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7  In der Zeit gefangen: Die psychologischen Implikationen des Geburtstraumas

 

 

 

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Wenn zu viel Schmerz in einem frühen Trauma vorhanden ist und die erste Bewußtseinsebene ihn nicht mehr zurückhalten kann, nimmt die zweite Ebene den Überschuß auf. Die zweite Ebene ist zuständig für Emotionen und die Persönlichkeit, und vieles, was wir als Erwachsenenverhalten erleben, wird davon beeinflußt, wie die zweite Ebene den frühen Schmerz zerstreut. Die Art dieser Zerstreuung wird wiederum bestimmt von den spezifischen Merkmalen des Geburtstraumas selbst und stellt dessen psycho­logische Implikationen dar.

Psychologisch gesehen, formt und steuert der Urschmerz Persönlichkeitsmerkmale wie Ehrgeiz, Abhängigkeit, Selbständigkeit, Beweglichkeit, Unbeweglichkeit, Unentschlossenheit und dergleichen, und er schafft die emotionale Disposition, mit der wir auf die Welt reagieren — optimistisch, verzweifelt, rebellisch und so fort. Der Urschmerz ruft bei den einen emotionale Ausbrüche und Wutanfälle hervor, bei anderen wieder ist er die treibende Kraft hinter Phobien und Zwängen. Körperlich kann er Spannung, Stottern, Tics, Erregung und Zittern zur Folge haben. Und im Alltagsleben des Erwachsenen kann er sich in persönliche Beziehungen, Ehen, Lebensstile und Karrieren einschleichen.

Das ist eine ziemlich lange Liste von Verzweigungen, aber wir müssen wieder bedenken, daß es eine Liste von Symptomen und Manifestationen ist. Tatsächlich scheint es ebenso viele Erweiterungen des Geburts­traumas auf der zweiten Ebene zu geben, wie es Menschen gibt, die Geburtstraumata hatten. So muß es auch sein, denn jeder Mensch ist einzigartig und reagiert einzigartig. Das einigende Element, das uns vor einem hoffnungslosen Labyrinth einzigartiger Reaktionen bewahrt, ist der Urschmerz. Er ist die gemeinsame Quelle, der wir uns um einer Auflösung willen zuwenden.

Sprechen wir zunächst über den Begriff der unbewußten Bedeutung. Wie kann etwas von Bedeutung und dennoch unbewußt sein? 

Ein primärer Geburts­schmerz hat eine spezifische Bedeutung, die zur Zeit seines Auftretens verschlüsselt wird.

Während sich das Individuum entwickelt, wird die Bedeutung in alle Aspekte des Bewußtseins eingewoben. Obwohl diese Bedeutung erst begrifflich erfaßt werden kann, wenn das Gehirn dazu imstande ist, existiert sie nichtsdestoweniger immer: sie wohnt dem Erlebnis selbst inne. Unterdessen, während sich die kognitiven Fähigkeiten entwickeln, entfaltet sich auch eine ganze Geschichte mit den Eltern des Kindes. In den meisten Fällen ist es eine Geschichte, die weitere unbewußte Bedeutung für das ursprüngliche Geburtstrauma liefert.

Beispielsweise kann jemand, dessen Mutter nie für ihn da war, sein Geburtstrauma so interpretieren: »Es war nie jemand da, der mir half. Meine Mutter hat mir von der Geburt an nie geholfen.« Ein anderer kann das gleiche Trauma so erleben: »Sie hat mich für alles, was ich bekam, arbeiten lassen.« Diese Deutung wird gewählt, wenn das später tatsächlich der Fall war. Kurz, das Trauma ist in eine ganze historische Konfiguration einbezogen, es ist nicht ein isoliertes und zusammenhangloses Phänomen.

Zu früh geboren zu werden, hat viele unbewußte Bedeutungen für das Kind. Einige davon können sein: »Ich bin dafür nicht bereit«, »man läßt mich nicht fertigmachen« oder »laß mich nicht geben«. Das hat eine physiologische Bedeutung. Während wir uns entwickeln und imstande sind, Dinge zu durchdenken, wird diese spezifische Bedeutung innerlich aufgenommen und mit gegenwärtigen Ereignissen in Verbindung gebracht. Die auf das Ereignis von heute projizierte Bedeutung ist genau dieselbe, die bei der Geburt vorhanden war. Daher kann das Wiedererleben eines Schmerzes der zweiten Ebene wie »sie war nie für mich da« oder »verlaß mich nicht — laß mich nicht allein« schließlich zurückgeführt werden auf das Trauma der ersten Ebene, zu früh durch den Geburtskanal geschickt worden zu sein. Sobald die Komponente des Feelings auf der zweiten Ebene aufgelöst ist, kann der Betroffene tiefer in seine Verbindungsglieder eindringen.

Einer unserer Patienten hielt eine Rede, als ihm der Moderator sagte, daß er seine Zeit überziehe und rasch zum Ende kommen müsse. Der Patient begann unter akuter Angst zu leiden, war aber unfähig, das Podium zu verlassen. Er mußte alles sagen, was er vorbereitet hatte. Später gewann er durch ein Primal die Einsicht, daß er eine Frühgeburt gewesen war: »Du hast mir meine Zeit weggenommen, Mama.«

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Die Rede war das unbewußte Analogon zum Geburtsvorgang. Der Mann maß der Tatsache, daß er mitten in einer Rede unterbrochen wurde, eine spezifische, unbewußte Bedeutung bei: einen laufenden Vorgang (die Geburt) abzubrechen, bedeutete möglicherweise den Tod. Anders gesagt, die physiologische Einprägung von der Geburt her (Aufhören heißt Sterben) blieb im System und wurde mit einem andersgearteten psychologischen Erlebnis — in diesem Falle, mitten in einer Rede unterbrochen zu werden — wieder verknüpft. Dieser Mann mußte die ganze Redesequenz ablaufen lassen, so wie er sein ganzes Leben lang dazu getrieben worden war, zwanghaft alles bis zum letzten, kleinen Detail zu beenden, was er je begonnen hatte. Als er schließlich den wirklichen Zusammenhang seines Zwanges fühlte, war er imstande, ihn auszutilgen.

Vielleicht ist der Begriff der unbewußten Bedeutung in Verbindung mit Kindheitsschmerzen (das heißt, Schmerzen der zweiten Ebene) leichter zu verstehen. So viele von uns vertragen, beispielsweise, keine Kritik. Wir verteidigen uns, geben anderen die Schuld, leugnen oder was immer, um nur ja nicht das Gefühl haben zu müssen, daß wir etwas falsch gemacht haben. Für manche von uns genügt schon leichte Kritik, um Wut oder eine schwere Depression auszulösen. Woher kommt diese Angst, unrecht zu haben? Sie hat eine unbewußte Bedeutung, und diese Bedeutung ist: »Man liebt mich nicht.« Wir können vielleicht die Realität, unrecht zu haben, jetzt nicht akzeptieren, weil wir als Kinder ständig kritisiert wurden, wenn wir unrecht hatten, und das bedeutet, daß unsere Eltern uns nicht liebten. Oder die Bedeutung könnte sein: »Mehr kann ich nicht ertragen. Es ist zu viel.« In der Jugend ständig kritisiert worden zu sein, macht jede weitere Kritik, wenn wir erwachsen sind, unerträglich — sie ist der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt.

Jetzt kritisiert zu werden, nimmt dieselbe Bedeutung an wie früher. Der ursprüngliche Kindheitsschmerz wird unbewußt auf die Gegenwart übertragen. Das gegenwärtige Ereignis hat eine zusätzliche Bedeutung; es ist nicht mehr die eigentliche Sache selbst. Diese zusätzliche Bedeutung ist in Wirklichkeit ein Kennzeichen der Neurose. Die Schwierigkeit liegt darin, daß das Hinzugefügte zutiefst unbewußt ist.

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Die wahre Kenntnis und Deutung des Traumas — seine unbewußte Bedeutung — kommt mit seinem totalen Wiedererleben. Dann erst werden die tiefen motivierenden Kräfte, die alles später Verhalten bestimmen, für den Betroffenen aufgedeckt, der Einsichten wie die folgenden gewinnen kann: »Ich sehe jetzt, warum ich wegen des geringsten Rückschlags verzweifelt war.« — »Ich verstehe, warum ich so pathologisch ehrgeizig war — ich mußte allen anderen voraus sein.« — »Ich habe mich immer vom Leben mißhandelt gefühlt, war leicht verletzt, und jetzt weiß ich, woher das Gefühl, mißhandelt zu werden, kommt.«

Die psychologischen Konsequenzen des Geburtstraumas sind der Definition nach immer unbewußt. Das kommt daher, daß das Verdrängungssystem die Funktion hat, uns vor dem Urschmerz zu schützen und unbewußt zu halten. Nichtsdestoweniger werden wir beeinflußt. Die unbewußte Bedeutung des Geburtstraumas taucht nicht plötzlich in einem isolierten Erlebnis auf und zieht sich dann wieder harmlos ins Unbewußte zurück. Vielmehr durchdringt sie die meisten Aspekte unseres Lebens und alle Bewußt­seinsebenen. Sie ist eine Kraft, die dazu beiträgt, Züge und Merkmale der Persönlichkeit zu formen, die die emotionale Disposition erregt und selektiert und, wie wir noch sehen werden, ideelle und ideologische Neigungen beeinflußt. Schließlich ist es ebendiese unbewußte Bedeutung, die unsere Wertvorstellungen, unsere Moral und unseren ganzen Lebensstil motiviert und rationalisiert.

 

    Traumatisch bedingte Züge und Merkmale   

Die Umwandlung von Energie der ersten Ebene in Züge und Merkmale der Persönlichkeit erfordert eine Kanalisierung einer präzisen Menge primären Drucks. Dadurch haben die Charakteristika eine Kraft und Unerbittlichkeit an sich, die dem Grad des eingeprägten Traumas entspricht. Jemand mit einem »brennenden Ehrgeiz« verbrennt ganz buchstäblich Energie aus verdrängtem Urschmerz mit seinem Ehrgeiz. Jemand, der »eisern« ist, verbrennt die gleiche Energie dadurch, daß er zwanghaft selbständig und unabhängig ist. Auf diese Weise produziert das primäre Geburtstrauma sowohl eine Quantität von Energie als auch eine Qualität des Erlebens, die das Leben danach in bestimmte charakteristische Bahnen lenkt.

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Ehrgeiz / Lethargie

Ehrgeiz ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie das vor sich geht, denn er ist eine physiologische Energiemenge, die in den psychologischen Bereich übergeleitet wird. Das primäre Feeling von Druck bei der Geburt wird in der Zeit eingefroren und wirkt auf zwei Arten weiter. Erstens stellt die Menge des Drucks im ursprünglichen Primär-Feeling eine allgemeine Energiequelle dar — das Kind hört nicht auf, sich zu bewegen, der Erwachsene ist ständig »in Trab«. Zweitens wird das Gefühl des Drucks als Erlebnisqualität — als Erlebnisprototyp — etabliert und später zu einem spezifischen Persönlichkeits­merkmal konzentriert: dem Ehrgeiz.

