt, wenn Frauen Geburts-Primals auf der ersten Ebene haben. Das Absinken der Hormone beim Beginn der Periode scheint das Aufsteigen von Urschmerz zu ermöglichen.

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Bei Frauen, die Primals und einen guten Zugang haben, führt das zu Geburts-Primals. Bei Frauen ohne Primals und ohne Zugang kann es (was auch tatsächlich der Fall ist) zu Menstruations­schwierigkeiten, unregelmäßigen und schmerzhaften Perioden oder sogar zum monatelangen Ausbleiben der Periode führen. Das ist die vermutliche Verbindung zwischen Streß und Menstruationsproblemen. Sie ist im Grunde sicherlich hormonaler Natur, aber vorerst ist all das noch reine Hypothese.

Um die Verbindung präziser darzustellen: Der Fetus lernt etwas, während die Sexualhormone der Mutter zu- und abnehmen. Es kann sehr gut eine Assoziation zwischen Unbehagen und dem Absinken dieser Hormone geben. Das gilt sicherlich für die Geburt, wenn das Trauma beginnt, während die Hormone absinken. Tatsächlich haben wir festgestellt, daß Frauen in der Primärtherapie drei oder vier Tage vor der Menstruation einen viel besseren Zugang zu frühem Urschmerz haben als zu irgendeiner anderen Zeit im Laufe des Monats. Das ist auch die Zeit, in der sie am ehesten Feelings auf der ersten Ebene haben. Sie scheinen zu genau dem Zustand unmittelbar vor der Geburt zurückzukehren, wenn der Östrogenspiegel sinkt — weshalb Erscheinungen wie Migräne und Reizbarkeit so häufige Nebenwirkungen der Menstruation sind.

 

»Seitdem ich vor Jahren meine erste Regel hatte, mußte ich jeden Monat mindestens zwei Tage im Bett bleiben. Ich bekomme schwere Krämpfe, Schwächezustände und Schmerzen. Gewöhnlich erbreche ich mich. Mehrere Tage vor meiner Periode bekomme ich allmählich ein Gefühl der Qual und des Nichtwissens, was geschehen wird. Ich stelle mir auch vor, daß mir etwas Schlimmes geschehen wird, etwa daß ich sterbe oder jemanden verliere, der mir nahesteht.

Während der Therapie kam meine Periode mit derselben Furcht. Dann begann ich ein Feeling zu haben, bei dem sich die Furcht, die meine Periode betraf, in entsetzliche Angst in bezug auf meine Geburt verwandelte, mit einem ungeheuren Gefühl des bevorstehenden Todes. Während meines Geburts-Primals schlug mein Kopf gegen den Schoß meiner Mutter, bis ich das Gefühl hatte, explodieren zu müssen. Das Gefühl kam daher, daß ich nicht wußte, was vorging — es war dasselbe Gefühl, das ich vor und während meiner Periode habe, verstärkt durch die Tatsache, daß mir meine ersten Perioden völlig rätselhaft waren.

Mein Zustand verschlechterte sich so, daß ich oft viele Perioden übersprang. Jetzt habe ich als Ergebnis meiner Geburts-Primals regelmäßige Perioden, und ich brauche mich nicht mehr ins Bett zu legen.«

*

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Wir nehmen in diesem Fall an, daß der mit dem ursprünglichen Trauma verbundene Hormonabfall seine Spur hinterließ, so daß später die gleichen Muster hormonaler Veränderungen während des Menstruations­zyklus assoziierte psychologische Reaktionen der Furcht, der Verwirrung und der entsetzlichen Angst mit sich brachten. Die Gesamtheit der psychologischen und physiologischen Veränderungen genügte, um den Zyklus zu stören und schmerzhaft zu machen. Der Schmerz war eine »Hinzufügung« des ursprünglichen Traumas, und dazu kam die Vernachlässigung und die Scham, die die Patientin als Teenager in bezug auf die Menstruation erlebt hatte. Man hatte ihr nicht gesagt, sie sei etwas »Schlechtes«. Vielmehr war über das Thema nie gesprochen worden - was auf dasselbe hinausläuft.

Ich glaube, Östrogen kann teilweise als Analgetikum funktionieren, indem es mit dem Endorphin-System zusammenarbeitet, um während der Schwangerschaft und Geburt das Schmerzniveau von Mutter und Kind niedrig zu halten. Frauen berichten allgemein, sie hätten sich nie besser gefühlt als während der Schwangerschaft. Erst wenn der Östrogenspiegel nach der Geburt abrupt absinkt, kommen die »postpartum«-Depressionen, die junge Mütter so schwächen.

