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8. Schulung zur Kriminalität

 

 

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Als ich fünfzehn war, passierte etwas, was meinem Leben eine andere Wende gab. Plötzlich erwachte nämlich in unserem kommunistischen Direktor in der Schule, Herrn Skripko, ein besonderes Interesse an mir. Er war überhaupt der erste Mensch, der mir persönlich Aufmerksamkeit schenkte. Durch seine Führung interessierte ich mich immer mehr für die kommunistische Jugendliga in der Schule, in die er meine überschäumende Energie zu lenken versuchte, und ich stürzte mich auch mit Feuereifer hinein.

Eines Tages kam der Direktor zu mir und sagte: "Kourdakov, ich habe dich in der Jugendliga beobachtet. Ich glaube, du würdest einen guten Führer abgeben. Wie wäre es, wenn du im nächsten Jahr wirklich hart arbeitetest und dann mal versuchst, wie weit du kommen kannst? Wenn du dich wirklich bemühst, wirst du es weit bringen. Du könntest der Führer der Jugendliga hier werden."

Das wäre großartig! dachte ich, Leiter der kommunistischen Jugendliga! Warum nicht? Ich war König in Barysewo und konnte es bestimmt leicht schaffen. So begann ich denn mit größtem Eifer den Marxismus-Leninismus und die Lehren und Ziele des Kommunismus zu studieren.

Ich kann mich nicht erinnern, daß irgend etwas einen größeren Einfluß auf mein Leben ausübte als die Prinzipien des Kommunismus, Marxismus und Leninismus mit seinen Wahlsprüchen: Einheit und Brüderlichkeit aller Menschen! Von allen entsprechend seinen Fähigkeiten, für alle entsprechend seinen Bedürfnissen! Diese Ideale fanden einen starken Widerhall in mir. Vorher hatte ich nichts, an das ich glauben konnte. Jetzt aber hatte ich einen Glauben gefunden: den Kommunismus.

Es war jedoch nicht der Kommunismus, den ich in der dicken Irene oder Onkel Nitschy sah. Was sie praktizierten, war nicht Kommunismus. Ihre persönliche brutale Haltung und ihr Versagen hatten nichts mit dem Kommunismus und dessen Idealen zu tun. Wie konnten sie auch? Der Kommunismus predigte Brüder­lichkeit und Gleichheit aller Menschen, während Nitschman und die dicke Irene eine Atmosphäre des Hasses im Kinderheim verbreiteten, wo Macht Recht bedeutete, das genaue Gegenteil von Gleichheit für alle Menschen.


Doch die Hoffnung, die ich im Kommunismus fand, wurde von meinen Freunden in Barysewo nicht geteilt. Die Härte und das haßerfüllte Klima wirkten sich auf die einzelnen in tragischer Weise aus.

Mein guter Freund Alexander Lobuznow und sein Bruder Wladimir liefen davon nach Nowosibirsk. Abwesenheiten bis zu einer Woche wurden im Heim nicht einmal bemerkt. Alex und Wladimir lungerten im Park im Herzen von Nowosibirsk herum und lebten von gestohlenen Lebensmitteln. Eines Tages stahlen sie mehrere Flaschen Wodka und waren alsbald betrunken. In diesem Zustand attackierten sie einen jungen Mann im Park und schlugen ihn heftig. Sie hatten eigentlich gar nichts Ernstliches beabsichtigt, schienen aber nicht mehr zu wissen, was sie taten. So würgte ihm Alex seinen Ledergürtel um den Hals und zerrte ihn daran etwa 300 m durch den Park. Schließlich riß er den Gürtel wieder los und schrie ihn an: "Wenn du weißt, was für dich gut ist, dann verschwinde!" Aber der junge Mann rührte sich nicht. Alarmiert bückte sich Alex nieder. Der Mann war tot, mit seinem Gürtel stranguliert. Alex und Wladimir rannten los, so schnell sie konnten, doch die Polizei nahm sie schließlich doch fest.