Der Ehrgeizige hat immer neue Pläne, neue Projekte, Neues zu tun, neue Ideen für die Zukunft. Er kann sich nicht zufrieden­geben, sondern muß ständig alle Arten von Systemen, Zielen und Anliegen ausdenken, um Geld zu verdienen, vorwärtszukommen, sich selbst zu verbessern, seine Familie zu verbessern, die Welt zu verbessern. Der Ehrgeiz wird zur Obsession, aber zu einer verfeinerten — und gesellschaftlich annehmbaren — Form der Obsession. Seine »Obsession« deckt sich zufällig mit einer vorherrschenden Wertvorstellung unserer Kultur. Er ist sich ihres Ursprungs völlig unbewußt.

In einer ironischen dialektischen Wechselwirkung ist Ehrgeiz nicht nur ein Mittel, Druck durch übermäßige Aktivität zu entladen; er ist auch ein Mittel, den Druck aufrechtzuerhalten, indem man sich auf eine endlose Reihe von Zielen konzentriert, nach denen man ununterbrochen streben muß. Der Geist rast förmlich, um mit dem Druck Schritt zu halten, dessen wahre Quelle völlig unbewußt bleibt. Wenn sich der Ehrgeizige nicht so sehr mit einem ständigen Strom von äußeren Anliegen beschäftigte, würde er diesen Druck als das, was er ist, empfinden und entweder »explodieren« — einen Nervenzusammenbruch erleiden — oder zuletzt den Urschmerz fühlen. Der Ehrgeiz ist somit zugleich ein Mittel, Primärenergie zu entladen, und ein Mittel, die manische Beschaffenheit dieser Energie zu rationalisieren. Letzten Endes, sagt sich der Ehrgeizige, ist es doch völlig normal, »vorwärtskommen« zu wollen.

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Der Ehrgeizige entspannt sich nie, auch nicht, wenn er »oben« angelangt ist. Aber er kann sich nicht deshalb nicht entspannen, weil er ehrgeizig ist; er ist ehrgeizig, weil er sich nicht entspannen kann. Er braucht den äußeren Druck, weil der innere Druck schon vorhanden ist und einer vernunftgemäßen Erklärung bedarf.

Wir sprechen auch von »Ehrgeiz« in bezug auf den Fetus, was sonderbar klingen mag, aber es ist klar, daß auch er ein Ziel hat, das stärker als alles andere ist, nämlich »vorwärts und hinaus zu kommen«. Seine ganze Psychologie ist auf die Zukunft eingestellt, denn in der Zukunft liegt der Schlüssel zum Überleben. Später, wenn sich der Geist entwickelt hat, wenn der Neokortex hinlänglich gereift ist, kann das Individuum dann »ehrgeizig« im Sinne von strebsam werden.

So viele von uns haben dieses Bedürfnis, auf etwas in der Zukunft zu warten, und fühlen ein vages Un-Behagen, wenn aus einem Projekt, einer Party, oder was es auch sein mag, nichts wird. Das Zukunftsplanen, das Zukunftsstreben muß im Mittelpunkt stehen, denn der ursprüngliche Kampf um die Zukunft — um das »Vorwärts-und-Hinaus-Kommen« — war absolut lebensrettend. Entspannung würde als ein Nichtvorwärtskommen empfunden werden; das heißt, sie würde das ursprüngliche prototypische Überlebensmuster der Konzentration auf die Zukunft als Mittel des Entkommens und Überlebens bedrohen. Sich entspannen nimmt daher die unbewußte Bedeutung — der ersten Ebene — von »den Kampf aufgeben und sterben« an: Entspannung bedroht uns mit dem Eindringen jenes frühen primären Geburtsschmerzes, eines Schmerzes, der den Tod bedeutet hätte, wenn ihm das Neugeborene erlegen wäre.

Deshalb ist die konventionelle Psychotherapie auch bei psychologischen Problemen wie übergroßem Ehrgeiz zum Scheitern verurteilt. Den Ehrgeiz von seinen primären Wurzeln trennen, heißt, ihn von seiner Ursache und damit auch von der potentiellen Heilung trennen. Der Versuch, in Entspannung zu konditionieren oder den überschüssigen Druck wegzumeditieren, ist ein nutzloses Unterfangen; die Ursache wird nicht berührt, und die Energie wird lediglich umgeleitet. Der Betroffene nimmt vielleicht seinen Beruf nicht mehr so ernst, wird aber zum Fanatiker, was sein Golfspiel, sein Jogging oder seine Briefmarkensammlung anbetrifft. Der Urschmerz fordert nach wie vor seinen Zoll.

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Offensichtlich ist nicht jeder Ehrgeiz krankhaft. Wir müssen einen ausgewogenen, gesunden Ehrgeiz besitzen, oder wir bringen es zu nichts. Und ebendas ist das Problem bei Menschen, die bei der Geburt behindert oder narkotisiert wurden. Sie entwickeln das genaue Gegenteil von Ehrgeiz: eine Art von verzweifelter Einstellung, die sich durch die Frage »Wozu soll das nützen?« kennzeichnen läßt (die Anstrengungen des Kindes bei der Geburt waren tatsächlich nutzlos), dazu die Gewohnheit, im Leben rückwärts statt vorwärts zu blicken (die Richtung nach vorn war bei der Geburt blockiert), eine Verwirrung in bezug auf das, was als nächstes zu tun ist (weil die natürlichen Instinkte des Kindes hinsichtlich dessen, was zu tun war, wiederholt unterdrückt wurden). Später scheint dann das Leben sinnlos zu sein, jede Anstrengung eine Zeitvergeudung und der Gedanke an Selbsthilfe unmöglich.

Ein solches Kind beginnt das Leben lethargisch, es schreit nicht viel und ist ein »braves« Baby. Es ist passiv und anspruchslos, weil ihm die Aggressivität, Ansprüche zu stellen, fehlt. Es ignoriert seine eigenen Bedürfnisse. Es ißt, zum Beispiel, nicht mit Genuß, sondern mit phlegmatischer Resignation. Es ist benommen und überwältigt in jeder Hinsicht, und es fehlen ihm sichtlich der Überschwang, die Fröhlichkeit und der aufgeweckte Geist eines gesunden Kindes.

In vielen Fällen war der Austritt aus der Fruchtblase katastrophal, daher besteht später die Tendenz, sich in das Bekannte zurückzuziehen, am Vergangenen festzuhalten — eine konservative Einstellung und ein Abscheu vor plötzlichem Wechsel. Diese Menschen fühlen sich fern dem »Schoß« nicht wohl. Sie sind keine Abenteurer. Wenn sie reisen, wollen sie bald wieder nach Hause zurückkehren. Sie wechseln ungern ihre Stellung, ihre Wohnung oder ihre Anschauungen. Ihre Umgebung wird zur Fruchtblase, und sie schaffen sich ein sicheres Milieu als Wirkungskreis. (Manche Patienten haben buchstäblich dieses ursprüngliche Milieu rekonstruiert; sie wurden geschickte Taucher mit dem Atemgerät und sagen, sie fühlen sich im Wasser wohler.)

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Der Mensch mit dieser Art von Geburtstrauma zieht die Routine vor nicht weil er im Innersten organisiert ist, sondern weil jeder Wechsel, jede Abweichung von der Routine nur als Verschlechterung empfunden wird. Die Zukunft wird mit einem vagen Gefühl des Unheils gesehen, weil bei der Geburt die Zukunft eine Agonie war. Man neigt dazu, »freischwebende« Situationen zu meiden, in denen die Grenzen unscharf gezogen und nicht alle Möglichkeiten vorausberechnet sind. Aber auch hier wieder hat das Unheil oder das Unglück, das der Mensch durch seine sorgfältige Planung so eifrig zu vermeiden trachtet, schon längst stattgefunden. Doch während es nicht wiedergutgemacht werden kann, kann es doch zuletzt aufgelöst werden.

Gleich am Beginn des Lebens haben diese Kinder, da sie keine Hilfe fanden, beinahe aufgegeben. Daher die Klage: »Ich brauche jemanden, der mir heraushilft.« Aber wo heraus? Vielen von uns wurde bei der Geburt nicht geholfen — unsere Mütter waren zu stark narkotisiert, um aktiv daran teilzunehmen, uns aus dem Geburtskanal zu stoßen. Dieser Mangel an aktiver Teilnahme kann vom Kind als das empfunden werden, was wir später Ablehnung nennen.

Wir alle brauchen eine helfende Hand. Was wir statt dessen oft bekamen, war die grobe Geburtszange, die schrecklich weh tat. Ob es der Arzt und die Mutter gut meinten oder nicht, spielt keine Rolle: das Kind erlebt nicht Absichten, sondern Wirklichkeiten. Gute Absichten sind niemals stärker als der Schmerz der Geburtszange, Ersticken und Strangulation.

Als Folge solcher Erlebnisse, keine Hilfe zu erhalten, streiten viele von uns später mit ihren Ehepartnern und Freunden, weil sie uns nicht genug helfen. Wir stellen unvernünftige und unnötige Forderungen nach Hilfe, wobei wir nur wieder das ursprüngliche Primär-Feeling umwandeln. Gewiß brauchen wir von unseren Freunden von Zeit zu Zeit wirklich Hilfe, aber oft ist unser Bedürfnis übertrieben und unsere Reaktion auf das Ausbleiben von Hilfe zu heftig.

Allerdings muß man sich davor hüten, zu sehr zu vereinfachen. Nicht jeder, der im Mutterschoß zu kämpfen hatte, ist ehrgeizig. Viele, viele formende Erlebnisse in der Kindheit sind nötig, um übertriebenen Ehrgeiz beim Erwachsenen entstehen zu lassen: zum Beispiel kann man Eltern gehabt haben, die sehr ehrgeizig in bezug auf ihr Kind waren, die das Kind ständig antrieben. Die Verstärkung ist immer sehr wichtig: sie nimmt Energie von der ersten Bewußtseinsebene und formt sie psychologisch um. Aber der Ausgangspunkt ist die Geburt: die Art des eingeprägten Geburtstraumas bestimmt die psychologischen Tendenzen voraus, die für die spätere Entwicklung maßgeblich sein werden.

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  Abhängigkeit / Unabhängigkeit  

Die Merkmale der Abhängigkeit und Unabhängigkeit hängen ebenfalls häufig mit der Geburt zusammen. Offensichtlich hat das Neugeborene keinen dieser beiden Züge, wenn es auf die Welt kommt, aber was es hat, ist das Erlebnis der Hilfe oder der Hilflosigkeit während der Geburt. Die primäre Einprägung dieses Erlebnisses kann das Vorherrschen des einen Merkmals über das andere bestimmen, während sich die Persönlichkeit entwickelt.

