Aus Verlagsleseprobe - klett-cotta.de/media/14/9783608982374.pdf

Start 

Lebensentwürfe

 

27-31

Im Jahr 1954 hielt Dennis Robertson, einer der führenden Ökonomen seiner Zeit, eine Vorlesung zum Thema: »What does the economist economize?« (»Womit geht der Ökonom sparsam um?«) Robertsons Antwort: mit Liebe. Diese Antwort hätte die Mont-Pèlerin-Society sicherlich begrüßt. (Robertson selbst war keines ihrer Mitglieder, aber sein engster Kollege und Protegé Stanley Dennison war ein Freund von Hayeks und von Beginn an Mitglied der Society.)

Robertson verwendete das Wort »Liebe« als Kürzel für Freundlichkeit, Solidarität, Großzügigkeit und andere altruistische Tugenden. Er argumentierte, dass Ökonomik und Ökonomen es vermeiden würden, »jene knappe Ressource Liebe« zu vergeuden, wenn sie politische Maßnahmen, Gesetze und Organisationen förderten, die sich ausschließlich auf Egoismus verließen.

Für Robertson waren Liebe und unsere altruistischen Tugenden so ähnlich wie knappe Rohstoffe, deren Bestand bei jeder Verwendung schrumpft – also sollten sie wohlweislich für Notzeiten gehortet werden, anstatt verant­wortungslos im Alltag verschwendet zu werden.

Viele bedeutende Ökonomen teilen diese etwas befremdlich anmutende Fehleinschätzung des menschlichen Wesens.

Der Nobelpreisträger Kenneth Arrow sprach sich dafür aus, Blutkonserven über einen Markt bereitzustellen und nicht über ein Spendensystem, weil er befürchtete, auf Spenden sei kein Verlass: »Auf ethisches Verhalten sollten wir nur dann zurückgreifen«, so Arrow, »wenn das Preisfindungssystem zusammenbricht. … Wir wollen nicht den Fehler machen, die knappe Ressource altruistischer Motivation leichtfertig aufzubrauchen.«10

Larry Summers hat den Umstand, dass Ökonomen sich auf Egoismus verlassen, mit ähnlichen Argumenten verteidigt: »Wir alle haben nur eine gewisse Menge an Altruismus in uns. Ökonomen wie ich betrachten Altruismus als ein wertvolles und seltenes Gut, mit dem sparsam umgegangen werden muss.«11

Es ist richtig, dass eine Gesellschaft, in der die Menschen ständig gedrängt werden, sich solidarisch mit ihren Mitbürgern/Genossen zu zeigen, schnell an die Grenzen des Altruismus stoßen wird. Doch Altruismus wird nicht durch Beanspruchen aufgebraucht; das wäre wie der Autofahrer, der, nachdem er einen anderen Pendler im morgendlichen Berufsverkehr die Vorfahrt gelassen hat, sagt: »Für heute habe ich meine gute Tat getan; für den Rest des Tages kann ich mich wie ein Flegel aufführen.«12

So funktionieren unsere altruistischen Tugenden nicht.

28


Im Gegenteil, sie sind eher wie ein Muskel, der erlahmt und schrumpft, wenn er nicht regelmäßig gebraucht wird. Schon Aristoteles hat betont, dass Tugend etwas sei, das wir durch Übung fördern: »So nun wird man auch gerecht dadurch, daß man gerecht handelt … und tapfer dadurch, daß man sich tapfer benimmt.«13

Heute drücken wir es etwas weniger poetisch aus: »Use it or lose it.« (»Nutze es oder verliere es.«)

Auch hier sehen wir, wie wirtschaftliches Verhalten sich selbst bewahrheiten kann. Indem es sich auf unseren Egoismus konzentriert, führt ökonomisches Denken dazu, dass unsere altruistischen Tugenden schwinden und wir egoistischer werden – doch die Ironie liegt darin, dass all das getan wird, um diese altruistischen Tugenden zu bewahren.

Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio hat bahnbrechende Studien mit Patienten durchgeführt, bei denen das System des Gehirns, in dem Emotionen verarbeitet werden, durch eine Verletzung geschädigt war. Eines Tages wollte Damasio mit einem solchen Patienten den Termin für das nächste Treffen vereinbaren. Während der Patient fast eine halbe Stunde in seinem Terminkalender blätterte, »zählte er Gründe für und gegen die beiden Termine auf. Vorangehende Verabredungen, die zeitliche Nähe anderer Verabredungen, mögliche Wetterverhältnisse. … Er zwang uns, einer ermüdenden Kosten-Nutzen-Analyse zu folgen, einer endlosen Aufzählung und einem überflüssigen Vergleich von Optionen und möglichen Konsequenzen.«14

Das hörte erst auf, als Damasio ihm ins Wort fiel und ihm einfach mitteilte, wann das nächste Treffen stattfinden würde.