Haesslein und Niswander stellten fest, daß Frauen, bei denen der Östrogenspiegel während der Schwangerschaft plötzlich abfällt, mit größerer Wahrscheinlichkeit neurologisch geschädigte Kinder gebären.37 Hormonale Störungen können sogar, wie man nun annimmt, schwer genug sein, um vorzeitige Wehen auszulösen, die zu Totgeburten führen.

37  Haesslein, Hanns C. und Niswander, Kenneth R., »Fetal Distress in Term Pregnan-cies«, in: American Journal of Obstetrics and Gynecology, 137(2): 245-253, Mai 1980.

38  De Sa, D. J., »Stress Response and Its Relationship to Cystic (Pseudofollicular) Change in the Definitive Cortex of the Adrenal Gland in Stillborn Infants«, in: Archives ofDisease in Childhood, 53, S. 769-776, 1978.

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Bei einer Studie38 wurden die Nebennieren von einundvierzig totgeborenen Kindern untersucht, und im zellularen Aufbau von achtundzwanzig dieser Nebennieren wurde eindeutig ein Streßreaktionsschema entdeckt. (Die Nebennieren liegen den Nieren auf und produzieren Hormone, die sexuelle und Stoffwechselfunktionen regulieren.) Bei der Besprechung der Ergebnisse der Studie schrieb der Autor:

»Die in dieser Abhandlung vorgelegten Ergebnisse beweisen fetale Reaktivität auf nichtspezifische Stresse in utero ... Im besonderen stellen zystische Veränderungen und Zellzerfall die extremsten zu erwartenden Veränderungen dar. Es ist klar, daß die Entwicklung von Zysten eine ziemlich spezielle fetale Reaktion auf Streß ist, und sie ist am besten sichtbar bei den unreifsten Fetussen. Die Zellen, die eine Zytolyse durchmachten, zeigen die ultrastrukturellen und histochemischen Merkmale gestreßter Zellen, und man fühlt sich zu der Mutmaßung verleitet, daß dies eine biochemische Unreife in den Zellen der Nebennierenrinde des Kindes darstellt. So könnte ein solches unreifes Kind nicht imstande sein, koordiniert und ausdauernd auf eine Streßepisode zu reagieren .....

Man ist versucht anzunehmen, daß bei diesen Totgeburten mit einer ausgeprägten Streßreaktion in der Nebennierenrinde die produzierten Steroide wahrscheinlich zur Entwicklung einer Lungenreifung beitrugen und möglicherweise sogar zum Einsetzen der Wehen führten.«

 

Mit anderen Worten, Streß in utero führte zur Zellauflösung, zu hormonalen Abweichungen und möglicherweise zum Tod des Fetus.

Es gibt Beweise dafür, daß Streßhormone die Plazentaschranke überschreiten und damit eine direkte Wirkung auf den Fetus haben. Außerdem beeinflußt Adrenalin (eines dieser Hormone) den Tonus und die Kontraktionen des Uterus. Wenn es im Überschuß auftritt, kann es für sich allein die Geburt verzögern. Nor-adrenalin (ein weiteres Streßhormon) erhöht die Häufigkeit der Uteruskontraktionen und kann so eine Frühgeburt herbeiführen oder zumindest den Rhythmus des Geburtsvorgangs ändern, was sich ebenfalls wieder auf den Fetus überträgt. Je nach der Art der

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Neurose kann während der Schwangerschaft das eine oder das andere dieser beiden Hormone im Überschuß vorhanden sein. Da Steroide in die Plazenta eindringen, ist es möglich, daß das Kind durch geringfügige, aber signifikante Änderungen des fetalen Hormongleichgewichts eine Neigung zu Diabetes mitbekommt: die Streßhormone ändern seine Glukosetoleranz. Eine gestreßte Mutter kann ein Kind mit einem erhöhten Glukosespiegel bekommen. Wenn die Mutter zu hohem Blutdruck neigt (der ein weiterer üblicher Streßindikator ist), wird sie mit größerer Wahrscheinlichkeit ein kleineres Kind gebären. Auf eine noch nicht ganz geklärte Weise beeinflußt dieser Streß die Wachstumshormone des Fetus signifikant. Aber diese Änderung der Wachstumshormone hat noch weitere und spätere Folgen: sie beeinträchtigt Entwicklungs- und Reifungsprozesse, und da das Wachstumshormon eine Rolle bei der Wundheilung spielt, wird es auch bestimmen, wie wirksam der Heilungsprozeß bei jeder körperlichen Verletzung verläuft.