Je nach der Geburtssequenz selbst wird man später entweder gegen das Hilflos- und Abhängigsein agieren, oder man wird die Hilflosigkeit und Abhängigkeit in ihrer klaren Form agieren. Welche Richtung der einzelne einschlägt, hängt wiederum ab von der späteren Verstärkung und der speziellen Geburtssequenz selbst. Wenn das Kind Eltern hat, die alles für es tun, so daß es nie lernt, etwas selbst zu tun, kann es weiterhin Hilflosigkeit agieren. Bekommt das Kind wenig oder gar keine Hilfe, so wird es gegen die Hilflosigkeit agieren, weil es begreift, daß das Überleben in seinen eigenen Händen liegt. Es bekommt nie die Gelegenheit, sich hilflos zu fühlen, und ist daher sehr intolerant gegenüber allen, die sich hilflos und unselbständig benehmen.

Das vorherrschende Merkmal, das sich aus der Geburtssequenz ergibt, kann durch kulturelle Faktoren weiter beeinflußt werden. Es leuchtet ein, daß der Grad, bis zu dem das Charaktermerkmal kulturell akzeptiert und gefördert wird, sehr viel damit zu tun hat, ob es der Erwachsene als gesund oder neurotisch betrachtet. Unabhängigkeit, zum Beispiel, ist wie Ehrgeiz eine der am höchsten eingestuften Eigenschaften — bei Männern. Daher ist es leicht, übermäßige Unabhängigkeit oder Selbständigkeit bei einem Mann als Tugend auszugeben, anstatt sie als die Neurose zu erkennen, die sie tatsächlich ist. Bei einer Frau dagegen kann eine gesunde Selbständigkeit als krankhaft gelten, während eine übertriebene und neurotische Unselbständigkeit unter Umständen ermutigt wird.

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Auf ähnliche Weise kann ein Mann, der dem Macho-Bild nicht entspricht, als unselbständig und unmännlich angesehen werden, während er tatsächlich weder das eine noch das andere ist — sondern lediglich ein empfindsamer Mensch.

Diese Überschneidung von Kultur und Neurose verschlimmert und verwirrt das Problem. Denn wenn die kulturellen Werte mit neurotischem Verhalten übereinstimmen und der gesunden Alternative zuwiderlaufen, kann es dahin kommen, daß die Abwehren eines Menschen noch schwerer zu durchdringen sind. Die zusätzliche kulturelle Verstärkung verschiebt durch Rationalisierung das wirkliche Bedürfnis noch weiter ins Unbewußte.

 

  »Sich durchschlagen«: Selbständigkeit  

Das Merkmal der Selbständigkeit kann schon bei der Geburt auftreten, wenn das Kind alles allein tun muß, ohne jede Hilfe der Mutter. Das Fehlen von Hilfe von Geburt an kann einen Menschen dazu bringen, sein Bedürfnis nach Hilfe vollends zu leugnen und sich selbst »durchzuschlagen«. Schon der Säugling kann die Einstellung entwickeln, sich von niemandem helfen zu lassen — beim Essen, Anziehen, Spielen, Kriechen oder Gehen. Das von der Geburt herrührende Gefühl, alles selbst tun zu müssen, bleibt als Substrat, aus dem alle späteren Einstellungen und Ideen herausentwickelt werden. Das ursprüngliche Feeling wird einfach auf verschiedenen Gehirnebenen repräsentiert und wieder repräsentiert.

Der »selbständige« Erwachsene mag sein Bedürfnis erfolgreich blockieren, aber der Urschmerz wird ebenso wie das Bedürfnis schließlich sein System erschöpfen. In Gedanken hält er sich an das Grundprinzip: »Ich brauche von niemandem Hilfe - ich kann alles selbst tun.« Das Bedürfnis wird durch den Mangel an Erfüllung geschaffen — und dann entstellt. Ein solcher Mensch kann wütend werden, wenn jemand tatsächlich versucht, ihm zu helfen. Sich helfen zu lassen, weckt den Primärschmerz und schafft Angst, daher wird es zur Notwendigkeit — und es wird als Tugend rationalisiert —, selbständig und »hart« zu sein.

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Wenn ein Mann dieses Typs Vater wird, will er auch nicht, daß seinen Kindern geholfen wird. Er besteht darauf, daß sie mit allem selbst fertig werden, daß sie »auf ihren eigenen Beinen stehen«, und zwar schon lange, bevor sie dafür alt genug sind. Die Kinder dürfen nicht einmal um Hilfe bitten, ohne eine sarkastische Antwort, ein Stirnrunzeln oder einen mißbilligenden Blick zu riskieren. Auch sie lernen, »selbständig« zu sein. Auch sie leiden unter dem Mangel an Bedürfniserfüllung. Der Vater hat auch viele Ideen darüber, wie falsch es ist, anderen zu helfen, und er gibt sie an seine Kinder weiter. Der Zyklus nimmt kein Ende: der Vater kann seinen Kindern nicht helfen, weil ihm von Anfang an nicht geholfen wurde. Da er sich selbst nicht helfen läßt, bleibt sein Bedürfnis bestehen. Wenn er Zugang zu diesem Primärbedürfnis finden könnte, würde er imstande sein, sich helfen zu lassen, und er könnte anderen helfen. Ein Patient schrieb:

»Ich habe zum erstenmal in meinem Leben gefühlt, wie es ist, vom Rücken auf den Bauch zu rollen. Ich war allein, und das machte es angsterregend. Das Vergnügen lag in der Belustigung und in dem Bedürfnis, diese neue Bewegung zu erleben. Es hätte ein vollkommen befriedigendes Ereignis sein können, wenn jemand mit einer sanften Hand dagewesen wäre, der es mir ermöglicht hätte, es sicher zu tun. Obwohl das nur als ein <kleines> Gefühl erscheinen mag, hat es mir in meinem jetzigen Leben geholfen. Ich kann fühlen, wenn meine Kinder Ermutigung und Hilfe brauchen, sobald sie etwas Neues versuchen, und ich bin besser imstande, ihnen eine helfende Hand zu leihen.«

Jemandem »heraushelfen«, dieser Ausdruck kann buchstäblich aufgefaßt werden im Falle der Mutter, die ein Kind bekommt. Das Gefühl, daß »mir niemand herausgeholfen hat und daß ich niemandem heraushelfen kann«, muß zwangsläufig die Art der Niederkunft der Mutter beeinflussen.

Das »selbständige« Kind kann hart handeln: es agiert sein Hilfsbedürfnis aus, aber hinter einer Barriere der Härte. Das Kind und später der Erwachsene ist anspruchsvoll und weiß nichts zu schätzen, er gibt den Leuten immer das Gefühl, nicht genug für ihn getan zu haben. Das Bedürfnis und die Verwundbarkeit sind hinter seinem harten Äußeren nicht zu erkennen. Er stellt weiter seine Ansprüche an andere und ist außerstande zu erkennen, wann ihm geholfen wird.

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Und es gibt nie genug Hilfe, um den frühen Schmerz und das Bedürfnis zu stillen. Daher brauchen Neurotiker mehr und immer mehr. Sie erfüllen Bedürfnisse symbolisch, und symbolische Erfüllung ist eine sehr leichte Mahlzeit.

Der Geburtsschmerz kann einem das Gefühl geben, daß von draußen nichts Gutes kommt. Daraus wird später eine falsche Selbständigkeit, die auf einem Mißtrauen gegenüber allen basiert: »Laß keinen anderen Macht über dich haben ... er verletzt dich sonst nur.« — »Nimm das Schicksal in deine eigenen Hände und tue alles selbst.« Diese Einstellungen können noch weiter ausgearbeitet werden in beruflichen Situationen, so daß der Betreffende einfach das Gefühl hat, keinen Vorgesetzten dulden zu können, der ihn beaufsichtigt und herumkommandiert. Oder wenn er für jemanden arbeiten muß, wird er es so einrichten, daß ihm niemand sagt, wie und wann er zu arbeiten hat. Das gehört dazu, daß er alles auf seine Weise machen will und nicht auf die eines anderen — was bedeutet: auf Mutters katastrophale Weise. Es ist auch eine Methode, die frühe Sequenz wieder zu agieren, in der ihm keine Hilfe zuteil wurde: vorzugeben, keine Hilfe zu brauchen, schützt einen vor diesem unbewußten Gefühl der Hilflosigkeit. Wenn man keine Hilfe gestattet, taucht das Problem gar nicht erst auf — und ebensowenig der Urschmerz. Wieder ist eine Verstärkung auf anderen Bewußtseinsebenen nötig, damit aus diesen Tendenzen charakteristische Reaktionen im Erwachsenenleben werden.

Es gibt endlose Variationen des Agierens, um das Geburts-Feeling völliger Hilflosigkeit zu leugnen. Eine unserer Patientinnen benutzte ihre Berufslaufbahn als Mittel der Verleugnung. Sie errang in Dänemark den gelben Karategürtel und wurde Lehrerin für Selbstverteidigung für Frauen. Diese Berufswahl hatte eine gewisse realistische Basis, denn in ganz Westeuropa nahmen die Vergewaltigungen zu. Aber bald begann sie ihre stärkeren persönlichen Motivationen zu erkennen. Sie fühlte in ihren Primais, daß sie gegen die schreckliche Hilflosigkeit agierte, die sie bei der Geburt erlebt hatte. Sie war regelrecht gegenphobisch geworden. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gegen die Angst gekämpft, vor irgend jemandem hilflos zu erscheinen. Als Folge davon wurde sie sehr herrisch und maskulin. Sie baute über dem Bedürfnis eine ganze Superstruktur auf, indem sie es in sein Gegenteil verkehrte.

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Aber unter alledem war ein Neugeborenes, dem von seiner Mutter nicht geholfen wurde.

Ein Mann, der seine primäre Hilflosigkeit fühlte, entdeckte, daß er gegen sein Gefühl durch den Versuch angekämpft hatte, vollkommen hilfsbereit gegenüber absolut jedem seiner Patienten zu sein (er war Arzt). Nach einem Geburts-Primal erkannte er, daß er nicht der Erlöser der Welt zu sein und nicht auf alles eine Antwort zu haben brauchte.

Ein anderer Patient, der auch auf alles eine Antwort haben mußte, verstand endlich, warum er ein solcher Intellektueller geworden war. Er durfte sich nie ohne irgendeine Art von Information ertappen lassen, um den Anschein von Gewalt über sein Leben aufrechtzuerhalten. Information zu besitzen, war eine Methode, gegen die Hilflosigkeit des Nichtwissens anzukämpfen. Er wollte alle Antworten wissen, um nie mehr verletzt zu werden — all das jedoch wieder auf einer unbewußten Ebene.

Wieder ein anderer Patient, ein Arzt, wurde Spezialist für unheilbare Fälle im Endstadium. Unbewußt suchte er nach Antworten, wie er sich selbst am Leben erhalten könnte, verwandte aber seine ganze Energie darauf, alle anderen am Leben zu erhalten. Die Tatsache, daß er die Fälle im Endstadium zu seiner Spezialität machte, zeigte, wie sehr sich seine eigenen Bedürfnisse schon im Endstadium befanden. Es ging um Leben und Tod wie ganz zu Anfang — bei der Geburt. Die Arbeit dieses Mannes war offensichtlich etwas Reales und Wertvolles, aber ihre Motivation war unbewußt. Wenn er sie auch nach der Therapie fortsetzte, so tat er es doch mit einem anderen Gefühl. Nun waren ihm seine Motivationen klar, weil ihm endlich seine eigenen Bedürfnisse bewußt geworden waren. Und nun konnte er anderen wirklich helfen, weil er endlich sich selbst geholfen hatte.

