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10. Auf der Marineakademie in Kamtschatka 

 

 

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Mein erster Aufenthalt nach der Abfahrt von Nowosibirsk und einer endlos scheinenden Fahrt durch die weiten Ebenen von Sibirien war "der magische Seehafen" — Wladiwostok. Ich blieb dort zwei Wochen im Flottenstützpunkt. Dann wurde ich für drei Wochen nach Blagoweschensk beordert, direkt an die Grenze Chinas, wo seit einiger Zeit große militärische Spannung herrschte und sogar Schießereien zwischen den russischen und chinesischen Truppen am Amur stattgefunden hatten.

Ich gehörte einer Militäreinheit der Marine an, die man gegen die Chinesen eingesetzt hatte, und wurde bei dieser Gelegenheit in ein Maschinengewehrgefecht mit chinesischen Truppen verwickelt. Anschließend wurde ich wieder zurückgerufen nach Wladiwostok, wo ich an Bord eines Schiffes zu gehen hatte, das nach Nachodka fuhr, einer größeren sowjetischen Hafenstadt, um von dort meine Reise nach Petro­pawlowsk, meiner Hauptausbildungsstelle bei der Marine-Akademie, fortzusetzen.

Ende September 1968 kam ich hier an und begann mein 2 1/2- jähriges Studium als Funkoffizier.

Petropawlowsk ist die Hauptstadt der Provinz Kamtschatka, mit einer Bevölkerung von 15.000. Es ist eine Hafenstadt mit gepflasterten Straßen und Straßenlaternen in der Stadtmitte und unbefestigten Straßen außerhalb des Zentrums. Die Einwohner setzten sich aus allen Teilen der Sowjetunion zusammen. Aufgrund der zahlreichen Flotten- und Militärstützpunkte besteht die Bevölkerung aus einem hohen Prozentsatz junger Leute. Doch es gibt auch viel Militärpersonal im Ruhestand, das nach Quittierung des Dienstes dort geblieben ist.

Die Marine-Akademie in Petropawlowsk unterstand dem Kommandeur Viktor Jelisajew, einem jungen Offizier, der die Leiter des Erfolges zu diesem bedeutenden Posten mit rasanter Geschwindigkeit emporgeklettert war. Der Flottenstützpunkt umfaßte ein weit ausgedehntes Territorium mit 1200 jungen Marine­offizier­anwärtern, die sich in ständigem Studium, Training und in Vorbereitung für ihren späteren Einsatz befanden. Diese 1200 Studenten waren die "Auslese vom Besten", sorgfältig ausgewählt von überall aus der gesamten Sowjetunion, hochqualifizierte, zukünftige Offiziere.

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Das Leben an der Akademie bestand im wesentlichen aus zwei grundlegenden Teilen: dem Marinestudium und den Aktivitäten der kommunistischen Partei. Das Marinestudium teilte sich ebenfalls in verschiedene Sachgebiete auf: Navigation, Funkwesen, Mechanik und andere. Wir studierten intensiv, konzentrierten uns aber hauptsächlich auf unser Wahlfach.

Da alles in Rußland einen politischen Aspekt hat — die kommunistische Partei reicht ja in jede Phase des Sowjetlebens hinein —, war es nur zu erwarten, daß die Parteiaktivitäten mit besonderem Nachdruck gerade hier betrieben wurden, wo man zukünftige Offiziere heranbildete. Es war wie erwartet.

Einige Tage nach meiner Ankunft rief mich Kommandeur Jelisajew in sein Büro. Es waren verschiedene Offiziere anwesend sowie ein Mann in Zivilkleidung. Er wurde mir als kommunistischer Parteichef der Stadt vorgestellt.