Mein guter Freund, Alex, zwei Jahre älter als sein Bruder, wurde zum Tod durch Erschießen verurteilt. Wladimir kam ins Gefängnis, wo er heute immer noch ist.

 

Viele andere aus dem Kinderheim liefen mit fünfzehn oder sechzehn Jahren fort und führten ein Leben als Kriminelle, Drogensüchtige oder Prostituierte. Die kriminelle Unterwelt war sehr stark in Nowosibirsk und leicht zugänglich.

Unser innerer Ring blieb ziemlich intakt, bis eines Tages Iwan Tschernega aus dem Heim verschwand. Ich machte mir nicht weiter Gedanken deswegen, denn ich wußte, daß Iwan sehr gut auf sich selbst auf­passen konnte. Ich nahm an, daß er sich ein paar schöne Tage in Nowosibirsk machen wollte. Was ich nicht wissen konnte, war, daß er sich mit einem berufsmäßigen Verbrecher eingelassen hatte und mit ihm jetzt Züge ausraubte. — Eine Zeitlang war er sehr erfolgreich dabei.

Eines Tages kam Boris völlig außer Atem zu mir gelaufen und fragte aufgeregt: 
    "Sergei, hast du schon die Sache mit Iwan gehört? "
   "Nein, was denn? Was ist denn los? "
   "Sie haben ihn geschnappt."
    "Wer hat ihn geschnappt? "
    "Die Polizei. Er hatte sich einer Bande von Zugräubern angeschlossen, und sie wurden gefaßt, als sie gerade wieder einen Zug angehalten hatten."
    "Iwan, ein Zugräuber! Boris, du bist ja verrückt!" sagte ich.

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"Nein, Sergei, es ist wahr. Er ist auf der Polizeiwache in Nowosibirsk. Sie werden ihn ins Gefängnis bringen."
"Können wir ihn besuchen?"
"Das würde nichts helfen, Sergei. Sie lassen niemanden zu ihm vor."

Armer Iwan, dachte ich. Mein guter Freund! Wir hatten viel zusammen erlebt und seit unserer ersten Begegnung, als ich acht Jahre alt gewesen war, viele gemeinsame Erfahrungen gemacht. Damals war er ein junger, offener, froher Bursche gewesen, der stets ein Lächeln übrig hatte. Immer sah er das Beste in allem. Irgendwie mußten ihn aber die Jahre in Barysewo verändert haben. Er wurde zu langjähriger Zwangs­arbeit verurteilt und lebt heute noch irgendwo in einem Gefängnis in Rußland.

 

Inzwischen war ich der Beste in meiner Klasse, nicht nur im Marxismus-Leninismus, sondern auch in Physik, Mathematik, Sprachen, Geographie und Politik. Ich besaß eine große Gewandtheit, fremde Sprachen in mich aufzunehmen, studierte Deutsch und konnte es auch ganz gut sprechen. Ich vermute, daß es im großen und ganzen ein ungeheurer Vorteil war, beim Direktor der Schule so außerordentlich gut angeschrieben zu sein. Doch das war nur zu Anfang so.

Der tragische Tod meines sanftmütigen Freundes Sascha war eine ungeheure, treibende Kraft in mir, "voranzukommen". Und ich setzte diesen Vorsatz auch in die Tat um und lernte wie besessen. Infolgedessen erhielt ich in fast allen Fächern ausgezeichnete Zensuren.

 

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Eines Tages kam der Direktor zu mir und sagte: "Kourdakov, ich möchte, daß du in den unteren Klassen über den Kommunismus sprichst." "Gern", erwiderte ich, indem ich mir dieser großen Ehre voll bewußt war.

Ich erhielt daraufhin die Erlaubnis, meinem eigenen Unterricht fernzubleiben, um die jüngeren Kinder zu unterrichten. Mein Lehrstoff umfaßte den westlichen Imperialismus, den Krieg in Vietnam, der damals in der russischen kommunistischen Literatur gerade das Lieblingsthema war, sowie verschiedene andere politische Themen und natürlich auch die marxistische Ideologie.