Hormonale Veränderungen infolge von Streß zeigen die Einheit von Physiologie und Psychologie. Die sehr frühen Ereignisse, die das Physiologische formen, formen auch die Persönlichkeit. Diese Ereignisse verändern die Hormone, die das Wachstum und die sexuellen Verhaltensmuster beeinflussen, die ihrerseits wieder ihre Wirkung auf Emotionen, Gefühle, spätere Einstellungen, Überzeugungen und Ideen haben.

Es ist ziemlich beunruhigend, sich vorzustellen, daß der Geschlechtstrieb und die sexuellen Neigungen schon im Mutterschoß vorgeformt werden können. Wie schon gesagt, ist ein wichtiger Beweis für die Wahrheit dieser Behauptung die Tatsache, daß die Umkehrung früher Traumata in Primais eine beständige Normalisierung der Hormonausschüttung zur Folge hat. Die äußeren Anzeichen dieses Normalisierungsprozesses können regelrecht dramatisch sein: wir haben bei einigen unserer männlichen Patienten zum erstenmal Bartwuchs und Brustbehaarung erscheinen sehen, und wir haben bei einigen unserer Patientinnen die Entwicklung von Brüsten beobachtet — immer mit dem Wiedererleben eines sehr frühen Traumas. Zu diesen hormonalen Veränderungen gehören entsprechende Persönlichkeitsveränderungen. Körper und Geist sind aus einem Stück. Keine »geistige« Wandlung kann bedeutungsvoll sein ohne eine totale physiologische Wandlung, denn der Geist entwickelt sich aus den spezifischen physiologischen Vorgängen, die anfangs das Leben ausmachen.

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     Unerwünschte Schwangerschaft     

 

Es gibt vermutlich keinen schwereren Streß für einen Fetus als den, seiner Mutter unerwünscht zu sein. Wir haben einen persönlichen Bericht üder die Auswirkungen eines solchen Stresses im ersten Teil dieses Kapitels gesehen. Die Forschung beginnt endlich, die spezifischen Folgen einer Ablehnung durch die Mutter in utero aufzuzeichnen: Mißbildungen, häufigere Fehlgeburten und Totgeburten und eine höhere perinatale Mortalität.

Blomberg wollte untersuchen, »ob emotionaler Streß bei einer schwangeren Frau eine schädliche Wirkung auf die fetale Entwicklung in Form von Mißbildungen haben kann«.39 Er verwendete das Ansuchen um Schwangerschaftsunterbrechung als Anzeichen für emotionalen Streß, das heißt, es wurde angenommen, daß Schwangere, die um eine Abtreibung angesucht hatten und abgewiesen worden waren, unter emotionalem Streß standen und die Schwangerschaft nicht wünschten, eben weil sie eine Abtreibung vornehmen lassen wollten. Alles in allem untersuchte Blomberg die Kinder von 1263 Frauen, die Abtreibungen gewünscht hatten und abgewiesen worden waren. Er kam zu dem Schluß:

»Die Ergebnisse können als Beweis für die Hypothese angesehen werden, daß Streß bei einer schwangeren Frau, definiert durch den Faktor einer unerwünschten Schwangerschaft, die fetale Entwicklung beeinträchtigen und zu einem gehäuften Auftreten von Mißbildungen führen kann.«

39  Blomberg, S., »Influence of Maternal Distress During Prcgnancy on Fetal Malformation«, i» Acta Psychiatrica Scandinavia, 62, S. 315-330,1980.

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Interessanterweise stellte er fest, daß unter den auftretenden Mißbildungen der Wolfsrachen (die Gaumenspalte) besonders häufig war. Blomberg stellte die folgende Hypothese auf:

»Kummer während der Schwangerschaft infolge eines intensiven Wunsches, die Schwangerschaft abzubrechen, kann den Fetus durch psychoendokrine Mechanismen oder durch Störungen im Blutkreislauf der Plazenta direkt schädigen. Wir können daher mutmaßen, daß Hypoxie (Sauerstoff­mangel) ein teratogener (Mißbildungen verursachender) Faktor sein könnte, aber noch fehlt der empirische Beweis dafür, daß Mißbildungen dadurch entstehen.«

 

In dem folgenden Bericht sehen wir einen Patienten mit einem doppelten Trauma: er wurde mit einem Wolfsrachen geboren, und er wurde wegen seines geringen Geburtsgewichts in einem Inkubator isoliert. Er wurde allein und entstellt geboren, und so fühlte er sich auch während eines großen Teils seines Lebens:

»Ich wurde zur normalen Zeit geboren, wog aber weniger als fünf Pfund. Ich hatte außerdem Mißbildungen, die man Hasenscharte und Wolfsrachen nennt. Ich verbrachte die ersten fünf Tage meines Lebens in einem Inkubator. Am dritten Tag begann ich zu sterben, und meine Eltern gaben mir rasch einen Namen, damit ich in den Himmel komme, wenn ich wirklich sterbe. Ich konnte wegen meiner Hasenscharte nicht saugen, und meine Mutter hatte einen solchen Schock, als sie mich sah, daß sie mich nicht stillen konnte.