"Kourdakov", sagte er, auf meine Unterlagen in seiner Hand hinweisend, "wir haben Ihre Beurteilung als Parteiaktivist sowie die der anderen Kadetten geprüft. Wir müssen einen der Männer als Führer der kommunistischen Jugendliga hier an der Akademie einsetzen. Es gibt hier zwölfhundert junge Kadetten, doch wir sind zu einem einstimmigen Beschluß gekommen, daß Sie der bestgeeignete Mann für dieses Amt sind. Die Berichte über Sie sind tadellos. Seit Ihrem ersten Schuljahr waren Sie Aktivist, Ihre Gruppe hat den Bezirkswettbewerb von Nowosibirsk gewonnen, und auch in Leningrad haben Sie sich bestens bewährt. Sie sind es also, Kourdakov. Sie sind unser Mann."

Ich war ein wenig benommen. Ich sollte für die kommunistische Entwicklung und Unterweisung von 1200 zukünftigen Offizieren verantwortlich sein! Und ich war erst 18 Jahre alt.

Während ich über das Gelände des Stützpunktes zu meinem Quartier zurückging, hörte ich mich mit Stolz und einer Art Selbstbewunderung mit mir reden: "Sergei", sagte ich zu mir, "dies ist eine Chance in deinem Leben, die nie wiederkehrt. Du wirst es noch weit bringen."

Ungefähr drei Fünftel unserer Zeit an der Akademie mußten wir mit politischem Studium verbringen und zwei Fünftel blieben für das technische. Als Offiziere der Sowjetmarine würden wir eine große Verant­wortung hinsichtlich ihrer Kriegsschiffe tragen. Und wegen dieser Militärmacht, die wir kommandieren würden, mußten wir natürlich politisch stabil und absolut vertrauenswürdig sein. Das ist auch der Grund, warum so viel Zeit und Mühe auf unsere politische Entwicklung verwendet wurde.

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Wir hatten erwachsene Aufseher, die uns bei unserem täglichen Marinetraining assistierten, doch die politische Verantwortung lag in unserer Hand. Ich verfügte über sechs Leutnants, denen wiederum Gruppen von fünfzig, hundert oder zweihundert Mann unterstellt waren. Sie waren sozusagen mein Kabinett.

Meine Pflicht war es, sie im Organisieren und Überwachen von politischen Übungen anzuleiten und zu führen. Ich erhielt meine Anweisungen vom kommunistischen Jugendliga-Hauptquartier in Moskau, und meine Aufgabe war es, darauf zu achten, daß diese Anweisungen auch befolgt wurden. Ich trug die Verantwortung für zu erledigende Arbeiten und die politischen Studien durch mein Kabinett auf alle Offiziers­anwärter.

 

Im großen und ganzen war es meine Aufgabe, mich zu vergewissern, daß jeder Kadett, der sein Studium abschloß und einmal Verantwortung innerhalb der Marine übernahm, auch stark genug war, äußerst diszipliniert und mit Leib und Seele dem Kommunismus ergeben. Die Jugendliga war der Wächter der Partei über den politischen Glauben und die absolute Hingabe an den Kommunismus jedes einzelnen der 1200 Kadetten. Wenn ein Kadett Schwierigkeiten mit einem anderen oder selbst mit dem Kommandeur der Akademie hatte, hatte er das Recht, mit seinem Problem zu mir zu kommen. Dann war es meine Aufgabe, ihn vor dem Kommandeur zu vertreten und zu seinen Gunsten zu sprechen, wenn ich davon überzeugt war, daß er sich im Recht befand. 

Die älteren Offiziere sträubten sich natürlich gegen eine solche Doppelautorität innerhalb des Stützpunktes. Sie wollten selbstverständlich, daß ihre Autorität die oberste und endgültige war. Die Partei allerdings erteilte der Kommunistischen Jugendliga das gleiche Mitbestimmungsrecht. In einigen Fällen hatte die Liga sogar das Recht, die rein militärischen Offiziere zu überstimmen, wenn ein bestimmter Fall es erforderlich machte. Politische Einwandfreiheit war wichtiger als technisches Wissen. 