Der Direktor der Schule war sehr zufrieden. "Mach nur weiter so", sagte er zu mir, "und du hast eine große Karriere vor dir. Von der Schule wirst du eine ausgezeichnete Beurteilung bekommen."

Dieses Lob bedeutete mir unwahrscheinlich viel, zumal er ja nicht nur der Direktor der Schule war, sondern auch ein bedeutender kommunistischer Funktionär in diesem Bezirk. Und ich wußte, wer es in der Sowjetunion zu etwas bringen wollte, mußte eine hervorragende Referenz des lokalen kommunistischen Parteifunktionärs vorweisen können. Alles schien für mich plangemäß zu verlaufen.

 

Während der Ferien im Sommer 1966 verbrachten Boris, Mikhail Kirilin und ich viele Tage in Nowosibirsk. Im Heim konnten wir kommen und gehen, wie wir wollten. Als ich den beiden eines Tages in Nowosibirsk begegnete, sah man ihnen die Begeisterung schon von weitem an. 

"Was haben die bloß vor?" fragte ich mich.
"
Sergei", sagte Mikhail, "dort unten, wo ich herkomme, in Taschkent, gibt es viele Moslems."
"Ich weiß, du hast mir davon erzählt."
"Ich habe viele Freunde dort und Bekanntschaften. Es wird viel Haschisch dort geraucht. Ich glaube schon, daß ich diese Verbindungen nutzen könnte, uns welches zu beschaffen."
"Oho!", dachte ich, "Das ist es also!"
"Wir könnten es herbringen", fuhr Mikhail aufgeregt fort, "und es verkaufen!"
Ich dachte eine Minute lang darüber nach. Es schien gar keine so schlechte Idee zu sein.
"Warum nicht?" sagte ich. "Wir könnten viel Geld dadurch verdienen."
"Stimmt. Und es wäre gar nicht schwierig."

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"Aber wo könnten wir es lagern? " fragte ich.
"Wo schon? Im Kinderheim natürlich."
"Mikhail, bist du verrückt?"
"Nein, ich finde, das ist eine großartige Idee. Wer würde je auf den Gedanken kommen, in einem Kinder­heim nach Drogen zu suchen?"
"Hee, das ist nicht übel."

"Natürlich, und dann gehen wir nach Nowosibirsk und verkaufen es nach und nach. In der Stadt gibt es genügend junge Leute, die es kaufen würden."
"Gut", sagte ich "wie fangen wir an? "
"Nick — das ist mein Partner — und ich haben es bereits durchgesprochen. In drei oder vier Tagen werden wir mit dem Zug nach Turkistan aufbrechen."

Mit Hilfe unseres "Schatzmeisters" kratzten wir sämtliches Bargeld zusammen, das wir auftreiben konnten. Und Mikhail und Nick nahmen den Zug in die südlichen Regionen des asiatischen Rußlands, um dort Kontakte herzustellen. Es dauerte ungefähr drei Wochen, dann waren sie wieder in Barysewo und grinsten von einem Ohr zum anderen, als sie mich sahen. Ich wußte, daß sie Erfolg gehabt hatten. Wir fanden einen Platz, an dem wir das Haschisch im Heim verstecken konnten, das ab jetzt einen idealen Tarnplatz für unser neues Geschäft bildete.

Mikhail begann bereits beim Auspacken mit dem Verkauf. Die ersten Kunden waren einige der älteren Kinder im Heim, die es kauften und heimlich rauchten. Wir brauchten uns wegen Onkel Nitschy und der dicken Irene oder wegen der anderen Tanten und Onkels keine Sorgen zu machen, denn gerade jetzt, im Sommer, ließen sie im Heim alles laufen, wie es lief. Es gab so gut wie gar keine Aufsicht und kaum Kontrollen. Außerdem waren wir inzwischen recht geschickt darin geworden, sie in jeder Weise zu über­listen.

Dann machten wir uns auf den Weg nach Nowosibirsk, nahmen ein paar Kontakte mit einigen jungen Leuten auf und waren das Zeug im Handumdrehen los.