Später im Leben wurde ich viel allein gelassen. Meine Eltern arbeiteten beide ganztägig. Ich war beinahe mein ganzes Leben lang allein. Ich glaube, ich habe mir in meinem gegenwärtigen Leben einen isolierten Inkubator geschaffen. Ich arbeite allein, ich wohne allein, ich gehe abends nicht aus, und ich rufe meine wenigen Freunde an, anstatt mich mit ihnen zu treffen. Ich sitze allein in Cafes und lese. Ich bin ein sehr einsamer Mensch, obwohl ich gern mit Leuten zusammen bin.

Unlängst habe ich angefangen, ein Feeling zu haben: <Wenn niemand kommt, muß ich sterben>, und ich habe es mit diesem Erlebnis im Inkubator in Verbindung gebracht, als ich wirklich isoliert war zu einer Zeit, in der ich das Bedürfnis hatte, gehalten und berührt zu werden.

Schließlich habe ich von meiner Geburt geträumt. In den Träumen gehe ich durch viele Räume und komme schließlich ins Freie hinaus.

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Ein Taxi wartet auf der Straße, aber kein Taxifahrer, daher gehe ich in den Tunnel zurück und würde am liebsten aufgeben. Vor der Therapie nahm ich in meinen Träumen immer das Taxi und fuhr davon. Jetzt beginne ich, die richtigen Feelings zu haben, und mir wird klar, daß ich im wirklichen Leben auch immer Taxis nahm, anstatt selbst zu fahren, weil ich wollte, daß sich jemand um mich kümmert. Das brauche ich nicht mehr.«

*

Es kann kaum überraschen, daß ein anderer Wissenschaftler ein signifikant häufigeres Auftreten von Mißbildungen bei zur Adoption freigegebenen Kindern feststellte40, wobei wieder die Ablehnung des Kindes durch die Mutter als ursächlicher Faktor der Mißbildungen betrachtet werden muß.

 

   Andere schädliche Einflüsse    

 

Es ist nachgewiesen worden, daß der Fetus auf Temperaturschwankungen der Plazenta reagiert, das heißt auf die innere Körpertemperatur der Mutter. Wenn die Mutter Fieber hat, muß es auch der Fetus haben. Wenn die Temperatur der Mutter erhöht ist, weil sie sich in einem hyperenergetischen, neurotischen Zustand befindet, müssen wir annehmen, daß dies eine prägende Wirkung auf das allgemeine Temperaturniveau des Fetus hat. Unserer Erfahrung nach ist erhöhte Temperatur einer der besten Streßindikatoren, da sie zeigt, daß der Körper stärker arbeitet und mehr Energie in Form von Wärme produziert.

Man könnte endlos über all die verschiedenen schädlichen Wirkungen schreiben. So beeinflußt Streß, zum Beispiel, den Säurespiegel in unserem Körper, der wiederum andere Wirkungen hervorruft — einen übersäuerten Magen, um nur eine zu nennen. Dieser erhöhte Säurespiegel macht den Fetus hyperazid und prägt eine Tendenz zu diesem Zustand ein, wann immer später Streß auftritt. Das lukrative Geschäft mit Medikamenten gegen überschüssige Magensäure beweist, daß Millionen Menschen dieses Problem haben.

40  Bohman, M., »A Comparaäve Study of Adopted Children, Fester Children and Olildren in Their Biologicd Environment Born After Undesired Pregnandes«, aus Ada Paediat. Scand., Suppl. 221.

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Mein Argument ist ganz einfach: Wenn man chronischen Schmerz aus dem System der Mutter entfernt und für die richtige Art von Geburt sorgt, können beinahe alle erwähnten schädlichen Wirkungen vermieden werden. Es hilft selbstverständlich, eine angenehme Geburt mit richtiger Atmung etc. wie nach der Lamaze-Methode zu haben. Aber wir müssen bedenken, daß das kein Ersatz für ein »sauberes« physisches System der Mutter ist. Urschmerz ist der Hauptschuldige beim Geburts- und Vorgeburtstrauma. Er ist gefährlich, weil er unbewußt, unsichtbar und unerkannt bleibt. Er wird daher oft als eine Kraft ignoriert, während er in Wirklichkeit die Kraft ist.