Manche Menschen agieren gegen die hilflose Angst, die von der Geburt herstammt, indem sie sie ständig neu herausfordern. Ein Patient war Rennfahrer geworden. Er schuf so seine Angst nach, aber in einer Situation, die er völlig in der Gewalt hatte. Je näher er dem Tode kam, desto ruhiger und lebendiger fühlte er sich. Ein anderer Patient, wieder ein Arzt, hatte ein ähnliches Gefühl: je katastrophaler die Situation, je lebensgefährlicher das chirurgische Verfahren war, desto ruhiger wurde er. Er sagte, daß ihm diese Art von Erregung guttat.

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Es entstand ein ständiger Zyklus, in dem die Geburtsangst nachgeschaffen und dann bemeistert wurde. Die Vorstellung, daß man endlich Gewalt besitzt, ist besänftigend, denn ursprünglich war man völlig der Gewalt anderer ausgeliefert.

Der Kampf gegen die primäre Hilflosigkeit führt den Menschen zu einer großen Vielfalt irrationaler Verhaltens­weisen. Patienten haben festgestellt, daß sie in Situationen der Hilflosigkeit, beispielsweise wenn sie betrogen wurden und es erkannten, unbewußt Dinge taten, von denen sie wußten, daß sie nutzlos waren und zu nichts führten, nur um dieses Feeling niederzuhalten. Ein Patient erzählte mir, daß er einen sehr kostspieligen Prozeß gerührt hatte — obwohl er zu diesem Zeitpunkt genau wußte, daß er sich nicht lohnte —, weil er es nicht ertragen konnte, sich hilflos zu fühlen. Das alte Feeling hinderte ihn daran, seine gegenwärtige Situation richtig einzuschätzen.

 

Abwarten — Abhängigkeit

Auf der anderen Seite haben wir das Kind, das sich bei der Geburt geschlagen geben mußte. Die Reaktion auf diese Art von primärer Hilflosigkeit wird später eine ganz andere sein. Der Erwachsene kann dann wünschen, daß alle Macht ein anderer hat. Er kann das Opfer sein wollen. Er kann agieren wollen, hilflos und abhängig zu sein. Ein Mensch dieser Art braucht einen Vorgesetzten und einen Partner, der ihm sagt, was er tun soll. Als Säugling war er hilflos und ein Opfer. Die besonderen Umstände seiner Geburt ermöglichten es ihm, so zu handeln, um Macht über sein Schicksal zu gewinnen. Seine Passivität half, ihn zu retten, und wurde als lebensrettende Reaktion eingeprägt. Später kann er eine schicksalsergebene Haltung einnehmen: »Was geschehen soll, wird geschehen, und dagegen läßt sich nicht viel machen.« Diese psychische Einstellung geht auf ein rein physiologisches Erlebnis zurück. Sie ist eine kognitive Repräsentation (auf der dritten Ebene) seines frühen Erlebnisses (auf der ersten Ebene).

Wenn sich das Kind bei der Geburt fügen mußte, wenn es das hilflose Opfer der herrschenden Mächte war, wird diese Tendenz — sich den herrschenden Mächten zu fügen — eine kodierte Reaktion unterhalb der Ebene bewußter Wahrnehmung.

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Das Kind kann so aufwachsen, daß es autoritätsgläubig ist und bereit zu gehorchen, so wie es bei der Geburt bereit war, sich der Macht zu fügen und zu »gehorchen«. Es wird sozusagen immer noch geboren und reagiert weiterhin so, als wäre die Geburt noch im Gange. Ein Patient schrieb:

»Ich habe festgestellt, daß meine Neigung, mich zurückzuhalten und abzuwarten, anstatt in die Welt hinauszugehen und mir zu holen, was ich für mich brauche, auch mit meiner Geburt zusammenhängt. Ich habe das Gefühl, daß ich nicht imstande sein werde, den Konflikt durchzustehen, wenn ich mich zu behaupten versuche, und daß es leichter ist, etwas zu erreichen, indem man einfach gut ist und abwartet.

Ich weiß aus den Schilderungen meiner Mutter, daß meine Geburt ziemlich langwierig war. Ich war ihr erstes Kind, und die Wehen dauerten elf Stunden. Ich begann um ungefähr 23 Uhr abends herauszukommen; meine Mutter sagte mir, sie sei um diese Zeit sehr müde gewesen und die Schwester habe sie immer wieder wecken und auffordern müssen, zu pressen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn ich Geburts-Feelings habe, daß ich keine Hilfe von meiner Mutter bekomme und daß ich den Versuch aufgab, Hilfe zu bekommen und einfach darauf wartete, daß etwas geschah. Warten war die einzige Alternative zum Vorankommen und den Schmerz zu fühlen, ohne Hilfe zu sein. Meine erste neurotische Stillegung des Schmerzes geschah, bevor ich ganz geboren worden war.«

Der hilflose Mensch kann auch in seinem Hilfsbedürfnis schwelgen und sich einreden, untätig darauf zu warten, daß sich andere für einen einsetzen, sei ganz gesund und er habe sogar das Recht, zu allen Zeiten Hilfe aus allen Richtungen zu erwarten. Er kann sich ständig in unmögliche Situationen bringen, in denen Hilfe von anderen nötig ist, und sich nicht darüber klarwerden, daß die Hilfe, die er wirklich braucht, nicht in der Gegenwart zu haben ist.

Die Reaktion der Passivität und Abhängigkeit kann durch spätere elterliche Tyrannei verstärkt werden, aber auch ohne sie auftreten. Das aggressive Kind kann ohne Rücksicht auf das spätere Milieu aggressiv reagieren, weil Aggression ursprünglich Leben und Überleben bedeutete.

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Ebenso kann Passivität ein übliches Verhaltensmuster ohne viel Verstärkung auf der zweiten Ebene werden. Das kommt daher, daß die prototypischen Reaktionsmuster gewöhnlich selbstverstärkend sind. Passiv zu reagieren, zwingt andere dazu, mehr aus sich herauszugehen und aggressiver zu sein, was wiederum die Passivität verstärkt.

Als Erwachsener kann man einen Partner heiraten, der dieses Gegengewicht liefert. Das ist sogar oft der Fall. Keiner der beiden ist sich der Dynamik des ständigen Hin und Hers bewußt, die zwischen ihnen herrscht. Sie wird Teil eines unbewußten Szenarios, eines schlechten Dramas mit vielen Wiederholungen und ohne Ende, in dem die Charaktere so stilisiert und »festgelegt« sind (das Verhalten wird buchstäblich durch den Prototyp festgelegt), daß die ganze Szene unbeschreiblich ermüdend ist.

Eine Patientin war zu einem Eheberater gegangen, weil sie das Gefühl hatte, daß ihr Mann sie immer »zurückhielt«. Sie beklagte sich darüber, daß sie immer unfähig war zu tun, was sie wollte, daß sie in eine abhängige Rolle gezwungen wurde und daß sie, sosehr sie auch kämpfte und sich wehrte, beherrscht und zurückgehalten wurde. Nach einer Anzahl von Geburts-Primals, in denen sie tatsächlich eine Verknüpfung mit dem Gefühl des Zurückgehaltenwerdens herstellte, konnte sie endlich die Vergangenheit von der Gegenwart trennen. Sie war nicht mehr gezwungen, ein Trauma auf ihren Ehemann zu projizieren, das sie bei ihrem Eintritt in die Welt erlitten hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Ehe turbulent gewesen, weil die Frau von der Vergangenheit überwältigt war, während sie sich auf die Gegenwart konzentrierte. Aber selbstverständlich hat ein Neurotiker keine andere Wahl. Sich auf die Vergangenheit konzentrieren, würde ein verknüpftes Primal bedeutet haben, und dafür brauchte sie Hilfe.

Eine andere Patientin, die bei der Geburt zurückgehalten worden war, wuchs mit dem Gefühl auf, daß sie immer unrecht hatte und daß man ihr nie glauben werde. Ihr Bericht zeigt, wie sich Geburts-Feelings in gegenwärtige Erlebnisse eindrängen und wie die richtige Bewertung dieser Erlebnisse zur Befreiung von der Vergangenheit führen kann:

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»Vor drei Jahren, als ich ein angebliches Primal-Zentrum besuchte, hatte ich mein erstes Geburts-Primal. Darin fühlte ich mich bereit, geboren zu werden — ich hatte mich durch den Geburtskanal zur Cervix durchgekämpft, die erweitert und bereit war, mich hinauszulassen —, aber jemand draußen war es nicht. Ich spürte zwei Finger auf meinem Kopf, die mich zurückstießen und drinnen festhielten — und mir so mein erstes Grundrecht, geboren zu werden, verweigerten. Am folgenden Tag litt ich heftig. Ich konnte den Kopf nicht bewegen, und der Schmerz im Nacken war qualvoll.

Anders als hier (im Primal Institute), wo die Wirklichkeit herrscht, bot das falsche Zentrum keine Wirklichkeit. Feelings wurden nicht in das gegenwärtige Leben integriert, und jedes Wort, das man sagte, war <ein altes Feeling> — die Gegenwart hörte auf zu existieren; sie hatte keine Bedeutung und keine Verbindung mit der Vergangenheit.

Damals war das Geburts-Primal damit verknüpft, daß man mir gesagt hatte, ich sei eine Schwindlerin, aber dieses Wissen hatte keine Bedeutung für mein Leben bis vor drei Monaten. Eines Abends bei einem Beisammensein nach der Gruppensitzung machte eine der Therapeutinnen eine Bemerkung über mich, von der ich das Gefühl hatte, daß sie in Anbetracht meiner Geschichte unangebracht sei. Es war für mich wichtig, ihr meine Gefühle mitzuteilen, und ich tat es am folgenden Abend nach der Gruppensitzung. Es war für mich immer sehr schwierig, jemandem zu sagen, was ich für richtig halte — Freunden, Liebhabern und vor allem natürlich meiner Mutter. Bei meiner Mutter kam es oft vor, daß ich das Gefühl hatte, sie würde mich dafür töten, daß ich mich ihr widersetzte, wenn sie je die Beherrschung verlor.

Der Therapeutin entgegenzutreten, erfüllte mich daher mit Angst, großer Angst davor, mich bloßzustellen, großer Angst, weil ich nicht wußte, wie sie reagieren würde, aber ich mußte es tun.

Ich trat ihr entgegen, und bevor ich noch alle Details und Gründe dafür, daß ich recht hatte, anführen konnte, sagte sie: >Sie haben recht, Jane, und es tut mir leid.< Ich fühlte mich ein wenig betäubt und weinte. Dann änderte sich etwas physisch in mir, und erst zu Hause erkannte ich, worin die Veränderung bestand. Als die Therapeutin sagte: >Sie haben recht<, da war mir zumute, als wäre ich frei.