 

Eines Tages auf einem unserer Geschäftsausflüge durch die Straßen liefen wir Nikolai Powalejew in die Arme. Wir umarmten uns und schlugen uns gegenseitig auf den Rücken. Es war das erstemal, daß ich ihn wiedersah, nachdem er in ein anderes Kinderheim versetzt worden war. Er erzählte mir von seinen Beziehungen zur Verbrecher­organisation in Nowosibirsk, die wiederum nur ein Teil einer nationalen Organisation war. Ich erfuhr später, daß jedes Land in der UdSSR in Regionen eingeteilt ist und jede Region einer kriminellen Organisation zugeteilt wird.

Powalejew erzählte mir von einer Konferenz in der Nähe Moskaus, wo sich die Bandenführer aus der Unter­welt der gesamten Sowjetunion für drei oder vier Tage trafen, um das Land unter sich aufzuteilen. 

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Er erzählte mir, er wäre inzwischen mit einigen der obersten Führer gut Freund geworden.

"Das überrascht mich nicht, Nikolai", sagte ich. "Das ist typisch für dich, du schaffst es, überall an die Spitze zu kommen."
"Und was machst du, Sergei? " fragte er.
"Mikhail, Boris und ich haben ein gut florierendes Geschäft aufgemacht."
"Ich hörte, du bist der Führer der kommunistischen Jugendliga in Barysewo. Ist das wahr? "
"Ja, das stimmt", erwiderte ich.
"Sag mal, was willst du eigentlich sein — ein Kommunist oder ein Geschäftsmann? "

Ich lachte. "Nun", sagte ich, "wir müssen alle schließlich leben. Selbst Kommunisten." Ich dachte an Sascha.

"Hör mal, Sergei", sagte er, "ich möchte dich gern in zwei Wochen wiedertreffen. Ich denke an etwas, das dich interessieren könnte. Wie wäre es, wenn wir uns hier an dieser Stelle wiederträfen — in genau zwei Wochen?"

"Gut", versprach ich, und wir gingen auseinander. Als wir uns wiedertrafen, kam Nikolai sofort auf das Geschäft zu sprechen. "Hör zu, Sergei, du verschwendest nur deine Zeit mit diesem bißchen Zeug. Du arbeitest zu viel dabei, trägst das Risiko, und wie weit kommst du damit?"

Ich hatte gedacht, ich würde eigentlich ganz gut dabei verdienen. Aber neben Nikolais Unternehmen war es nicht viel. Nikolai sah, welchen Eindruck seine Argumente auf mich machten, und er setzte mich weiter unter Druck. "Sergei", sagte er, "die Leute, mit denen ich zusammen arbeite, brauchen Kerle wie dich. Du bist jung und neu in diesem Geschäft. Von dir gibt es noch keine Polizeiakte, was Drogen anbetrifft. Du gehörst zu der Sorte Leute, die die Polizei nicht verdächtigen würde."

Das hörte sich alles recht gut und verlockend an, und so sagte ich: "Also gut, Nikolai, was soll ich tun?"

"Nun, wir brauchen im Moment Kuriere. Alles, was du zu tun hast, ist die Ware abzuholen und sie an anderer Stelle wieder abzuliefern."
"Das klingt ja sehr einfach."
"Ist es auch. Mehr hast du nicht zu tun."

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Wir gingen weiter und setzten unser Gespräch noch eine Weile fort. "Gut", sagte ich noch einmal, "ich werde es machen!"

"Großartig!" erwiderte er und klopfte mir auf den Rücken. Doch bevor ich mein Geschäft mit Nikolai beginnen konnte, mußte ich mein eigenes Unternehmen mit Boris und Mikhail beenden. Wir hatten immer noch eine ziemliche Menge Hasch, das wir erst loswerden mußten. Wir beschlossen, es nach Uljanowsk, Lenins Geburtsort, zu schaffen und dort alles auf einen Schlag zu verkaufen.