 

    Krippentod    

»Krippentod« ist der Laienausdruck für das Syndrom des plötzlichen Säuglingstodes. Er ist die Hauptursache des Säuglings­sterbens in den Vereinigten Staaten. Säuglinge sterben plötzlich und unvorhersehbar während des normalen Schlafes, im allgemeinen im Alter von zwei bis drei Monaten. Kein einzelner Faktor, der den Tod verursacht, wurde bisher entdeckt. Wissenschaftler stellen nun jedoch fest, daß Symptome, die den Krippentod voraussagen, bei der Geburt erkennbar sind41 was bedeutet, daß das, was im Schoß geschah, weiterhin eine entscheidende, wenn nicht sogar tödliche, Rolle im Leben des Neugeborenen spielt.

Interessanterweise zeigte sich, daß Geschwister, die nach an Krippentod gestorbenen Säuglingen geboren werden, vier- bis sechsmal so häufig wie andere Kinder Gefahr laufen, ebenfalls an diesem Syndrom zu sterben. Mit anderen Worten, wenn eine Mutter ihr erstes Kind durch Krippentod verliert, sind alle Kinder, die sie noch zur Welt bringt, in einem viel höheren Maße durch Krippentod gefährdet. Daraus kann man nur zu leicht folgern, daß eine subtile genetische Abweichung verantwortlich sein muß, aber ich glaube, was es wirklich bedeutet, ist, daß die subtilen Faktoren seitens der Mutter, die den Krippentod verursachen, einfach konstant bleiben.

41  Aus einem Bericht von Rosenblith und Huntington in: Behavior Today, 18. April 1977.

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Eine andere Studie von Richard L. Naeye von der Pennsylvania State University ergab, daß es möglich ist, eine Checkliste von Faktoren zu verwenden, um diejenigen Neugeborenen zu ermitteln, die mit großer Wahrscheinlichkeit den Krippentod sterben werden.42 Das weist wieder darauf hin, daß prä-natale Bedingungen entscheidender sein könnten als genetische Kodierung.

Nun häufen sich die Hinweise darauf, daß Sauerstoffmangel die Ursache des Krippentodes sein könnte. Hoppenbrouwers und seine Kollegen stellten fest, daß die Geschwister von Krippentodopfern im Alter von einer Woche eine rasche Atmung hatten, die in verschiedenen Graden bis zum Alter von sechs Monaten andauerte. Sie hatten das Gefühl, daß die Säuglinge rascher atmeten, um einen chronischen Sauerstoffmangel, der gewöhnlich im Mutterleib beginnt, auszugleichen.43

Wir haben gesehen, daß Anoxie eine Nebenwirkung verschiedener Faktoren einschließlich der emotionalen Verfassung der Mutter ist. Wenn das Kind in utero chronisch niedrige Sauerstoff Spiegel hat, weil die Mutter chronisch gespannt und ängstlich ist, wird es später weniger gut imstande sein. Streß zu bewältigen. Hoppenbrouwer und seine Kollegen schreiben in demselben Sinne:

»Die Ätiologie des Krippentodes wird seit einigen Jahrzehnten gesucht und ist immer noch unklar. Die Undefinierbarkeit dieser Krankheit legt die Annahme nahe, daß eine Konstellation von geringen Veränderungen, deren jede allein den Tod nicht erklären kann, interagiert, um eine Anfälligkeit für den Krippentod zu schaffen. Neueres Material deutet darauf hin, daß die Risikokinder schon in utero bedroht worden sein könnten ..... Geringfügige abweichende Stimuli im pränatalen und postnatalen Leben können kompensatorische physiologische Reaktionen auslösen oder existierende kleine Abnormitäten verschlimmern. Diese Anpassungen sind anfangs adaptiv, können aber auf die Dauer eine Sequenz von Ereignissen einleiten, die die abnormale Funktion eher erweitert als begrenzt. In diesem Fall stellt die beschleunigte Atmung eine solche adaptive Reaktion dar. Von der Mehrheit der Säuglinge kann man auch erwarten, daß sie mit einer nur geringen oder keiner klinischen Symptomatologie erfolgreich kompensiert. Bei dem einen oder anderen Säugling kann aber die Akkumulation kleiner Abnormitäten oder das Auftreten eines plötzlichen Stresses eine Belastung darstellen, die der Säugling nicht mehr zu kompensieren vermag.«44

42  Naeye, Richard L., »Crib Death Factors«, in: Scientific American, 1980, 242(4): 56-62.

43  Hoppenbrouwers, Toke, Hodgman, Joan E., McGinty, Dennis, Harper, R. M. und Sterman, M. B., »Sudden Infant Death Syndrome: Sieep Apnea and Respiration in Subsequent Siblings«, in: Pediatrics, Bd. 66, No. 2, August 1980.