Wenn immer das Verhalten eines Offiziersanwärters Rückschlüsse zuließ, daß er begann, an den kommunist­ischen Zielen zu zweifeln oder seine Bindung an den Kommunismus sich lockerte, hatte ich ihn zu mir zu rufen und ihm eine gründliche Lektion zu erteilen. Anschließend stellte ich ihn vor eine General­versammlung der Jugendliga und beschämte ihn vor allen anderen. Mit diesen Methoden und einer Art Schockwirkung sollte bezweckt werden, daß dieser Kadett sich in Zukunft daran erinnerte, wo sein Platz war und wo er hingehörte.

Ein Wort von der Jugendliga über meiner Unterschrift konnte die Karriere eines jungen Offiziersanwärters beenden. Er konnte entlassen, zu einem gewöhnlichen Seemann degradiert oder in die unterste Rangstufe der Armee versetzt werden.

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Andere Bestrafungen erfolgten streng und auf dem Fuße, selbst für den kleinsten Verstoß gegen die Gesetze. Jede kleine Übertretung konnte dem Kadetten fünfzehn Tage Arrest bei Wasser und Brot einbringen. Andere wurden zu vierundzwanzigstündigen Wachzeiten verurteilt.

Wurden sie beim Schlafen erwischt, wurden auch sie eingesperrt. Das endgültige Ziel dieser Behandlung war es, sie so zu trainieren, daß sie jedem Befehl ihrer Vorgesetzten blind gehorchten, ohne selbst zu denken. Wir sollten Offiziere werden und andere leiten, doch bevor wir Anweisungen geben konnten, mußten wir erst lernen, sie selbst zu befolgen.

Ich war entschlossen, meine Autorität mit Umsicht und Anteilnahme auszuüben und den Kadetten soweit wie möglich zu helfen. Ich hatte Verständnis für menschliche Schwächen, und es war meine Aufgabe sowie mein persönlicher Wunsch, daß so viele Kadetten, wie es irgend ging, die Anstalt erfolgreich verlassen sollten.

Doch das war nicht in allen Fällen möglich. Der Druck, unter dem sie standen, war ungewöhnlich stark. Das ständige Marschieren, Exerzieren, das technische Marinestudium, das Studium des Marxismus-Leninismus, die langen harten Einsatzstunden als subotniks (freiwillige Arbeitsbrigaden) brachten für manche erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Im ersten Jahr, das ich in Petropawlowsk verbrachte, verübten drei Kadetten Selbstmord durch Erschießen oder Erhängen. Es war einfach zu viel für sie geworden.

Ich erinnere mich an einen Jungen, der beschuldigt wurde, während der Dienstzeit geschlafen zu haben, und so wurde er zu 24 Stunden ununterbrochener Wach- und Patrouillenzeit verurteilt. Es war für ihn ein Ding der Unmöglichkeit, und er verschwand. Wir schlossen daraus ohne weiteres, daß er desertiert sei, doch am nächsten Tag fanden wir ihn auf dem Dachboden, wo er sich erhängt hatte. 

Ein besonders trauriger Fall, mit dem ich mich zu beschäftigen hatte, war der eines jungen Kameraden, dem ich zu helfen versucht hatte. Er sprang schließlich aus dem dritten Stock und war tot. Wir hatten den Befehl, zu erzählen, daß er betrunken gewesen sei und nicht gewußt hätte, was er tat. Doch ich wußte es besser. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß es einwandfrei Selbstmord gewesen war. Doch wie die anderen mußte auch ich gehorchen.

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Manchmal gelang es mir, durch meine Position als Führer der kommunistischen Jugendliga für Kadetten einzutreten, obwohl die Autoritäten der Akademie entschlossen waren, ihn vom Studium auszuschließen. 

In solchen Fällen legte ich es ihnen sehr nahe, dem Jungen noch einmal eine Chance zu geben, und versprach, mich persönlich darum zu kümmern, daß er gründlicher Lenins Lehren studieren würde und wir so aus ihm noch einen guten kommunistischen Offizier machen könnten. "Geben Sie ihm doch bitte noch einmal die Möglichkeit", war mein dringender Appell. - "Na, gut, Kourdakov", erhielt ich oftmals zur Antwort. "Wir geben dir drei Monate Zeit, ihn hinzukriegen." In den meisten Fällen gelang es mir auch.