Es war Sommer, und viele Touristen waren unterwegs, um sich den Ort anzusehen, wo Lenin geboren war. Es mußte ein guter Platz sein, um unsere Ware loszuwerden. Wir fuhren mit dem Zug hin und brauchten nicht lange, um hier in Uljanowsk total auszuverkaufen. Außerdem sah ich auf diese Art und Weise Lenins Geburtsort, so daß es in zwei Beziehungen ein großer Tag für mich war — als Kommunist und als Geschäfts­mann. Schon bald saßen wir wieder im Zug und fuhren nach Nowosibirsk zurück.

 

Wenige Tage später nahm ich meine neue Arbeit als Kurier auf. Ich mußte zum Marktplatz von Nowo­sibirsk gehen und mich bei einer bestimmten Kontaktperson an einem Stand melden. Dort bekam ich unter dem Ladentisch eine Papiertüte, die ich bei einer anderen Adresse abzuliefern hatte. Für die Polizei war ich nicht verdächtig, schließlich war ich erst ein sechzehnjähriger Junge.

Ich wurde gut bezahlt, und die Arbeit war wirklich leicht.

 

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Ich selbst probierte weder Hasch noch sonstige Narkotika. Ich war ein Körper­ertüchtigungs­fanatiker und wußte sehr wohl, daß die Drogen meinen Körper ruinieren würden. Ich disziplinierte meinen Körper, entschlossen, sehr stark zu werden und es auch zu bleiben. Was ich nebenher trieb, war lediglich ein Geld­erwerb, der zum besseren Leben beitragen sollte. Nichts mehr.

Doch dann geschah etwas, was meinem komfortablen Leben ein Ende setzte.

Es war ein heißer Tag, und ich trug leichte Sommerkleidung. In meiner Hemdentasche hatte ich etwas Hasch, das ich meinen Freunden in Barysewo geben wollte. In der Straßenbahn in Nowosibirsk standen wir wie die Heringe zusammen­gedrängt, was alles noch viel heißer machte. Und irgendwie in dem Gestoße und Gedränge platzte ein Päckchen Haschisch auf und verstreute in meiner Brusttasche. Hasch hat einen ganz speziellen Geruch und kann leicht daran erkannt werden.

Ich stieg an meiner Haltestelle aus, kam an einem Kiosk vorbei und kaufte mir eine Zeitung. Plötzlich kam ein großer kräftiger Mann auf mich zu und sagte: "Komm mal her, Junge, ich möchte dich etwas fragen." Ich vermutete gleich, daß etwas nicht in Ordnung war, folgte ihm aber doch in eine dunkle, schmale Gasse. Ich hatte keine Angst vor ihm. Ich war stark und geübt im Judo. Mit einem allein konnte ich jederzeit fertig werden. Es beunruhigte mich keineswegs, daß er größer und stärker war als ich. So folgte ich ihm ohne Angst.

Als wir in der Gasse angelangt waren, sagte er: "Du hast Narkotiks!"
"Nein, hab' ich nicht", log ich.

Er griff mich beim Hemd, und ich hob die Hand, um ihm einen Karateschlag zu versetzen, dem ein Judogriff folgen sollte. Doch ich hatte nicht bemerkt, was hinter meinem Rücken vorgegangen war. Als ich meinen Arm hob, um ihn unschädlich zu machen, fühlte ich plötzlich einen heißen Schmerz im Rücken, als wenn man mir einen Topf kochendes Wasser über den Rücken geschüttet hätte. Einer seiner Kameraden hatte mir von hinten ein Messer in den Rücken gestoßen. In meinem Kopf begann es sich zu drehen. Ich wurde ohnmächtig, schwankte und fiel bewußtlos zu Boden.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Krankenhaus und fragte die Schwester, was geschehen sei. "Man hat dich in einer Gasse aufgefunden", sagte sie. "Du hast eine Menge Blut verloren. Wenn sie dich nicht bald gefunden hätten, wärest du verblutet. Das Messer hatte eine Hauptarterie durchtrennt."