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Der Druck in meinem Kopf war endlich fort. Ich hatte alle Gründe dafür in der Hand, daß sie im Unrecht war, und ich brauchte sie nicht. Es war, als hätte ich sonst diese Gründe gebraucht, damit sie als Puffer um meinen Kopf herum dienten, so daß ich die Ziegelwand und den Schmerz nicht spürte, daß ich aufgehalten wurde und daß man mir nicht glaubte.

In dem Augenblick, in dem sie sagte: >Sie haben recht<, brauchte ich mich nicht mehr dagegen zu verteidigen, daß man mir nicht glaubte. Ich brauchte die Puffer nicht, denn ich hatte recht und man glaubte mir, ohne daß ich es nötig hatte, Rechtfertigungen und Gründe zu finden. Das verbindet sich mit vielen Fällen in meiner Kindheit und in meinem Erwachsenenleben — daß man mir nicht glaubte, war der Tod für mich, und ich habe es selten riskiert, mich zu behaupten und für das, was ich für richtig hielt, einzutreten, weil mich bis jetzt die Primär-Feelings davon abhielten.

Zum Schluß möchte ich sagen: Ich bin wirklich froh, daß ihr Therapeuten nicht vollkommen seid, denn die Chance, die ich durch einen Irrtum bekam, gab mir die Möglichkeit, meinen eigenen Gefühlen treu zu sein.«

 

Ein anderer Patient hatte das Wiedererlebnis, bei der Geburt zurückgeblieben zu sein, weil der Arzt nicht rechtzeitig eingetroffen war. Er fühlte sich deshalb hilflos und zurückgehalten und erkannte, daß er sein Leben so eingerichtet hatte, um das Gefühl zu rechtfertigen, daß »die Leute ihn zurückhielten«. Er hatte immer eine Entschuldigung dafür, warum er etwas nicht tat, warum er diese Liegenschaft nicht kaufte oder jenes Geschäft nicht abschloß: »sie« hielten ihn zurück. Er hatte viele Probleme mit seiner Frau, denn er begann ihr vorzuwerfen, sie hindere ihn daran voranzukommen, und sobald sie ihm irgendein noch so geringfügiges Hindernis in den Weg legte, wurde er wütend. Die Ehe war ernstlich gefährdet, bis er einsah, daß das Grundproblem eine Geburtssequenz war.

Patienten mit herrschsüchtigen Müttern haben oft Geburts-Primals des Inhalts, daß sie sich seit der Zeit ihrer Geburt von Frauen zurückgehalten fühlten. Sie suchten sich entweder Freundinnen, die herrschsüchtig waren, so daß sie den Kampf gegen das Zurückgehaltenwerden fortsetzen konnten, oder sie wählten Freundinnen, die vollkommen passiv und unmöglich imstande waren, sie von irgend etwas abzuhalten, was sie tun wollten.

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Letzten Endes wählt jeder von uns den einen oder den anderen Weg, je nach unseren späteren Lebenserfahrungen, aber es ist keine freie Wahl: die eine wie die andere Wahl ist neurotisch, weil sie primär determiniert ist.

Das von der Geburt herrührende Gefühl der Hilflosigkeit kann auch Gefühle des Todes oder des nahen Todes einschließen. Ein Patient mit einem Geburts-Primal über seinen Kampf im Geburtskanal, bis er sich dem Tod nahe fühlte, entdeckte sein lebenslanges Schema, alles zusammenkommen zu lassen, bis es zu viel wurde, bis er völlig überwältigt war und dann das Gefühl hatte, daß er am liebsten aufgeben und sterben würde. Ein anderer, der dieselbe Art von Geburtstrauma hatte, reagierte anders:

Er ließ alles laufen bis zur letzten Minute, dann nahm er sich zusammen und handelte, weil er sich in einer Krise befand. Er konzentrierte sein ganzes Leben auf Krisen. Er kaufte Bücher über die bevorstehende finanzielle Katastrophe, über kommende Erdbeben, über das unvermeidliche ökologische Chaos, und plante sein Leben in Übereinstimmung mit jeder vorausgesagten Krise. Er las gerade so viel, daß er sich in einer ständigen Panikstimmung hielt, wie er sie bei der Geburt erlebt hatte. Er reinszenierte das Gefühl der Hilflosigkeit, indem er alles als hoffnungslos kritisch ansah. Da er nie Gewalt über sein eigenes inneres Schicksal hatte, verbrachte er sein Leben damit, Gewalt über äußere, katastrophale Schicksale zu erlangen — wahrhaftig ein Versuch, alten Urschmerz symbolisch zu meistern.

Wieder ein anderer Patient, der sich in einem fortwährenden Krisenzustand befand, hatte ein Geburts-Primal, bei dem er in der letzten Sekunde vom Arzt herausgezogen wurde. Als Erwachsener war dieser Mann nie ein starker Mensch gewesen, weil es sein prototypisches Verhalten war, sich von anderen helfen zu lassen. Sooft er in eine schwierige Lage geriet, sah er sich augenblicklich nach Hilfe von außen um. Im Augenblick der Krise, der sein Erlebnis der Todesnähe rekapitulierte, verhielt er sich einfach untätig und wartete.

Wie der Prototyp im Verhältnis zur späteren Erfahrung zur Wirkung kommt, ist offensichtlich eine komplexe Frage. Es gibt keine einfachen Regeln oder eindeutigen Kategorien.

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Jemandem kann, zum Beispiel, Abhängigkeit als prototypische Geburtsreaktion auf der ersten Bewußtseins­ebene eingeprägt sein, und er kann dennoch auf der zweiten Ebene dank fürsorglicher Eltern während der ganzen Kindheit Selbständigkeit entwickeln. So erhalten wir einander ausgleichende Faktoren, die bei der Einschätzung der Gesamtpersönlichkeit in Betracht gezogen werden müssen. Im eben erwähnten Fall könnten nachfolgende Einflüsse den Prototyp überwinden, und das Ergebnis wäre ein verhältnismäßig selbständiges Individuum.

 

  »Steckenbleiben« auf der ersten Ebene  

Ich habe erörtert, wie Empfindungen, die die ersten Elemente eines totalen Primär-Feelings sind, während unseres ganzen Lebens rein erhalten bleiben und sich mit der Reifung des Gehirns emotional und intellektuell verzweigen. So entwickelt sich die Empfindung des Steckenbleibens im Geburtskanal zu dem charakteristischen Merkmal des Steckenbleibens während des ganzen Lebens. Der Betreffende kann bei allem, was er unternimmt, »steckenbleiben«. 

Manche Menschen agieren das Steckenbleiben aus, indem sie unfähig sind, das Haus zu verlassen, ja sie können sogar eine Phobie in bezug auf das »Ausgehen« entwickeln. Andere bleiben im Beruf oder in ihrer Ehe stecken und wissen nicht, wie sie herauskommen sollen, weil sie ständig das ursprüngliche Erlebnis des Steckenbleibens reinszenieren. Sie fühlen sich nie wirklich frei, weil ihre Gefühle nicht die der Freiheit, sondern des Steckenbleibens sind. Wenn sie sich zufällig aus einer schlechten beruflichen Stellung oder menschlichen Beziehung befreien, bringen sie es rasch fertig, wieder in einer Situation gefangen zu sein, in der dieses Gefühl vorherrscht. Mit anderen Worten, das Leben ist so eingerichtet, daß das unbewußte Ausleben dieser sehr frühen eingeprägten Empfindung rationalisiert wird.

Das Steckenbleiben im Geburtskanal kann zu einer ganzen Anzahl verschiedener Gefühle führen, je nachdem, wie die Lage ursprünglich gelöst wurde. Wenn das Kind herausgezogen werden mußte, kann es sein, daß im Erwachsenen das Gefühl zurückbleibt, er müsse ständig auf jemanden warten, der ihn aus einer schlimmen Lage »herauszieht«.

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Es würde diesem Menschen nie einfallen, daß er sich selbst aus der Klemme ziehen kann. Es liegt nicht im Bereich seiner Möglichkeiten, weil es ursprünglich nicht so war. Dieses Schema hat auch unterdrückte Kreativität und einen Mangel an Phantasie zur Folge.

Wenn das Kind stark narkotisiert war und dann noch herausgezogen werden mußte, um sein Leben zu beginnen, kann das im Erwachsenen zurückbleibende Gefühl ein Bedürfnis nach großer Aufregung sein, damit er sich lebendig fühlt. Aber man wird sich nie wirklich lebendig fühlen, solange die frühe betäubte, todesähnliche Situation nicht aufgelöst wurde. Danach kann man sich froh und überschwenglich fühlen, ohne ständig aufgrund der frühen Einprägung niedergedrückt zu werden. Ein Patient schrieb:

»Ich bin Möbelpacker von Beruf. Eines Morgens war mein Kumpel müde und fühlte sich nicht wohl. Wir hatten einen besonders harten Arbeitstag vor uns. Ich dachte: >Heute muß ich das meiste tun, denn mein Kumpel schafft es nicht.< Das Dumme war nur, daß ich mich selbst so lausig fühlte - keine Energie -, deshalb ging ich in eine Apotheke und kaufte mir ein paar Koffeintabletten, bevor wir uns an die Arbeit machten. (Ich hatte vor der Therapie manchmal Koffeintabletten genommen, wenn kein Speed zu haben war.)

Kurz nach diesem Tag hatte ich ein Geburts-Feeling. Dabei blieb ich in meiner Mutter stecken - ich stak in einem schwarzen elastischen Rohr ohne Ausweg, das keinerlei Beziehung zu meiner Mutter hatte, und ich war völlig erschöpft und frustriert durch das Gefühl, mich nicht vorwärtszubewegen. In dem Feeling fühlte ich mich vollkommen im Leeren aufgehängt, ohne Erinnerung an die Welt - den Schoß -, die ich soeben verlassen hatte. Es war offensichtlich, daß mir meine Mutter nicht helfen konnte oder wollte. Ich mußte mir selbst helfen, aber ich war völlig erschöpft. Ich hatte mich um ihre Aufmerksamkeit bemüht - vergeblich. Nichts, was ich tat, schien zu funktionieren. Je mehr ich mich bemühte, desto mehr stak ich fest.

Ich erkannte, daß ich durch den Kauf von Koffeintabletten versuchte, Energie von außen zu borgen, um die Arbeit des Tages zu bewältigen. Ich versuchte, die physische Hilfe zu bekommen, die ich während der Geburt von meiner Mutter nicht bekommen hatte.

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Nach vielen weiteren Geburts-Feelings wurde mir klar, daß der Gebrauch von Drogen vor meiner Therapie eine indirekte Methode gewesen war, um Hilfe zu rufen. Das Feeling war: >Ich will mir nicht selbst helfen - ich will, daß du mir hilfst, Mama< - und das geht zurück auf mein Steckenbleiben im Geburtskanal.«

 

Für manche wird das Gefühl des Steckenbleibens übersetzt in: »Ich kann nicht in Schwung kommen, ich komme morgens nicht aus dem Bett, ich scheine nicht die Motivation zu haben, mich aus gewissen Dingen herauszuziehen.« Ermutigung und Ermahnung durch Freunde sind eine sehr schlechte Technik, um aus diesem tiefen Feeling herauszukommen, und man braucht sie unaufhörlich, um überhaupt aktiv zu werden. Es handelt sich hier auch um die Art von Gefühl, die einen dazu bringt, sich immer von anderen einladen zu lassen, anstatt die Initiative zu ergreifen und selbst etwas zu organisieren. Es ist das Bedürfnis, umschmeichelt, abgeschirmt, hervorgehoben zu werden. Und »hervorgehoben werden« ist wiederum eine buchstäbliche Anspielung auf die Geburt.