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     Die äußere Umwelt    

 

Untersuchungen zeigen nun, daß der Fetus schon von einem frühen Alter an auf alle Arten von aus der äußeren Umwelt kommenden Reizen reagiert. Ein gutes Beispiel ist die Reaktion auf Geräusche. Da seine Eustachschen Röhren mit Fruchtwasser gefüllt sind, nahm man lange an, daß der Fetus keine Geräusche »hören« könne. Heute weiß man, daß das Kind von der 28. Woche der Schwangerschaft an aktiv auf Geräusche aller Art reagiert.

Schwangere berichten oft, daß ihre Kinder als Reaktion auf Musik extrem aktiv werden, und tatsächlich ändern sich der Herzschlag und die Bewegungsmuster beträchtlich. Bei einer Untersuchung wurde der Mutter gefühlvolle Musik vorgespielt, und die Lebensfunktionen und Bewegungen des Kindes in utero wurden gemessen. Es zeigte sich, daß der Fetus in Übereinstimmung mit den Reaktionen der Mutter reagierte. Er bewegte sich mehr und hatte einen rascheren Herzschlag, wenn die Mutter emotional bewegt war.

Es erscheint logisch, daß manche Arten von Musik für das Kind beruhigend sein müssen, während andere streßhaft, überstimulierend oder was immer sind. Und wenn das Kind auf Musik reagiert, so muß es auch auf andere Geräusche reagieren, vielleicht auch auf den Lärm eines Streites. Kinder im Mutterleib zeigen bei plötzlichen Geräuschen tatsächlich eine Schreckreaktion. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß sie auf Schreie reagieren.

44  Hoppenbrouwers et al., op. rit., S. 213.

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Tierversuche haben gezeigt, daß Lärm sehr negative Wirkungen auf erwachsene und junge Tiere haben kann. Bei einem Experiment wurde festgestellt, daß neugeborene Mäuse, deren pränatale Umwelt ruhig gewesen war, größer und gesünder waren als die Jungen von Müttern, die man verschiedenen Graden von Lärm ausgesetzt hatte. Bei der »Lärmgruppe« war auch die Anzahl der Frühgeburten größer. Der Anteil der schlecht entwickelten neugeborenen Mäuse und der Frühgeburten stieg direkt mit der Zunahme des Lärms.45

»Lärm« ist aber auch ein innerer Prozeß. Es gibt eine gewisse biologische Lärmkulisse, die in jedem von uns ständig vorhanden ist: die »Geräusche« des arbeitenden Organismus. Es ist möglich, daß eine neurotische Mutter eine lautere Lärmkulisse mit allen schädlichen Wirkungen hat. Ein stark erregtes System muß anders »klingen«, aber das ist ein Klang, den die Wissenschaft erst noch nachweisen und messen muß. Mir scheint, daß sich ein ruhiges inneres Milieu in einem »Klang« widerspiegelt. Dieser kann sich seinerseits später in gewissen Geräuschempfindlichkeiten ausdrücken.

Manche von uns schlafen beispielsweise sehr gut bei Lärm, aber nicht bei Licht. Andere wieder wachen beim leisesten Geräusch auf, schlafen aber gut im hellen Sonnenlicht. Diese Neigungen müssen irgendwoher kommen. Ich nehme an, sie stammen aus der Erfahrung, aus einer sehr, sehr frühen Erfahrung. Das Hören von »Geräuschen« bei gewissen psychotischen Zuständen könnte auch aus einer Erfahrung dieser Art stammen. Vorerst ist all das nur Hypothese und Vermutung. Aber deshalb darf man es nicht einfach ignorieren. Auch die Beobachtung ist ein gültiges wissenschaftliches Verfahren, und wir haben die Beobachtungen vieler Jahre, um unsere Vermutungen zu begründen.

Jeder streßhafte Umweltfaktor fordert seinen Zoll vom sich entwickelnden Kind — gewöhnlich einen höheren Zoll als vom Erwachsenen. Die Umweltverschmutzung, beispielsweise, ist wahrscheinlich für einen Fetus mindestens doppelt so schädlich wie für uns. Eine Liste streßhafter Umweltfaktoren wäre endlos. Der gesunde Menschenverstand und ein gewisser Grad von Sensibilität können einer Schwangeren aber sagen, was sie in ihrer Umwelt meiden muß.