Ich mußte direkt dem lokalen Komitee der kommunistischen Partei in Petropawlowsk Bericht erstatten. Meine Pflichten dort brachten mich wiederum direkt in Kontakt mit den Parteiführern in Moskau. Von ihnen erhielt ich meine Richtlinien, Übungsanweisungen, Lektionen und Kopien von Vorträgen, die ich vor den anderen Kadetten halten mußte. Ich wurde mit vielen der höchsten kommunistischen Offiziere der Provinz Kamtschatka bekannt und auch dem lokalen Gorkom der Stadt Petropawlowsk, dem hiesigen Hauptbüro der kommunistischen Partei. Durch diese Verbindungen war mir die Möglichkeit gegeben, einen Blick in die innere Arbeit der Partei zu werfen. 

Zu meinen angenehmen Pflichten gehörte es, unterhaltsame und kulturelle Ereignisse für die Akademie zu organisieren. Diese fielen unter die Rubrik "Politische Entwicklung". Für die kulturellen Veranstaltungen luden wir oft Künstler aus Moskau ein, die immer begeistert aufgenommen wurden.

Weniger Anklang fanden dagegen die einfachen Vortragsversammlungen. Ich mußte jedoch eine gute Audienz für diese hohen Parteifunktionäre von Moskau vorweisen können oder sonst.....! Und viele dieser Dozenten schauten regelmäßig bei uns vorbei.

Während dieser Zeit, von September 1968 bis Mai 1969, wurde ich mehrmals vom Gorkom gebeten, in die örtlichen Schulen und Universitäten zu gehen und dort Vorträge über den Kommunismus und weltpolitische Ereignisse zu halten. Ich sprach über die amerikanische Einmischung in Vietnam, die Gefahren des Imperialismus, die Bedeutung der Militärmacht der Sowjetunion, den Leninismus, Marxismus und über andere politische Themen. Ich bemühte mich, mitreißend zu sprechen, und wurde bald ein beliebter Redner mit gut besuchten Vorlesungen.

Zusätzlich zu diesen Aktivitäten nahm ich an verschiedenen Sportveranstaltungen der Akademie teil: Ringen, Judo, Karate, Lang- und Kurzstreckenlauf. Ich hatte immer irgend was vor und eigentlich keine Entspannung. Doch ich liebte dieses geschäftige, aktive Leben.

Eines Tages, als ich im Gorkom in Petropawlowsk war, legte einer der Parteioffiziere seinen Arm um meine Schulter und sagte: "Kourdakov, ich will dir mal sagen, daß du deine Sache großartig machst. Wir hatten hier mit der Marineakademie weit weniger Schwierigkeiten als mit allen anderen unserer Militärinstitutionen. Du bist wirklich ein großer Organisator. Mach so weiter. Junge!" Ich strahlte übers ganze Gesicht und wußte vor Freude gar nicht recht, was ich sagen sollte.

Als ich mich abwandte, um das Zimmer zu verlassen, kam der Führer der hiesigen Parteigruppe herein und sagte: "Junger Mann, nur weiter so! Du hast noch eine große Zukunft vor dir! Solche Leute wie dich brauchen wir. Mach nur weiter so, und du wirst es weit bringen."

Ich ging fast wie auf Wolken zurück zur Akademie. Das war mein Leben. Das waren meine Leute. Die Partei war meine "Familie". Ich war jetzt Teil von etwas, an das ich glauben konnte, zu dem ich gehörte und für das ich leben konnte. Ich wußte, was Disziplin, Autorität und harte Arbeit waren, und die Partei wußte, wie man so etwas belohnte. Dies war einer meiner stolzesten Augenblicke! Ich fühlte mich in völliger Harmonie mit der Welt.

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