Wir alle wissen, dass niemand so leben kann wie der homo oeconomicus. Und wenn »rational sein« bedeutet, endlose Berechnungen über Kosten und Nutzen anzustellen, dann können wir auch nicht rational sein. Warum also sind die Lebensmodelle der Ökonomen so einflussreich geworden?

29/30


Die Interessen der Reichen und Mächtigen spielen dabei natürlich eine wichtige Rolle, aber – wie es Regierungs-Insider häufig berichten – niemand gewinnt Einfluss auf die Regierungspolitik, indem er ganz unverfroren argumentiert: »Weil es mich reich machen wird.«15 Sie brauchen eine respektable Sprache, um ihre Forderungen zu formulieren. Und die Ökonomik ist zu dieser Sprache geworden.

Keynes schloss sein einflussreichstes Buch mit einer Erklärung über die Macht ökonomischer Ideen:

Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. Verrückte in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiberling ein paar Jahre vorher verfaßte. Ich bin überzeugt, daß die Macht erworbener Rechte im Vergleich zum allmählichen Durchdringen von Ideen stark übertrieben wird. … Aber früher oder später sind es Ideen - und nicht eigennützige (Gruppen-)Interessen - von denen die Gefahr kommt, sei es zum Guten oder zum Bösen.(16)

Von Hayek, in vielerlei Hinsicht Keynes’ intellektueller Gegner, schloss sich dieser Einschätzung an: Er zitierte 1947 diese Passage aus Keynes’ Buch in seiner Eröffnungsrede vor der Mont Pèlerin Society. Später wurde sie zum Motto des Institute of Economic Affairs erkoren.

#

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die moderne Ökonomik zum Teil die Lücke füllt, die in modernen Gesellschaften durch den Niedergang der Religion entstanden ist. Im 21. Jahrhundert ist unsere Sicht der Welt unbewusst durch ökonomische Konzepte und Werte konditioniert. Die Sprache der Ökonomik schränkt ganz erheblich die Menge der politischen und moralischen Fragen ein, die gestellt werden können.

Mit der modernen Ökonomik als Orientierung sehen wir die anderen Fragen einfach nicht mehr. Um unsere Gesellschaft zu verändern – oder einfach nur zu entscheiden, ob Veränderungen notwendig sind – , müssen wir verstehen, wie eingeschränkt unser Denken geworden ist; wie wir Alternativen zur derzeit vorherrschenden Schulweisheit ablehnen oder ignorieren, ohne uns dessen überhaupt bewusst zu sein.

Um zu verstehen, wie diese ökonomischen Ideen aufkamen und Verbreitung gefunden haben, müssen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen. In den folgenden Kapiteln werden wir sehr unterschiedliche Ökonomen auf ihren intellektuellen Reisen begleiten, mit denen sie zu den Hohepriestern unserer Zeit wurden.

Wie bei wirklichen Reisen haben diese Ökonomen nicht immer den kürzesten Weg genommen – es gab Umwege, sei es gewollt oder ungewollt. Und auf der Reise kam es immer wieder zu Zwischenstationen: Ideen, die abgelegt und über Jahre oder Jahrzehnte in Vergessenheit gerieten, bis sie plötzlich wieder im zeitgenössischen Leben auftauchten. Manche Ideen fangen gut an, werden dann jedoch von späteren Denkern grob verfälscht oder falsch angewendet. Andere Ideen sind von Anfang an fehlerhaft.

Inmitten all dieser chaotischen Vielfalt sehen wir das Zusammenspiel von Politik, Kultur und Zufall, das bestimmt, wie diese Ideen sich verbreiten. Und die paradoxe Qualität von reizvollen, verführerischen Ideen, von denen sich dann erweist, dass sie letzten Endes großen Schaden anrichten. Die Geschichten dieser Hohepriester sind sehr unterschiedlich, doch zusammen zeigen sie, wie es dazu kommen konnte, dass die Ökonomik unser Leben dominiert.

31

#

 

 

www.detopia.de      ^^^^ 

Aldred, Jonathan 2019