45  Montagu, op. dt., S. 190.

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Ein wichtiger Punkt, der in diesem Abschnitt verstanden werden muß, ist jedenfalls, daß das Kind in utero eine gewisse Beziehung zur Welt durch seine Mutter lernt — durch die Beschaffenheit der Umwelt, der sie sich aussetzt, und durch ihre Reaktionen auf diese Umwelt. Das Kind gestaltet seine ersten Eindrücke von der Welt durch das Erlebnis der Eindrücke seiner Mutter. Es ist anzunehmen, daß diese Eindrücke das Kind dafür prädisponieren, die Art von Welt zu »erwarten«, die seine Mutter ihm mitgeteilt hat. Eine Mutter, die die meiste Zeit zornig und feindselig ist, teilt dem Kind diese Realität mit. Auf irgendeiner Ebene und auf irgendeine Weise kann Feindseligkeit als prototypische Orientierung in der Welt dem Kind eingeprägt werden. Die Prädisposition der Persönlichkeit ist wahrscheinlich nicht so sehr genetisch bestimmt, wie wir gedacht haben. Ein »launenhaft geborenes« Kind kann einfach schon im Mutterschoß Launenhaftigkeit als vorherrschende Reaktionsweise erlernt haben.

Die Wechselbeziehung zwischen dem Individuum und der Welt beginnt eindeutig schon lange, bevor wir tatsächlich ein Teil der Welt sind. Wir »sehen«, »hören« und »fühlen« tatsächlich die Außenwelt, während wir noch im Mutterschoß sind, aber alle Wahrnehmungen werden durch die emotionalen Reaktionen der Mutter gefiltert und vermittelt. Das Kind in utero »sieht« einen Verkehrsunfall nicht, aber es erlebt die Wirkung dieses Anblicks auf seine Mutter. Das Kind lernt vom Augenblick der Empfängnis an, auf die Welt zu reagieren. Von dem Augenblick an, in dem es ein Teil der Lebensprozesse der Mutter wird, lernt es etwas über das Leben. Und wenn dieses Leben ein neurotisch erlebtes ist, so ist das erste Wissen des Kindes von der Welt, die es betreten soll, das Wissen von der Neurose.

 

    Schlußfolgerungen und Implikationen    

 

Der Fetus ist ein kleiner sich entwickelnder Mensch. Daß er auf alle Arten von Input reagiert und fähig ist, diesen Input zu kodieren und als Erinnerung zu speichern, wird nicht allgemein anerkannt. Viele glauben noch, der Fetus sei mehr Protoplasma als Person. Aber selbst wenn wir ihn als primitive, undifferenzierte Lebensform betrachten: es gibt Beweise für Reaktionen und Erinnerungsfähigkeit bei weit primitiveren Lebensformen als dem menschlichen Fetus. Man hat, zum Beispiel, nachgewiesen, daß Erbsenranken auf Reize reagieren, die Information speichern und später aufgrund der Erinnerung reagieren.46

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Klar ist jedenfalls, daß sogar primitive Zellen auf Reize reagieren und Information kodieren und speichern. Das gilt nicht nur für die Nervenzellen, sondern für all die verschiedenen Zelltypen des menschlichen Organismus. Wie wir noch sehen werden, ist das von Bedeutung, denn es gibt eine ganze Anzahl von Beweisen für eine zellulare Erinnerung in der Primärtherapie — Beweise wie das Wiedererscheinen von durch die Geburtszange verursachten Blutergüssen, während ein Patient ein Geburtstrauma wiedererlebt. Das zeigt wiederum, warum es für jede auf tiefgehende biologische und psychologische Veränderung abzielende Psychotherapie wichtig ist, alle Erinnerungsebenen zu berücksichtigen. Es gibt Information in allen unseren Zellen, auf die wir ständig reagieren, und ein großer Teil dieser Information wurde in den frühesten Lebenstagen eingeprägt.

Gibt es nichts, was Mütter für ihre werdenden Kinder richtig machen können? Mit dem Kind in ihrem Leib »gut auskommen«, das ist wahrscheinlich das Wichtigste, was eine Mutter tun kann. Aber sie kann nicht wirklich gut mit ihrem Kind auskommen, wenn sie selbst neurotisch ist. Letzten Endes läuft wirklich alles darauf hinaus, etwas gegen die eigene Neurose zu tun — und dagegen kann man etwas tun.