Dann gibt es Menschen, die immer großartig anfangen und armselig enden. Sie nehmen zahllose Projekte in Angriff und beenden keines. Das ist oft ein Analogen zur Geburt — der Anfang war in Ordnung, aber das Ende war schlecht: das Kind blieb stecken. Projekte als Erwachsener nicht zu beenden, kann tatsächlich eine Methode sein, die schrecklichen Gefühle zu vermeiden, ein schlechtes Ende bei der Geburt gehabt zu haben. Und hier sehen wir wieder, wie Charakterzüge wie Mangel an Organisation und Ausdauer nicht genetisch bedingt sind, sondern auf eine spezifische Geburtssequenz zurückgehen.

Natürlich gibt es auch die entgegengesetzte Tendenz: den Zwang, alles zu beenden, nie vor dem Ziel haltzumachen, denn aufzuhören hatte ursprünglich katastrophale Implikationen. Die Dringlichkeit des Überlebens kann tatsächlich die motivierende Kraft hinter dem Bedürfnis sein, die Küche zu putzen, bevor man sich hinsetzen und eine Tasse Kaffee genießen kann. In einem anderen Fall kann man den Druck der »zu erledigenden Dinge« brauchen, weil man ursprünglich Druck brauchte, um aus dem Geburtskanal zu kommen. Die Variationen sind zahllos.

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Durchkommen

Eine andere Variation des Themas des Steckenbleibens ist: »Ich kann nicht zu dir durchkommen.« Warum gebrauchen wir diese Metapher — daß wir zu jemandem nicht durchkommen —, wenn wir meinen, daß wir uns ihm nicht verständlich machen können? Vielleicht weil wir, wenn wir uns jemandem verständlich machen wollen, ein frühes Erlebnis heraufbeschwören, bei dem wir die Art von Verständnis (»Platz«) brauchten, die es uns ermöglicht hätte, leicht geboren zu werden. Das war eine Zeit, in der »durchkommen« eine buchstäbliche Bedeutung hatte. Es war lebenswichtig in bezug auf die physische Kommunikation mit der Mutter, durch die Wand der Gebärmutter, und es war lebenswichtig in bezug auf die Passage durch den Geburtskanal zur Außenwelt.

Eine andere Erweiterung desselben Themas ist das Gefühl, nicht imstande zu sein, durch die Berufsarbeit, die Hausarbeit, die Woche, die menschliche Beziehung »durchzukommen«. Einen langen Kampf vor sich zu haben, ruft wieder das alte Gefühl wach, keinen leichten Kontakt mit der Mutter herstellen zu können. Der »blaue Montag« ist ein gutes Beispiel — man hat das bange Gefühl, daß der Sonntag vorüber ist und daß der Kampf wieder von vorn beginnt.

In, der Primärtherapie trennen wir das gegenwärtige Symbol vom vergangenen Feeling, so daß der Mensch endlich fühlen kann, was es wirklich war, durch das (oder zu dem) er nicht durchkommen konnte. Solange er nicht dieses ursprüngliche Feeling wiedererlangt, wird er weiterhin überreagieren, wenn ihn jemand nicht versteht, und seine Lieblingsklage vorbringen: »Ich kann nie zu dir durchkommen!« Und er wird weiterhin auf jedes Projekt, jede Aufgabe, die er vor sich hat, überreagieren — wieder mit seiner Klage: »Ich kann da nicht durchkommen.«

Sobald jedoch das frühe Feeling gefühlt wird, gibt es keine Angst mehr wegen langfristiger Aufgaben und Verpflichtungen. Der Betreffende kann sich nun beispielsweise das Ziel setzen, das Studium zu beenden, ohne die ständige Sorge, daß er nie imstande sein wird durchzukommen. Den ursprünglichen Schmerz zu fühlen, kann einen Menschen, der ständig aufgibt, in einen verwandeln, der bereitwillig durchhält.

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Der folgende Bericht beschreibt gut das Feeling des Steckenbleibens und seinen Abkömmling, das Nicht-»Durchkommen«, während es der Patient in der Gegenwart (dritte Bewußtseinsebene) und dann in der ursprünglichen Geburtssequenz (erste Ebene) erlebt. Er zeigt auch die direkte Berührungsfläche zwischen Geburts-Feelings und gegenwärtigen Problemen — und wie das Fühlen des ursprünglichen Schmerzes wesentliche Änderungen im gegenwärtigen Leben bewirken kann.

»Ich begann mit meiner Therapie im April 1976. Nach einem Monat fing ich an, Geburts-Feelings zu erleben, aber ich erkannte sie nicht als solche. Einmal fühlte ich einfach das Bedürfnis, während einer Gruppensitzung den Gruppenraum zu verlassen. Ich fühlte, wie ich sagte: >Ich muß hier raus.< Ein andermal lag ich in der Gruppe einfach ganz still und fühlte mich tot.

Nach acht Monaten Therapie lag ich im Bett und ließ mich fühlen, wie ich ganz eingeschlossen war. Ich kauerte mich ganz zusammen, als ich das fühlte. Etwa einen Tag später fühlte ich mich großartig, und die Idee auszugehen und mit Menschen zusammenzusein, erschien mir unglaublich natürlich. Gewöhnlich muß ich mich dazu zwingen, in Gesellschaft zu gehen, und ich tue es erst nach Monaten des Alleinseins und wenn mir bewußt wird, wie schrecklich mein Alleinsein ist. Eines Tages bei der Arbeit, wenige Tage nach diesem Feeling des Eingeschlossenseins, aß ich an einem Tisch in der Kantine. Mir wurde bewußt, daß ich mich nicht an der Unterhaltung bei Tisch beteiligte, und ich sah einen Tisch mit Leuten, mit denen ich mich, wie ich meinte, lieber unterhalten hätte. Ich stand einfach auf und ging zu dem anderen Tisch, und dabei fühlte ich eine sehr große Macht, mein Leben wünschenswerter zu machen. Dieser Zwischenfall mag nichtig erscheinen, aber er ist es nicht — vorher wäre ich einfach in der Situation geblieben, in der ich mich allein fühlte.

Ein paar Tage später sah ich ein Mädchen, das ich mochte, vom Büro zu einer Bushaltestelle gehen. Ich beschloß, mit ihr zu gehen. Es war ein gutes Gefühl, einfach auf sie zu und dann neben ihr her zu gehen. Normalerweise hätte ich mir lauter Gedanken gemacht, ob ich ihr nicht lästig falle. Wie es sich zeigte, gefiel es ihr nicht besonders, daß ich sie begleitete, aber es war trotzdem ein gutes Gefühl, einfach zu tun, was ich tun wollte.

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Während meiner vierten Therapiewoche arbeitete ich viel auf der ersten Ebene. Einmal versuchte ich, meinen Kopf durch die (gepolsterte) Wand zu stoßen, um durchzukommen. Es gelang mir natürlich nicht, und ich fing an, auf sie einzuschlagen. Bald jedoch fühlte ich, daß das nicht zu meinen Feelings paßte, daher trat ich von der Wand zurück und schlug in der Luft herum. In diesem Augenblick fühlte ich, daß ich zu spät geboren wurde: ich fühlte deutlich, daß ich nicht aus dem Schoß meiner Mutter kommen konnte, als ich es wollte. Gegen die Wand zu schlagen, war nicht das Richtige. Als Kind fühlte ich den Schoß meiner Mutter ganz um mich herum, deshalb schlug ich im Primal in die Luft, ich schlug nicht gegen die Wand. Ich wollte allerdings meinen Kopf durch die Wand stoßen, wie ich ursprünglich gewollt hatte, meinen Kopf durch den Geburtskanal meiner Mutter zu stoßen. Nachdem ich eine Weile gekämpft hatte, gab ich auf.

Das ist für mein Leben typisch gewesen, solange ich mich zurückerinnern kann. Ich neige dazu aufzugeben, was ich wirklich will. Einige Monate früher, als ich mehr Anstrengungen unternommen hatte, mit Menschen zusammenzusein, tat ich es, weil ich meine Neigung gefühlt hatte, von vornherein aufzugeben, was ich wollte.

In einer Nachgruppensitzung vor einigen Monaten hatte ich eine längere Diskussion mit einem Therapeuten, in der ich versuchte, ihn dazu zu bringen, mich zu verstehen und so zu sein, wie ich ihn haben wollte. Ich hatte keinen Erfolg, und als ich sah, daß bei der Diskussion nichts herauskam, gab ich sie auf. Ich wußte aus früherer Erfahrung, daß mich manche Menschen einfach nie verstehen.

Als ich aber nach Hause kam, ging ich in meine Primal-Box und versuchte weiter, mich dem Therapeuten verständlich zu machen. Ich dachte, das habe vielleicht etwas mit dem Vater zu tun, und versuchte, das Ganze auf ihn zurückgehen zu lassen. Dann schlug ich plötzlich gegen die Wand und schrie: >Mama, laß mich hier raus!< Ich weinte eine Weile, und dann legte ich mich hin, und in meinem Geist war mir die Kampf-Situation, in der ich mich befand, vollkommen klar. Ich hatte schon Feelings der dritterf Ebene gefühlt, die mit dem Versuch, mich den Leuten verständlich zu machen, zu tun hatten, aber dies war das erste Mal, daß ich darunter das Geburts-Feeling erlebt hatte.

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Letzte Woche versuchte ich, mit einem Mädchen bekannt zu werden, das ich im Bus sah. Wir stiegen beide an derselben Haltestelle aus. Ich wollte sie bitten, eine Tasse Kaffee mit mir zu trinken. Ich sagte: >Entschuldigen Sie<, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Sie sah mich nicht einmal an. Ich war erstaunt, daß ich mir nicht schlecht oder dumm oder so etwas vorkam. Es war schön, daß diese Gefühle nicht aufkamen. Dann, nach einigen Minuten, hatte ich plötzlich das Gefühl: <Ich gebe mir solche Mühe, und nichts funktioniert.> Ich begann, mitten auf der Straße zu weinen. Ich hatte genug von den Verknüpfungen auf der dritten und zweiten Ebene gefühlt, so daß das einzige Feeling, das in dieser Situation aufkam, das der ersten Ebene war, als ich mich so anstrengte, geboren zu werden, und nichts, was ich tat, Erfolg hatte.