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Ich schrieb Boris und Nikolai eine kurze Mitteilung, wo ich sei, und sie kamen mich besuchen. Während seines Besuches kam Nikolai dicht an mein Bett und sagte: "Gib mir eine genaue Beschreibung von den beiden, Sergei."

"Nun, ich habe ja nur einen gesehen", sagte ich.

"Wie sah er denn aus?" Ich erinnerte mich gut an ihn und konnte ihn recht genau beschreiben. "Mach dir keine Gedanken deswegen, Sergei. Wir werden ihn uns mal vornehmen."

Ein paar Tage später kam Nikolai wieder. Er sagte: "So, Sergei, wir haben uns um deine beiden Freunde gekümmert. Sie werden niemanden mehr belästigen."
"Was habt ihr denn mit ihnen gemacht?"

"Na ja, ich habe die Beschreibung an meine Freunde weitergegeben, und die haben die beiden bald ausfindig gemacht. Ich werde dir nicht sagen, was man mit ihnen gemacht hat, aber die beiden werden nie wieder einen anderen überfallen."

Wie ich Powalejew kannte, lagen die beiden vermutlich auf dem Grunde des Flusses Ob.

 

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Nach zweieinhalb Wochen wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen, und Boris und Nikolai brachten mich ins Kinderheim, wo ich mich noch erholen sollte. Es war ein knappes Entrinnen gewesen. Die Ärzte hatten mir gesagt, wenn das Messer etwas weiter links eingedrungen wäre, hätte das meinen Tod bedeutet. Das gleiche wäre der Fall gewesen, wenn man mich nicht rechtzeitig gefunden hätte.

Während ich in meinem Bett im Kinderheim lag und von meinen Leutnants und Sklaven bedient wurde, hatte ich eine Menge Zeit, über mich und meine Zukunft nachzudenken.

Ich erkannte, daß mein Leben auf einen Wendepunkt zusteuerte. Entweder folgte ich dem Kurs von Nikolai Powalejew und verstrickte mich immer weiter in die Unterwelt, oder ich begann ernsthaft an meiner Karriere in der kommunistischen Organisation zu arbeiten. Ich hatte beides probiert und war mir nicht sicher, was mir besser gefallen würde. 

Für mich war es keine Frage der Moral. Schließlich lag nur ein paar Meter entfernt auf einem kleinen Friedhof hinter dem Heim der leblose Körper von Sascha, einem guten Menschen, aber nicht hart und zäh genug, um überleben zu können. Wenn ich nicht in der Lage war, auf mich selbst achtzugeben, so würde mich das gleiche Schicksal treffen.

Ich muß zugeben, ich war ein bißchen verwirrt und unsicher. Da war einmal die dicke Irene, die ihren Lenin­orden protzend zur Schau trug. Sie war von der Kommunistischen Partei geehrt worden und achtete sehr darauf, daß sie nirgendwo zu kurz kam. Doch sie hatte auf der anderen Seite weniger Skrupel als viele, die ich in der Unterwelt getroffen hatte.

Doch ich erkannte, daß meine wahren Interessen in der Politik und im Studium lagen. Genosse Skripko, der kommunistische Direktor der Schule, sagte, ich besäße die nötige Geschicklichkeit und auch die Fähigkeiten. Meine Begeisterung und meine Vorliebe für Lenins Lehren sowie für die Ziele des Kommunismus wuchsen beständig. Ich wollte einmal in der Partei oder in der Politik Karriere machen.

So traf ich dort auf meinem Bett meine Entscheidung. Ich wollte mit Hilfe des Direktors der Schule meine Laufbahn in der Partei einschlagen. Sobald wie möglich wollte ich mit ihm über diese Dinge sprechen und mir seinen Rat holen, wie ich mein Leben und meine Karriere gestalten könnte. Ich wollte alles, mit Ausnahme meiner Arbeit als Führer der Jugendliga, zurückstellen und mich ins Studium stürzen.

Die rück­sichtslose Phase meines Lebens schien vorüber zu sein. Was jetzt mein Leben ausfüllte, waren Studium und Disziplin.

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