Eine neurotische Mutter neigt dazu zu rauchen und zu trinken und sich zu vernachlässigen. Ihr eigener Urschmerz ist eine Einprägung, vor der sie nicht davonlaufen kann. Es hilft nichts, einer neurotischen Schwangeren zu sagen, daß sie Streß vermeiden soll, denn das kann sie ebensowenig tun, wie vor ihrer eigenen Physiologie davonlaufen. Unglücklicherweise gibt es keinen Willensakt, keine Motivation, keinen Grad von Aufrichtigkeit, der für sich allein die unvermeidlichen Wirkungen der Neurose der Mutter aufheben kann. Daher sind die Alternativen sehr begrenzt: eine Frau muß sich entweder voll und ganz mit ihrem eigenen Urschmerz auseinandersetzen, bevor sie ein Kind empfängt, oder ein sehr hohes Risiko eingehen, ihre Neurose an das Kind weiterzugeben. Der Versuch, ihre Neurose durch irgendeine neunmonatige Schnelltherapie zu beseitigen, während sie schwanger ist, wird die Dinge wahrscheinlich nur noch verschlimmern.

46)  Jaffe, »Experimental Separation of Sensory and Motor Functions in Pea-Tendrils«, in: Sieence, Bd. 195, 14. Jan. 1977, S. 191 f.

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Zur Zeit ist die Anti-Abtreibungsbewegung »Recht auf Leben« in Mode. Die Frage der Abtreibung sprengt den Rahmen dieses Buches, aber einige Bemerkungen sind doch angebracht. 

Der Fetus ist ein Lebewesen. Damit er ein richtiger Mensch wird, braucht er einen Kortex, der sich erst später entwickelt. Die Abtreibung bedeutet somit die Tötung eines Lebewesens, aber nicht eines Menschen mit einem entwickelten Kortex. 

Vielleicht ist das Haarspalterei. Aber das Recht auf Leben sollte in Wirklichkeit das Recht auf ein annehmbares Leben bedeuten, nicht auf ein Leben voll von Defekten, Handikaps, Schmerz und Seelenqual.

Dies alles haben aber unerwünschte Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Niemand hat in Anbetracht dessen das Recht, jemanden zu einem elenden Leben zu verdammen. Aber im Grunde ist die Sache ganz einfach. Der Körper einer Frau gehört ihr. Niemand hat das Recht, ihr zu sagen, was sie damit tun soll. Diejenigen, die glauben, dieses Recht zu haben, die behaupten, für das Leben zu sein, sind oft dieselben, die für den Tod sind — für die Todesstrafe, für die erhöhte Produktion von Werkzeugen des Todes, das heißt von Kriegsmaterial etc. Sie treten für humanitäre Ziele ein, aber ein Kind zu zwingen, ohne Liebe zu leben, benachteiligt sein ganzes Leben lang, ist kaum humanitär.

Rechte hat aber auch der Fetus: das Recht auf ein Leben der Liebe und des Glücks, das Recht, nicht sein ganzes Leben in einer Anstalt zu verbringen, das Recht, nicht an schweren Krankheiten und Psychosen zu leiden. Die Forschung hat gezeigt, daß das die Folgen einer erzwungenen Geburt sind, das Vermächtnis des Unerwünschtseins.

Es sind vorwiegend Männer, die diese Gesetze für Frauen machen, und ihr Bewußtsein für das, was psychischer Streß der Mutter, dem Kind und später dem Erwachsenen antut, muß stärker geweckt werden. Das Problem wurde in einem unlängst erschienenen Artikel hervorgehoben:

 

»Der Oberste Gerichtshof von New Jersey erkannte einer Frau das Recht zu, ihren Gynäkologen zu verklagen, weil er es verabsäumt hatte, sie von der Möglichkeit der Amnioskopie zu unterrichten, um das Risiko, ein Kind mit Downscher Krankheit (Mongolismus) auszutragen und somit das Risiko einer <leidvollen Geburt> abzuschätzen.
Wie groß ist die Verantwortung eines Arztes, der eine Patientin nicht vor den Gefahren warnt, die Tabak, Alkohol oder Drogen für ihr ungeborenes Kind darstellen? 
Wird es noch lange dauern, bis die Gerichte entscheiden, daß eine solche Information zur ärztlichen Standardpraxis wird? 
Könnte ein Fetus, der so geschädigt, aber lebend geboren wurde, wegen eines <leidvollen Lebens> klagen? .....

[Wie verhält es sich mit dem] Individuum, das Hyperkinese oder geistige Retardation entwickelt, weil die Mutter geraucht, getrunken oder irgendwelche Drogen genommen hat? 
Ein <Fetus>, der später ein Mensch wird, könnte Entschädigung verlangen. Wie groß ist also das Risiko für die schwangere Frau, von ihrem eigenen Kind wegen Handlungen, die Schäden bei diesem Kind verursachten, verklagt zu werden? 
Obwohl nur wenige etwas dagegen haben würden, daß eine Frau Risiken für sich selbst eingeht — hat sie das Recht, die Wahl für ihren Fetus zu treffen?«

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Janov 1983