Ich habe festgestellt, daß meine erste Erfahrung im Leben — sich sehr anstrengen, merken, daß nichts hilft, und aufgeben — einen Einfluß darauf hatte, wie ich auf alle späteren traumatischen Erlebnisse reagierte und wie ich jetzt noch reagiere, wenn ich etwas will. Selbst wenn ich den ganzen Schmerz der zweiten und dritten Ebene durch Primais wegbrächte, glaube ich, daß ich noch zu leicht aufgeben würde, was ich will, wenn ich meine Geburt nicht wiedererlebte. Im besonderen verändert das Fühlen von Schmerzen der zweiten und dritten Ebene meine Beziehung zu Menschen; den Schmerz der ersten Ebene zu fühlen, gibt mir die Energie, überhaupt auszugehen und diese Beziehungen herzustellen.«   (Kursivschreibung durch den Autor.)

 

Kampf

Wieder ein anderes übliches Lebens-Szenario ist das Kampf-Thema. Oft richtet das Kind, das während der Geburt so schwer kämpfte, sein späteres Leben so ein, daß alles ein Kampf ist. Ein solcher Mensch läßt die Dinge nicht leicht an sich herankommen, weil das Leben selbst nicht leicht kam. Er wächst auf und hat einmal selbst Kinder, denen er nicht erlaubt zu spielen oder sich zu erholen, ohne vorher eine Unzahl von Arbeiten erledigt zu haben. Er baut ständig Hindernisse vor sich selbst und seiner Familie auf, denn gegen Hindernisse zu kämpfen und sie zu überwinden, ist sein prototypisches Erlebnis.

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Auf diese Weise verstärkt er sein eigenes Geburtstrauma, bis es zu einem unveränderlichen Schema wird. Das ist kein bewußter Prozeß. Es sind vielmehr unbewußte Prozesse, die diktieren, wie sein Bewußtsein seine Lebenssituation entwirft und gestaltet.

Eine unserer Patientinnen hatte die Einsicht, warum sie sich immer in Versager verliebte: sie brauchte einen echten Kampf. Sie heiratete einen Alkoholiker und versuchte, ihn zu bessern, gab es aber schließlich auf, als die Widerstände unüberwindlich wurden. Auch das war eine Reinszenierung der Geburtssequenz. Sie konnte nicht erkennen, daß es so gut wie unmöglich war, den Alkoholismus ihres Mannes zu kurieren, da er selbst nicht motiviert war. Er hatte aufgegeben, aber sie konnte nicht aufgeben.

»Nach 16 Monaten Therapie habe ich langsam angefangen, ein Geburts-Feeling zu haben, das mein Leben zu beherrschen und die Ursache meiner Neurose zu sein scheint. Es ist das Gefühl, daß ich ständig um mein Leben kämpfen muß, daß ich immerzu kämpfen muß, um am Leben zu bleiben. Ich erlebe diesen Kampf in meinem täglichen Leben, nur um auf meinen eigenen Beinen zu stehen. Meine natürliche — oder sollte ich sagen: neurotische — Neigung ist aufzugeben und nicht zu kämpfen. Der Zyklus geht so: kämpfen, nichts erreichen, aufgeben, sterben wollen, nicht sterben wollen, beschließen, nicht zu sterben, wieder kämpfen, nichts erreichen etc. etc. Dieser Zyklus geht weiter und weiter. Dazu kommt das Gefühl, daß es ganz gleich ist, was ich tue - ich erreiche doch nichts; wozu sich also anstrengen, wozu kämpfen? Ich könnte ebensogut aufgeben und sterben. Aber ich wünsche mir verzweifelt zu leben.

Je mehr ich in der Gegenwart auf mich achtgebe, desto mehr habe ich dieses Feeling. Auf mich achtzugeben, läßt mich fühlen, wie schwer es ist, daß mir niemand hilft, und wie allein ich bin. Mein Leben in Ordnung zu bringen, das heißt anfangen, wirklich in der Gegenwart zu leben und das alte Feeling des Kämpfens, um zu leben, genau als das zu empfinden — als ein altes Feeling.

Was hat mich dazu gebracht, imstande zu sein, dieses schreckliche Feeling zu haben? Mehrere positive Veränderungen in meinem Leben: die Herstellung einer Beziehung zu jemandem, den ich mag, das seltenere Ausagieren meines Urschmerzes und die größere Sorgfalt,

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die ich auf mich selbst verwende, wozu gehört, daß ich hübsche Kleider trage, anstatt mich wie eine Schlampe anzuziehen, daß ich regelmäßig für meinen Unterhalt sorge, anstatt ständig knapp bei Kasse zu sein und Geld von meinem Vater zu borgen, daß ich meine Wohnung aufräume, anstatt in einer unordentlichen Bude zu hausen, und daß ich einen schönen Urlaub mache.

Bei meinem Interview nach einem halben Jahr sagte mir mein Therapeut, ich solle mich darauf konzentrieren, mein gegenwärtiges Leben in Ordnung zu bringen, dann brauchte ich nicht zu versuchen, Feelings zu haben - sie würden einfach kommen. Ich wußte, daß er recht hatte, aber ich wollte nicht auf ihn hören, weil es mir eine zu schwere Aufgabe, ein zu großer Kampf zu sein schien, mein Leben in Ordnung zu bringen. Ich wollte nur fühlen, und dann mußte mein Leben von selbst in Ordnung kommen. Aber ich habe auf schmerzhafte Weise gelernt, daß es so nicht geht — weder in der Therapie noch im Leben allgemein.«

 

Man beachte auch hier wieder die ständigen Wechselwirkungen zwischen dem Fühlen des Urschmerzes und der Vornahme positiver Veränderungen im gegenwärtigen Leben. Im nächsten Bericht beschreibt der Patient, wie der Umstand, daß er ein »Nachtmensch« ist, eine ständige Reinszenierung des langen, schweren Kampfes darstellt, den er bei der Geburt durchmachte:

»Ich habe einige sehr interessante Verknüpfungen in bezug darauf hergestellt, wie meine Geburt mein tägliches Leben beeinflußte. Die Einsichten haben damit zu tun, wie ich den Tag verbringe -ein Schema, das ich täglich wiederholt habe, so weit ich zurückdenken kann.

Ich bin ein Nachtmensch. Ich hasse den Tag mit seinem starken Licht. Ich stehe morgens gewöhnlich so spät wie möglich auf und gehe abends so spät wie möglich zu Bett. Ich liebe die Abendstunden.

Jeder Tag beginnt für mich auf dieselbe Weise: wenn ich morgens aufwache, ist das der schlimmste Augenblick des Tages. Ich fühle mich jeden Morgen sehr schlecht und wehrlos, und ich weiß, daß ich einen langen Kampf vor mir habe, um durch den Tag zu kommen,

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bis es endlich Abend wird, wo es mir, wie ich weiß, bessergehen wird. Während der Tag vergeht, fühle ich mich besser und besser, und wenn endlich der Abend kommt, fange ich an, mich wirklich gut und sicher zu fühlen. Ich erreiche einen Höhepunkt des Wohlbefindens, wenn es Zeit ist schlafen zu gehen - und dieser Augenblick, wenn ich unter die Decke schlüpfe und die Wärme und Sicherheit des Bettes fühle, bereitet mir solche Freude, daß ich angenehme Gefühle am ganzen Körper verspüre. Dann entspanne ich mich vollständig und versinke in einen Schlaf, in dem ich alles vergesse.

Ich wußte nie, warum jeder Tag meines Lebens so war — oder auch nur, daß etwas Ungewöhnliches oder Beengendes daran war, 12 von 24 Stunden täglich zu verabscheuen. Dann hatte ich einige Geburts-Feelings, und es wurde mir allmählich bewußt, wie die Einprägung meiner Geburt mein tägliches Leben beeinträchtigt.

Was ich in den Geburts-Feelings fühlte, war ein langer und qualvoller Kampf. Unglaubliche Drücke zerquetschten mir den Kopf und den Rücken. Meine Mutter konnte mir überhaupt nicht helfen. Ich war steckengeblieben, und ich wußte, daß ich nur auf mich selbst zählen durfte, um hinauszukommen und zu leben. Ich tat also die ganze Arbeit selbst und schob und schob mehrere Stunden lang, bis ich völlig erschöpft war. In diesem Augenblick gab ich auf, weil ich einfach nichts mehr tun konnte.

Ich kam schließlich lebendig zur Welt. Ich werde mich immer an dieses eine Feeling erinnern: wie ich auf dem Rücken liege, am Daumen lutsche und langsam einschlafe. Der Kampf ist vorüber, ich habe es geschafft! Ich bin draußen und lebe. Ich bin in Sicherheit, und nun kann ich mich entspannen und es mir leisten, einzuschlafen und alles zu vergessen! Dieser Augenblick verschaffte mir ein so gutes Gefühl!

Ich gehe durch jeden Tag genau so, wie ich meine Geburt erlebte. Am Morgen habe ich den Kampf noch vor mir - meine Geburt beginnt und ich habe Angst vor dem Kampf -, und je näher ich dem Augenblick komme, in dem ich mich entspannen und schlafen gehen werde, desto besser und sicherer fühle ich mich. Wenn der Abend kommt und die Schlafenszeit, fühle ich mich immer entspannter und sicherer. Auch mehr und mehr ich selbst.

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Später wurde dieses Schema dadurch verstärkt, daß mein Vater meiner Schwester und mir vor dem Schlafengehen eine volle halbe Stunde seiner kostbaren Zeit opferte und mit uns spielte und uns Geschichten erzählte. Das war die einzige halbe Stunde des Tages, in der er sich um uns kümmern konnte, und wir freuten uns wirklich jeden Tag darauf.

Deshalb bin ich ein Nachtmensch. In gewisser Hinsicht könnte man sagen, daß ich <so geboren wurde> — aber nicht im Sinne von Genen und Vererbung. Ich finde es wirklich erstaunlich, daß mein Geburtserlebnis eine so große Wirkung auf mein tägliches Leben gehabt hat.«

 

Stillhalten; Bewegung

Die unbewußte Bedeutung des Geburtstraumas wirkt sich höchst verschiedenartig und individuell aus. Zum Beispiel bedeutete für einen Patienten »stillhalten« sich nicht rühren, an einem sicheren Ort (im Schoß) bleiben. Der Geburtskampf um das Überleben hatte Stillhalten verlangt, und das übersetzte sich im späteren Leben in die Weigerung, eine vorteilhafte Stellung anzunehmen, was eine Übersiedlung in eine andere Stadt mit sich gebracht hätte. Allein der Gedanke an die Übersiedlung löste einen Angst-Anfall aus. Dieser Mann mußte stillhalten. Hier wurde eine Geburtssequenz rund 35 Jahre später ausgelöst und bestimmte unbewußt eine für das Leben entscheidende Wahl.

Ein anderer Patient hatte die entgegengesetzte Reaktionstendenz. Er fühlte in seinen Geburts-Primals, daß er ein »Fehler« sei. In seinem Erwachsenenleben agierte er das Trauma aus, indem er ständig seine Stellungen änderte - und nicht stillhielt -, weil er so hoffte, die Entdeckung vermeiden zu können, daß man einen »Fehler« gemacht hatte, als man ihn einstellte.

Eine andere Patientin wiederum wurde ersucht, einige Büsche aus einem Teil des Gartens in einen anderen zu verpflanzen. Während dieser Arbeit hatte sie plötzlich eine unerklärlich starke Angst. In ihren Geburts-Primals fühlte sie, daß die ursprüngliche Verpflanzung vom Schoß in das Leben — verstärkt durch zahllose »Verpflanzungen« von Stadt zu Stadt, die sie als Offizierstochter erlebte — so traumatisch gewesen war, daß jede Art von Verpflanzung in der Gegenwart diese frühen Schmerzen wieder heraufbeschwor.

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Während daher Stillhalten für den einen Menschen Überleben bedeutet, kann es für den anderen der Tod sein: aus dem Schoß heraus und weiter — das bedeutet Überleben. Und wieder werden beide Variationen während des ganzen Lebens ausagiert.

 

Rückkehr

Eine Patientin hatte nach einem anscheinend geringen Feeling auf der zweiten Ebene ein Geburts-Primal. Sie erlebte Feelings, die ihren Unwillen »zurückzukehren« betrafen. Geschichte langweilte sie. Sie ärgerte sich, wenn sie etwas zu Hause vergessen hatte, so daß sie umkehren und zurückgehen mußte. Es war ihr dabei nicht ängstlich zumute, sie war nur verärgert, ein wenig zu sehr verärgert. Sie fühlte darüber auf der zweiten Ebene - wie ihre Eltern nie mit dem zufrieden gewesen waren, was sie tat, und sie alles noch einmal tun ließen. Dann glitt sie auf die erste Ebene: aus dem Geburtskanal herauskommen, war alles; zurückgehen war der Tod. Hier lag der Ursprung ihres Verhaltensmusters als Erwachsene.

Das Gegenteil dieses negativen Gefühls ist oft die Folge von Kaiserschnitt-Geburten. Viele unserer Patienten, die durch Kaiserschnitt zur Welt kamen, haben das Gefühl, sie müßten an den Ausgangspunkt zurückgehen, um sich vollständig zu fühlen. Sie haben ein allgemeines Gefühl der Unvollständigkeit — daß nichts im Leben »geregelt« ist. Und tatsächlich gibt es etwas, zu dem sie zurückkehren müßten. Es wurde etwas unvollständig gelassen; es gab einen entwicklungsmäßigen Mangel, der verwirrend ist. Ein sehr wichtiger Teil des Wachstums und der Entwicklung wurde bei ihrem Geburtserlebnis abgekürzt. Man ist tatsächlich nicht vollständig, wenn die Geburtssequenz nicht natürlich beendet wurde.

Eine leichte Variation dieses Themas wurde von einem Patienten ausgedrückt, der im Geburtskanal steckengeblieben war: er wollte immer zu dieser Zeit vor dem Trauma zurückkehren:

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»Etwa zwei Jahre nach dem Beginn meiner Therapie hatte ich das Gefühl, daß es für mich keine Zukunft mehr gab. Mein Leben gehörte der Vergangenheit an. Eines Tages löste ein Lied die Erinnerung an eine idyllische Szene in meinem Leben aus, die mehrere Jahre zurücklag. Ich war in dieser Szene mit dem Mädchen zusammen, das ich liebte, und wir fütterten Enten an einem Fluß. Zuerst verstand ich nicht, weshalb ich wegen dieser Erinnerung so sehr weinen mußte. Ich hatte mir in meinen Tagträumen gewünscht, mit diesem Mädchen an einem stillen Fluß auf dem Lande zu sein, im Sommer 1972. Die Therapeutin ermutigte mich, die Szene im einzelnen zu beschreiben — die Wasserlilien, die Wiesenblumen, das Sonnenlicht, das sich im Wasser spiegelte, den Gesang der Vögel, sogar die Brise und die Düfte des Sommers.

Während ich das tat, erregte ich mich immer mehr. Die Therapeutin fragte mich, warum. »Weil ich nicht dorthin zurückgehen kann<, sagte ich. <Das ist richtig> sagte sie. <Sie können nicht zurückgehen.> Ich hatte sofort ein Feeling. Kurz bevor ich bei der Geburt vollkommen steckenblieb, hatte ich eine flüchtige Erinnerung an das Leben, wie es im Schoß gewesen war — an ein gemeinsames Leben —, ein Leben, zu dem ich nicht zurückkehren konnte.

Ich denke immer noch an die Erlebnisse, die ich mit dieser bestimmten Freundin hatte, als an die beste Zeit meines Lebens, aber der Unterschied ist, daß ich jetzt nicht mehr zurückblicke. Das Gefühl des Unheils in der Zukunft hat sich aufgelöst. Ich sehe einer Zukunft entgegen, und ich bin froh, daß ich lebe. Vielleicht verliebe ich mich wieder — diesmal als ein Mann, der sein Leben mit einer Frau teilen will — nicht als ein Baby, das in den Schoß seiner Mutter zurückkehren möchte.«

 

    Bereitsein: Aufbruch    

 

Das Thema des »Sichbereitmachens« nimmt verschiedene Formen an. Einer unserer Patienten, der eine Frühgeburt gewesen war, bekam immer einen plötzlichen Schreck, wenn er aufgefordert wurde, irgendwohin zu gehen oder irgend etwas zu tun. Er fühlte ein leichtes Zögern und mußte sich erst sammeln. Nachdem er die Geburtssequenz wiedererlebt hatte, hatte er die Einsicht: >Ich gehe nirgends hin, wohin Sie mich schicken; ich gehe, wenn ich bereit bin.< 

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Das Feeling war: <Ich bin nicht bereit, wenn Sie bereit sind>, und dieses Zögern hatte er sein Leben lang ausagiert. Er konnte daher nie spontan sein. Immer, wenn sich jemand mit ihm verabredete, kam er zu spät, selbst wenn es sich um angenehme Situationen handelte. Er kam immer und überall als letzter. Er mußte alles auf seine Weise und zu seiner Zeit machen.

Eine andere Patientin, die zu rasch geboren worden war, schrieb:

»Eine Woche, nachdem ich aus der Schweiz (wo ich 1980 meine Primal-Übungen abhielt) heimgekehrt war, saß ich eines Abends vor Müdigkeit wie betäubt da. Ich war emotional noch sehr offen von meinen Übungen her, und plötzlich begann ich zu fühlen/mich zu erinnern, wie ich geboren wurde. Es war eine Art von Sekunden-Primal von unglaublicher Intensität: ich war im Geburtskanal und wurde zu schnell hinausgestoßen, bevor ich bereit war. Ich fühlte eine Panik. Ich wollte, daß sich alles auf mein Tempo verlangsamte; ich wollte die Herrschaft über das haben, was mit mir geschah. Ich wollte verzweifelt anhalten, bis ich bereit war, aber ich durfte nicht.

Das Feeling war in wenigen Augenblicken vorüber, aber ich wurde von Einsichten überflutet, die sich über mehrere Tage ausdehnten. Ich erkannte blitzartig, daß mein Leben von zwei wesentlichen Geburts-Feelings diktiert worden ist:

1. Ich bin noch nicht bereit! Alles geht zu schnell für mich - ich komme nicht mit - geht auf mein Tempo herunter;
und
2. Ich kann diesen Druck nicht aushalten!

Ich hatte das zweite Feeling in bezug auf den Druck schon vorher in Geburts-Primals gehabt, aber es war nie aufgelöst worden. Ich breche noch immer zusammen, wenn ich bei der Arbeit unter zu großem Druck stehe. Die Verknüpfungen, die ich in bezug auf das erste Feeling spürte, beeinflussen mein Leben ungefähr drei Wochen später immer noch aktiv.

Das erste Feeling hat mir geholfen zu verstehen, warum ich immer zu spät komme. Ich bin nie rechtzeitig fertig, weil ich nicht fertig war, geboren zu werden. Meine Gewohnheit, mich zu verspäten, war einer der Gründe, die ich für meinen Wunsch angab, mich einer Primärtherapie zu unterziehen, da meine berufliche

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Stellung wiederholt durch meine Unfähigkeit bedroht war, rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen. Aber der Beruf war nicht das einzige Problemgebiet. Jedesmal, wenn ich zu einem bestimmten Zeitpunkt >aus dem Haus< muß, kann ich es einfach nicht. Sogar an Wochenenden wird es manchmal drei oder vier Uhr nachmittags, bevor ich bereit bin, etwas zu unternehmen.

Ich sehe jetzt, daß ich immerzu <nicht bereit sein, geboren zu werden>, ausagiere. Alles, was ich tue, tue ich langsam — immer halte ich mich zurück, lasse ich mir Zeit. Wenn ich zu etwas gedrängt werde, worauf ich mich nicht vorbereiten kann, gerate ich in Panik und bin zu nichts imstande. Jeder Aspekt meines Lebens — Arbeit, Beziehungen zu anderen, Sex, Interessen, Reisen — wird durch mein Gefühl beeinflußt, daß ich nie die Zeit habe, mich vorzubereiten. Prototypische Erlebnisse — ja! Ich scheine mein ganzes Leben lang gesagt zu haben: <Ich bin noch nicht fertig — wartet auf mich!>

Seitdem ich diese Verknüpfungen hergestellt habe, konnte ich Verbesserungen in meinem Leben feststellen, die in keinem Verhältnis zur Natur des Primais zu stehen scheinen (es dauerte schließlich nur einige Minuten): Ich bin mit zwei Ausnahmen jeden Tag rechtzeitig zur Arbeit gekommen; ich habe es fertig­gebracht, das Haus zu verlassen, ohne es vorher aufräumen zu müssen, und ich war imstande. Freunde einzuladen, ohne in Panik zu geraten, weil ich die Teppiche nicht gesaugt oder das Geschirr nicht gespült hatte. Ich mußte nicht zuerst <fertig sein>.

Das scheinen vielleicht kleine Veränderungen zu sein, aber sie haben ungeheuer dazu beigetragen, daß ich mich entspannt fühlen kann.«

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Eine andere zu früh geborene Patientin hatte das Gefühl, daß sie nie »auf Wiedersehen« sagen mochte. Sie fühlte sich nie bereit, irgend etwas zu verlassen mit dem Mutterschoß angefangen. Dieses Gefühl bereitete ihr große Schwierigkeiten auf vielen Gebieten: als sie ihren Freund verließ, mit dem sie sich nicht verstand, als sie ihre Wohnung verließ, in der sie unglücklich war, und vor allem als sie bei der Geburt den bequemen Mutterschoß verließ. Da sie gezwungen worden war, den Schoß zu verlassen, bevor sie bereit war, fühlte sie sich als Erwachsene nie zu etwas bereit. Sie entdeckte, daß sie dem Abend nicht »auf Wiedersehen« sagen mochte, und blieb deshalb sehr lange auf; dann mochte sie dem Morgen nicht »auf Wiedersehen« sagen und blieb daher sehr lange im Bett. Ihr Leben allgemein wurde durch dieses frühe Erlebnis beherrscht. Sie konnte nie ohne große Angst etwas, was sie tat, aufgeben, um etwas anderes zu tun. Sie mußte jede Tätigkeit vollständig beenden, und jede Unterbrechung löste Gereiztheit oder sogar Wut aus.

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